Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 23. April 2024
    Jedes fünfte Kind ist arm

    Zählen Sie alle blauen Punkte! Foto Foto Blue Octobus

    Dieser Artikel in der FAZ

    Und warum sich daran nie etwas ändern wird

    Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut betroffen. So hören wir es, wenn der Streit über die Kindergrundsicherung wieder einmal hochkocht. Der Ampelstreit dreht sich darum, ob eine neue Kasse mit neuen Sozialleistungen und 5000 neuen Beamten die Armut der Kinder lindern kann oder nicht. Die Voraussetzung indes – 20 Prozent unserer Kinder sind arm – wird von keiner Seite bestritten.

    Mehr oder weniger unbestritten ist auch die Übereinkunft, dass die Armutsquote der Bevölkerung seit langem bei 15 Prozent verharrt. Schwammig ist allenfalls der Begriff der Armut: Die einen sagen »armutsgefährdet«, die anderen sagen »von Armut betroffen«, viele sagen der Einfachheit halber »arm«. Dabei ist es auch umgangssprachlich und nicht erst definitorisch ein Unterschied, ob ich lediglich armutsgefährdet oder wirklich arm bin.

    Wie kommt es, dass wir insgesamt immer reicher werden, noch dazu die Beschäftigungsquote so hoch ist wie seit langem nicht – aber die Armen nicht weniger werden? Mehr noch: Auch die Sozialstaatsquote ist seit Jahren gestiegen. Die misst das Verhältnis staatlicher Sozialleistungen zum nominalen Bruttoinlandsprodukt und lag 2022 bei gut 30 Prozent. 1960 waren es 18 Prozent; 1991 dann schon 25 Prozent. Das scheint mir ein Beleg dafür zu sein, dass es uns nicht nur immer besser geht, sondern dass das Land auch immer »sozialer« wird (sofern sich das mit Geld quantifizieren lässt). Doch zur allgemeinen Verwunderung lindert ein großzügigerer Sozialstaat leider die Armut nicht.

    Die relative Armutsdefinition

    Die gängige Antwort auf meine Frage lautet: Es liegt an der Armutsdefinition. Arm (oder armutsgefährdet) ist hierzulande, wer in einem Haushalt lebt, der über weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens verfügt. Wenn also alle Deutschen (auch die Armen) gleichzeitig und gleichmäßig um fünf Prozent reicher werden, schrumpft die Gruppe der Armen trotzdem nicht. Werden lediglich die Reichen reicher, dann nimmt qua Definition die Armut sogar zu, obwohl das Einkommen der Armen nicht weniger wird. Gemäß einer alternativen Definition der Armut ist arm, wer Hartz-IV-Leistungen (heißt heute »Bürgergeld«) bezieht. Werden diese Leistungen real erhöht, sind die Armen reicher geworden, bleiben aber so lange arm, wie sie Bürgergeld beziehen, selbst wenn dieses verdoppelt würde. Vergrößert der Staat den Kreis der Anspruchsberechtigten, so erhöht sich qua Definition die Zahl der Armen ebenfalls – und zwar paradoxerweise als Folge eines großzügigeren Wohlfahrtsstaates.

    Man kann diese Definitionen relativer Armut skandalisieren. Das finde ich wenig originell, zumal niemand ernsthaft behauptet, ein Obdachloser in einer Frankfurter U-Bahn-Unterführung sei materiell genauso übel dran wie ein Hungernder in Zentralafrika. Interessanter finde ich die Frage, wie es kommt, dass wir die Armut so definieren, dass der Anteil der Armen stabil bleibt völlig unbeschadet materieller Verbesserungen für alle.

    Das könnte etwas mit Psychologie zu tun haben und führt zu einem spannenden Experiment, das im Jahr 2018 in der Zeitschrift »Science« für Aufsehen sorgte. Autoren sind die beiden Harvard-Forscher David Levari und Daniel Gilbert. Letzterer hat vor Jahren einen Bestseller über das menschliche Glück (und die Kunst, unglücklich zu werden) geschrieben. In dem Science-Papier geht es darum, wie wir Menschen es vermeiden, soziale Probleme zu lösen, stattdessen merkwürdigerweise danach trachten, an ihnen festzuhalten.

    Ein spektakuläres Experiment

    Der Versuch geht so: Probanden wird ein Bild mit 1000 Punkten gezeigt, deren Farbe von tiefblau bis tiefviolett graduell sich verändert. Die Aufgabe ist es, die blauen Punkte zu zählen. Nach ungefähr 200 Wiederholungen reduzierten die Versuchsleiter die Zahl der blauen Punkte. Doch, oh Wunder, die Versuchspersonen finden immer gleich viele blaue Punkte.

    Daraus folgt: Wenn die Verbreitung der blauen Punkte vermindert wird, dehnen wir unsere Definition von blau auf solche Punkte aus, die wir zuvor als violett nicht mitgezählt hätten. Das machen die Versuchspersonen selbst dann, wenn sie vom Versuchsleiter explizit darauf hingewiesen werden, dass es jetzt weniger blaue Punkte gibt. Die Übertragung auf die Sozialpolitik, sehr pauschal, liegt nahe: Wenn es objektiv weniger Arme gibt, definieren wir Personen als arm, die wir zuvor nicht als arm angesehen hätten.
    Der Versuch wird schrittweise komplexer: Das nächste Mal werden den Probanden 800 computergenerierte Porträtfotos gezeigt, die von »sehr bedrohlich« bis »nicht bedrohlich« dreinblicken. Und siehe da: Werden sehr bedrohliche Porträts entfernt, füllen wir die Lücke mit Gesichtern, die uns zuvor nicht erschreckt hätten. Im nächsten Schritt sollen die Versuchspersonen entscheiden, ob wissenschaftliche Studien ethisch bedenklich sind. Abermals ergibt sich: Werden eindeutig unethische Studien (mit grausamen Tierversuchen zum Beispiel) von den Versuchsleitern aussortiert, sehen wir andere Versuche als moralisch problematisch an, an denen wir zuvor keinen Anstoß genommen haben.

    Es findet ein Prozess der nachträglichen »Moralisierung« statt auf bislang neutrale Handlungen. Das könnte der Grund sein, warum wir heute ein Verhalten moralisch stigmatisieren (Fleisch essen, Kuhmilch trinken), das wir so lange ethisch für unbedenklich hielten, solange wir uns mit basalen ethischen Fragen quälen mussten. Der Versuch könnte zudem erklären, warum trotz rückläufiger Diskriminierung (etwa von Frauen im Berufsleben) die verbleibende Diskriminierung umso stärker skandalisiert wird.
    Den Hinweis auf das Science-Paper verdanke ich einem Podcast des Hirnforschers Volker Busch mit der tröstlichen Botschaft: Meist kommt es besser als befürchtet. Busch fasst die psychologische Regel so zusammen: Je besser es uns geht, umso kritischer wird unser Blick auf die Dinge. Das wäre die neutrale und weniger skandalisierende Deutung unserer Ausgangsfrage, warum wir die Armen nicht loswerden, obwohl es uns allen doch nachweislich besser geht. In dem Maße, in dem »echte« Armut weniger vorkommt (weniger tiefblaue Punkte), umso mehr kümmern wir uns um relativ Arme, die wir früher nicht als arm angesehen hätten (violette Punkte). Man könnte auch sagen: wir werden umso kritischer und pessimistischer, je besser es uns geht. Schon ein bisschen paradox, unvernünftig und unflexibel, oder?

    Wenn das so ist, heißt das auch: In Deutschland wird dauerhaft jedes fünfte Kind arm bleiben. Da kann sich Frau Paus auf den Kopf stellen und Finanzmittel und die Zahl der Beamten verdoppeln oder verdreifachen. Übrigens: Die Theorie der blauen und violetten Punkte trägt in der Wissenschaft den schönen Namen »prävalenzinduzierte Konzeptveränderung«.

    Rainer Hank

  • 23. April 2024
    Wie es wirklich war

    Wolfgang Schäuble (1942 bis 2023) Foto Klett Cotta

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    Dieser Artikel in der FAZ

    Josef Ackermann und Wolfgang Schäuble erinnern sich sehr unterschiedlich

    Warum schreiben Männer (zuweilen auch Frauen) Memoiren? Die beste Antwort kommt von Franz Beckenbauer. »Ich – Wie es wirklich war«, lautet der Titel seiner Autobiografie, 1992 erschienen. Beckenbauers Versprechen, hier bekomme der Leser einen wahrheitsgetreuen Einblick in seine Beziehung zu Frauen, seinem Verhältnis zum Geld und seinem Umgang mit Mannschaftskollegen, haben ihm hoffentlich noch nicht einmal seine treuesten Fans abgenommen.

    Aufgeklärte Zeitgenossen wie der Musiker Wolfgang Niedecken (BAP) haben vorsichtshalber ihr Leben mehrfach und jeweils anders erzählt. Das ist auf der Höhe der heutigen Hirnforschung, die weiß, dann man sich die Erinnerung nicht wie die Festplatte eines Laptops vorstellen darf. Was gewesen ist, wird immer und stets neu aus der Gegenwartserfahrung heraus konstruiert: »Invention of Tradition«. Abgründig ist das Phänomen der »false memories«, der felsenfesten Einbildung ohne jegliche Betrugsabsicht, etwas habe sich so und nicht anders ereignet, wofür es, bei nüchterner Betrachtung nicht den geringsten Beleg gibt oder – noch gespenstischer – wofür Freunde oder Geschwister hartnäckig ihrerseits reklamieren, sie selbst hätten genau dies erlebt.

    »Ego-Dokumente«, wie die Geschichtswissenschaft nicht nur Memoiren, sondern auch Tagebücher, Verhörprotokolle vor Gericht oder handgeschriebene Liebesbriefe nennt, haben es in sich. Ihrer Behauptung der Authentizität, was auch einem Bedürfnis des Lesers entspricht, ist mit größtem Misstrauen zu begegnen. Doch wenn es nicht um dokumentarische Wahrheit geht, worum geht es dann? Mutmaßlich um die Rechtfertigung eines Lebens vor sich selbst und anderen und dem Bedürfnis, Einheit in die Mannigfaltigkeit der Fragmente eines Lebens zu bringen. Die meisten Menschen seien im Grundvertrauen zu sich selbst Erzähler, vermutete der Erzähler Robert Musil.

    Bewunderung und Anfeindung

    Handelt es sich um eine öffentliche Person kommt das Interesse hinzu, die Deutungshoheit über das eigene Leben zu behaupten, es mit dem Siegel der Autorschaft zu adeln nach dem Motto, »ich werde doch selbst am besten wissen, wie es gewesen ist«. Insofern ist es ein historisches Glück, dass in kurzem Abstand zwei Memoirenbände erschienen sind, deren Lebensläufe sich mehrfach gekreuzt haben: Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Josef Ackermann, erzählt sein Leben unter dem Frank Sinatra entlehnten Titel »Mein Weg«. Von Wolfgang Schäuble, dem an Weihnachten 2023 verstorbenen großen deutschen Politiker, sind in der vergangenen Woche unter dem Titel »Mein Leben in der Politik« nachgelassene Memoiren erschienen.

    Beide Männer hatten auf die politische und wirtschaftliche Geschichte Deutschlands in den letzten Jahrzehnten nicht geringen Einfluss. Beide mussten mit Bewunderung und Anfeindungen umgehen. Liest man beide Autobiografien parallel, so übertreffen allein schon was die literarische Qualität betrifft die Memoiren Schäubles die Erinnerungen Ackermanns um Beträchtliches. Auch im Anspruch und der Erfüllung des literarischen Genres kommt Ackermann weniger reflektiert daher: Das Muster simulierter Bescheidenheit will es, dass »Freunde und Bekannte« ihn dazu ermuntert haben, sein Leben aufzuschreiben. In gutgläubiger Beckenbauer-Manier fügt Ackermann hinzu, hier würden nun »die Dinge so dargestellt, wie sie eigentlich gewesen sind«. Während Jubiläumsbücher (mutmaßlich der Deutschen Bank) nur so von Fehlern strotzen, sei bei ihm, Ackermann, das Verlangen gewachsen, die »wahre Geschichte« zu erzählen – gegen die im Umlauf befindlichen Mythen, Fantasien, Fabeln und Legenden.

    Ganz anders Wolfgang Schäuble. Er bekennt geschickt, dass es sich um seine »subjektive Sicht« handele und dass er sich während der Niederschrift damit konfrontiert gesehen habe, »wie schnell die eigene Erinnerung der Selbsttäuschung unterliege und wie unzuverlässig ein Gedächtnis sei«. Aber natürlich ist Schäuble überzeugt, dass er alles schon richtig erinnert und er (fast) immer eine gute Figur abgegeben hat: Es macht sich gut, dass er es war, der Kanzler Kohl die junge Angela Merkel als Generalsekretärin vorschlug; damit verdankt die Frau aus dem Osten ihm ihre steile Karriere. Und es macht sich besser, wenn Markus Söder selbst auf die Kanzlerkandidatur verzichtet, als dass Schäuble ihn dazu verdonnert hätte. So geht autobiografische Erinnerungskonstruktion, nebenbei geliefert als freundliche Hilfestellung für spätere Historiografen.

    Klischee des Investmentbankers

    Von solcher Dialektik ist Ackermann nicht angekränkelt; stattdessen offenbart er sich als Namedropper von Format. Ein großer Mann im Kreise großer Männer. Frauen, da ähneln sich Ackermann und Schäuble, haben ihren Auftritt vor allem als treu-verlässliche Sekretärinnen – sieht man einmal von Angela Merkel oder Christine Lagarde ab.
    Während Schäuble bei Ackermann nicht oder allenfalls indirekt vorkommt, ist Ackermann für Schäuble eine Reizfigur. Ein »Banker«, dessen Verantwortung anders als beim »ehrbaren Bankier« von früher sich auf die »Profite der Anleger« reduziert habe, Frankfurter Fuzzis eben. Man dürfe nicht zu lange Bundesfinanzminister sein, so Schäuble, wenn man nicht als grundsätzlicher Kapitalismuskritiker enden wolle. Dieses Urteil ist nicht nur ungerecht, es spiegelt zugleich das Klischee des gierigen Investmentbankers, das über »die Ackermänner« damals in Umlauf war.

    Nein, Freunde waren diese beiden Männer nicht. Aufschlussreich ist die Erinnerung Schäubles an die Verhandlungen mit Ackermann in seiner Rolle als Chef des Weltbankenverbands in den Jahren 2011 und 2012 über einen Schuldenschnitt für Griechenland. Schäuble fühlt sich von Ackermann geschulmeistert und kontert – »vermutlich barsch« -, er lasse sich von ihm nicht »hinter die Fichte« führen. Ackermann, so Schäubles Erinnerung, habe insistiert, den Griechen mehr als zwanzig Prozent ihrer Schulden erlassen, sei den privaten Banken nicht zuzumuten. Schäuble verlangte mindestens fünfzig Prozent und triumphiert: »Es wurden am Ende 53 Prozent«. Bei Ackermann kommen diese Verhandlungen auch vor, auch die entscheidenden 53 Prozent. Dass dies – sofern Schäuble korrekt erinnert – für Ackermann eine große Niederlage bedeutete,
    überschweigt Ackermann großzügig. Auch in der Fähigkeit des Eingeständnisses von Niederlagen ist Schäuble besser als Ackermann, der stattdessen sein Eurorettungskapitel mit einem Zitat Christine Lagardes abrundet, er sei »ein Mensch mit großer Würde, Eleganz und der Fähigkeit, Themenkomplexe schnell und aus großer Distanz zu erfassen«.

    Mit Angela Merkel haben beide Männer so ihre Erfahrungen gemacht und Enttäuschungen erlebt. Wie die damalige Kanzlerin alles selbst erinnert haben will, werden wir im Herbst wissen. Dann erscheinen die Merkel-Memoiren.

    Rainer Hank

  • 12. April 2024
    Brüsseler Imperialisten

    CO2–Speicher und Artenvielfalt: Der Regenwald Foto Cyle Cleveland/unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie man in den Regenwald hineinruft, so schallt es heraus

    Alles hat seine Geschichte. Auch der deutsche Wald. Den gibt es nämlich erst seit dem Jahr 1800. Gut, früher gab es auch schon Wälder. Bloß dass sich niemand um sie gekümmert hat, der Wald also kein Ort menschlichen Erlebens war. Erfunden haben den Wald die deutschen Romantiker und die deutschen Forstwirte. »O schöner, grüner Wald, Du meiner Lust und Wehen andächtiger Aufenthalt«, so dichtete Joseph von Eichendorff. Ludwig Tieck hat in seiner Novelle vom »Blonden Eckbert« (1796) ein neues Wort geprägt, das sogar im Englischen Karriere gemacht hat: die »Waldeinsamkeit« (wie zweihundert Jahre später dann das »Waldsterben«). »Im Wald, im Wald! da konnt› ich führen/Ein freies Leben mit Geistern und Tieren«, heißt es in Heinrich Heines »Waldeinsamkeit« (1851).

    Als Ort der Sehnsucht, der Angst und des Rückzugs hat sich der Wald seither belebt: Mit Hexen, Nixen, Vögeln, Klettergärten – und Förstern. Als Heinrich Cotta, der Begründer der Forstwirtschaft, 1817 seine »Anweisung zum Waldbau« verfasste, konnte er weder wissen, dass seine Bemühungen, dietter und Dürren.

    Ja, Sie haben richtig gelesen: Früher war weniger und nicht mehr Wald als heute. Jedenfalls hierzulande und auch im Rest von Europa. Allen Klagen über Entwaldung, Trockenheit und Borkenkäfern zum Trotz geht es uns waldmäßig ziemlich gut. Die große Entwaldung nach 1800 war vor allem dem Bedarf des Bergbaus und des Hüttenwesens geschuldet und zugleich Folge des wachsenden Exports von Holz im frühen 19. Jahrhundert. Dazu gibt es übrigens auch ein Wald-Märchen: »Das Kalte Herz« von Wilhelm Hauff. Der Einstieg ins Kohlezeitalter markiert dann den Übergang zur Ausbeutung der »unterirdischen Wälder«. Damit soll bekanntlich demnächst Schluss sein.

    Ich speise mein Waldwissen aus einem Besuch der lehrreichen Wälder-Ausstellung, die man noch bis zum 11. August gleich an drei Orten in und um Frankfurt besuchen kann: Im Senckenberg-Museum (Naturkunde), im Romantikmuseum (Dichtung und Musik) und im Sinclair-Haus in Bad Homburg (Malerei). Die Ausstellung ist sehr zu empfehlen zum Beispiel an Wochenenden wie dem vergangenen Osterfest, wo es im echten Wald zu kalt und zu nass war.

    Entwaldungsfreie Lieferketten

    Inzwischen, wie gesagt, brauchen wir uns um den deutschen Wald nur wenig Sorgen zu machen: Er wächst! Ein Drittel der Fläche ist Wald. Problematischer sieht es in den tropischen Regenwäldern aus, die dem Anbau von Soja, Kaffee oder Kakau weichen müssen, durch Ölpalmen ersetzt werden oder als Weidefläche zur Rinderzucht dienen. Das schadet dem Klima, mindert die Artenvielfalt und kostet indigenen Stämmen ihren angestammten Lebensraum.

    Aus diesem Grund gibt es jetzt die EU-Verordnung zu entwaldungsfreien Lieferketten, abgekürzt EUDR (EU-Deforestation-Regulation). Sie verbietet den Handel von Rohstoffen und Produkten, die eine Entwaldung oder Waldschädigung verursachen und lastet den Nachweis dafür den hiesigen Unternehmen an. Es um Soja, Palmöl, Holz (Zeitungspapier), Kaffee, Kakao, Naturkautschuk (Automobilindustrie) und Rinder.

    Die Verordnung ist seit Juli 2023 in Kraft und muss spätesten im Dezember dieses Jahres umgesetzt werden. Sie ist ein Musterbeispiel für Brüsseler Bürokratisierung, enthält 62 detaillierte Vorschriften: alle Importprodukte müssen sich zu den betroffenen Grundstücksflächen zurückverfolgen lassen. Dabei geht es nicht nur um den Nachweis, dass dafür kein Baum gefällt werden musste. Hiesige Marktteilnehmer müssen in einer Sorgfaltserklärung auch bestätigen, dass die Produkte gemäß der »einschlägigen Rechtsvorschriften des Erzeugerlandes hergestellt« worden sind. Dazu zählen Vorschriften zur Landgewinnung, Arbeitnehmerrechte und völkerrechtlich geschützte Menschenrechte. Geldstrafen bei Verstößen können bis zu vier Prozent des EU-weiten Gesamtumsatzes eines Unternehmens betragen.

    Und was sagt der »globale Süden«, dem die Entwaldungs-Verordnung doch zugutekommen soll: Klima und Artenschutz, Wahrung von Menschen-, Kinder- und Arbeitnehmerrechten? Die Begeisterung hält sich, vorsichtig gesprochen, in Grenzen. Von »regulatorischem Imperialismus« spricht der Wirtschaftsminister Indonesiens in einem Interview mit der New York Times. Der Süden müsse die Zeche dafür zahlen, dass die wohlhabenden Staaten im Norden jahrzehntelang die Abholzung ihrer Wälder in Kauf genommen hätten und jetzt die Gutmenschen spielen. Nicht zuletzt für kleine Produzenten seien die bürokratischen Vorschriften zur Dokumentation ihrer Waldflächen nicht zu stemmen. Das zwinge sie dazu, ihr Land zu verkaufen. Massenhafte Verarmung werde die Folge sein. Lokale Zwischenhändler mixten traditionell die Rohstoffe verschiedener Erzeuger, deren Herkunft sich schon vor Ort schwer nachvollziehen lasse, geschweige denn am Ende der Lieferkette.

    Neo-Imperialismus plus Protektionismus

    Der Vorwurf des Neo-Imperialismus trifft die EU nicht zu Unrecht. Er paart sich mit dem Verdacht des Protektionismus zum Schutz der europäischen Landwirtschaft. Wenn Palmöl durch die Bürokratiekosten zu teuer wird, eröffnet dies Chancen für pflanzliches Öl aus der EU-Landwirtschaft. »Ist Neokolonialismus erlaubt, wenn er sich als klimapolitisch gute Tat geriert?«, so die polemische Reaktion von Ländern in Südostasien. Vor allem Indonesien und Malaysia hat der Palmöl-Boom der vergangenen Jahre einen Weg aus der Armut und zu Wohlstand gewiesen. Bis zu 4,5 Millionen Menschen sind in diesen Ländern neu in Lohn und Brot gekommen. Ihre Regierungen wehren sich jetzt dagegen, dass das Entwaldungsprogramm der EU zu ihrem Verarmungsprogramm wird.

    Was soll man machen? Anmaßend finde ich den Anspruch des »reichen Nordens«, die Produktionsbedingungen im »globalen Süden« diktieren zu wollen. Aus dem Verbot von Deforestation wird De-Globalisierung, was am Ende zu Verarmung im Süden und schwindendem Wohlstand im reichen Norden führt.
    »Für die Transformation müssen alle Opfer bringen«, entgegnen die Klima-Moralisten, geben sich als Freunde neuer Waldeinsamkeit, bürden dem Süden die Kosten auf – und verschweigen, dass es bessere, wenngleich auch nicht perfekte klimapolitische Instrumente gibt als den »regulatorischen Imperialismus«. Zum Beispiel einen freiwilligen »Klimaclub« aller transformationswilligen Staaten, die einen einheitlichen CO2–Preis vereinbaren und die Kosten der Transformation gerechter verteilen. Viele Ökonomen werben dafür schon lange. Bislang ohne Erfolg.

    Rainer Hank

  • 12. April 2024
    Götter unter Menschen

    Neid und Bewunderung liegen eng beieinander Foto Danilo Capece/unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Die Reichen können es niemandem recht machen.

    Alan Rufus war ein Krieger von Wilhelm dem Eroberer. Zum Lohn für seine Teilnahme an der Schlacht von Hastings verlieht Wilhelm seinem Gefolgsmann zahlreiche Städte nebst Gütern. Vor seinem Tod im Jahr 1093 soll sich der Ertrag aus diesen Besitztümern auf sieben Prozent des damaligen Bruttoinlandsprodukts in England belaufen haben. Das machte Rufus zu einem der reichsten Männer, die England je hatte. Geschätzt in Preisen des Jahres 2023 wären das 242 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Bernard Arnault, Eigentümer des französischen Luxuskonzerns LVMH und gemäß der Forbes-Liste heute der reichste Mann der Welt, bringt es 2023 »lediglich« auf ein Vermögen 211 Milliarden Dollar.

    Reichtum fasziniert die Menschen. Zugleich treten sie den Reichen mit Misstrauen entgegen. Dies entnehme ich einer gerade erschienenen Monografie über die Reichen in der westlichen Welt seit dem Mittelalter (mit Exkursen in die Antike). Sein Autor ist der italienische Wirtschaftshistoriker Guido Alfani (»As Gods among men«, Princeton University Press). Dass sie sich »wie Götter unter Menschen« aufführen, nimmt man den Reichen übel: Was immer sie machen, sie machen es falsch.

    Die Reichen sind bekanntlich immer die anderen. Niemand will reich sein; denn dann läuft er Gefahr, Neid und Missgunst zu erregen. Guido Alfani hat eine brauchbare Arbeitsdefinition: Reich ist, wer ein Vermögen auf sich vereint, das zehn Mal so groß ist wie das Medianvermögen. In Deutschland lag 2023 das Medianvermögen eines Haushalts bei 106.000 Euro (was im Vergleich mit anderen europäischen Ländern gar nicht so viel ist). Reich wäre man somit ab einem Vermögen von gut einer Million Euro. Das wären dann die 1,5 Millionen Euro-Millionäre, die es in Deutschland derzeit gibt oder, bezogen auf 80 Millionen Einwohner, die »oberen zwei Prozent«. Weltweit liegt der Anteil der Reichen bei zehn Prozent. So gesehen ist Deutschland bezogen auf die Reichendichte eher ein armes Land.

    Paul McCartney vor Taylor Swift

    Dass die Reichen geeignete Objekte für Voyeure sind, dafür sprechen die beliebten Reichen-Rankings. Auch unter den Reichen selbst, so heißt es, genießen sie Aufmerksamkeit. Niemand will gerne absteigen. Ob es Taylor Swift wurmt, dass sie mit einem Vermögen von 1,1 Milliarden Dollar immer noch nicht an Paul McCartney (1,2 Milliarden) rankommen? Gut, sie ist 34 Jahre alt und hat noch Zeit. Reichenlisten gibt es inzwischen sogar für literarische Figuren (»Forbes fictional 15«). Da rangiert Dagobert Duck mit 65 Milliarden Dollar auf Platz Eins, gefolgt von dem Drachen Smaug aus dem »Herrn der Ringe« von J.R.R. Tolkien (54 Milliarden): Gierig hortet er Goldschätze über Goldschätze, was ihn immerhin zum reichsten Drachen der Weltliteratur macht.

    Stigmatisierend wirkt bis heute die theologische Tradition des Mittelalters nach. Danach ist, wer reich ist, per se ein Sünder. Denn Reichtum ist Folge von Habgier und führt zu Verschwendung. Und dies zählt als Todsünde, was wiederum das Schicksal ewiger Verdammnis nach sich zieht. Schön ist das nicht, bringt nicht nur lebenslange Gewissensbisse, sondern auch die permanente Angst vor dem fünften Kreis der Hölle. Dorthin, in die sumpfigen, stinkenden Gewässer des Flusses Styx, werden die Reichen nach ihrem Tod von Dantes Göttlicher Komödie verbannt.

    Die gesellschaftliche Ächtung ist derart vernichtend, dass man sich fragt, warum es überhaupt Reiche auf der Welt gibt. Die beste Antwort darauf stammt von Donald Trump. In seinem Buch »The art of the deals« von 1987 schreibt er: »Der Punkt ist, dass Gier keine Grenze kennt.« Offenbar gibt es einen Reichtums-Trieb der menschlichen Natur, der stärker ist als alle gesellschaftliche oder theologische Abwertung und gesellschaftliche Ächtung.

    Grundsätzlich gibt es zwei Spielarten, wie man mit seinem Reichtum umgehen kann. Die einen zeigen demonstrativ, was sie haben und sonnen sich im Luxus ihrer Rolex-Uhren (extensiver Konsum), die anderen verbergen ihr Vermögen vor der Welt (extensives Sparen). Doch, wie gesagt: Wie man es macht, macht man es falsch. Demonstrativer Konsum war im Mittelalter gesetzlich beschränkt. Denn er erregte sozialen Neid. Minutiös wurde in sogenannten Luxusgesetzen geregelt, wie ausladend eine Kindstaufe gefeiert werden durfte, wie teuer die Geschenke der Taufpaten, wie kostbar die Kleider der Gäste und was es zu essen geben durfte. Verstöße wurden mit Geldstrafen geahndet, die häufig in Kauf genommen wurden, womit aus der Strafe ökonomisch eine Art Steuer wird, die Teile des Reichtums staatlich abschöpft.

    Wohltaten gegen Höllen-Qualen

    Wer Neid und Strafsteuer vermeiden will, kann seinen Reichtum verbergen und sein Geld sparen. Das freilich führt bei guter Anlagestrategie und in friedlichen Zeiten dazu, dass die Reichen nur noch reicher werden, was die soziale Ungleichheit vergrößert. Womit wir bei Umverteilungsfantasien landen. Erst recht dann, wenn der Reichtum gar nicht auf eigener Leistung, sondern wie häufig auf anstrengungslosem Besitztum (vulgo: Erbschaft) beruht. Einen Mittelweg zwischen beiden Wegen wird mir aus dem pietistischen Schwaben berichtet: Man verbirgt seine Sammlung der Porsches und Bentleys in den Tiefgaragen unter der Obhut des Chauffeurs. Und fährt selbst mit Straßenbahn oder Lastenrad.

    Vielfältig sind die Strategien der Reichen, sich gegen Missgunst und Fegefeuer-Drohung zu wappnen. Im Mittelalter empfahl der Klerus, Geld den Armen zu schenken, was einen Ablass für die in der Hölle Schmorenden erbrachte und zugleich das eigene schlechte Gewissen entlastete. Stiftungen und Mäzenatentum sind ein bewährtes Mittel, einen Beitrag für das Gemeinwohl zu leisten und uns sich zugleich als Wohltäter gut zu fühlen. Doch merke: Wie man es macht, macht man es falsch. Reiche Stifter haben viel Macht, was ihnen übelgenommen wird, auch wenn sie viel Gutes tun. Bill Gates kann ein Lied davon singen. Besser kommt bei seinem Mitmenschen an, wer Staat und Kommunen direkt finanziert. Ohne den Reichtum seiner Bürger wäre Siena nie so schön geworden. Ohne das Geld der französischen Aristokratie gäbe es die Gärten Versailles nicht. Cosimo de Medici rettete Florenz mit seinem Geld vor dem finanziellen Bankrott. Der Bankier John Pierpont Morgan griff während einer heftigen Finanzkrise im Oktober 1907 dem amerikanischen Staat finanziell unter die Arme: Die Reichen, eine Art »lender of last resort« für Pleitestaaten. Sind sie nicht willig, werden sie extra besteuert oder – gängige Praxis in Zeiten nationaler Not – zum Kauf von Zwangsanleihen zur Kriegsfinanzierung genötigt. Merkwürdig, dass hierzulande noch niemand vorgeschlagen hat, auf diese Weise die marodierende Bundeswehr zu sanieren.

    Ginge es uns normal Sterblichen in einer Welt ohne die Superreichen besser? Im Gegenteil: wir wären alle viel ärmer.

    Rainer Hank

  • 27. März 2024
    Demokratie wird überschätzt

    Ist das Demokratie? Foto Albert Welti »Die Landsgemeinde« (1910) Bundeshaus Bern

    Dieser Artikel in der FAZ

    Zu kämpfen gilt es für Liberalismus und nationale Souveränität

    Angst geht um in Deutschland. Es heißt, die Demokratie sei in Gefahr. Im Herbst sind Wahlen in drei Bundesländern: Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Überall gewinnen sogenannte extreme Parteien viel Zustimmung. Auf der Plattform »wahlrecht.de«, Stand 18. März, kommt die AfD in Thüringen auf 31 Prozent, das »Bündnis Sahra Wagenknecht« (BSW) kriegt 17 Prozent, die Linke 15 Prozent. Die SPD schrumpft auf 6 Prozent; Grüne und FDP rangieren an oder unter der Schwelle von 5 Prozent.
    Solche Parteipräferenzen sind tatsächlich neu für Deutschland. Man kann auch sagen: Sie sind erschreckend. Mit Ausnahme der Union (20 Prozent in Thüringen) spielen sogenannte bürgerliche Parteien keine Rolle. Stattdessen streiten sich extreme (manche sagen: extremistische) Parteien aus dem rechten und linken Spektrum um die Macht: 63 Prozent der Wählerinnen und Wähler – Stand heute – würden ihre Stimme einer dieser Parteien geben.

    Soll man daraus folgern, die Demokratie sei in Gefahr? Ich verstehe das Argument nicht. Und zwar umso weniger, je lauter dieser »Wir retten die Demokratie«-Diskurs tönt. Was sich in den drei Bundesländern zeigt, das ist doch gerade Demokratie, ob es einem passt oder nicht. Jedenfalls ist mir nicht zu Gehör gekommen, dass die Wahlbürger dort in irgendeiner Form mit Zwang oder unsittlichen Wahlgeschenken verführt werden oder es gar zu Versuchen des Wahlbetrugs kommen könnte. So gesehen sind Sahra Wagenknecht und Björn Höcke Demokraten. Man kann sie auch Populisten nennen. Aber was ist damit gewonnen? Lediglich eine Tautologie, die besagt, dass in einer Demokratie die Herrschenden sich die Zustimmung zum Regieren bei den Beherrschten (also beim Populus, abschätzig auch Plebs genannt) abholen müssen. Und dass die Herrschenden ihre Macht zum Glück nur auf Zeit innehaben, sie also spätestens nach vier Jahren auch wieder abgewählt werden können.

    Die Demokratie wäre erst dann in Gefahr, wenn – sagen wir Sahra Wagenknecht oder Björn Höcke – ihre demokratisch erworbene Macht dazu missbrauchen würden, die Demokratie selbst abzuschaffen. Und sich als Diktatoren installierten. Das kann, wer mag, ihnen unterstellen. Beweise dafür gibt es nicht. In anderen Ländern (Niederlande, Polen, Italien) haben die Rechtspopulisten das gerade nicht getan. Mit Verweis auf das Jahr 1933 und die Nationalsozialisten zu sagen, hierzulande sei das anders, halte ich für ein völkisches Argument, das der plumpen Annahme einer Wiederholung von Geschichte aufsitzt. Und dabei noch nicht einmal an den 1945 entwickelten deutschen Sonderweg der »wehrhaften Demokratie« glaubt, welche die demokratische Teilhabe der Bürger im Vergleich zu anderen Ländern stark begrenzt: Volksabstimmungen fürchten wir hierzulande wie der Teufel das Weihwasser; Verfassungsschutz und Verfassungsgericht haben eine viel größere präventive Macht als anderswo. Insofern steht die gefestigte Populismusbegrenzungsmacht unseres Staates in einem merkwürdigen Kontrast zum weit verbreiteten Gefühl einer bedrohten Demokratie. »Mehr Gelassenheit wagen«, so müsste ein daraus sich ableitender Imperativ lauten.

    Die »schweigende Mehrheit« ist eine linksgrüne Minderheit

    Der Demokratiebegriff wird aufgeladen und übertrieben ideologisch besetzt, wenn eine selbsternannte »schweigende Mehrheit« das Monopol aufs Demokratischsein für sich beansprucht – unterstützt von öffentlichem Rundfunk, Ampelpropaganda und teuer alimentierten Demokratieforschungsprogrammen an Stiftungen und Netzwerken zu Rettung des »sozialen Zusammenhalts«. Das mag als kommunikativer Trick der Gemeinwohlrhetorik durchgehen, redlich ist es nicht.

    Eine gerade von der Universität Konstanz veröffentlichte Umfrage wollte wissen, wer die Demonstranten sind, die seit Jahresanfang als »schweigende Mehrheit und Mitte« die Demokratie verteidigen wollen. Das Ergebnis: 61 Prozent von ihnen hatten bei der vergangenen Bundestagswahl die Grünen gewählt, 65 Prozent ordnen sich »links der Mitte« ein, weitere fünf Prozent »linksaußen«. Auf den Marktplätzen des Landes demonstriert mithin nicht die »schweigende Mitte«, sondern eine linksgrüne Minderheit – so das Ergebnis der Forscher in Konstanz. Das ist völlig in Ordnung, sollte aber nicht kaschiert werden. Im Übrigen möchte auch ich nicht in einem (Bundes)land leben, in dem Sarah Wagenknecht und/oder Björn Höcke regieren. Denen aber das Demokratischsein abzusprechen oder sie als »formal demokratisch« zu denunzieren, könnte sich am Ende rächen.
    Was aber ist dann gefährdet, wenn es nicht die Demokratie ist? Es sind die »liberalen Institutionen« und die »nationale Souveränität«. Beides hängt zusammen und bedeutet: Der Streit muss »inhaltlich« werden und darf sich nicht damit begnügen, von Demokratierettung zu faseln. Liberale Institutionen verlangen unter anderem ein Bekenntnis zu Marktwirtschaft, zu einer globaler Freihandelsordnung, zu Rechtsstaatlichkeit, zu Minderheitsschutz und sozialer Teilhabe (auch für Migranten, wenn sie bereit sind, sich zu integrieren). Man sage nicht, das laufe auf das Gleiche hinaus wie das Bekenntnis zur Demokratie. Im Gegenteil: Liberale Institutionen begrenzen die Reichweite der Demokratie. Das Verfassungsgericht schützt die Schuldenbremse gegen Parlament und Regierung. Der Minderheitenschutz weist demokratische Mehrheitsmacht in die Schranken, verhindert, dass die Mehrheitsdemokratie zu einem illiberaler Zwangsapparat wird

    Liberalismus vs. Populismus

    Nationale Souveränität bedeutet, dass weder die Fiskalpolitik noch die Migrations- oder Sozialpolitik an transnationale, also europäische Institutionen delegiert werden dürfen. Weil diese dafür nicht legitimiert sind. Die Gefährdung der nationalen Souveränität sind eine zentrale Ursache für den Erfolg des rechten und linken Populismus. Die AfD entstand nicht zufällig in den Jahren der Eurokrise, als es darum ging, dass Deutschland womöglich haften muss für den fiskalischen Schlendrian südlicher Euroländer. BSW von Sahra Wagenknecht entstand nicht zufällig in einem Moment, als es darum ging, ob die Leistungen des deutschen Sozialstaats gleichzeitig und in vollem Umfang auch Migranten offenstehen sollen.

    Liberalität und Souveränität dürfen gerade nicht gegeneinander ausgespielt werden. Philip Manow, ein inspirierender Sozialwissenschaftler, hat dazu unter dem Titel »Unter Beobachtung« ein neues Buch geschrieben, das demnächst bei Suhrkamp erscheint. Darin geht es (auch) um eine Verhältnisbestimmung zwischen Liberalismus und Populismus. Zu stärken gilt es einen liberalen Universalismus: Das ist eine Staats- und Wirtschaftsverfassung, die das demokratische Existenzrecht rechter und linker Populisten verteidigt und zugleich darauf insistiert, dass individuelle Freiheiten nicht von (demokratischen) Mehrheitsentscheidungen platt gemacht werden dürfen.

    Rainer Hank