Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
13. Januar 2025Gerontokratie
13. Januar 2025Gottes Hungerlohn
13. Januar 2025Wohnungsplanwirtschaft
02. Januar 2025Das Evangelium nach Peter Thiel
02. Januar 2025Wer die Wahl hat
04. Dezember 2024Ein Hoch auf Pharma
04. Dezember 2024Mit Unsicherheit leben
15. November 2024Zwangsarbeit
05. November 2024Totaler Irrsinn
18. Oktober 2024Arme Männer
13. Januar 2025
GerontokratieSoll es im Wahlrecht eine Altersbeschränkung geben?
Neulich gab es am Abendbrottisch mit Freunden (alle Ü65) eine hitzige Debatte darüber, ob man das Wahlrecht beschränken solle. Die Befürworter vertraten in einem Akt heroischer Selbstentmachtung die Meinung, ältere Menschen seien mit Blick auf ihr näher rückendes Ende nicht mehr so sehr am längerfristigen Überleben der Gattung und des Planeten interessiert. Es müsse ja nicht gleich eine Haltung des »Nach mir die Sintflut« sein, – wenngleich der Philosoph Hans Blumenberg das Wissen um den Abgrund zwischen endlicher Lebenszeit und unendlicher Weltzeit als eine der großen Kränkungen der Menschheit beschrieben hat. Dass diese Kränkung mit zunehmendem Alter näher vor Augen rückt, kann ich nicht bestreiten.
Man sollte das Thema nicht auf die leichte Schulter nehmen und mit »Geht ohnehin nicht« vom Tisch wischen. Vor allem die Argumente der politischen Ökonomie sind triftig. Das sogenannte Rentenpaket der verstorbenen Ampel hatte eine demographische Unwucht, wollte die Rentner finanziell privilegieren und die Jüngeren stärker belasten. Die Älteren stellen eine potente Wählergruppe, auf die alle Parteien schielen, weil es ihnen um Stimmenmaximierung geht. Von den 61 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland sind 23 Millionen Rentner, das sind bald 40 Prozent. Noch haben sie nicht die Mehrheit. Wenn es so weiter geht mit einer rückläufigen Geburtenrate und langlebiger Fitness der Älteren, dann kippt die Geschichte irgendwann in den 2050er Jahren. Schon 2030 werden die Älteren boomerbedingt 45 Prozent des Wahlvolkes stellen.
Ein Einwand gegen die simple Logik der politischen Ökonomie lautet, die Menschen seien gar nicht so egoistisch nutzenorientiert, wie es ihnen nachgesagt werde. Schließlich beweisen die »Omas for Future« (Opas sieht man da weniger), dass auch den Älteren der Klimawandel nicht einfach schnuppe (hätte man früher gesagt) ist und die »Last Generation« keinen Exklusivanspruch auf den ethischen Longtermism hat. Schaut man sich freilich die politischen Präferenzen der Älteren bei der aktuellen Sonntagsfrage an, so wählen die in dieser Reihenfolge die Union, die SPD und die AfD. Die Grünen (und die FDP) rangieren unter »ferner liefen«. Einen gewissen interessengetriebenen Egoismus könnte man daraus schon ablesen, wenn eine Partei wie die Grünen, die sich Zukunft, Umwelt und Klima auf die Fahnen geschrieben hat, so wenig Unterstützung findet; es kann nicht nur an Robert Habeck und der vergeigten Wärmepumpe liegen.
One man one vote
Auch die Gegenargumente sind gewichtig. Der Grundsatz »One man one vote« ist eine demokratische Errungenschaft. Das Wahlrecht soll weder von der sozialen noch der ökonomischen oder politischen Stellung des Wählers abhängig sein. Das kommt einem heute selbstverständlich vor. Doch hat bekanntlich das demokratische Musterland Schweiz das Frauenwahlrecht erst in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eingeführt (mit einer Mehrheit der Männer). Und dafür, dass Schwarze wählen können, bedurfte es in den USA in den sechziger Jahren mehrerer Grundsatzurteile des obersten Gerichts.
Soll es nun tatsächlich, nachdem die soziale, rassische und Geschlechtergleichheit in den meisten Demokratien durchgesetzt wurde, eine Altersdiskriminierung beim aktiven Wahlrecht geben? Mit gleichem Recht könnte man auch eine Bildungsdiskriminierung einführen: Die klugen Alten dürfen wählen, die Dooferen unter ihnen eher nicht. Das zeigt, dass solche Ausnahmen des One-Man-Grundsatzes extrem ideologie- und politikanfällig wären. Besser ist es, was vielfach auch geschieht, das Eintrittsalter im Wahlrecht zu verjüngen. Ich durfte erst mit 21 an die Wahlurne gehen, weil man damals erst mit 21 volljährig wurde. Inzwischen traut man den Jüngeren schon mit 18 eine ausgewogene Wahlentscheidung zu. Und in der EU – vielleicht, weil es da nicht so drauf ankommt – sogar mit 16. Es wird schon gut sein, dass es nirgends in der Welt ein Höchstalter für Wähler gibt. Mit einer Ausnahme übrigens: Römisch-katholische Kardinäle verlieren mit 80 Jahren das Recht, den Papst zu wählen. Ist die Kirche ausnahmsweise einmal ihrer Zeit voraus?
Wie ist es mit dem passiven Wahlrecht? Sollte es ein Höchstalter für Regierungschefs und Staatspräsidenten geben. Die Angst vor einer Gerontokratie wurde zuletzt diskutiert, als es so aussah, als würde in den USA ein 76jähriger Trump gegen den 81jährigen Biden antreten. Der Wechsel zu Kamala Harris, 60, lieferte dann den Beweis dafür, dass die Bürger bei Wahlen nicht automatisch jüngere Frauen bevorzugen.
Auch beim aktiven Wahlrecht sollten man sich die Sache nicht zu einfach machen. Schließlich gibt es für viele Berufe Altersbegrenzungen. Piloten mussten bei der Lufthansa mit 60 Jahren ihren Dienst quittieren, bis das oberste europäische Gericht diese Regelung kippte. Viele Länder legen für Feuerwehrleute oder Polizisten ein Höchstalter fest. Amerikaner müssen die Armee verlassen, bevor sie 64 werden. Auch in vielen Wirtschaftsunternehmen werden die CEOs mit 60 Jahren genötigt, den Platz für Jüngere freimachen, dürfen allenfalls auf ein Gnadenbrot als Aufsichtsratsvorsitzender hoffen.
Fahren darf man nicht, wählen schon
Ob jemand auf den Straßen noch fahrtüchtig ist, muss vielfach von einem bestimmten Alter an durch regelmäßige Fahrprüfungen nachgewiesen werden. Ob jemand mit 76 noch präsidententüchtig ist, scheint keines Nachweises zu bedürfen. Das durchschnittliche Alter der Staats- und Regierungschef ist in den letzten fünf Dekaden von 55 auf 62 Jahre gestiegen. Für den Zugang zur Spitze des Staates gibt es dagegen hohe Hürden: Bundespräsident kann man in Deutschland frühestens mit 40 werden; in Italien sogar erst mit 50 Jahren. Emmanuel Macron, Jahrgang 1977, müsste dort noch gut zwei Jahre warten, bis er Präsident werden kann. Es sei denn, er macht es wie der gerade vertriebene syrische Machthaber Assad, der kurzerhand das Wahlalter von 40 auf 34 Jahre, herabgesetzt hat, und wählbar zu werden. Bei Eintritt ins Amt wird Reife und Lebenserfahrung verlangt. Altersstarrsinn und nachlassende geistige Präsenz scheinen dagegen kein Hindernis zu sein, große Staaten zu regieren.
Doch auch beim passiven Wahlrecht käme man mit Altersbeschränkungen in Teufels Küche. Es gibt wackelige 60jährige und absolut toughe Achtzigjährige; Konrad Adenauer wird hierzulande immer als Beweis genannt. Es gehört zur demokratischen Freiheit, dass die Wähler entscheiden, was sie älteren Bewerbern zutrauen. Einen »Trost« präsentiert der »Economist«: Auch wenn das Durchschnittsalter der politischen Führer insgesamt steigt, geht das Alter demokratischer Staatslenker zurück, zumindest ein wenig. Das könnte mehr werden, wenn mehr Frauen wie Giorgia Meloni (48) an die Macht kommen: Alice Weidel (45) oder Sahra Wagenknecht (55) zum Beispiel. Aber dann ist’s natürlich auch wieder nicht recht.
Rainer Hank
13. Januar 2025
Gottes HungerlohnEine Verneigung vor den Arbeitern in Notre-Dame
Dieses Wochenende bietet die Chance, die populäre Reichenkritik einmal anders zu parieren als üblich. Mehr als 800 Millionen Euro wurden binnen kurzer Zeit weltweit von privaten Spendern und Unternehmen zum Wiederaufbau von Notre-Dame in Paris nach dem großen Brand von 2019 aufgebracht. Unter den Großspendern befinden sich der Luxuskonzern LVMH oder der Kosmetikkonzern L’Oréal mit der Familie Bettencourt und ihren Stiftungen.
Gut, dass wir solche Milliardäre haben. Sie entlasten die normal verdienenden Bürger. Ohne ihre Millionenspenden hätte der französische Staat den Wiederaufbau des sakralen Bauwerks aus Steuermitteln finanzieren oder die Staatsverschuldung um eine Milliarde Euro vergrößern müssen. Hardcore-Liberale würden sagen, es sei nicht Aufgabe von Unternehmern, die einen Kirchenbau zu alimentieren, sie sollten ihr Geld lieber in gute Geschäftsideen investieren. Hardcore-Marxisten machen ein ähnliches Argument, wenn sie sagen, das Spendengeld hätten die Fabrikanten zuvor ihren Arbeitern abgepresst, um sich jetzt im Glanze ihrer Großzügigkeit einen Platz in der ersten Bankreihe bei den Eröffnungsfeierlichkeiten zu sichern. Beide Argumente sind nicht ohne; gleichwohl will ich sie hier übergehen.
Stattdessen soll diese Kolumne zu einer Verneigung werden vor den einfachen Menschen des Mittelalters (nicht nur den direkt am Bau beteiligten Arbeitern und Handwerkern), ohne die es Notre-Dame nie gegeben hätte. Einer von vielen Unterschieden zwischen heute und damals besteht darin, dass die Beschäftigten von L’Oreal und LVMH keinen oder zumindest vernachlässigbaren Lohnverzicht leisten müssen als Folge der Großspenden. Das war im Mittelalter anders: Technologische Produktivitätsgewinne wurden der Bevölkerung vorenthalten – um ihnen Heilsgewinne und dem Klerus Prestigegewinne zu sichern. Finanziert wurden Klöster und Kirchen auch damals schon teilweise von freiwilligen Stiftern. Aber ein Großteil stammte aus dem Steueraufkommen der ländlichen Bevölkerung.
Haben die Bischöfe die Felsbrocken geschleppt?
Wir kommen damit auf Bertold Brechts für unsere Zwecke leicht abgewandelte »Fragen eines lesenden Arbeiters« zurück: »Wer baute die große Kathedrale von Paris? In den Büchern stehen die Namen von Bischöfen und Kardinälen. Haben die Bischöfe die Felsbrocken herbeigeschleppt?« Grobschätzungen gehen davon aus, dass die in der Zeit von 1163 bis 1345 erbaute Kirche mehrere Hunderttausend Livres gekostet hat. Zum Vergleich: Ein Handwerker verdiente damals etwa zwei bis drei Livres im Jahr; ein Ritter hatte ein Jahreseinkommen von hundert Livres.
Zur Zeit des Baus von Notre-Dame gab es einen großen europaweiten Wettbewerb, welche Stadt die größte und schönste Kathedrale errichtet. Daron Acemoglu, der Ökonomienobelpreisträger des Jahres 2024, spricht in seinem jüngsten Buch »Power and Progress« von einem spektakulären Sakralbauboom im hohen Mittelalter: In 26 Städten wurden gleichzeitig große und prächtige Kathedralen gebaut; über 8000 neue Kirchen waren in Planung (1472 davon allein in Paris zwischen 1100 und 1250). Hinzu kommt eine explodierende Anzahl neuer Klöster. Das verschlang nicht nur Unsummen an Geld, mit dem man auch profane Bauten hätte errichten können. Man benötigte zudem Tausende Baumeister, hoch spezialisierte Handwerker und einfache Arbeiter etwa zum Transport von Steinen, die oft aus weit entfernten Steinbrüchen stammten. Acemoglu schätzt, dass etwa 20 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung der damaligen Zeit in das religiöse Baugewerbe floss. Und damit einem möglichen andernfalls wachsenden Wohlstand der Bevölkerung vorenthalten wurde. Oder genauer: Es verhinderte, dass die Menschen ein bisschen weniger bitter arm gewesen wären als sie es waren.
Schon damals gab es nicht nur soziale Kritik (und vereinzelt auch Revolten), sondern auch religiöse Missbilligung der Pracht. »Kritiker sagen, die Feier der Heiligen Eucharistie bedürfe lediglich einer gläubigen Seele, eines reinen Geistes und einer andächtigen Haltung«, schreibt Abt Suger von Saint Denis (bei Paris). Der Abt verwirft die Kritik nicht, er unterläuft sie stattdessen dialektisch: »Wir stimmen völlig zu, dass die Haltung der inneren Frömmigkeit das Wichtigste ist. Aber wir glauben zugleich, dass große Pracht und heilige Kelche für unseren Gottesdienst genauso wichtig sind, damit innere Reinheit und äußere Nobilität einander entsprechen.«
Der Preis dafür ist hoch. Es ist ja nicht so, dass das Mittelalter nur dunkel und ohne kreative, die Produktivität verbessernde Erfindungen gewesen wäre. Vor allem Wassermühlen und ihre Markteinführung in großem Stil bewirkten einen großen wirtschaftlichen Schub. Doch sind Produktivitätsgewinne eben nicht automatisch auch Wohlstandsgewinne für die Menschen. Es kommt darauf an, wer die Macht hat, darüber zu befinden, wie diese Gewinne verteilt werden. Explizit bezweifelt der Ökonom Acemoglu im Übrigen das Malthussche Gesetz, wonach Produktivitätsfortschritte von höheren Geburtenraten wieder aufgefressen worden wären, so als ob die Armen selbst an ihrer stabilen Armut schuld gewesen wären.
Religiöse Produktivität
Warum haben die Arbeiter sich in ihr Los gefügt und längere Arbeitsstunden, weniger Konsum und schrumpfenden Wohlstand trotz steigender Produktivität akzeptiert? Acemoglu ist der Meinung, das sei dem Zwang wirtschaftlicher und religiöser Macht geschuldet. Wirtschaftlich waren die kirchlichen Arbeitgeber selbst in Zeiten von Knappheit des Arbeitsangebots nicht genötigt, höhere Löhne zu zahlen – so lange der Klerus die Macht hatten, die Arbeiter zu mehr Arbeitsstunden bei gleichen oder schlechteren Löhnen zu zwingen. Religiös stand jeglicher Zweifel oder gar Widerstand gegen die Kirche unter der Drohung der Exkommunikation, welche mit den schrecklichsten Höllenstrafen verbunden ist. Zwang und Drohung verfehlten ihre Wirkung nicht.
Gleichwohl bin ich nicht überzeugt. Acemoglu kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass es einen positiv-intrinsischen Wert von Religion gibt. Er mag sich nicht glauben, dass es für Arbeiter am Bau der Kathedrale Notre-Dame auch eine Ehre sein konnte, an diesem großen Werk mitzuarbeiten. Und dass sie darauf hofften, dass ihre Gott wohlgefällige Arbeit ihnen im Himmel einmal vergolten wird. Ökonomen, die in Kategorien von Kosten und Nutzen denken, müssten für diesen theologischen Gedanken eigentlich offen sein. Wer aber wie Acemoglu offenkundig keinen Sinn für den Eigenwert religiöser Erfahrung (auch von »einfachen« Leuten) hat, kann die Geschichte nur als Unterdrückungsgeschichte der Armen durch den Klerus lesen.
Wir Heutigen, die wir an diesem Wochenende die Wiedereinweihung der Kathedrale erleben (meist am Bildschirm) sind denen zu Dank verpflichtet, die damals dieses wunderbare Bauwerk errichtet haben – und verneigen uns vor ihrem Glauben.
Rainer Hank
13. Januar 2025
WohnungsplanwirtschaftWas muss passieren, damit wieder mehr gebaut wird?
Was ist eigentlich aus den 400 000 neuen Wohnungen geworden, die Jahr für Jahr zu bauen die Ampel uns versprochen hat? Wohnen, so hörten wir immer wieder, sei die »neue soziale Frage«. Und 400 000 Wohnungen seien die »unterste Grenze des Bedarfs«, sagte der Kanzler.
Inzwischen ist klar: Das Ziel wurde weit verfehlt. In keinem der dreieinhalb Ampeljahren kam man ihm auch nur annährend nahe. Zuletzt wurden für das Jahr 2023 175 000 Baugenehmigungen gemeldet. Gründe für das Scheitern der großspurigen Ambitionen zu finden, ist der scheidenden Bauministerin nie schwergefallen: Mal war die Inflation schuld, mal der Fachkräftemangel, mal das fehlende Baumaterial. Getreu dem Grundsatz: Irgendwas ist immer.
Willkommen im real existierenden Sozialismus. Dessen Krux ist es, dass Fünf- oder Vierjahrespläne nie funktionieren. 40 Jahre lang war es die quälende Aufgabe der Wirtschaftspolitiker in der DDR zu erklären, warum man den Plan hätte erfüllen können, hätten dem keine widrigen Umstände entgegengestanden. »Ja, mach nur einen Plan! Sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ‚nen zweiten Plan. Gehn tun sie beide nicht. Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug.« So steht es in Bertold Brechts »Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens« aus der Dreigroschenoper, uraufgeführt im Jahr 1928. Das war noch vor der Konversion Brechts zum Marxismus.
Gut, dass es ein paar schlaue Menschen gibt, die über Alternativen zur Wohungsbauplanwirtschaft nachdenken. Zu denen gehört Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. In dessen neuestem Jahresgutachten verritt sie eine von der Ratsmehrheit abweichende Meinung, die vermutlich nur deshalb kaum öffentlichen Beachtung gefunden hat, weil das Wohnungsthema angesichts der Trump- und Ampelbruchaufregung unter der Aufmerksamkeitsschwelle segelt. Und weil der Text von Veronika Grimm ziemlich weit hinten im Gutachten unter den Ziffern 412 bis 424 rangiert.
Alle Mitglieder des Sachverständigenrats darin einig, dass mehr Wohnungen gebraucht werden. Und dass dafür die geänderten Präferenzen der Menschen verantwortlich sind. Wenn Jung und Alt in die Städte (und Vorstädte) drängen, dann wird es gemäß der einfachsten Marktlogik dort teurer, sofern sich am Angebot nichts ändert. Und wenn sich der »Bedarf« an Wohnfläche pro Bundesbürger von durchschnittlich 39,5 Quadratmeter im Jahr 2000 auf inzwischen 47,5 Quadratmeter erhöht hat, dann hat das ebenfalls Auswirkungen auf die Preise. Hinzu kommt ein Phänomen, das den hübschen Namen »Remanenzeffekt« trägt. Der kommt dadurch zustande, dass ältere Menschen mehr Wohnraum nutzen als Jüngere, weil die Kinder das Haus längst verlassen haben, die Kinderzimmer aber immer noch da sind. Planwirtschaftler sind auch hier schnell mit Umzugsverordnungen in kleinere Wohnungen zur Stelle. Blöd nur, dass die Älteren das nicht wollen, weil sie finden, dass die Kinder auch noch als Vierzigjährige jederzeit das Anrecht haben sollen, in ihrem alten Kinderzimmer zu übernachten.
Schließlich aber sind Staat und Verwaltung selbst schuld an der Knappheitsmisere, die sie lindern wollen. Da ist zum einen eine lange Liste von Vorschriften, die das Bauen und dann eben das Mieten stark verteuern. Ich nenne lediglich Stichworte: Stellplätze für Autos und Fahrräder, Barrierefreiheit im ganzen Haus, Aufzugpflicht, Brandschutz, Energie- und Umweltauflagen, hohe Makler-, Anwalts- und Notargebühren. Schleppende Baugenehmigungen. Die sind auch dafür verantwortlich, dass nicht genutzte Büros in den Innenstädten (»Homeoffice«) nicht schneller in Wohnraum umgewidmet werden können. Kann man alles machen, hat auch alles irgendwo einen guten Grund. Nur darf man sich nicht beschweren, dass der Wohnungsneubau behindert und verteuert wird.
Veronika Grimm weist in ihrem Minderheitsvotum darauf hin, dass die Regierung viele Gesetze erlassen hat, die das Ziel einer Ausweitung des Wohnungsangebots konterkarieren. Die Politik ist also selbst daran schuld, dass nicht passiert, was sie eigentlich versprochen hat. Zu den Bauhindernissen zählen insbesondere die Mietpreisbremse und die Kappungsgrenze. Die Mietpreisbremse schreibt vor, dass die Nettokaltmiete bei Wiedervermietung in einem »angespannten Wohnmarkt« maximal zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen darf. Diese ist im sogenannten Mietspiegel geregelt. Nach der Kappungsgrenze darf der Vermieter die Miete innerhalb von drei Jahren in »angespannten« Städten nur um 15 Prozent anpassen. Wissenschaftliche Studien hätten gezeigt, dass Mietpreisbremse und Kappungsgrenze die privaten Investitionsanreize in Wohnraum verringern, schreibt Frau Grimm. So etwas nennen Ökonomen eine Interventionsspirale. Die Politik will mit preisregulierenden Marktinterventionen Gutes tun und macht am Ende nur alles schlimmer. Und ungerechter. Denn die, die schon eine Wohnung haben, werden privilegiert. Wer eine neue Wohnung sucht, hat dagegen das Nachsehen. Das nennen Ökonomen Insider-Outsider-Ungerechtigkeit.
Deshalb sei es angezeigt, die Mietpreisbremse bereits bis zum Jahr 2027 auslaufen zu lassen und die Kappungsgrenze zu lockern, schreibt Veronika Grimm. Die Ampel hat das Gegenteil beschlossen und die Regulierung bis Ende 2028 verlängert (übrigens mit Zustimmung der »marktwirtschaftlichen« FDP). Und die Ratsmehrheit der »Weisen« hat lediglich davor gewarnt, die Preisregeln noch weiter investorenunfreundlich zu verschärfen. Veronika Grimm will mehr: »Besteht die Regelung in ihrer heutigen Form bis 2028 fort, so ist davon auszugehen, dass der politische Druck für eine Verlängerung über das Jahr 2028 hoch bleiben wird«, schreibt Grimm.
Daraus lassen sich zwei generelle Schlüsse ableiten. Es ist gut, dass es im Sachverständigenrat unterschiedliche Meinungen gibt und dass diese mit jeweils hoffentlich guten Argumenten transparent gemacht werden. Dem Rat Streit vorzuwerfen und Einmütigkeit zu fordern, ist diskursiv unterkomplex. Hinter den unterschiedlichen Meinungen stecken unterschiedliche ökonomische Grundüberzeugungen und wirtschaftspolitische Strategien. Die werden den kommenden Wahlkampf als Konzepte zur Überwindung der Wirtschaftskrise in Deutschland bestimmen. Die einen – SPD, Grüne, Linke – plädieren für Nachfragesteuerung, Preisinterventionen und Subventionen. Die anderen – Union und FDP – schlagen eine Angebotspolitik vor, die Regulierungen abbaut, Preisinterventionen und Subventionen meidet und stattdessen Investitionsanreize verstärkt. Man sollte der letztgenannten Alternative eine Chance geben. Und beten, dass Union und FDP nicht schon mitten im Wahlkampf der Schneid zur »Wende« wieder verlässt.
Rainer Hank
02. Januar 2025
Das Evangelium nach Peter ThielEin Internet-Milliardär und das Erbe von René Girard
Dass Donald Trump den Untergang bringt und zusammen mit Tesla-Twitter-SpaceX-Milliardär Elon Musk als »Duo Infernale« (»Der Spiegel«) uns alle ins Elend reißen wird, haben wir inzwischen begriffen. Bis zum Amtsantritt des Leibhaftigen am 20. Januar ist noch ein bisschen Zeit. Ich empfehle, vom Modus des Diabolisierens in den des Analysierens zu wechseln.
Dass die USA ein gespaltenes Land sind, ist bekannt. Neu war mir indes, in meiner samstäglichen Lieblingskolumne der Financial Times (»Data Points«) zu lesen, dass die Anhänger der Demokraten deutlich mehr zur Spaltung beigetragen haben als die Republikaner. So sprechen sich seit Mitte der neunziger Jahre konstant zwischen 30 und 40 Prozent der Konservativen dafür aus, die Migration zu begrenzen. Bei den Demokraten dagegen waren noch im Jahr 2000 ebenfalls 20 Prozent der Meinung, es gebe zu viel Einwanderung. Inzwischen plädieren 40 Prozent von ihnen dafür, mehr Migranten ins Land zu lassen. Das mag man gut finden; bloß sollte man die Spaltung des Landes nicht komplett Trump anlasten.
Das heißt im Umkehrschluss: die Trump-Bewegung erschöpft sich nicht nur in den Entertainer-Qualitäten ihres Anführers. Mehr als fünfzig Prozent der Wähler und eine Vielzahl ganz unterschiedlicher kluger Köpfe, die sich ihm angeschlossen haben, müssten eigentlich unsere intellektuelle Neugier wecken – nicht um die Truppe zu preisen, aber um sie besser zu verstehen.
Nehmen wir den Tech-Milliardär Peter Thiel. Kluge Freundinnen haben mir immer wieder zugeraunt, der sei besonders gefährlich, aber irgendwie scheinen sie ihn intellektuell verführerisch zu finden: Ein Unternehmer, der sich als Hardcore-Libertärer versteht, mit dem Katholizismus flirtet und als schwul outet – so etwas haben wir in Deutschland nicht; das gibt es nur im Silicon Valley. Wir haben dafür Robert Habeck, – »so lässig, so charming« (Annalena Baerbock).
Facebook, Palantir & Co.
Die Biografie in kurzen Zügen. Thiel, Jahrgang 1967, wird in Frankfurt am Main geboren. Wenig später wandern die Eltern nach USA aus. Thiel studiert Philosophie und Jura an der Stanford Universität, arbeitet bei einer New Yorker Kanzlei und wendet sich den Finanzmärkten zu. Ende der neunziger Jahre beteiligt er sich am Internet-Bezahlsystem PayPal, das später für 1,5 Milliarden Dollar an Ebay verkauft wurde. Thiel finanziert Mark Zuckerbergs Facebook; dessen Börsengang spült abermals viel Geld auf sein Konto. Später gründet er die Datenanalysefirma Palantir. Aktuell wird sein Vermögen auf gut 12 Milliarden Dollar geschätzt. Trumps Vize J.D. Vance bezeichnet Thiel als seinen Mentor. Thiel will gewinnen; als Kind habe er es gehasst zu verlieren, erzählt er – ganz besonders beim Schach.
Thiel hat sich in der ersten Trump-Regierung sehr für diesen engagiert, freilich damals schon gewarnt: »Die eigenen Gesetze zu ignorieren, geht in einem liberalen Rechtsstaat nicht.« Im jüngsten Wahlkampf hat er sich eher zurückgehalten, anders als sein alter Kumpel Elon Musk. Natürlich bekam Trump abermals Thiels Stimme. Doch dessen »Clowns Show« sei ihm fremd, gab er zu Protokoll. Und den Slogan »Make America Great Again« findet er daneben, weil es ein Verlierer-Slogan sei. Das Silicon Valley hat er schon vor geraumer Zeit verlassen: »Zu viel Konformismus«. Heute lebt er in Los Angeles, versteht sich als »Contrarian«, als Nonkonformist.
Thiel ist intellektuell umtriebig. Geprägt wurde er von dem französisch-kanadischen Philosophen René Girard (1923 bis 2015), bei dem er in Stanford studiert hat. Von ihm stammt die Theorie des »mimetischen Begehrens«. Wir begehren, was andere begehren, nicht weil wir es tatsächlich haben wollen, sondern weil wir den Drang verspüren, die Wünsche Anderer nachzuahmen (deshalb »mimetisch«). Dieser Wettbewerb ist zerstörerisch, führt zu Leid und Unglück. Das meint Thiel mit seinem missverständlichen Satz »Competition is for loser«, Wettbewerb sei für Verlierer. Man kann ihn natürlich auch als Aufruf zur Bildung von Machtmonopolen deuten. Thiel unterscheidet zwischen destruktivem und kreativem Wettbewerb und hält es auch hier mit Girard: »Das Geniale des ökonomischen Liberalismus besteht in der Tatsache, dass er die Freiheit mimetischer Rivalität zum Wohle unseres Wohlstands ermöglicht.«
Über René Girard kommt Peter Thiel nicht nur zur Beschäftigung mit dem christlichen Erlösungsglauben, sondern auch mit der politischen Theologie des deutschen Staatsrechtlers Carl Schmitt (1888 bis 1985). Das hat ihm Kritik eingetragen, weil Schmitt als Kronjurist der Nazis gilt – was viele deutsche Linke nach 1945 nicht hinderte, Schmitt zu bewundern. Thiel sieht Parallelen zwischen Deutschland in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts und dem heutigen Amerika: Beide Male ist der Liberalismus auf dem Rückzug. Das könne daran liegen, dass die Liberalen die zentrale politische Unterscheidung zwischen Freund und Feind nicht ernst genug genommen haben. Liberale, begeistert von einer durch weltweiten Handel global versöhnten Ordnung, haben sich der Illusion einer Welt ohne Feinde verschrieben. Feinde sind für Liberale lediglich Verhandlungs- und Vertragspartner. Dass das gut gemeint, aber naiv ist, weiß man seit Putin, Xi – und Trump: Ein Staat, der meint, sich durch »Straf«-Zölle schützen zu müssen, kann auch die Weltwirtschaft nur als Schlachtfeld zwischen Feind und Freund verstehen. Die Hoffnung der Liberalen, man könne sich einfach weiter durchwursteln, sei gescheitert, so Thiel.
Verwickelt in Widersprüchen
Alle Schlüsselbegriffe der politischen Ökonomie hätten theologische Ursprünge, meint Thiel mit Bezug auf Schmitt. Diese liegen im Kampf zwischen Satan und Gott und einer bleibenden Tendenz zur Destruktion. Das Konzept von Freund und Feind bringe Licht in die Tabuzonen des Liberalismus, in das unterschätzte und verdunkelte Kriegs- und Bürgerkriegsfeld.
Als Libertärer müsste Thiel eigentlich den Interventionismus und Isolationismus Trumps und dessen Staatsmonomanie ablehnen. Doch da eiert er gewaltig nach dem Motto: hätten nur alle sich an die reine libertäre Lehre gehalten, wäre die Theorie für die Praxis tauglich. Da aber die Chinesen unfair spielen, also böse sind, müssen wir jetzt eben zurückschlagen. Staatskritik gegen den linksliberalen Staat der woken Political Correctness – davon kann Thiel nicht genug kriegen. Trumps Big Government legitimiert er. Konsequent ist das nicht.
Wer jetzt von Peter Thiel angefixt ist, dem sei das Gespräch empfohlen, dass der Ökonom Tyler Cowen mit ihm geführt hat. Dass sich zwei Wirtschaftsleute ausschließlich über Theologie unterhalten, ist hierzulande eher unüblich. Über die Lage nach der Trump-Wahl gibt es im Netz einen guten Talk der Journalistin Bari Weiss mit Thiel. Beides lässt sich leicht googeln.
Rainer Hank
02. Januar 2025
Wer die Wahl hatNachhilfe kommt ausgerechnet von Wilhelm von Humboldt
In der wirtschaftspolitischen Debatte Deutschlands stehen sich aktuell zwei unterschiedliche Denkrichtungen gegenüber. Auf der einen Seite gibt es die Hoffnung auf eine Industriepolitik durch staatliche Feinsteuerung über kreditfinanzierte Subventionen und selektiv ausgewählte Regulierungen. Auf der anderen Seite wird eine marktbasierte, diskriminierungsfreie und somit technologieoffene Angebotspolitik durch eine umfassende Verbesserung des Ordnungsrahmens gehandelt. Einmal geht es um direkte Wirtschaftseingriffe etwa zur Stärkung einzelner sogenannter Schlüsselindustrien (Auto, Zulieferer, Chip) als Reaktion auf eine geopolitisch veränderte globale Ökonomie. Das andere Mal geht es um die Schaffung optimaler Wettbewerbsbedingungen für alle, nicht nur für ausgewählte Firmen.
So ungefähr steht es auf Seite fünf in Christian Lindners auch nach dessen Rausschmiss aus dem Kabinett sehr lesenswertem Scheidungspapier »Wirtschaftswende Deutschland«. Die Beschreibung der Alternative ist zutreffend; der Bürger hat bei der bevorstehenden Bundestagswahl eine echte Wahl. Solche Klarheit gab es in den Merkel-Jahren nicht. Insofern ist diese Wahl ein Glücksfall, nicht nur, weil es höchste Zeit war, die Ampel abzuschalten.
»Aktive Industriepolitik« gilt als modern, »Ordnungspolitik«, »Angebotspolitik«, »soziale Marktwirtschaft« gelten als altmodisch und den heutigen Gefahren und Herausforderungen (Trump, China, Klima) nicht gewachsen. Besonders klar kommen die Gegensätze in einem Streitgespräch zwischen Robert Habeck (Grüne) und Friedrich Merz (CDU) zum Ausdruck, das die beiden im Juni im Fernsehsalon bei Maybrit Illner geführt haben (lohnt sich in der Mediathek anzusehen). Weil Industriepolitik teuer ist, stört die Schuldenbremse. In den Augen von Grünen und SPD ist sie nichts anderes als ein Dogma der Ewiggestrigen in der FDP (und Teilen der Union). Dass das Verschuldungsverbot vom Grundgesetz vorgeschrieben wird, unterschlagen die »Modernisierer« dabei. »Die Welt hat sich verändert«, wird Habeck nicht müde, Merz entgegenzuschleudern. Der kontert, Grün und Rot wollten den Bürgern (oder ihren Kindern) erst Hunderte von Milliarden Euro aus der Tasche ziehen, um das Geld anschließend nach Gutdünken, also willkürlich, an ausgewählte Subventionsempfänger zu verteilen. »Anmaßendes Wissen« ist der Vorwurf an jene, die ausgewählt wichtige Industrien mit Milliarden unterstützen, selbst wenn diese das Geld gar nicht haben wollen (siehe Intel in Magdeburg).
Was ist die Aufgabe des Staates – und was nicht?
Grün und Rot wollen aktive Industriepolitik; Liberale und Union wollen Angebotspolitik. Die anderen Parteien lassen wir außen vor. Wenn es gut geht, entscheiden die Bürger am 23. Februar zwischen einer konservativ-liberalen und einer rot-grünen Koalition. Im Kern geht es dabei um zwei fundamental unterschiedliche Vorstellungen vom Staat und dessen Verhältnis zu Markt und Gesellschaft. Wieviel Steuerungskompetenz und Bürgerwohltätigkeit soll und kann sich der Staat zutrauen?
In diesen Wahlkampf-Wochen gibt es die Chance, den ein oder anderen Klassiker zu Rate zu ziehen. Kürzlich habe ich Robert Nozicks vor 50 Jahren erschienenes Werk »Anarchie, Staat und Utopie« zur Lektüre empfohlen. Heute bringe ich Wilhelm von Humboldts 1792 erschienene »Ideen zu einem Versuch, die Gränzen [sic!] der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen« in die Debatte. Anders als Nozick schlägt Humboldt nicht der Vorwurf des kalten Neoliberalisten und Turbokapitalisten entgegen. Wilhelm und sein Bruder Alexander sind Nationalheilige, die die deutschen Werte eines neuhumanistischen Bildungsideals verkörpern.
Lange vor der Erfindung des umverteilenden Sozialstaats, aber im Angesicht eines sich am Glück der Untertanen orientierenden aufgeklärten Wohlfahrts- und Fürsorgestaates interessiert Humboldt die Frage, »ob der Staat auch den positiven Wohlstand der Nation oder bloß ihre Sicherheit abzwecken soll«. Wenn man so will, standen sich auch damals schon interventionierende Sozialpaternalisten und nüchterne Ordnungspolitiker gegenüber, die die Aufgaben des Staates auf die Garantie der Rahmenbedingungen für Bürger und Unternehmer beschränken wollten.
Humboldt schlägt sich auf die Seite der Ordnungspolitik. Ein Staat, der sich anmaße, in die Wohlfahrt seiner Bürger einzugreifen (selbstredend nur zu deren Bestem), müsse zwingend eine Beschränkung der Freiheit dieser Bürger in Kauf nehmen. Der Schaden, den dieser Eingriff anrichtet, sei allemal gravierender als der mögliche Nutzen staatlich gesteigerten bürgerlichen Glücksempfindens für Unternehmen und Gesellschaft.
Wider die Monopolisierung des Sozialen
Humboldts zentraler Satz lautet: »Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem anderen Endzweck beschränke er ihre Freiheit.« Der Preuße hat die fatalen Folgen des immer mehr Geld verteilenden Sozialstaats vorausgesehen. Wer alle Verantwortung für sein Wohlbefinden dem Staat überantwortet, sieht sich selbst »jeder Verbesserung seines Zustands überhoben«. Wo der Staat das Soziale monopolisiert, werden die Menschen untereinander »zu gegenseitiger Hilfsleistung träger«. Mit anderen Worten: Der umverteilende oder mit Schulden finanzierte Staat macht die Menschen weniger solidarisch. Wenn meine Konkurrenten Subventionen bekommen, mein Unternehmen aber nicht, werde ich entweder resignieren oder, was wahrscheinlicher ist, mich ebenfalls in den Wettlauf um Staatsknete einreihen. Letztlich ist jeder irgendwie Teil einer Schlüsselindustrie.
Übersetzen wir Humboldts Sprache des deutschen Idealismus in die Sprache des deutschen Wahlkampfes, dann folgt aus seinem Staatsbuch: Priorität für das Handeln des Staats hat die äußere und innere Sicherheit. Wenn das Trump-Amerika sein Engagement für die Nato zurückfährt und Putin immer aggressiver agiert, muss der deutsche Staat mehr Geld für Waffen ausgeben. Er muss zugleich die Staatsgrenzen gegen unkontrollierte Migration sichern. Fremde sind in einer liberalen Gesellschaft willkommen, sofern sie sich assimilieren (Friedrich Merz nennt das Leitkultur); die Bürger müssen vertrauen, dass sie sich in ihrem Land sicher und frei sich bewegen können, was womöglich höhere Ausgaben für die Polizei nach sich zieht.Wenn Sicherheit teurer wird, kann nicht gleichzeitig auch das Soziale (Bürgergeld, Rente, Pflege) teurer werden. Hier bewährt sich die disziplinierende Wirkung der Schuldenbremse. Es geht nicht um einen Abbau des Sozialstaats, wie die SPD erzählt. Es reicht schon, ihn nicht ständig weiter auszubauen, würde Wilhelm von Humboldt heute konzedieren, großzügig seinen aufgeklärten Radikalismus von damals relativierend.
Rainer Hank