Rainer Hank als Illustration

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  • 23. August 2021
    Der Irrsinn der Zehn-Punkte-Pläne

    Moses und der erste Zehn-Punkte-Plan Foto S. Herman/Pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über Sofortprogramme, Maßnahmenkataloge – und was wirklich hilft

    Jetzt, fünf Wochen vor der Bundestagswahl, der »heißen« Phase des Wahlkampfes, wie man sagt, haben sie wieder Hochkonjunktur: Die Zehn-Punkte-Sofortprogramme. Die Grünen sind Marktführer. Deshalb gibt es von ihnen in diesem Jahr gleich zwei davon: Ein Klimaschutzsofortprogramm in zehn Schritten. Und als Zugabe noch »10 Punkte für Grünes Regieren«.

    Werfen wir einen kurzen Blick in die Texte der Grünen: 1. Erneuerbare Energien schneller ausbauen. 2. Den Kohleausstieg auf 2030 vorziehen. 5. Mobilitätswende beschleunigen. 10. Klimaaußenpolitik vorantreiben. Das Prinzip wird deutlich. Nichts kommt wirklich überraschend, selbst für Wähler, die nur grob eine Ahnung haben, worum es den Grünen geht. Jedes Mal wird ein verbaler Beschleuniger eingebaut. Das soll heißen: Wir drücken aufs Tempo. Nicht ungeschickt gemacht, finde ich, erst recht nach dem jüngsten Klima-Dringlichkeits-Tremolo des Weltklimarates. Im Vergleich zum Klimaprogramm fallen die »10 Punkte für Grünes Regieren« eher ab. Da heißt es zum Beispiel unter Punkt 6 »Soziale Sicherheit schaffen«. Wer wäre dagegen! Aber wie? Oder unter Punkt 10: »Fluchtursachen bekämpfen.« Gut, das haben amerikanische und deutsche Militärs gerade zwanzig Jahre lang in Afghanistan versucht. Am Ende müssen wir jetzt mit einer neuen Flüchtlingswelle rechnen.

    Die Listen der anderen sind nicht besser. Etwa die »Zehn Punkte« vom #teamLaschetSpahn, die unter der Überschrift »Für ein innovatives und lebenswertes Deutschland« daherkommen. Besonders haben es mir die beiden letzten Punkte angetan: 9. Zusammenhalt STIFTEN. 10. Zukunftspartei SEIN. Donnerwetter. Den Sozialstaat haben ohnehin alle Parteien auf dem Zettel. Die Linke macht ihn »sicher«, die Grünen wollen ihn erst schaffen, haben wohl nicht mitgekriegt, dass es ihn schon gibt. Und die CDU will ihn sogar »modernisieren«. Die SPD übrigens hat keinen Zehnpunkteplan, sondern lediglich »Zwanzig Punkte gegen Steuerhinterziehung«. Und der FDP ist nach drei Punkten die Puste ausgegangen. Beides könnte sich am 26. September rächen. Ohne Zehnpunktepapier geht gar nichts.

    Repertoire der politischen Entscheidungssimulation

    Es hätte mir von Anfang an klar sein müssen, dass es vergebliche Liebesmühe ist, aus Zehnpunkteplänen inhaltliche Hilfestellungen für eine Wahlentscheidung bekommen zu wollen. Das ist nicht der Zweck dieser Literaturgattung, die redundant und unbestimmt bleiben müssen, einerlei aus welcher politisch-ideologischen Ecke sie stammen.
    Doch warum versorgen uns die Parteien überhaupt mit derartigen Zehnerlisten, nicht nur zur Wahl? Mein Lieblingszitat stammt aus der Badischen Zeitung vom 2. Juni 2012: »Der neue Bundesumweltminister Peter Altmaier hat einen Plan. Er kennt den Inhalt noch nicht, aber es werden zehn Punkte sein.« Eine Erklärung für derartig absurde Sätzen findet sich in einem Buch des Bremer Politikwissenschaftlers Philip Manow, das den schönen Titel trägt »Die zentralen Nebensächlichkeiten der Demokratie.« Der Zehnpunkteplan gehöre zwingend zum »Repertoire der politischen Entscheidungssimulation«, schreibt Manow: Politiker wissen im Grunde, wie ohnmächtig sie sind (siehe Klima, siehe Afghanistan). Aber sie wissen auch, dass sie, frei nach dem Motto einer legendären Ford-Werbung, den Eindruck erwecken müssen: »Die tun was!« Und natürlich auch: »Die schaffen das.« Zehnerlisten sind Instrumente zur »Rückerlangung des Anscheins von Souveränität, Instrumente aus dem reichen Kasten politischer Inkompetenzkompensation« (Philip Manow).

    Bis heute unübertroffenes Vorbild aller Zehnpunktepläne ist natürlich der Dekalog, die Zehn Gebote, mit denen Mose vom Berg Sinai zurückgekommen ist. Der Dekalog zeichnet den Zehnpunkter vor allen anderen Bulletpoint-Bingo-Rankings aus. Zehn sind besser als fünf oder gar vierzehn. Berühmt wurde Georges Clemenceaus Kommentar auf Woodrow Wilsons 14–Punkte-Rede zu einer Friedensordnung für Europa vom Januar 1918: »Le bon dieu n’en avait que dix!«: Der liebe Gott ist doch auch mit nur zehn ausgekommen. Doch Mose musste sogleich erleben, dass das Volk Israel sich einen Teufel scherte um seine Zehn-Punkte-Programm und lieber um das Goldene Kalb tanzte.
    Ich hätte übrigens eine Alternative zu den Zehnpunkteplänen. Der amerikanische Politiker Warren G. Harding (1865 bis 1923), ein Republikaner, wurde im Jahr 1921 zum US-Präsidenten gewählt. Sein Slogan hieß: »Return to Normalcy«. Das war direkt nach der Pandemie der spanischen Grippe ein befreiendes Verspechen. Warum soll so etwas heute nicht auch in Deutschland funktionieren? Wir kehren zurück zur alten Normalität. Das meint nicht nur die Freiheit des Alltagslebens. Es meint auch das Ende der grassierenden Staatswirtschaft.

    Wider die ordnungspolitische Verwahrlosung

    Denn die Gefahr besteht, dass der ordnungspolitische Ausnahmezustand der langen Pandemie-Monate zur neuen Normalität wird, weil dies den Politikern Raum für immerwährenden Aktivismus eröffnet. Zum Beleg für meinen Verdacht taugen die Beschlüsse der letzten Ministerpräsidentenkonferenz von Anfang August. Unter den vielen Auflagen der Politik an die Betriebe findet sich etwa die Aufforderung der »Arbeitsschutzverordnung«, die Betriebe müssten Homeoffice anbieten. Das findet weiterhin breit statt. Dies wiederum führt dazu, dass viele Restaurants in den Städten kurzarbeiten lassen und einen zweiten »Ruhetag« einlegen, weil der Andrang zum Lunch noch nicht so groß ist wie vor der Krise. Absurd ist es, dass die Politik mit Geld der Steuer- und Beitragszahler (Kurzarbeit) einen Zustand (Homeoffice) kompensiert, den sie selbst mehr oder weniger vorgeschrieben hat. Mit Marktwirtschaft hat das nichts zu tun. Die Betriebe und ihre Beschäftigten sollen selbst eine Balance zwischen Office und Home-Office aushandeln. Womöglich überleben danach nicht mehr alle Restaurants. Sie dürften deshalb erst recht mit Kurzarbeitergeld gepäppelt werden.

    Ordnungspolitik heißt: Lasst den Staat machen, was der Staat kann, und den Markt, was der Markt kann. Fast zwei Jahre erleben wir jetzt eine »ordnungspolitische Verwahrlosung« – so der Würzburger Ökonom Norbert Berthold: Staatswirtschaft verdrängt mehr und mehr die Marktwirtschaft. Der Staat verteilt Masken und Impfstoffe, nicht besonders effizient, wie wir gesehen haben. Der Staat verschuldet sich über die Halskrause und hofft auf unendlich viele Jahre mit Niedrigzinsen. Politiker finden großen Gefallen an dieser Art Staatswirtschaft. Geldausgeben macht ihnen Spaß. Viel Staatsgeld kommt jetzt auch zum Wiederaufbau der von der Flut zerstörten Städte und Dörfer an der Ahr zum Einsatz. In Wahlkampfzeiten geht das wahrscheinlich nicht anders – es wird freilich die Neigung, künftig klimabedingte Unwetterrisiken privat zu versichern, nicht gerade fördern. Der staatliche Allmachts-Gestus wird schließlich auch nicht dazu beitragen, dem Klimawandel mit Marktlösungen (Emissionshandel, CO2–Steuern) zu trotzen. Interventionismus und viel Geld ausgeben gehören – wie die Zehnpunktepläne – zum Instrumentenkasten politischer Kompetenzsimulation. Der Aufruf »Zurück zur Normalität« hat es da schwer, ich weiß.

    Rainer Hank