Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 10. Februar 2020
    Warteschlangen vor den Museen

    Viel Besucher für wenig Kunst

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum kann man Museen nicht wie Parkhäuser betreiben?

    Hätten wir nur auf unsere Freundin Sabine gehört! Sie kam nach Eröffnung der großen Leonardo-Ausstellung im Louvre im Oktober aus Paris zurück und empfahl uns, sofort Tickets zu kaufen. Jetzt ist es zu spät. Zwar geht die Schau noch bis zum 24. Februar. Aber das Online-Buchungssystem gab uns schon Mitte Januar unmissverständlich zu verstehen: Es gibt keinen einzigen freien Slot mehr. Auf gut Glück losfahren wird nichts nützen: In den Louvre kommt man nur mit vorab gekauften Eintrittskarten.

    Das Ganze hat Methode: Man wolle potenzielle Ausstellungsbesucher »aktiv entmutigen«, sagt der Direktor des Louvre. Super! Der Louvre ist mit seinen Besucherzahlen seit Jahren Marktführer im weltweiten Museums-Business. Im Jahr 2018 verzeichneten sie mit 10,2 Millionen einen Rekord. 2019 kamen dann über eine halbe Million weniger Kunstfreunde und statt zu jammern, feiert das Haus diesen Schwund als Erfolg seiner aktiven Entmutigungspolitik.

    Ökonomisch gesehen finden wir diese Strategie nicht so richtig überzeugend. Man stelle sich vor, Volkswagen würde stolz vermelden, man habe im vergangenen weniger als zehn Millionen Autos verkauft und die Chinesen erfolgreich davon überzeugt, lieber Rad zu fahren. Die große Nachfrage nach Kunst spricht doch offenbar für ein wachsendes Bedürfnis der Menschen, das erst geweckt zu haben und dann unbefriedigt zu lassen mir irgendwie fies vorkommt. Gottlob ist der Louvre bislang noch die Ausnahme. Im Frankfurter Städel, dessen gerühmte Van-Gogh-Ausstellung am 18. Februar zu Ende geht, sind jedenfalls noch Karten zu haben. Wer nicht online bucht, muss freilich lange Schlange stehen: Die ohnehin schon hohe Erwartung von 300 000 Besuchern wird am Ende wohl deutlich übertroffen werden.
    Wie erklärt sich der hohe Zuspruch zum Museum? Und wie lässt sich die Ticketfrage besser lösen als bisher, sofern wir »aktive Entmutigung«, also Kunden vertreiben, einmal ausschließen wollen? Richard Musgrave, ein deutsch-amerikanischer Ökonom des 20. Jahrhunderts, hatte die Museen noch unter die sogenannten »meritorischen Güter« subsumiert. Das sind Güter, bei denen die private Nachfrage hinter dem gesellschaftlich gewünschten Ausmaß zurückbleibt. Angesichts der Schlangen vor Louvre, Städel, vatikanischen Museen & Co. müsste man die Kunst-Nachfrage nicht mehr öffentlich subventionieren. »Allen lernbegierigen und neugierigen Menschen aus nah und fern« sei das Haus zugeeignet, so lautete der Gründungsauftrag des »British Museums« in London im Jahr 1759. Die Hoffnung ist aufgegangen: Die Statistiker stellen eine Korrelation zwischen Bildungsgrad und Häufigkeit des Museumsbesuch fest. Die Bildungsoffensive der vergangenen Jahrzehnte spiegelt sich in den vielen Menschen im Museum, die erfahren haben, dass man in der Begegnung mit Kunst auch sich selbst besser verstehen kann. Wachsender wirtschaftlicher Wohlstand, Bildung und museale Neugier gehen offenbar Hand in Hand: China baut seit geraumer Zeit wie wild Museen.

    Die Tickets sind zu billig

    Doch was tun, wenn das Angebot der Museen hinter der Nachfrage zurückbleibt? Mit solchen Knappheitsproblemen schlagen sich Ökonomen von Berufs wegen herum. Die schlechteste Lösung scheint mir die »Methode DDR« zu sein, den Zugang rationieren und die Menschen Schlange stehen lassen. Bei den meisten anderen Gütern des Marktes ist die Rationierung inzwischen außer Mode gekommen. Brötchen, Bücher oder Mobiltelefone gibt es sofort. Bei Autos müssen wir Wartezeiten in Kauf nehmen, weil sie nicht auf Halde, sondern »just in time« für uns gefertigt werden. Nun könnte man sagen, beim Museum gehört die Schlange einfach dazu, weil sie Nachfrage sichtbar macht und allen anderen signalisiert, dass das eine wichtige Ausstellung ist, die man gesehen haben muss. »Selbstvergewisserung der Elite« war immer schon eine Funktion des Museums. Warum diese Selbstvergewisserung allerdings ausgerechnet bei Null Grad und Schneeregen in der Schlange vor dem Frankfurter Städel-Museum passieren soll, will mir nicht recht einleuchten. Da müsste es komfortablere Möglichkeiten geben.

    Die Standardantwort von Ökonomen, wie man das Knappheitsproblem lösen soll, lautet: Über den Preis. Das halten viele für ungerecht, weil dann die Reichen bevorzugt würden. Dazu lässt sich sagen: Auch die Schlange ist ungerecht: sie privilegiert nämlich Leute, die viel Zeit haben (Rentner, Studenten) und benachteiligt jene, die keine Zeit haben, sich zwei Stunden anzustellen. In Amerika ist es in bestimmten Kreisen schick geworden, dass reiche Leute mit wenig Zeit sich ärmere Leute mit mehr Zeit »mieten«, die für sie Schlange stehen und dafür Geld bekommen. Ökonomisch ist das in Ordnung, aber ethisch wird man Zweifel anmelden dürfen.
    Inzwischen gibt es an vielen Museen Experimente mit positiver Preisdiskriminierung. Wer am Wochenende kommt, zahlt mehr als an Werktagen. Früh morgens ist es billiger als spät abends. Auch bei den Zeiten lässt sich einiges machen: es gibt Ausstellungen, die an bestimmten Tagen bis 23 Uhr öffnen (Van Eyck in Gent zum Beispiel). Und warum an Montagen die meisten Museen der Welt geschlossen haben, habe ich noch nie verstanden. Natürlich können die Wärter nicht an sieben Tagen auf ihren Bewachungsstühlen sitzen. Aber Öffnungszeiten für die Besucher und Arbeitszeiten für die Museumsbediensteten sind zwei Paar Stiefel. Und, ganz pauschal gesagt, ist das Museum wohl immer noch zu günstig. Der Direktor der Uffizien in Florenz hat seinen Eintrittspreis in der Spitze jetzt auf 20 Euro angehoben. Zu Recht kontert er den Einwand, das sei unsozial, mit der Tatsache, dass die Menschen für Pop-Konzerte oder Fußballspiele deutlich mehr Geld auszugeben bereit sind. Es ist jedenfalls auch nicht sehr sozial, wenn reiche Leute weit unter ihrer Zahlungsbereitschaft ins Museum kommen, subventioniert von Leuten, die nie ins Museum gehen.

    Beginnen Sie im letzten Raum des Museums!

    Der Schweizer Ökonom Bruno Frey, ein vor Ideen sprudelnder Tausendsassa, hat einmal den Vorschlag gemacht, den Eintritt ins Museum wie im Parkhaus zu berechnen. Der Preis richtet sich dann nach der Dauer des Aufenthalts und ist erst am Ende und nicht schon beim Betreten zu entrichten. Wer wirklich an der Kunst interessiert ist, bleibt länger, zahlt dafür mehr und hat freie Sicht auf die Exponate. Wer nur kommt, um gesehen zu werden, bekommt einen finanziellen Anreiz, bald ins Museums-Bistro zu entschwinden. Aber auch der wirklich Kunstinteressierte weiß vorher noch nicht, ob ihn Dora Maar (derzeit in Tate Modern in London) nun wirklich interessiert. Eine Bepreisung des Museumseintritts wie im Parkhaus würde es erlauben, bei enttäuschtem Nichtgefallen zügig den Weg zum Ausgang zu nehmen.

    Jetzt rasch noch ein Tipp meiner Künstlerfreundin Dorothée für überfüllte Ausstellungen, bei denen man die Kunst vor lauter Menschen nicht mehr sieht: Beginnen Sie im letzten Raum des Museums! Da ist es deutlich luftiger, weil viele erschöpft sind und nichts mehr sehen können. Dann arbeiten Sie sich langsam zurück in Richtung Eingang! Wir haben den Rat bei Van Gogh erfolgreich umgesetzt; es braucht allerdings ein bisschen Selbstbewusstsein.

    Rainer Hank

  • 03. Februar 2020
    Bischöfe als Geisterfahrer

    Bischof Stephan Ackermann, Trier Foto: www.bistum.trier.de

    Dieser Artikel in der FAZ

    Keine Kirchensteuer zur Entschädigung von Missbrauchsopfern

    Vor zehn Jahren wurde der Missbrauch von Jugendlichen am Berliner Canisiuskolleg öffentlich. Die Aufarbeitung des Skandals in den vergangenen zehn Jahren durch die deutsche Katholische Kirche ist selbst ein Skandal. Kein Verantwortlicher der kirchlichen Hierarchie hat Konsequenzen gezogen. Die systemischen Gründe des Machtmissbrauchs – der Klerikalismus der Männer und eine vorneuzeitliche Rechtsordnung ohne Gewaltenteilung – wurden offiziell nie klar benannt. Ob der als »Reformdialog« vermarktete »synodale Weg«, der in der vergangenen Woche in Frankfurt eröffnet wurde, daran etwas Fundamentales ändert oder am Ende als unverbindliche Veranstaltung zur Konkursverzögerung in die Geschichte eingeht, ist offen.

    Ins Stocken geraten – ein weiterer Skandal – ist auch die Frage der Entschädigung der Missbrauchsopfer. Da geht es ums Geld. Auch damit hat sich die Kirche immer schwergetan.

    Der Stand: 5000 Euro, in Einzelfällen auch mehr – das ist im Moment die gängige Entschädigungssumme für Missbrauchsopfer in der katholischen Kirche. Das Wort »Entschädigung« wurde dabei möglichst vermieden. Stattdessen ist von einer »materiellen Anerkennung erlittenen Leids« die Rede. Im vergangenen Herbst haben die Bischöfe dann die Vorschläge einer Arbeitsgruppe beraten. Dort wurde zwei Modelle diskutiert. So wäre für alle Betroffenen ein Pauschalbetrag von 300 000 Euro möglich. Damit würde keine »Leidenskonkurrenz« entstehen und die Entschädigung wäre recht schnell umzusetzen. Alternativ möglich wäre auch ein gestuftes Modell, bei dem je nach Schwere des erlittenen Unrechts zwischen 40 000 und 400 000 Euro gezahlt werden. Dieses Vorgehen hätte den Vorteil, dass Einzelfälle stärker berücksichtigt werden könnten.
    Die Beträge bleiben immer irgendwie willkürlich und wollen und können Leid nicht ungeschehen machen. Die Höhe der Beträge orientiert sich an der Bemessung von Schmerzensgeldzahlungen im staatlichen Bereich, das laut »Bürgerlichem Gesetzbuch« (BGB) eine »Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion« haben soll. Ausgegangen wird von einer monatlichen Entschädigung in Höhe von 500 Euro. Diese Summe stelle einen maßvollen Mittelwert verschiedener Leistungen dar, die im Bereich staatlicher Opferentschädigung als monatliche Rente gezahlt werden, heißt es. Jährlich wären das 6000 Euro. Nimmt man als Laufzeit 50 Jahre an, gerechnet vom Zeitpunkt des Missbrauchs, so kommt man am Ende auf die pauschale Summe von 300 000 Euro.

    Finanzbedarf von einer Milliarde Euro

    Dass sich seit vergangenem Herbst die Bischöfe in der Frage der Entschädigung nicht einigen wollten, liegt auch daran, dass unklar ist, woher die Mittel der Entschädigung kommen sollen. Wie gesagt, es geht um viel Geld: Die von den Bischöfen in Auftrag gegebene sogenannten MHG-Studie listet für den Zeitraum von 1946 bis 2014 insgesamt 3677 Opfer auf; 1670 Kleriker werden der Taten beschuldigt. Mutmaßungen über die Dunkelziffern sprechen von 100 000 Opfern. Würde allen »offiziell« anerkannten 3677 Opfer die pauschale Summe von 300 000 Euro gezahlt, summierte sich der Finanzbedarf auf gut eine Milliarde Euro. Als Schreckgespenst steht den Bischöfen die amerikanische Kirche vor Augen: Dort landeten etliche betroffene Diözesen in der Insolvenz.

    Angesichts der hohen Summe kam der Missbrauchsbeauftragte der katholischen Kirche, der Trierer Bischof Stephan Ackermann, auf die Idee, die Entschädigungsleistungen aus Kirchensteuermitteln zu finanzieren. Auch wenn es vielen Gläubigen widerstrebe, mit ihren Beiträgen für Verfehlungen einzelner Geistlicher einzustehen, seien die Kirchenmitglieder als »Solidargemeinschaft« in der Pflicht, meint Ackermann. Die Begründung: Die deutschen Steuerzahler müssten ja auch für die gescheiterte PKW-Maut aufkommen: »Wir zahlen für Andi Scheuers Autobahnen«, so der Bischof.

    Die Äußerungen Ackermanns gehen nicht nur in mehrfacher Hinsicht ziemlich daneben, um es vorsichtig zu formulieren. Sie sind zugleich ein deutliches Zeichen dafür, wie kirchliche Funktionäre mit »other peoples money« meinen umgehen zu dürfen. Dabei ist es allein schon geschmacklos, das Mautdesaster des Verkehrsministers und den Versuch, die Schadenersatzansprüche der Betreiberfirmen auf den Steuerzahler abzuwälzen, in Vergleich zu setzen zu den Entschädigungshoffnungen der kirchlichen Missbrauchsopfer. Zugleich bringt Ackermann den Begriff des »Solidarität« in erheblichen Misskredit, wenn er ihn derart dehnt, dass nun auch Laien – nur sie zahlen ja die Kirchensteuern – für Straftaten von Klerikern aufkommen sollen. Es ist die Perversion des Gedankens der Solidarität, wenn die Verantwortlichen sich der Haftung für die Folgen ihrer Taten entledigen, indem sie andere, die sich nicht wehren können, zwingen, den finanziellen Schaden zu übernehmen. Solidarität als Beschönigungsformel zur Verwischung von Verantwortlichkeiten: das war immer schon ein Verdacht, weswegen mir die – eigentlich schöne – Idee der Solidarität nie recht geheuer war. Der Trierer Bischof bestätigt den Verdacht schlimmer als befürchtet. Er bestätigt zugleich einen weiteren Verdacht: Dass nämlich die Finanzierung der Kirche über eine der Staatsfinanzierung vergleichbare Steuer genannte Zwangsabgabe den Vorteil hat, über die Verwendung der Einnahmen keine Rechenschaft geben zu müssen. Schlimmer noch: Gegen eine staatliche Regierung, die das Geld der Steuerzahler verschwendet, lassen sich parlamentarische Mehrheiten organisieren, die dafür sorgen, dass diese Regierung abgewählt wird. Bischöfe können nicht abgewählt werden; denn die Kirche ist nicht demokratisch verfasst.

    Es gibt Alternativen

    Aber die Laien in der Kirche haben eine andere Macht: Zwar haben sie keine demokratische Widerspruchsmacht. Aber, anders als im Staat, können sie sich der Steuerpflicht durch Austritt aus der institutionell verfassten Kirche legal entziehen (und dabei nach katholischer Lehre gleichwohl Mitglied der weltumspannenden Glaubensgemeinschaft bleiben). Dass die Bischöfe nicht längst offiziell beschlossen haben, eine Milliarde Euro des derzeit immer noch stark sprudelnden Kirchensteueraufkommens zur Opferentschädigung abzuzweigen, hängt gewiss auch damit zusammen, dass sie die Austrittsdrohung all jener Gläubigen spüren, die sich diesen Solidaritätszwang nicht bieten lassen werden. Schon ohne finanzielle Haftungsübernahme haben viele Katholiken in den vergangenen Jahren angesichts des Missbrauchsskandals ihre Kirche verlassen.

    Gibt es überhaupt Alternativen zur Finanzierung der hohen Entschädigungssummen? Ja, die gibt es. Darauf hat der Kollege Thomas Gutschker schon vor geraumer Zeit in der FAS hingewiesen: Wenn die katholische Kirche es ernst meint, muss sie die Entschädigungen aus dem Vermögen ihrer Bistümer aufbringen: Landbesitz, Immobilien, Wertpapiere. Da lässt sich einiges am Markt verkaufen. Die Bistümer Paderborn, Köln und München-Freising sind mehrfache Milliardäre. Gewiss, auch das kirchliche Vermögen speist sich zum Teil aus den Steuereinnahmen, aber eben nur zum Teil. Eine Entschädigung aus dem Vermögen wäre zumindest ein Signal dafür, dass die kirchlische Hierarchie selbst Verantwortung übernimmt. Dass das weh tut, gehört dazu.

    Rainer Hank

  • 28. Januar 2020
    »Ein ganzes Volk bockt«

    Franz Böhm (1895 bis 1977) Foto: Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main

    Dieser Artikel in der FAZ

    Franz Böhm und der Antisemitismus der Deutschen

    Unter der Überschrift »Der Antisemitismus und die Deutschen« erschien im September 1950 in der von Dolf Sternberger herausgegebenen Zeitschrift »Die Gegenwart« ein Essay des Frankfurter Rechtsprofessors Franz Böhm. Nach Ablauf einer Schrecksekunde seien in Deutschland die Antisemiten längst wieder aus ihren Mauselöchern hervorgekrochen, diagnostiziert der Autor. Dass es sich bei den antisemitischen Exzessen, etwa den Schändungen von Gräbern auf jüdischen Friedhöfen, bloß um individuelle Hass- und Racheakte handle, bestreitet Böhm: allemal zeichne den Judenhass in Deutschland eine »eine terroristische, kollektivistische Note« aus.

    Zu Böhms Essay gab es zahlreichen Zuschriften, die alle das gleiche Schema aufwiesen: »Ich bin ein friedfertiger Mensch und habe nichts gegen Juden, aber…« Unter »aber« wird aufgezählt, wie viele Juden Ärzte oder Rechtsanwälte seien und dass sie sich jetzt mehr von ihren »arisierten« Gütern zurücknähmen als ihnen zustünde. Kurzum: Das »aber« der Zuschriften ist das Dementi der zuvor gemachten Behauptung und das Eingeständnis von blankem Antisemitismus. »Wie unvorsichtig von dem Mann, sich so zu zeigen«, beschreibt Franz Böhm seine Reaktion beim Anblick eines galizischen Juden in Kaftan und mit Schläfenlocken an der Frankfurter Konstablerwache. Und er kommentiert die ihn selbst erschreckende Reaktion: »So weit sind wir gekommen.«

    Der Antisemitismus war nie weg

    Vor 75 Jahren, am 27. Januar 1945, wurde das KZ Auschwitz von der Roten Armee befreit. Gelegentlich heißt es heute, der Antisemitismus nehme im Maß des zeitlichen Abstands vom Holocaust wieder zu, weil die Verbrechen der Nazis in Vergessenheit geraten seien. Liest man Franz Böhms Essay aus dem Jahr 1950, so wird man feststellen: Der Antisemitismus war nie weg, noch nicht einmal in den Jahren unmittelbar nach dem Ende der Naziherrschaft.

    Wer war Franz Böhm? Im Gedächtnis ist er heute, wenn überhaupt, als einer der Väter der »Freiburger Schule«, der wir die »soziale Marktwirtschaft« verdanken. Geboren 1895, studiert Böhm Jura in Freiburg und arbeitet zunächst als Staatsanwalt. Wichtig wird der Kontakt mit der Dichterin Ricarda Huch, deren Tochter er 1923 auf Schloss Elmau (eine Art Partnerschaftsplattform des Bildungsbürgertums) kennenlernt und 1926 heiratet. Mit einem Aufsatz über »Das Problem der privaten Macht« (1928), in dem es um die schädliche Wirkung der damals beliebten Kartelle ging, macht der junge Gelehrte von sich reden. Für Böhm folgt daraus: Der Staat muss für Wettbewerb sorgen, um die Vermachtung der Wirtschaft zu verhindern. Es sollte sein Lebensthema werden und zugleich der Grundgedanke des von den Freiburger Autoren selbst »Neoliberalismus« genannten Konzepts der Marktwirtschaft, das so gar nichts mit dem heute kursierenden Zerrbild des Turbokapitalismus gemein hat. In den fünfziger Jahren wird Böhm – jetzt als Juraprofessor an der Universität Frankfurt und zugleich Bundestagsabgeordneter für die CDU – maßgeblich beteiligt sein an der Erarbeitung des Kartellgesetzes der Bundesrepublik.

    Viel weniger bekannt ist Böhms historische Leistung als Leiter der Regierungsdelegation, die 1952 im holländischen Wassenaar die Wiedergutmachungsverhandlungen mit Israel führte und mit Erfolg zu Ende brachte. Aus heutiger Sicht wird man den Begriff »Wiedergutmachung« als verharmlosend kritisieren und den damit verbundenen Versuch einer »Umwandlung von Schuld in Schulden« (so der Historiker Constantin Goschler) zur Wiederherstellung der internationalen »Kreditwürdigkeit« Deutschlands problematisieren müssen. Doch damals gab es aus ganz anderen Gründen massive Widerstände gegen die Wiedergutmachung, nicht nur in der deutschen Bevölkerung (»muss das sein?«), sondern auch von Teilen der Eliten, etwa dem CSU-Finanzminister Fritz Schäffer oder dem FDP-Justizminister Thomas Dehler, der die Wiedergutmachung als quasi jüdisch inspirierte Politik zur Vernichtung der deutschen wirtschaftlichen Leistungskraft verdächtigte. Auch Hermann Josef Abs, Chef der Deutschen Bank, der zeitgleich in London mit den Alliierten über den Nachlass der deutschen Auslandsschulden verhandelte, zählte zu den Gegnern der Wiedergutmachung. Abs, ganz Bankier, hatte sich auf den Standpunkt gestellt, man könne nicht mit den internationalen Gläubigern der Bundesrepublik über einen Schuldenerlass verhandeln und zugleich gegenüber Israel eine neue Schuld eingehen. Franz Böhms Coup bestand darin zu verhindern, dass es am Ende so aussah, als wolle Deutschland aus der Tasche der anderen Gläubigernationen die israelischen Forderungen befriedigen.

    Die Deutschen fühlten sich als Opfer

    Merkwürdig: Die Deutschen verstanden sich nach 1945 nicht als Täter, sondern als Opfer, die in Bombenkrieg, nach Flucht und Vertreibung und in den Entbehrungen der Nachkriegszeit viel zu leiden hatten. »Insgesamt dominierte in den frühen fünfziger Jahren eine negative Haltung gegenüber der Wiedergutmachung«, konstatiert der Historiker Constantin Goschler. In einer Umfrage sprachen sich 96 Prozent der Befragten für Hilfen für die Kriegswitwen aus, 93 Prozent wollten die Luftkriegsopfer entschädigen, aber lediglich 68 Prozent waren für Hilfsleistungen an Juden. Und selbst unter dieser Gruppe der Befürworter stimmten knapp 60 Prozent der These zu, die Juden seien »teilweise selbst dafür verantwortlich, was ihnen im Dritten Reich widerfahren sei«. Lakonisch kommentierte Franz Böhm: »Was soll man tun, wenn ein ganzes Volk bockt?« Und bitter ironisch fügt er hinzhu: »Schuldige an der Verfolgung hat es nicht gegeben, und wo steht geschrieben, dass Unschuldige eine Tat wiedergutmachen sollen?«

    Vor diesem Hintergrund erstrahlt Franz Böhm, der in der Nazizeit Berufsverbot hatte, umso mehr als Ausnahmegestalt. In einem auch heute noch lesenswerten Vortrag über »Die politische und soziale Bedeutung der Wiedergutmachung«, gehalten 1956 bei den Hessischen Hochschulwochen und abgedruckt im Sammelband »Entmachtung durch Wettbewerb« (Lit-Verlag 2007), insistiert Böhm darauf, dass Wiedergutmachung der Verbrechen an den Juden auch nach dem unter den Nazis geltenden Recht (BGB) zwingend geboten war, mithin nicht erst eine Art freiwilliger Gnade der Wiedergutmachungsgesetze sei. Im Unterschied dazu seien die Kriegsopfer oder Flüchtlinge nicht wie die Juden durch ein Verbrechen, sondern »durch das Schicksal« geschädigt worden. Das ist ein himmelweiter Unterschied und das Gegenteil der damals volkstümlichen Meinung, die dem Lastenausgleich für Bomben- und Währungsgeschädigte Vorrang gibt vor der »unvolkstümlichen« Wiedergutmachung für Israel und die Juden.

    Die kühle Conclusio des Wirtschaftsjuristen Franz Böhm lautet: »Wir haben uns wie ein unsauber handelnder Verein benommen, der in Konkurs gerät und zunächst einmal Geldanteile von dem Vermögen an seine eigenen Mitglieder ausschüttet, bevor er seine Gläubiger und vor allen Dingen Gläubiger aus Unrechtshandlungen befriedigt.« Die Deutschen haben – keine zehn Jahre nach dem Krieg – zuerst an sich als »Opfer« der Nazizeit gedacht, bevor sie an die Opfer ihrer Verbrechen denken wollten. »Unsauber« ist das mindestes, was man dazu sagen kann.

    Rainer Hank

  • 20. Januar 2020
    Vom Charme der Trabantenstädte

    Wohnmaschine (hier: Warschau)

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ein paar Ideen, wie das Wohnen wieder billiger werden könnte

    Wohnen in Deutschland ist teuer geworden, zumindest für Leute, die in einer großen Stadt leben wollen. In München muss, wer eine Wohnung sucht, inzwischen mit einem Durchschnittspreis von 17, 50 Euro für den Quadratmeter rechnen. Gut 14 Euro kostet es in Frankfurt und Stuttgart. Kein Wunder, das die Politik aufgescheucht reagiert, von der »neuen sozialen Frage« redet, obwohl es lediglich um veränderte Präferenzen geht – und an den Symptomen herumkuriert: Mietpreisbremse, Mietendeckel, Bodensteuer oder Enteignungen sind Ideen, die eines gemeinsam haben: Sie lindern die Wohnungsnot nicht. Gleichwohl kann man erklären, warum Politiker auf staatliche Preisregulierung setzen: Das schafft bei den Bürgern das Gefühl, es werde entschlossen gehandelt. Neubauten dagegen müssen geplant und genehmigt werden. Das dauert, und die Politiker müssen befürchten, sie könnten längst abgewählt sein, bis sich die Segnungen eines vergrößerten Wohnangebots einstellen.

    Was also tun? Ein Blick in die deutsche Nachkriegsgeschichte könnte helfen. Damals war die Bevölkerung stark gewachsen: Die »Boomer«, die heute in Rente gehen, sind gerade auf die Welt gekommen. 14 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene suchten eine Unterkunft. Überall in Westdeutschland entstanden neue Stadtviertel. Vor den Toren der alten Städte breiteten sich Großsiedlungen aus, in denen Stadtplaner und Architekten das Heil sahen. Nicht ganz zu Unrecht. Denn spätestens Anfang der siebziger Jahre galt das Wohnungsproblem in Westdeutschland als gelöst.

    Viel Luft in den Ballungsräumen

    Merkwürdig: Vor fünfzehn Jahren waren die Zeitungen voll mit Artikeln über »schrumpfende Städte«. Familien mit Kindern zögen auf das Land, die Pensionäre ebenfalls. Und die Demographie bringe keinen Nachschub, hieß es. Die Städte, so die Befürchtung vor fünfzehn Jahren, wären am Ende leer und öde; ihre Infrastruktur, von den U-Bahnen bis zur Kanalisation, müsste marodieren. Ein typischer Fall einer Fehldiagnose, wissen wir heute.

    Sollen wir also heute wieder an die aktive Wohnungsbaupolitik anschließen? Moritz Schularick ist einer, der dafür plädiert: Der derzeit in New York forschende Bonner Ökonomieprofessor hält es für an der Zeit, in großem Stil neue Stadtviertel zu bauen. Man sage nicht, es gäbe keinen Platz. Dazu muss man nur in Frankfurt auf eines der Hochhäuser steigen, um mit bloßem Auge zu erkennen: Etwa Zweidrittel des Ballungsraums sind Wald oder Ackerfläche, wo, wenn man nur wollte, Wohnhäuser, Schulen, Restaurants und U-Bahn-Stationen entstehen könnten. Schularick empfiehlt einen Blick aus dem Flugzeug beim Landen in Berlin-Tegel: Lauter Rübenfelder. Gewiss, das Vieh braucht seine Rüben. Aber die können auch etwas weiter entfernt in Brandenburg angebaut werden, also dort, wo die Wohnattraktivität weniger hoch ist. Und natürlich ist auch nach oben noch viel Luft (Stichwort: Wohnraumverdichtung durch den Ausbau von Dächern und neuen Wohnhochhäusern).

    Neue Stadtviertel in Metropolennähe wären also möglich. Aber wollen wir sie? Schnell ist von Trabantenstädten die Rede, denen die soziale Kälte im Beton eingeschrieben ist. Ein Blick nach Osten – »die Platte« – wirkt ebenso abschreckend wie ein Blick nach Westen: Die »Banlieues« der französischen Städte, seelenlose Wohnmaschinen, sind eine Brutstätte von Gewalt und Radikalismus.

    Das Drama der »Neuen Heimat«

    In Westdeutschland kommt traumatisierend hinzu, dass viele der neuen Wohnungen in der Nachkriegszeit von einem einzigen gigantischen Unternehmen gebaut wurden: Dem »Neue Heimat« genannten gewerkschaftseigenen Immobilienkonzern. Zwischen 1950 und 1986 hat die »Neue Heimat« als »gemeinnütziges« Unternehmen 500000 Wohnungen errichtet. Nie zuvor habe es in Deutschland eine derart geballte Unternehmensmacht gegeben, die ihren beispiellosen Aufstieg nicht dem Profitstreben ihrer Eigentümer, sondern expliziten wirtschaftspolitischen und sozialreformerischen Zielsetzungen verdankte. Das schreibt der Architekturhistoriker Michael Mönninger in seiner sehr lesenswerten Geschichte der »Neuen Heimat«. »Wenn Sie wollen, können Sie bei uns eine komplette Stadt bestellen«, brüstete sich noch im Jahr 1970 der legendäre Chef der Neuen Heimat, Albert Vietor, der am Ende über ziemlich korrupte Machenschaften stürzte. Mönninger liefert zugleich die Erklärung des Scheiterns solch pharaonischer Gigantomanie: Es waren nicht nur die dunklen Geschäfte der Herren von der Gewerkschaft. Es war das Bauprinzip der Gemeinnützigkeit selbst. Wenn, wie damals, für Kredite Soll-Zinsen in Höhe von acht Prozent gezahlt werden mussten, der Neuen Heimat aber nur eine Rendite von maximal vier Prozent erlaubt war, dann drückte die Schuldenlast den Konzern zu Boden, als die Nachfrage zurückging. Ich erinnere mich noch gut – es war Ende der achtziger Jahre – an die Kapitulationserklärung des DGB-Vorsitzenden Ernst Breit, ein knorriger Mann aus Dithmarschen: »Gewerkschafter taugen nicht als Unternehmer.« Alle, die heute die Gemein- und Kommunalwirtschaft wiederbeleben wollen, um das Wohnungsproblem zu lösen, sollten sich Breits Lehrsatz zu Gemüte führen.

    Das spricht alles nicht gegen den Bau neuer Stadtviertel. Für Moritz Schularick sollte allerdings nicht das 20., sondern das 19. Jahrhundert Vorbild sein. »Damals haben wir auch ganze Stadtteile aus dem Boden gestampft und urbanisiert, komplett mit S-Bahn Anschluss«, sagt der Ökonom: »In den Altbau-Wohnmaschinen von damals wollen heute alle leben.« »Mietskasernen« der Industrialisierung waren früher das Hinterletzte. Heute firmieren sie unter »saniertem Altbau« und die Quadratmeterpreise gehen durch die Decke.
    Gibt es heute Vorbilder für gelungene neue Stadtviertel? Moritz Schularick schwärmt von Singapur oder Hongkong. Das freilich sind unternehmerisch aktive Stadtstaaten, in denen Planungsverfahren straff durchgezogen werden können. So war es auch bei deutschen Reißbrettstädten Karlsruhe, Mannheim: im Absolutismus konnte man eben noch durchregieren. Heute bleibt allein schon die Planung neuer Stadtviertel schnell im Interessenkonflikt der demokratischen Partizipation stecken: Die Anwohner der alten Siedlungen fürchten um die gute Luft und leiden schon im Vorhinein, dass ihnen das Feld abhandenkommen könnte, auf dem sie morgens ihren Hund ausführen. Das alles lässt sich in Frankfurt studieren an den zermürbenden Konflikten um die neu geplante »Josefstadt« (genannt nach dem Stadtplaner Mike Josef) im Nordwesten, die Platz für 30000 Menschen bieten soll. Und ob Berlin oder Stuttgart es wirklich hinkriegen würden, neue Stadtviertel aus dem Boden zu stampfen so wie Baron Hausmann in 19. Jahrhundert in Paris? Die kriegen noch nicht einmal BER oder »Stuttgart 21« gebacken. Vielleicht macht man es wie Donald Trump (horribile dictu): Der gibt die Stadtentwicklung in die Hände öffentlich-privater Entwickler und zwingt die Kommunen, ihr Planungsverfahren binnen zwei Jahren abzuschließen.

    Kurzum: Der Schlachtruf »Bauen, bauen, bauen« ist leichter ausgerufen als verwirklicht. Aber darüber sich den Kopf zu zerbrechen ist allemal zielführender, als an den Miet- und Grundstückspreisen herumzufingern und die Investoren zu vertreiben.

    Rainer Hank

  • 15. Januar 2020
    Gesellschaft der Scham

    »Schäm Dich!«

    Am Öko-Pranger wird selten jemand sein Verhalten ändern

    So viel Scham wie heute war selten. Flugscham muss empfinden, wer sich mit der Lufthansa von Frankfurt nach Berlin befördern lässt. SUV-Scham soll aufkommen bei der Fahrt zum Ökoladen mit dem Porsche-Cayenne. Fleischscham ist angesagt beim Verzehr eines Dry-Aged-T-Bone-Steaks. Und Klamotten-Scham soll jeden befallen, der sich ein neues Hemd (made in Bangladesch) leistet, anstatt das alte aufzutragen.

    Man kommt aus dem Schämen nicht mehr heraus. Aber was ist eigentlich Scham, was passiert beim Schämen – und, die zentrale Frage, führt Scham zur Veränderung von Verhalten?

    Scham kennt jeder. Es ist ein ziemlich unangenehmes Gefühl, das in peinlichen Situationen aufkommt und unmittelbar körperlich wirkt. Spätestens in der Pubertät geht es los. Man möchte im Boden versinken und hört sein eigenes Herz schlagen. Am schlimmsten ist, dabei rot zu werden: Dann können, was man ja gerade vermeiden will, alle anderen sehen, dass ich gerade in ein Fettnäpfchen getreten bin. Léon Wurmser, ein in Amerika lebender Schweizer Psychoanalytiker, unterscheidet in seinem Buch »Die Maske der Scham« drei Ebenen: Die Schamangst bei drohender Gefahr der Bloßstellung. Den Schamaffekt, all die spürbaren unangenehmen Emotionen. Und schließlich die Schamhaftigkeit, den Versuch, Situationen zu meiden, die eine Demütigungen mit sich bringen könnten. Scham, so Wurmser, bezieht sich auf eigenes Versagen, darauf, dass man schwach, fehlerhaft und mangelhaft ist. Sie unterscheidet sich von der Schuld, welche die Verletzung eines anderen zum Inhalt hat. Kurzum: Scham ist etwas, was jeder gerne vermeiden möchte, was sich aber ein Leben lang nicht vermeiden lässt. Allenfalls mit besonders unsensibler Naivität begabte Zeitgenossen schaffen das. Doch für sie hat der Schöpfer das sogenannte Fremdschämen erfunden: da übernehmen dann andere stellvertretend die unangenehmen Affekte.

    Öffentliche Demütigung als »Umweltsau«

    Im zwischenmenschlichen Kampf lässt sich Scham als Waffe einsetzen. »Schäm Dich!«, sagt die Mutter zum Kind. Früher musste man dann in der Ecke stehen. Pranger wurden jene Holzpfähle genannt, an die man seit dem 13. Jahrhundert verurteilte Straftäter fesselte, um sie öffentlich vorzuführen. Jemandem Schamgefühle zuzufügen ist ein Akt öffentlicher Demütigung zur Strafe und zur Abschreckung aller anderen, die vorüber gehen.

    Dass der Pranger nicht abgeschafft wurde, sieht man an den Klimaaktivisten. Die öffentliche Demütigung als »Umweltsau« ist die moderne Form des »an den Pranger Stellens«. Wie schon im Mittelalter soll der Zweck die Mittel heiligen. Scham, so die Hoffnung, führt zur Änderung von Verhalten, in diesem Fall also zu klimabewusstem und klimaneutralem Verhalten. Anderen demütigende Schamgefühlen zuzufügen rechtfertigt sich als Aktion im Dienste der Rettung des gefährdeten Planeten.

    Doch was wissen wir eigentlich über die Entstehung von altruistischer Verhaltensänderung? Das ist ein weites Feld, auf dem auch Ökonomen einiges zu melden haben. Der Münchner Wirtschaftswissenschaftler Friedrich Sell verweist auf die klassische Erklärung, warum wir Bettlern auf der Straße Geld geben, eine Mildtätigkeit, die dem egoistische Homo Oeconomicus eigentlich fremd sein müsste. Doch es könnte sein, dass das im eigenen Ethos verwurzelte Schamgefühl ihm verbietet, einem Bedürftigen keine Hilfe zukommen zu lassen. Dann ginge es ihm in Wahrheit um die Rettung der eigenen Identität. Auf diese Weise wäre der Altruismus auf rationalen Eigennutz zurückgeführt: wer will schon mit beschädigter Identität dastehen? Hinzu kommt die Angst, von Freunden dabei ertappt zu werden, achtlos an einem Bettler vorüberzugehen, was zumindest bei empfindsameren Menschen zu Scham führen würde, eine Peinlichkeit, die es zu vermeiden gilt.

    Ob freilich diese Vermutungen zutreffen, lässt sich nur empirisch überprüfen. Das versucht Matthias Sutter. Der Verhaltensökonom ist Direktor am Bonner »Max Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern« und macht Experimente, bei denen er die Probanden in Entscheidungssituationen bringt, ob und unter welchen Bedingungen sie bereit sind, ihnen angebotenes Geld für einen guten Zweck zu spenden, das sie aber auch in die eigene Tasche stecken könnten. Dabei kommt heraus: Die Tatsache, dass andere mich sozial kontrollieren, fördert den Altruismus keinesfalls. Im Gegenteil. Zwar könnte man denken, es aktiviere die vorweggenommene Scham, als unbarmherzig identifiziert werden zu können. Doch stärker ist offenbar ein Mechanismus, den man als Delegation von Verantwortung beschreiben könnte: Was bringt es, wenn ich allein spende? Wie man sieht, tun es die anderen doch auch nicht! Nennenswerte Effekte zugunsten altruistischer Regungen stellen sich in den Experimenten erst ein, wenn egoistisches Verhalten durch außenstehende Beobachter »bestraft« wird, mithin den Probanden Geld entzogen wird, es also wirklich weh tut.

    Jemanden öffentlich beschämen ist wie Blutvergießen

    Das hat weitreichende Konsequenzen für unsere Gesellschaft der Scham, die den auf Morallappelle setzenden Klimaaktivisten nicht gefallen dürften. Denn es ist sehr schwer, über Angst und Scham das Verhalten von Menschen zu ändern. Gewiss, der Pranger wirkt: wer nicht ganz abgebrüht ist, fliegt heute mit schlechtem Gewissen von Frankfurt nach Berlin. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er fliegt. Dass andere ihn dabei beobachten, hält ihn nicht davon ab zu fliegen: Die anderen fliegen ja auch. Seit ihren Anfängen in den siebziger Jahren spielt die Umwelt- und Klimabewegung auf der Klaviatur der Scham. Das hat die Menschen in Angst versetzt, ihr Verhalten aber nicht nennenswert verändert.

    Glaubt man den Verhaltensökonomen, dann würden sich nennenswerte verhaltensändernde Effekte des Anprangerns erst einstellen, wenn die Aktivisten den Druck auf das schlechte Gewissen, also die psychischen Kosten klimaschädlichen Verhaltens, deutlich erhöhen würden, mithin sie aktiv bestrafen könnten. Sogenannte »Name-and-shame«-Kampagnen bauen darauf: Es wäre das exemplarische oder gar flächendeckende Outen von Klimasündern durch öffentlich zugängliche, personalisierte Listen. Dort könnten alle, die es wollen, nachlesen, wie oft ich, Rainer Hank, von Frankfurt nach Berlin fliege, wie viele Steaks ich im Monat gegessen habe und welches spritfressende Auto ich wie oft nutze. In dieser Welt spielen die Umweltaktivisten die Rolle des Klima-Blockwarts, eine Horror-Welt, die umso mehr schreckt, als zu befürchten ist, dass sie inzwischen mehr und mehr Freunde findet.

    Anstatt den moralischen Preis zu erhöhen, also eine Art Gewissens-Folter fürs Klima einzuführen, wäre es besser, den finanziellen Preis für klimaschädliches Verhalten heraufzusetzen. Genau das ist der Sinn des Emissionshandels, den international durchzusetzen beim vergangenen Gipfel in Madrid leider nicht gelungen ist. Doch das ist kein Grund zu resignieren: Der Emissionshandel entmoralisiert die Klimapolitik. Der Pranger der Scham moralisiert sie. Denn die Scham, so der Frankfurter Dichter Wilhelm Genazino, »warnt ununterbrochen vor dem Leben, sie empfiehlt, das Leben sein zu lassen, und wer es dennoch riskiert, wird hinterher von ihr zur Rechenschaft gezogen«. Oder, wie es im Talmud heißt: »Jemanden öffentlich beschämen ist wie Blut vergießen.«

    Rainer Hank