Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 18. Oktober 2024
    Arme Männer

    Starke Frauen Foto unsplash/Corinne Kutz

    Dieser Artikel in der FAZ

    Frauen auf der Überholspur. Und die Männer pennen.

    Frauen sind benachteiligt: Sie verdienen weniger als Männer, sind schlechter ausgebildet und tragen die Hauptlast der Kindererziehung. An dieser Ungerechtigkeit ändert sich nur wenig. So geht die gängige Erzählung. Deshalb haben die Politiker den Equal Pay Day erfunden, werden gesetzliche Quoten für Vorstände und Aufsichtsräte erzwungen und Mint-Programme eingeführt, mit denen Schülerinnen die Freude an Mathe, Physik und Informatik vermittelt werden soll, was für später ein höheres Einkommen verspricht.

    Das ist alles nicht völlig falsch, wenn man sich statisch auf den Ist-Zustand konzentriert. Überall klaffen Lücken: Einkommens-, Betreuungs- Gerechtigkeitslücken. Lücken, die geschlossen werden wollen. Doch die statische Betrachtung verstellt den Blick auf die Dynamik der Veränderung im Zeitverlauf. Leicht wird übersehen, dass die Frauen nicht nur aufholen, sondern auch bereits überholen. Das ist eine gute Nachricht. Allerdings sollte man die Frage, wo die Opfer stecken, neu justieren.

    Zunächst ein paar Daten. Seit Wintersemester 2021/2022 studieren erstmalig mehr Frauen als Männer an deutschen Hochschulen. In einer ganzen Reihe reicher Länder ist inzwischen der Anteil der Frauen mit einem Universitätsdiplom höher als der der Männer. In USA und Großbritannien beträgt der Unterschied jeweils mehr als zehn Prozent. Im Vereinigten Königreich sind inzwischen mehr junge Frauen in Lohn und Brot als junge Männer. Auch das Gender-Pay-Gap beginnt sich zu drehen.

    Männer ohne Job und Ausbildung

    Das sind Daten der OECD, die ich einem statistischen Überblick der »Financial Times« von Mitte September entnehme. Man könnte eine Erfolgsfanfare erschallen lassen, gäbe es nicht auch eine Kehrseite. Das sind die jungen Männer. Sie fühlen sich im Wettbewerb mit den überholenden jungen Frauen überfordert und nicht zu besseren Leistungen herausgefordert. Stattdessen neigen sie zu Resignation. Über alle OECD-Länder hinweg wächst der Anteil junger Männer, die weder einen Job haben noch sich in Ausbildung befinden. In Großbritannien, Frankreich, Spanien und Kanada befinden sich inzwischen mehr junge Männer als Frauen abseits gesellschaftlicher Teilhabe in Arbeit oder Studium. So etwas gab es nicht seit dem Beginn der Industrialisierung.

    Wenn junge Frauen weder in Ausbildung noch in Arbeit sind, dann weil sie sich auf Familie und Kinder fokussieren – das ist bei den jungen Männern nicht der Fall. Sie machen buchstäblich nichts, leiden zunehmend unter psychischen Krankheiten. Und neigen dazu, populistische und extremistische Parteien (seien sie rechts- oder linksextremistisch) zu wählen.

    In Deutschland lässt sich das alles nur in abgeschwächter Form beobachten. Das ergibt meine Nachfrage bei Enzo Weber. Er ist Ökonomieprofessor und arbeitet am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, einer staatlichen Einrichtung. All die »Gaps« der Lebens- und Arbeitswelt fallen hierzulande immer noch zu Lasten der Frauen offen, aber sie schrumpfen. So beträgt der Gender-Pay-Gap, der die Verdienste auf vergleichbare Tätigkeiten und Qualifikationen bezogen vergleicht, inzwischen »nur« noch sechs Prozent. Der »Gender-Hour-Gap«, der die Zahl der monatlich gearbeiteten und bezahlten Stunden beziffert, liegt bei 18 Prozent. Vor zehn Jahren waren es noch 22 Prozent. Die Ausbildungsvergütungen für Mädchen sind inzwischen höher als für Jungen. Die Löhne und Gehälter in vergleichbaren Berufen und bei vergleichbaren Qualifikationen lassen bis ungefähr zum dreißigsten Lebensjahr keine Diskriminierung mehr erkennen.

    Das bedeutet: Auch hierzulande holen die Frauen gehörig auf. Geht es so weiter, werden sie – wie jetzt schon die Studentinnen – ihre männlichen Altersgenossen auch in der Arbeitswelt bald überholt haben. Dass letztere im Gegenzug hierzulande dazu neigen, sich aus der Bildungs- und Arbeitswelt zu verabschieden, ist glücklicherweise nicht zu konstatieren. Aber Verhaltensauffälligkeiten bei jungen Männern – ADHS-Zappelphilippe – werden auch in Deutschland immer häufiger gezählt. Dass die Jüngeren zunehmend populistisch wählen, haben die vergangenen Wahlen im Osten gezeigt.

    Was ist mit »child penalty«?

    Bleibt als große Diskriminierung der finanzielle Einschnitt, sobald die Kinder kommen. Ein Einschnitt, der in der Forschung ein bisschen kinderunfreundlich als »child penalty« oder »mother penalty« bezeichnet wird: also als Strafe für die Mutterschaft, denn der Einkommensabstand zwischen Müttern und Vätern vergrößert sich etwa vom 30. Lebensjahr wieder. Nach einer Studie, die 2019 unter an der Princeton Universität angefertigt wurde, fallen die Einkommen der Mütter bis zu einem Drittel im ersten Jahr nach der Geburt des ersten Kindes zurück, während die Väter munter ihr Einkommen steigern und erfolgreich an ihrer Karriere basteln. Zehn Jahre später betrug der Lohnabschlag für die Mütter immer noch rund zwanzig Prozent.

    Die Theorie der Child Penalty wurde, wie häufig in der Wissenschaft, methodisch angezweifelt. Der Storch bringe die Kinder nicht randomisiert in die Welt, so lautet die Kritik. Das heißt: Durch Zufall zustande kommende Kontrollgruppen kinderloser Frauen gibt es in diesen Forschungen nicht. Vergleicht man dagegen Frauen, die sich einer künstlichen Befruchtung unterzogen haben, ist eine solche Randomisierung möglich. Denn da weiß man vor der Behandlung nicht, wer schwanger wird. Und siehe da: In solche Studien beträgt der Abstand zwischen Müttern und kinderlos gebliebenen Frauen »lediglich« zwanzig Prozent und schrumpft zehn Jahre später auf nur noch drei Prozent zusammen. Gleichwohl: In der Zwischenzeit vermochten die Väter ihr Einkommen um zehn Prozent zu verbessern.

    Ich vermute, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch die Mütter gleichziehen, eine Vermutung, die nicht überall geteilt wird. Immer mehr Väter wollen ihre Arbeitszeit reduzieren, während immer mehr Mütter nach der Babypause wieder Vollzeit arbeiten oder zumindest eine relative hohe Teilzeit wählen. Die Knappheit des Arbeitsangebots in Zeiten der Vollbeschäftigung wird die Unternehmen zudem dazu nötigen, den Müttern flexiblere Bedingungen zu bieten und sie besser zu bezahlen. Würde dann hierzulande auch noch das Mütterarbeitshindernis »Ehegattensplitting« abgeschafft, wage ich zu prognostizieren, dass auf mittlere Sicht auch die »mother penalty« weiter schrumpfen und auf lange Sicht ganz verschwinden wird.

    Ich fasse zusammen: Die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern in Arbeitswelt ändern sich dramatisch. Die alten Narrative – Frauen werden sind immer Opfer – werden dagegen unverändert weitererzählt. Dabei sind im Zeitverlauf die Frauen die wahren Gewinner wachsender Gleichberechtigung. Das ist ein Fortschritt, den Frauen und Männer feiern sollten, statt die alten Weinerlichkeiten zu pflegen.

    Rainer Hank

  • 14. Oktober 2024
    Christlicher Patriotismus

    Der Limburger Bischof Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz Foto: Bistum Limburg

    Dieser Artikel in der FAZ

    Und was von bischöflichen Wahlverboten zu halten ist

    Die Kirchen in Deutschland sind der Meinung, die AfD sei für Christen nicht wählbar. Diese Partei wolle unser freiheitliches, demokratisches System umstürzen, sagt der Limburger Bischof Georg Bätzing: »Davor muss ich Christen und Christinnen warnen.« Bätzing ist Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. »Sei auf der Seite der Schwachen« gebiete das Evangelium, sagt der Potsdamer evangelische Regionalbischof Kristof Balint. Die rechten und rechtsradikalen Tendenzen in der AfD seien damit nicht vereinbar. Vergleichbare Verlautbarungen hören wir seit Monaten von Amts- Würden- und Hierarchieträgern aller Konfessionen. Einige Kommentatoren in kirchlichen Medien vertreten die Auffassung, auch Union und FDP seien nicht wählbar, weil sie sich für Kontrolle der Migration einsetzen. Außer Grünen und Linken bleibt da am Ende nicht viel Wählbares übrig – denn auch SPD und BSW wollen die Migration beschränken.

    Mich interessiert: Ist solche Bevormundung von Christen okay? Und wie überzeugend ist die Begründung?

    Nicht so sehr interessiert mich die Aussage Bischof Bätzings, die AfD wolle das freiheitliche, demokratische System umstürzen. Woher weiß er das? Einen Beleg liefert er nicht. Lassen wir es also als seine Privatmeinung durchgehen. Es gab Jahrzehnte, da waren die Christen weniger streng: Bis weit in die Hierarchie hinein haben sie mit dem Marxismus geflirtet, eine Ideologie, die offen bekennt, das demokratische System stürzen zu wollen. Gut bekommen ist diese Nähe den Christen allerdings nicht.

    Konzentrieren wir uns auf die Frage, wer eigentlich »die Schwachen« sind, an deren Seite die Christen zu stehen hätten. Und was daraus folgt. Auch da bleiben die Bischöfe vage, was den Verdacht weckt, das Bekenntnis sei wohlfeil und wenig christspezifisch, weil es sich selbstgerecht an den Zeitgeist anschmiegt, was den von Kirchenaustritten gebeutelten Bischöfen Beifall bringt, ohne dass es etwas kostet.

    Wer also sind die Schwachen? Die »vorrangige Option für die Armen« ist ein theologischer Topos, der sich seit den sechziger Jahren in kirchlichen theologischen Kreisen verbreitet hat. Das war damals neu: Die herkömmliche katholische Soziallehre sprach sich für Solidarität und Subsidiarität aus, eine Option für dezentrale Nächstenliebe, ohne eine besondere Privilegierung einzelner Gruppen zu empfehlen.

    Wer sind die Schwachen?

    Unausgesprochen und pauschal gehen die Kirchenleute offenbar davon aus, dass die Flüchtlinge, die zu uns kommen, »die Schwachen« sind. Das mag vielfach zutreffen. Doch weisen viele Migrationsexperten darauf hin, dass es aufs Ganze gesehen gar nicht die Ärmsten und Ungebildeten sind, die nach Europa aufbrechen. Die Ärmsten bleiben, wo sie sind, sagt der holländische Soziologe Hein de Haas. Die meisten Migranten kommen aus Schwellenländern: nicht aus den ärmsten Ländern wie Madagaskar oder dem Südsudan (kaum irgendwo auf der Welt ist das Elend so groß). Wer auswandert, muss Geld haben – für Transport, Visa, Vermittler (und Schleuser).

    Wer den Schwächsten helfen will, müsste sich folglich besonders darum kümmern, dass die Menschen in den ärmsten Ländern aus der Armut befreit werden, Bildung und ein gutes Gesundheitssystem erhalten und zu Wohlstand kommen. Das funktioniert am besten mit Freihandel und offenen Märkten in einer globalen Wirtschaftsordnung – also mit genau jener Praxis (und Theorie), die gerne und nicht zuletzt von den Christen als »Neoliberalismus« geschmäht wird. Seit vor gut zehn Jahren allenthalben der Handelsisolationismus in Mode kam, geht es den Schwachen auf der Welt wieder schlechter.

    Der brandenburgische AfD-Politiker und Katholik Hans-Christoph Berndt sagt: »Da ich katholisch bin, bedeutet Nächstenliebe für mich, sich um die Angehörigen des eigenen Volkes zu kümmern.« Den Satz haben ihm viele Kirchenleute schwer verübelt. Wenn er damit ausschließt, sich um die Fremden zu kümmern, wird man ihm widersprechen müssen. Aber dass Nächstenliebe verbieten soll, sich um die Nächsten in meiner unmittelbaren Umgebung (Familie, Dorf, Gemeinde, Volk) zu kümmern, scheint mir schon vom Begriff her danebenzuliegen – und widerspricht zudem der Subsidiaritätsforderung der katholischen Soziallehre.

    Im Kern, so vermute ich, geht es darum, ob es so etwas wie einen »christlichen Patriotismus« geben darf. Schon bei diesem Begriff wird es viele Christen schütteln, weil sie automatisch Patriotismus mit völkischem Nationalismus gleichsetzen. Ich empfehle als Korrektiv die Lektüre der Schriften einer rechtsradikaler Umtriebe unverdächtigen Zeugin: Simone Weil (1909 bis 1943), eine französische Jüdin und linke Aktivistin, die sich im Lauf ihres Lebens der katholischen Mystik zuwandte, ohne ihrem politischen Engagement für die Arbeiter und kleinen Leute – also für die Schwachen – abzuschwören.

    In Weils Nachlass gibt es eine aufregende Schrift mit dem Titel »Die Verwurzelung«. Dort heißt es: »Die Verwurzelung ist wohl das wichtigste und am meisten verkannte Bedürfnis der menschlichen Seele.« Der Mensch habe eine Wurzel durch seinen aktiven und natürlichen Anteil am Dasein seines Gemeinwesens, der sich definiert durch Geburt, Beruf und Umgebung. Dem steht in der Moderne die Erfahrung einer »Entwurzelung« entgegen, an der nach Simone Weil nicht zuletzt der Staat mit seinem Nationalismus und Imperialismus schuld ist. Echte Verwurzelung bezieht ihre Kraft aus der sozialen und kulturellen Umwelt als »Voraussetzung für das Wohl eines Volkes«. Entsprechend plädiert Simone Weil für die Anerkennung und Förderung dezentraler Gemeinschaften und lokaler Traditionen. Der Clou: Patriotismus ist etwas anderes als Nationalismus.
    Die Idee der Verwurzelung ist nicht nur verwandt mit der christlichen Idee der Subsidiarität, sondern auch mit dem Begriff der »Ligaturen«, den der liberale Denker und Politiker Ralf Dahrendorf geprägt hat – also der Bindungen an Tradition und Heimat. Wer das alles gleich als provinziell und völkisch diabolisiert, hat nichts verstanden. Und versteht erst recht nicht das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, das sich in dem sogenannten »Rechtsruck« Europas eben auch spiegelt.

    Es müsste somit darum gehen, Offenheit und Verwurzelung zusammenzudenken. Entwurzelung ist ja nicht nur die Erfahrung, die Migranten machen, die ihre Heimat verlassen. Es ist auch die Erfahrung der Menschen in den Zielländern der Migranten, die sich bedroht fühlen und ihre Wurzeln (Identität) fürchten.

    Solche gewiss widersprüchlichen Erfahrungen in den Blick zu nehmen, wäre mein heutiger Kolumnisten-Rat nicht nur für die christlichen Hierarchen. Das wäre origineller als sich vom hohen moralischen Ross herab dem allgemeinen Unvereinbarkeitspathos und Brandmauergerede anzuschließen, das doch nur nachplappert, was alle sagen.

    Rainer Hank

  • 08. Oktober 2024
    Im Paradies der Damen

    Kaufhaus Schocken in Stuttgart Foto Archiv

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ein Nachruf auf das Kaufhaus – speziell in Stuttgart

    »Wir gehen zum Schocken.« Ich hatte nie verstanden, warum meine Tante sagte, wir gingen zum Schocken, wo das Kaufhaus in der Stuttgarter Eberhardstraße doch den Namen »Horten« trug. Als Kind fragt man nicht. Als Kind hatte ich gelernt, wenn die Tante »Schocken« sagte, dann meinte sie den »Horten«.

    Später dann, als Erwachsener, habe ich mir zusammengereimt, Schocken müsse wohl ein jüdischer Unternehmer gewesen sein, dessen Kaufhäuser von den Nazis enteignet wurden und irgendwann an den Herrn Horten gefallen waren. Und für meine Tante, die seit den dreißiger Jahren in Stuttgart lebte, wäre der Horten halt immer noch der Schocken. So hätte es sein können. Doch so war es nicht gewesen.

    Nachdem ich jetzt die große Biographie des Nachkriegsunternehmers Helmut Horten der beiden Historiker Peter Hoeres und Maximilian Kutzner gelesen habe (»Der Kaufhauskönig«), bin ich schlauer. Salman Schocken (1877 bis 1959) und sein Bruder Simon (1874 bis 1924) hatten zu Ende des 19. Jahrhunderts das große Potential erkannt, das das Geschäftsmodell Kaufhaus barg. Die mit dem »Au Bon Marché« 1852 in Paris begonnenen Erfolgsgeschichte der Kaufhäuser – Konsumtempel in den Innenstädten der großen Städte – hatte den Einkauf, wenn nicht demokratisiert, so doch immerhin für den kleinen Geldbeutel erschwinglich werden lassen. Wer wissen will, wie Kommerz und Marketing damals funktionierten, muss Emile Zolas Roman »Im Paradies der Damen« (»Aux Bonheur des Dames«), 1882 erschienen, lesen. Das Buch entführt uns in die schillernde Welt eines Pariser Warenhauses – beleuchtet Architektur, Interieur und Sozialgefüge der Angestellten, aber auch die Auswirkungen auf den gewachsenen Mikrokosmos der angrenzenden Stadtviertel.

    Nach dem Ersten Weltkrieg begann die Expansion der Brüder Schocken in größere deutsche Städte: Die ersten Kaufhäuser wurden in Stuttgart und Ingolstadt errichtet. Hier zielte man nicht mehr nur auf Arbeiter als Kunden. Es fanden sich in den Auslagen auch höherpreisige Waren. 1931 gab es über 30 Schocken-Filialen im gesamten Deutschen Reich. Das Stuttgarter Kaufhaus wurde 1928 von dem bekannten jüdischen Architekten Erich Mendelsohn gebaut. Das Gebäude war beeinflusst von Mendelssohns expressionistischem Architekturverständnis. Sein Design mit halbrundem gläsernen Treppenturm, Fensterbändern und Flachdach hob es – zusammen mit dem »Tagblattturm«, einem Bau der Neuen Sachlichkeit – deutlich aus dem gründerzeitlichen Stuttgart der Vorkriegszeit heraus.

    Helmut Horten kauft die Schocken-Häuser

    Mit der Machtübernahme der Nazis änderte sich die wirtschaftliche Situation für die jüdischen Kaufhausbesitzer. Der Aufruf »Kauft nicht bei Juden!« tat seine verheerende Wirkung. Von 1933 an trennte Schocken sich schrittweise von seinen Kaufhäusern und emigrierte zunächst nach Palästina, dann in die USA. Der Verkaufspreis der Häuser lag deutlich unter Marktwert.

    Nach dem Krieg, im Jahr 1949, erhielt Schocken 51 Prozent seines Konzerns zurück und legte all seine Energie in den Wiederaufbau der Warenhäuser. Das heißt: Nach dem Krieg war Schocken in Stuttgart tatsächlich wieder Schocken. Allerdings nur bis Anfang der Fünfziger Jahre – als Schocken sein Eigentum an den Kaufmann Helmut Horten für 12,5 Millionen DM verkaufte. Was ihn zum plötzlichen Verkauf trieb, dazu finden sich laut Historiker Peter Hoeres keine Quellen.

    Helmut Hortens Karriere wurde – wie bei vielen Unternehmern des westdeutschen Wirtschaftswunders – in der Nazizeit grundgelegt. Als »Nutznießer« der Arisierung war er kein ideologischer Nazi, aber profitgieriger Opportunist, der die Zukunft der Kaufhäuser erkannt hatte. Mit der Übernahme der Schocken-Kaufhäuser wurde er mit einem Schlag einer der großen Spieler im Einzelhandel der frühen Bundesrepublik – mit zuletzt 29.000 Angestellten, 51 Warenhäuser und zwei Milliarden DM Umsatz. Im Ranking der großen Warenhäuser hielt er Platz vier – nach Kaufhof, Karstadt und Hertie.

    Als genial gilt die Erfindung der sogenannten Horten-Kacheln – ein stilisiertes »H« – erst aus Keramik, dann aus Aluminium, erfunden von dem Architekten Egon Eiermann: Zur Fassade der Kaufhäuser wurde eine Wabenstruktur dieser Kacheln, die den Zweck hatte, den Horten-Kaufhäusern ein einheitliches Erscheinungsbild zu verpassen. Horten forderte den Abriss des Mendelsohnbaus, weil es keine Rolltreppen und keine Klimaanlage gab. In Stuttgart regten sich große Widerstände gegen die »Verschandelung des Stadtbildes«. Doch letztlich setzte sich Horten durch. Der Mendelsohnbau wurde 1960 abgerissen, der Eiermannbau wurde – geliebt und gehasst – zum Ausdruck des amerikanischen Konsumismus in einer »autorgerechten« Stadt.

    Erst von 1961 an, so kann man es sagen, war aus Schocken Horten geworden – nicht schon in den dreißiger Jahren, wie ich fälschlich vermutet hatte. Für meine Tante blieb es aber bis zu ihrem Tod »der Schocken«.

    Ein ziemlicher Unsympath

    Helmut Horten, nach Lektüre der Hoeres-Biografie ein ziemlicher Unsympath, war klüger als die Benko-Brüder. Rechtzeitig vor der ersten großen Krise der Kaufhäuser in den siebziger Jahren hatte er Kasse gemacht, das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und sich mit einem Milliardengewinn »unter legaler Ausnutzung eines Steuerschlupfloches« (Peter Hoeres) ins Tessin abgesetzt, wo man ihn mit offenen Armen und niedrigen Steuersätzen aufnahm. Fortan widmete er sich seiner 32 Jahre jüngeren Frau Heidi (gestorben 2022), dem Kauf von Kunst, der 20.000 Quadratmeter großen Jagd in der Steiermark (wahlweise auch in den Karpaten und in Afrika) und der erfolgreichen Vermehrung seines großen Vermögens. Eiserne Disziplin – der Arbeitstag begann um 6 Uhr 30 und endete spät in der Nacht – hatten in groß gemacht. Jetzt erlaubte er sich, im Luxus zu schwelgen.

    Die feineren Sachen kauften wir Stuttgarter natürlich nicht beim Schocken, sondern beim Breuninger. Da gab es sogar eine Abteilung, die hieß »Exquisit« und später auch noch ein Schwimmbad auf dem Dach. Das ist alles lang her. Kaufhäuser braucht im Zeitalter von Amazon niemand mehr. Auch der Breuninger steht jetzt zum Verkauf.
    Unternehmerische Haudegen wie Helmut Horten, Georg Karg (Hertie), Josef Neckermann, Berthold Beitz (Krupp) findet man heute eher in Kalifornien. Horten habe viel erreicht, meinen seine Biografen: Er hat Mode und Stil für jedermann ermöglicht, die Kulinarik ins Warenhaus geholt, die Deutschen mit frischem Fisch versorgt und ein angenehmes Einkaufserlebnis geschaffen. In seiner Branche sei er der Ehrgeizigste und in der langen Boomphase nach dem Krieg der Waghalsigste gewesen. Ähnlich der opaken Fassade seiner Kaufhäuer (Horten-Kachel) gestattete er keinen Einblick in sein Innenleben und vernichtete viele Spuren seiner Existenz.

    Rainer Hank

  • 28. September 2024
    Von der Freiheit träumen

    Go West: Freiheit oder Imperialismus Foto Disney

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum wir Timothy Snyder lesen sollten

    Posad-Pokrovske, ein Dorf im Süden der Ukraine, wurde beim russischen Vormarsch komplett zerstört. Ende des Jahres 2022 hat die ukrainische Armee die Russen so weit zurückgedrängt, dass deren Artillerie nicht mehr bis nach Posad-Pokrovske reichte und einige Bewohner wieder zurückkehrten.

    Mariia, 85 Jahre alt, ist eine von ihnen. Sie fand Unterschlupf in einer kleinen Hütte, die ihr als provisorische Behausung von einer internationalen Organisation zur Verfügung gestellt wurde. Ihr eigenes Haus war nach dem Beschuss mit Bomben und Granaten nur noch eine Ruine; lediglich ein paar persönliche Gegenstände konnte sie retten.
    Mariias Dorf wurde befreit. Aber sind die Bewohner, die jetzt wieder zurückgekommen sind, frei? Freiheit sei nicht nur die Abwesenheit von Bösem, sondern auch die Anwesenheit von Gutem, meint der Historiker Timothy Snyder: »Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Mariia wirklich frei war, ohne ein richtiges Haus mit einem Stuhl und einen freigeräumten Weg zur Straße für ihren Rollator.«

    Mit der Geschichte von Mariia und der Reflexion über die Freiheit beginnt das in dieser Woche erschienene neue Buch von Timothy Snyder: »Über Freiheit« (»On Freedom«). Die Geschichte Mariias zeigt die Stärke des Buches in nuce: Freiheit, ein Wort, das durch allzu viele Keynotes und Kongresse hohl und leer geworden ist, kommt hier konkret, fast möchte man sagen frisch daher. Denken wir noch einmal nach, so als ob es die vielen liberalen Denkfabriken und Parteien nicht gäbe!

    Snyder, auf Osteuropa spezialisierter Historiker und Professor an der amerikanischen Yale Universität, ist alles andere als naiv. Schon der Titel zitiert die große Referenzschrift des englischen Philosophen John Stuart Mill »On Liberty«, mit dem der Autor sich dann merkwürdigerweise nirgends näher auseinandersetzt. Dass für die greise Mariia Freiheit nicht nur Abwesenheit des Bösen ist, sondern, um wirklich frei zu sein, es auch der Anwesenheit des Guten bedürfe, nimmt Bezug auf die ebenfalls von Mill vorausgedachte und von Isaiah Berlin weiterentwickelte Unterscheidung zwischen »negativer« und »positiver« Freiheit. Demnach hat Freiheit zwei Seiten: Sie lässt mich – »negativ« – tun und lassen, was ich will, solange dies die Freiheit der anderen nicht verletzt. Und sie macht es mir – »positiv« – zur Aufgabe, mir meine Bestimmung (meine Regeln, mein Gesetz) zu geben und danach zu handeln. Das ist vermutlich gemeint, wenn es jetzt häufig heißt, in der Ukraine werde die Freiheit des ukrainischen Volkes verteidigt – und auch die »westlichen Werte«, die es zu retten gelte.

    Die zynische Freiheit der Sklavenhalter

    Snyder schlägt sich auf die Seite der positiven Freiheit. »Wenn wir frei sein wollen, werden wir bejahen, nicht nur verneinen müssen.« Darin wird man ihm gerne zustimmen. Er übertreibt freilich, wenn er die negative Freiheit als vulgär-libertär denunziert, der es ausschließlich darum gehe, den kapitalistischen Markt von den Einflüssen des Staates zu befreien und sie als zynische Freiheit der Sklavenhalter schmäht, die sich für frei halten, weil sie über andere Menschen als ihr Eigentum bestimmen. Snyders Ressentiment wird dem emphatischen Begriff der negativen Freiheit nicht gerecht, scheint mir eher dem postkolonialen Zeitgeist und der linksliberalen Tradition amerikanischer Ostküstenintellektueller geschuldet.

    Bedenkenswerter sind die fünf Formen der Freiheit, die für Snyder dazu taugen sollen, eine Verbindung zwischen Freiheit als Prinzip und Freiheit als Praxis herzustellen. Damit kann das Unbehagen behoben werden, dass die Verteidiger der Freiheit gerne beim Prinzipiellen stehenbleiben und sich drücken, wenn es konkret wird. Die fünf Formen heißen: »Solidarität« oder die erlernte Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. »Unberechenbarkeit« oder die Fähigkeit, physikalische Gesetzmäßigkeiten den persönlichen Zwecken anzupassen. »Mobilität« oder die Fähigkeit, sich wertegeleitet durch Raum und Zeit zu bewegen. »Faktizität« oder die Anerkennung der Welt, die es uns erlaubt, sie zu verändern. Schließlich »Solidarität« oder die Erkenntnis, dass Freiheit für alle da ist.

    Greifen wir »Souveränität« und »Mobilität« heraus. Unter »Souveränität« thematisiert Snyder den menschlichen »Leib« (als deutsches Wort), den er vom unpersönlichen »Körper« unterscheidet. Im Englischen existiert nur ein einziger Begriff: »body«. Der Leib ist nicht nur ein physikalischer Körper, sondern er kann sich bewegen, fühlen und sich im Raum verorten. Freiheit als leibliche Souveränität gefasst, ist davor gefeit, »vergeistigt« gedacht zu werden.

    Snyder berichtet anrührend von der Erfahrung einer Krankheit, die ihn als Fünfzigjährigen an die Grenze des Todes gebracht hat. Ein durchbrochener Blinddarm fand nicht nur deshalb keine Beachtung, weil er an die falschen Ärzte geraten war, sondern auch, weil er seinen Leib nicht ernst zu nehmen pflegte. »Ich war dazu erzogen worden, den Leib als ein äußeres Hindernis zu betrachten, dem man sich widersetzen musste.« Den eigenen Leib nicht als Begrenzung, sondern als Ermöglichung der Freiheit zu deuten, ist eine Idee, die Snyder sich von zwei in den USA nahezu unbekannten europäischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts sagen lässt: der zum Katholizismus konvertierten Jüdin Edith Stein und der (fast) zum Katholizismus konvertierten Jüdin Simone Weil: Starke Frauen, die für die Freiheit mit ihrem Leib einstanden – bis zum Tod.

    Dass »Mobilität« eine Bedingung der Freiheit ist, wird ebenfalls gerne übersehen. Mariia, die Alte im Dorf Posad-Pokrovske, braucht einen freien Weg zur Straße für ihren Rollator. Es geht um ein »Wegerecht« für alle: die Bewegungsfähigkeit in Raum und Zeit und zwischen Werten. Immobilisierung ist eine gravierende Einschränkung der Freiheit. In Deutschland haben die Nazis 1933 die Juden bewegungsunfähig gemacht und schließlich vernichtet. Auch Stalin wollte sich die Welt unterwerfen um den Preis, dass Millionen Menschen verhungerten oder in Konzentrationslagern starben. Wenn Snyder folgert, dass sowohl Hitler wie auch Stalin den kapitalistischen Imperialismus der USA (»Go West«) imitierten sei, dann wird er abermals Opfer einer maßlosen Übertreibung und Ungerechtigkeit im Blick auf sein Heimatland.

    Dass Märkte Orte sind, an denen wir durch Tausch – einen Akt der Freiheit und Mobilität – unsere Lebensmöglichkeiten erweitern, würde Snyder wohl als ideologische Propaganda des Kapitalismus abtun. Dabei stammt der Gedanke von Adam Smith, einem großen Denker der Freiheit. Sei’s drum: Ich halte Timothy Snyders »On Freedom« für eine der wichtigen Neuerscheinungen dieses Bücherherbstes, nicht zuletzt FDP-Politikern zur Erbauung empfohlen, wenn sie wieder einmal in ihren Kämmerlein ihr trauriges Schicksal beweinen.

    Rainer Hank

  • 28. September 2024
    Reagan hätte nie für Trump gestimmt

    Ronald Reagan am Brandenburger Tor am 12. Juni 1987. Foto Konrad Adenauer Stiftung

    Dieser Artikel in der FAZ

    Eine Portion Angebotspolitik würde der Welt nicht schaden

    Ronald Reagan, US-Präsident von 1981 bis 1989, hat bei den Deutschen keinen guten Ruf. Ein drittklassiger Schauspieler – kleine Nebenrollen und Werbefilmchen – wollte plötzlich die Hauptrolle in der amerikanischen und internationalen Politik spielen: Dass das nicht gutgehen konnte, wusste der amerikakritische Dünkel der Deutschen schon vor Reagans Amtsantritt. Und dann entpuppte der Mann sich auch noch als ein »Neoliberaler«, der auf den Markt setzt und den Staat auf seine Kernaufgaben zurückstutzen wollte. Damit hat Reagan (1911 bis 2004) bis heute jede Sympathie verspielt.

    Der Reagan-Hass der Deutschen von damals, so kommt es mir vor, unterscheidet sich kaum vom Anti-Trump-Furor heute. Dabei haben die beiden Republikaner nur wenig miteinander gemein. Dazu später mehr.

    Die Abwertung Reagans ist schon deshalb daneben, weil sie ausgeblendet, dass dem Mann große Verdienste zukommen für die Ermöglichung der deutschen Einheit. Am 12. Juni 1987 hielt er von einem Holzgerüst, welches vor den Sperranlagen der Berliner Mauer am Brandenburger Tor aufgebaut worden war, eine Rede, in der er den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow aufforderte, die Mauer niederzureißen: »Come here to this gate! Mr. Gorbachev, open this gate! Mr. Gorbachev, tear down this wall.« 1987 – das war eine Zeit, als die (West)deutschen das Interesse an der Wiedervereinigung längst verloren hatten. Und man mit Reagans »Antikommunismus« fremdelte.

    Auch ein Rückblick auf Reagans Wirtschaftspolitik, schon damals »Reagonomics« genannt, könnte heute hilfreich sein. Dieser Blick zurück macht zum einen deutlich, wie dramatisch die Welt in diesen 45 Jahren sich geändert hat. Und er wirft die Frage auf, ob angesichts des drohenden wirtschaftlichen Niedergangs Deutschlands uns ein anständige Portion Reagonomics nicht guttäte.

    Die Stunde der liberalen Ökonomen

    Die Situation Deutschlands und Amerikas in den späten siebziger Jahren war der heutigen nicht unähnlich. Hohe Inflation bei wirtschaftlicher Stagnation, wofür der Begriff »Stagflation« erfunden wurde, brachte die post-keynesianische Wirtschaftspolitik in die Bredouille. Politische Interventionen in unternehmerisches Handeln, Nachfragesteuerung über Konjunkturprogramme und eine laxe Geldpolitik verfehlten die erwünschte Wirkung. Neue Ideen waren gefragt: Das war die Stunde liberaler Ökonomen; viele von ihnen lehrten an der Universität Chicago. Denen ging es nicht nur darum, Nachfragepolitik durch Angebotspolitik zu ersetzten, sondern – mit einem von Lenin entlehnten Begriff der Historiker Daniel Yergin und Joseph Stanislaw – die »Kommandohügel« neu zu besetzen: Markt statt Staat.

    Politiker weltweit begannen in ihrer Not diesen liberalen Ökonomen zuzuhören. Schon im Sommer 1979 hatte der demokratische Präsident Jimmy Carter (er wird am 1.Oktober 2024 hundert Jahre alt) eine »nationale Vertrauenskrise« ausgerufen und Mitglieder seines Kabinetts entlassen. Gleichzeitig ernannte Carter einen neuen Zentralbankpräsidenten, den erfahrenen Geldexperten Paul Volcker. Dessen Mission wurde es, »den Drachen der Inflation zu erschlagen«, was ihm mit drastischen Zinserhöhungen in kurzer Zeit gelang.
    Die Früchte dieser Geldpolitik erntete Ronald Reagan, der im Januar 1980 ins Weiße Haus einzog und auch in den USA unterschätzt wurde. Man hielt ihn für unerfahren und unzuverlässig, obwohl er acht Jahre lang Gouverneur von Kalifornien gewesen war, fremdelte mit ihm, weil er ankündigte, er werde den Staat zurückdrängen, staatliche Ausgabenprogramme kürzen und die Magie der Märkte feierte. Reagan galt als Außenseiter und Leichtgewicht.

    Unterschätzt zu werden ist häufig ein Vorteil, man denke an Angela Merkel. Reagan zog sein Programm radikal durch. Sowohl Steuern als auch Ausgaben wurden gesenkt, freilich um den Preis einer dramatischen Ausweitung der Staatsschulden. Der Spitzensteuersatz wurde von 70 auf 28 Prozent gesenkt, die Besteuerungsbasis verbreitert, viele Steuerschlupflöcher gestopft. Zugleich hat man viele Branchen (Energie, Börsen, Luftfahrt) dereguliert: Mehr Wettbewerb, weniger staatlich vorgegebene Regulierung und Bürokratie. Dahinter stand die Überzeugung: Freihandel (ohne Zölle und Subventionen) mache die Völker reich und die Welt friedlicher. Regans Politik war liberal und konservativ, aber nicht nationalistisch. Er war kein Ideologe, sondern agierte pragmatisch und war zu Kompromissen bereit.

    Erst wenn man Reagans Politik auf diesen Kern konzentriert, fällt auf, wie weit die Welt sich von damals wegentwickelt hat. Zölle gelten inzwischen als probate Waffe in Handelsauseinandersetzungen. Staatliche Subventionen in Milliardenhöhe sollen Standorte im Wettbewerb stärken und werden als geoökonomische Realpolitik schöngeredet. Deregulierung wird rhetorisch zu »Bürokratieabbau« gestutzt, dem keine Taten folgen. Von Steuersenkungen ist nicht mehr die Rede. Einschränkung staatlicher Ausgaben wird als »sozialer Kahlschlag« tabuisiert.

    Protektionismus hat Konjunktur

    Protektionistische und interventionistische Normalität ist kein deutsches Sonderphänomen. Sondern gehört in vielen westlichen Ländern inzwischen zum gepflegten Ton. Auch in den USA unter Präsident Biden; Kamala Harris würde daran nichts ändern. In Deutschland versteht es Wirtschaftsminister Robert Habeck, die alten Hüte des Interventionismus als neuesten philosophischen Schrei zu verkaufen: Es sei seine Aufgabe, strategisch wichtige Branchen mit Milliardensubventionen zu stabilisieren. Subventionitits total: Vom Schiffbau, über die Auto- bis zur Chipindustrie. Dies hätten Ronald Reagan und seine Vordenker als anmaßende Hybris und Ausdruck der Schwäche gebrandmarkt.

    Es zeigt sich zugleich, wie weit Reagan und Trump voneinander entfernt sind, obwohl Trump sich gerne in die Tradition Reagans stellt, weil er weiß, dass dieser bei den republikanischen Wählern inzwischen einen guten Ruf genießt. Doch wirtschaftspolitisch setzt Trump auf Isolationismus, Protektionismus und Interventionismus. Die »neoliberale« Welthandelsorganisation, deren Auftrag der Abbau globaler Handelshemmnisse ist, hält er für Teufelszeug, eine Politik, die dem nationalen Interesse Amerikas (MAGA) schade.

    Reagan wusste zu unterscheiden, wer Amerikas Freund und wer Amerikas Feind ist. Bei Trump ist man sich da nie sicher. Er steht zwar an der Seite Israels, nannte aber zugleich die Hisbollah »very smart«. Er flirtet mit Autokraten wie Wladimir Putin, dem er zum Wahlsieg gratuliert – anstatt auszusprechen, dass Wahlen in Russland eine Farce sind und mit Demokratie nichts zu tun haben. Bekanntlich hat Trump mit der Anerkennung demokratischer Wahlen auch im eigenen Land seine Probleme. »Reagan hätte nie für Trump gestimmt«, schreibt ein alter Weggefährte Reagans im »Wall Street Journal«. Der Mann hat Recht.

    Rainer Hank