Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
18. September 2023Über tausend Brücken
05. September 2023Inflation der Demokratie
30. August 2023Fiskalmagie der Lisa Paus
24. August 2023Will Hollywood demnächst ganz Italien kapern?
18. August 2023Le Kulturkampf
18. August 2023Homeoffice ist keine Dauerlösung
17. August 2023Das Schicksal der Whistleblower
25. Juli 2023Der Fluch des Erfolgs
20. Juli 2023Die Caritas-Legende
11. Juli 2023Politisierung der Löhne
03. Mai 2023
Last GenerationWarum kommen immer weniger Kinder auf die Welt?
Am Osterfest hat die Financial Times (FT) mich mit einer Headline auf Seite Eins geschockt: »Italiens Geburtenrate auf dem niedrigsten Stand seit 1861.« Zur Zeit der nationalen Einigung Italiens gab es jährlich 800.000 Neugeborene bei 26 Millionen Einwohnern. Heute zählt Italien 60 Millionen Bürger bei nicht einmal 400.000 Babys. Noch nie war Italien weniger fruchtbar als im vergangenen Jahr.
Natürlich ist mir – Kind der babyboomenden Italientouristen – nicht entgangen, dass die Vorstellung des mediterranen Matriarchats mit Mama, Nonna und vielen Bambini immer schon ein Klischee war. Doch die Daten wusste ich nicht: Eine italienische Frau bringt statistisch nur noch 1,24 Kinder auf die Welt. Die natürliche Reproduktionsrate liegt bei 2,1. Schon befürchtet die New York Times, die Italiener könnten, wenn sie nicht aufpassen, bald ganz verschwinden. Dass die Bevölkerung nicht noch schneller schrumpft, liegt daran, dass auch in Italien die Menschen immer gesünder und langlebiger sind und sich die Zahl der Hundertjährigen innerhalb von zwanzig Jahren verdreifacht hat.
Italien ist krass, bestätigt aber einen globalen Trend. Inzwischen gibt es weltweit mehr Menschen über 65 Jahren als unter fünf Jahren. Selbst die Demographie-Fachleute sind überrascht, dass es derart fix geht: Mehr als die Hälfte der Länder in der Welt haben inzwischen Reproduktionsraten unterhalb jener Zahl, die nötig wäre, die Menschheit zu retten. Weil die Entwicklung derart universal ist, greifen auch kulturelle und religiöse Erklärungen allenfalls in Einzelfällen. Dass Israel mit einer Reproduktionsrate von 2,9 die Liste der reichen OECD-Länder anführt und eine Frau dort meint, sie müsse sich entschuldigen, wenn sie weniger als drei Kinder hat, mag Gründe im Glauben an einen Zusammenhang von Fruchtbarkeit und Gottgefälligkeit haben. Dass am Ende der Tabelle Süd-Korea mit nur noch 0,8 Geburten steht (1970 war man noch bei 4,5), lässt sich ebenfalls kulturell erklären, wie mir meine Kollegin Lena Schipper erklärt, die in Seoul lebt: Emanzipierte Frauen weigern sich zu heiraten und Kinder zu kriegen, weil sie dann wieder im archaischen Patriarchat landen würden.
Deutschland sieht nur auf den ersten Blick wie eine kleine Ausnahme aus. Mit 1,53 sind wir wieder auf dem Stand von 1970; zwischendrin war die Geburtenrate in den neunziger Jahren auf 1,3 zurückgegangen. Das führen die Fachleute auf den sogenannten Timing-Effekt zurück, der darin besteht, dass das erste Kind immer später kommt und sich statistisch bei knapp 31 Jahren eingependelt hat. Auch der Wende-Schock mag eine Rolle spielen, der dazu führte, dass die Rate in den neuen Bundesländer schon mal unter 1 lag. Inzwischen hat sich Deutschland im europäischen Mittelfeld eingependelt, liegt also im Trend des allgemeinen Babyschwunds.
Mehr Sex bringt auch keine Kinder
Macht man sich das klar, bekommt das Wort von der »Last Generation« plötzlich eine ganz andere Bedeutung, wobei radikalen Klimaaktivisten diese Entwicklung gar nicht unlieb ist. Weniger Kinder hinterlassen weniger CO2–Fußabdrücke. Auch Hardcore-Feministinnen halten Kinderlosigkeit für einen Ausdruck selbstbestimmten Lebens: »Empty Planet«, ein schöner, leider leerer Planet. Ein Bevölkerungswachstum gibt es inzwischen nur noch in den armen Ländern Afrikas.
Was soll man tun? Gar nichts, hätte mein journalistischer Lehrer Hans D. Barbier gesagt. Wenn die Menschheit beschließt, sich ein Ende zu machen, sind dies viele freie Einzelentscheidungen, die zu korrigieren niemand sich anheischig machen sollte. Deutsche, die in der Nazizeit großgeworden sind, sind besonders sensibel gegenüber einer völkischen Gebärförderungspolitik. Doch in den meisten Ländern wollen die Politiker den Rückgang der Bevölkerung nicht hinnehmen und steuern mit allerlei Maßnahmen dagegen. Dazu zählen ein höheres Kindergeld, Nachlässe bei der Einkommensteuer, vom Staat oder den Unternehmen bezahlte Erziehungszeiten und vieles mehr.
Bei all diesen Maßnahmen handelt es sich um Reaktionen auf die historische Falsifizierung des berühmten Diktum von Konrad Adenauer, wonach die Leute Kinder »von alleine« kriegen. Jetzt muss der Staat nachhelfen. In Korea hat die Regierung ihre Bürger zu mehr Sex ermuntert (»Geht früher heim!«), was womöglich funktioniert, nur nicht zu mehr Kindern führt. Die meisten Länder versuchen es mit Geld- und Zeitgeschenken. Italien, wo es junge Familien besonders schwer haben, eine bezahlbare Wohnung zu finden, hat unter der Regierung von Mario Draghi große Anstrengungen unternommen, den Trend zu stoppen oder gar umzukehren. Eltern erhalten, abhängig vom Einkommen, für ein Neugeborenes zwischen 50 und 175 Euro monatlich. In Deutschland wird über eine Ausweitung des Mutterschutzes und die Einführung einer Kindergrundsicherung diskutiert.
Doch das nützt alles nichts – jedenfalls nicht für die Fertilitätsrate. Die Korrelation ist negativ. Je mehr Geld die Staaten für mehr Kinder in die Hand nehmen, umso weniger Kinder kommen auf die Welt. 1980 beliefen sich die familienpolitischen Ausgaben der OECD-Länder auf 1,6 Prozent des Bruttosozialprodukts. Damals lag die Fertilitätsrate bei 2,2. Inzwischen wurden die Ausgaben auf 4,2 Prozent des BIP gesteigert, während die Fertilität auf 1,6 gefallen ist.
Wirken all die familienfreundlichen Maßnahmen inklusive großer finanzieller Incentives nicht? Wäre es so, müsste das nicht nur die ökonomische Wissenschaft in eine tiefe Krise stürzen; auch unser Alltagswissen wäre schwer irritiert. Denn im sonstigen Leben wirken finanzielle Anreize eigentlich immer – denken wir an Gehaltsverhandlungen, Rentenerhöhungen, Steuervermeidungsstrategien oder das 9–Euro-Ticket. Verbreitet ist die Meinung, es gäbe immer noch zu wenig Geld und Betreuungseinrichtungen. Eine schwache, bei Politikern gleichwohl beliebte Erklärung, finde ich.
Was dann? Forscher des Max-Planck-Instituts haben mir dankenswerterweise eine kommentierte Liste kluger Papers geschickt. Wie immer geht es darum, ob die Gesellschaft oder die Menschen verantwortlich sind. Womöglich hat ein nüchterner Individualismus das Kosten-Nutzenverhältnis von Elternschaft zugunsten einer (womöglich falsch verstandenen) Selbstverwirklichung neu justiert? Womöglich bleiben – aller Vereinbarkeitsrhetorik zum Trotz – Beruf und Familie in einem Spannungsverhältnis, das zugunsten der Berufsarbeit aufgelöst wird. Das Phänomen der »Child Penalty« besagt, dass Frauen nach dem ersten Kind gehaltsmäßig von den Männern abgehängt werden – bei zuvor gleichen Start-, Ehrgeiz- und Karriereerfolgen.
Befriedigend sind diese Mutmaßungen alle nicht. Nur eines ist gewiss: Noch mehr Staatsgeld, bringt auch nicht mehr Kinder auf die Welt.
Rainer Hank
03. Mai 2023
Darf man noch alles sagenÜberlegungen zum Stellenwert der Freiheit
Ostern sei das Fest der Freiheit, heißt es: Ein Anlass darüber nachzudenken, wie es um die Freiheit steht – in der Welt im Allgemeinen und bei uns in Deutschland im Speziellen. Nicht besonders gut, um die Antwort vorwegzunehmen.
Beginnen wir mit der Philosophie, bevor wir zu den Statistiken wechseln. Wir leben in einer Zeit der gescheiterten Befreiungen, so beginnt der Frankfurter Philosoph Christoph Menke seine jüngst erschienene, sehr lesenswerte »Theorie der Befreiung«: »Alle Befreiungen, die die Moderne seit ihrem Beginn hervorgebracht hat, haben sich – früher oder später – in ihr Gegenteil verkehrt«, klagt Menke: Sie haben neue Zwänge, neue Ordnungen der Abhängigkeit und Knechtschaft hervorgebracht. Es ist eben leider nicht so, dass sich die Menschheit seit ihren Anfängen aus der Knechtschaft befreit und am Ende eines langen Weges schließlich im Reich der Freiheit landet. Stattdessen sind Freiheit und Knechtschaft ineinander verstrickt. So hat die Befreiung von äußerer Bevormundung (durch Familie oder Religion) zu neuen Formen der Selbstkontrolle und Selbstdisziplin geführt. Trauen wir uns, so zu leben, wie wir wollen? Dürfen wir so frei reden, wie wir gerne würden? Das scheint jedenfalls nicht mehr eindeutig bejaht zu werden in einer Welt, in der äußerer Gruppendruck und die Erwartung hoher Gruppenloyalität sich in unseren Köpfen als »Schere« eingenistet hat.
Breaking Bad oder Exodus
Menke erzählt von dieser Ambivalenz anhand der Geschichte des Chemielehrers Walter White aus der Serie »Breaking Bad«, der sich vorgenommen hat, aus der Knechtschaft der Gewohnheit auszubrechen und ein selbständiges und freies Leben zu führen. Am Ende gerät White auf die schiefe Bahn und wird zu einem ruchlosen Drogenboss. Frei ist, wer nicht gezwungen wird, sondern selbst seine Ziele wählen kann. Menke deutet Walter White als Gefolgsmann der Lehren von Immanuel Kant und Friedrich A. von Hayek, also als eine Inkarnation neoliberaler Befreiung. Neoliberalismus, so erwarten wir es von einem Philosophen der »Frankfurter Schule«, kann natürlich am Ende nicht gut gehen. Die Befreiung zur Selbständigkeit, die »Breaking Bad« erzählt, nennt Menke »systemkonform«. Der freie Serien-Held landet in einer neuen Abhängigkeit, weil er sich aus freien Stücken quasi zwanghaft um die Mehrung seines Geldvermögens sorgt.
Als Gegenmodell zum liberalen Freiheitskonzept bringt Philosoph Menke die Exodus-Erfahrung der Bibel ins Gespräch: Die Befreiung Israels aus der Knechtschaft Ägyptens, in der Tat eine radikale Ostererzählung. Danach wäre die Freiheit kein Akt des individuellen Wollens – wie im Liberalismus -, sondern ein Widerfahrnis bezogen auf einen transzendenten Höchsten, dessen Gebot und Gesetz zu gehorchen ist. Am Ende landet also auch die religiöse Erfahrung wieder in der Unfreiheit. Das ist nicht schön und ziemlich dialektisch.
Wechseln wir von den Höhen der Philosophie in die Niederungen der Empirie, um zu fragen, wie es denn tatsächlich um die Freiheit hierzulande und im Rest der Welt steht. Dazu braucht es keine Definition der Freiheit, sondern saubere Umfragemethoden. Die kann man von den Meinungsforschern aus Allensbach am Bodensee bekommen, die derzeit zusammen mit dem »Media Tenor«, einem auf Inhaltsanalysen von Medien spezialisierten Unternehmen, an einem neuen »Freiheitsindex« arbeiten.
Freiheit war stets dort am besten aufgehoben, wo sich Marktwirtschaft und Demokratie paaren. Dass diese Freiheit allenthalben auf dem Rückzug ist, lässt sich nicht übersehen. »Freedom House«, ein Thinktank in Washington, registriert in seinem jüngst vorgelegten Überblick für das Jahr 2022 zum siebzehnten Mal in Folge einen globalen Rückgang der Freiheit und eine Zunahme autoritärer Regime. Es gibt Jahr für Jahr mehr Länder, in denen die Freiheit eingeschränkt wird, verglichen mit Staaten, in denen es sich freier leben lässt. Deutschland ist ein freies Land, aber in anderen europäischen Ländern rangiert die Freiheit höher als bei uns: Ganz vorne bei den bürgerlichen Freiheitsrechten sind Finnland, Schweden oder die Schweiz, bei der Achtung wirtschaftlicher Freiheit sind Taiwan, Singapur und abermals die Schweiz auf den Spitzenplätzen. So halten inzwischen nur noch 47 Prozent der Deutschen Freiheit für den höchsten Wert (es waren schon einmal über 50 Prozent), während für 41 Prozent die Gleichheit Priorität hat. Das könnte im Umkehrschluss darauf deuten, dass die Menschen bereit wären, im Konflikt um der Gleichheit willen Einschränkungen der Freiheit hinzunehmen.
Besser vorsichtig sein
Während dieses schwache Freiheitsengagement der Deutschen seit langem bekannt ist, lassen zwei weitere Ergebnisse der Allensbach-Befragung aufhorchen. Auf die Frage, »wie empfinden Sie ihr gegenwärtiges Leben – fühlen Sie sich frei oder unfrei?« – gaben 2022 lediglich 45 Prozent an, dass sie sich frei fühlen. Im Jahr 2017 lag dieser Wert schon einmal bei 51 Prozent; 2021 gab es einen Tiefpunkt bei 36 Prozent.
Es kommt noch dicker: Lediglich 32 Prozent der Deutschen waren 2022 der Meinung, man könne hierzulande seine Meinung frei sagen. 48 Prozent finden, man solle besser vorsichtig sein. So etwas gab es noch nie. 1990, im Jahr der Wiedervereinigung, meinten 70 Prozent, sie könnten ihre Meinung frei sagen, lediglich 18 Prozent rieten zu Vorsicht. Seither nähern die beiden Kurven sich an, bis sie sich vor zwei Jahren geschnitten haben. Roland Schatz, Chef von Media-Tenor, macht die Pandemie für dieses bedrückende Resultat verantwortlich. In zwei Lockdown-Jahren blieben tagtäglich die Corona-Meldungen in Fernsehen und Presse oberhalb der Aufmerksamkeitsschwelle und haben in der Breite der Bevölkerung den Eindruck verstärkt, es sei mit hohen Kosten verbunden, gegen Impfnötigung und weitere Freiheitseinschränkungen zu opponieren. Heute, wo selbst der Gesundheitsminister über Impfschäden spricht, segelt das Thema leider wieder unter dem Aufmerksamkeitsradar. Das heißt, eine Aufarbeitung der Zeit der Unfreiheit nach Maßstäben der Verhältnismäßigkeit dringt nicht durch, selbst wenn sie stattfindet.
Philosophie und Empirie treffen sich an einem zentralen Punkt: Freiheit ist prekär; stets droht sie in Unfreiheit umzuschlagen. Und Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Christoph Menke, der Philosoph der Freiheit, musste das am eigenen Leib erfahren: Als Mitunterzeichner des offenen Briefs für einen baldigen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen in der Ukraine, pfiff ihm der Wind des Widerstands scharf um die Ohren. »Die Reaktionen waren heftig,« bekannte er in einem Interview. Freiheit sei immer die Freiheit der Andersdenkenden, so geht das berühmte Zitat von Rosa Luxemburg, die selbst für den Sozialismus und also gegen Freiheit kämpfte. Freiheit, wie gesagt, ist prekär.
Rainer Hank
04. April 2023
Das Versagen des OligopolsWarum merken die Wirtschaftsprüfer nichts bei Credit Suisse & Co.?
Der Bericht der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC (PricewaterhouseCoopers) ist auf den 14. März 2023 datiert: Er bestätigt, dass die Zahlen der Schweizer Credit Suisse (CS) im Einklang sind mit den Anforderungen der Amerikanischen und Schweizer Rechnungslegung. Zwei Tage später, am 16. März, erhält die CSB eine »Liquiditätsnothilfe« von 50 Milliarden Franken von der Schweizer Nationalbank. Weitere drei Tage später, am Sonntag, dem 19. März, wird die Bank in einer staatlichen Hauruckaktion zum Schleuderpreis von drei Milliarden Franken an die Konkurrentin UBS verkauft.
Wie kann es sein, dass eine Bank nur wenige Tage nach einem positiven Prüferurteil wirtschaftlich am Ende ist? Wozu haben wir Prüfer, wenn sie sogar eine existenzbedrohende Krise verschlafen, fragt sich der Laie. »Frisch geprüft in den Abgrund« titelte die FAZ so frech wie nachvollziehbar.
Die entschuldigenden Erklärungen folgten auf dem Fuße. Das Testat eines Wirtschaftsprüfers sei schließlich keine Existenzgarantie. Zumindest auf dem Papier habe die CS eine gesunde Kapitalquote und ganz ordentliche Liquiditätszahlen vorzuweisen gehabt, hieß es. Und einen »Bank-Run«, bei dem viele geängstigte Sparer gleichzeitig ihr Geld abziehen, könne auch der beste Prüfer nicht antizipieren. Immerhin habe PwC ihr Testat für die CS verschoben, nachdem man bei den internen Kontrollen der Bank auf »wesentliche Mängel« (»material weaknesses«) gestoßen sei. Aus Sicht der Prüfer mag es bitter erscheinen, dass das aufgeschobene PwC-Testat schließlich pünktlich zum Untergang der Bank kam.
Die Frage »Wozu Prüfer?« bleibt und lässt sich nicht mit »Shit happens« abtun. Zumal einem rasch noch deutlich schlimmere Fälle in den Sinn kommen. Haben die Wirtschaftsprüfer nicht jahrelang die Bilanz des Unternehmens Wirecard gutgeheißen, obwohl der Zahlungsdienstleister in großem Ausmaß seine Geschäfte erfunden hat? Hier war es EY (vormals »Ernst & Young«), dem nicht aufgefallen sein will, dass 1,9 Milliarden Dollar auf Bankkonten in Asien reiner Bluff waren. Saldenbestätigung sei das Erste, was ein Prüfer zu tun habe, sagte mir ein altgedienter Banker damals: Bei der Bank nachfragen, ob das Geld wirklich auf dem Konto ist. Inzwischen läuft eine Klagewelle von Wirecard-Opfern, deren Schadenersatz-Forderungen sich auf circa 20 Milliarden Dollar summieren.
Skandal: Arthur Andersen und Enron
Der größte Skandal jüngerer Zeit heißt Arthur Andersen. Der Fall liegt eine Weile zurück, fällt einem als Wirtschaftsjournalist jedoch sofort ein. Der amerikanische Energiegigant Enron hatte seine Bilanz in großem Stil gefälscht. Das Prüfunternehmen Arthur Andersen hat den Schwindel gedeckt, nicht vorhandene Gewinne von 1,2 Milliarden Dollar testiert und anschließend dafür gesorgt, dass Beweise geschreddert wurden. Arthur Andersen bekam hohe Strafen und hat den Fall am Ende nicht überlebt. Nach dem Enron-Skandal kam es im Jahr 2002 in den USA zu einem eigenen Gesetz, dem Sarbanes-Oxley Act, mit welchem das Vertrauen der Anleger in die Richtigkeit und Verlässlichkeit der veröffentlichten Finanzdaten von Unternehmen wiederhergestellt werden sollte. Das Gesetz verlangt, dass die Unternehmen ein internes Kontrollsystem einrichten. Auch in Deutschland gab es nach Wirecard ein neues Gesetz mit dem schönen Namen Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz, das die Prüfer verpflichtet, ihre Mandate schneller wieder abzugeben (Rotation).
Gleichwohl mutet aus ordnungspolitischer Sicht vieles an der Praxis der Prüfung merkürdig an. Wirtschaftsprüfungsgesellschaften haben einen öffentlichen Auftrag. Ihre gesetzliche Aufgabe ist es, »betriebswirtschaftliche Prüfungen, insbesondere von Jahresabschlüssen durchzuführen und Bestätigungsvermerke über das Ergebnis solcher Prüfungen zu erteilen«. Bezahlen muss dafür das geprüfte Unternehmen. Marktwirtschaftlich müsste eigentlich gelten: Wer bestellt, bezahlt. Wenn also die Öffentlichkeit (im Interesse von Aktionären und Gläubigern) eine Prüfpflicht für Unternehmen verhängt, müsste diese Öffentlichkeit – also der Staat – die Kosten übernehmen. Zahlt der Mandant, entsteht eine verführerische Nähe zwischen Prüfern und Geprüften, zumal die Wirtschaftsprüfer vielfältig Beratungsleistungen an ihre Kunden verkaufen wollen – gerade dieses Geschäft wächst seit Jahren.
Man darf sich die Nähe zwischen Prüfer und Mandant nicht zu simpel vorstellen. Dass die Prüfer von EY einem Anfangsverdacht betrügerischen Verhaltens bei Wirecard nicht weiter nachgegangen sind, habe auch psychologische Gründe gehabt, heißt es in der Branche: Schließlich bringt es dem Prüfer keine Sympathiepunkte, Fehler in den Zahlen eines Unternehmens aufzudecken und ein Testat zu verweigern, erst recht, wo es sich bei Wirecard um einen damals von allen bewunderten Jung-Star im Dax handelte. Wer will schon seinen Kunden verärgern? Sollte sich hinterher herausstellen, dass doch alles in Ordnung ist, ist der Reputationsschaden für Prüfer und Geprüfte hoch und die Wettbewerber reiben sich die Hände. Stattdessen kam es am Ende dann dazu, dass aus Angst vor Reputationsschaden für EY ein viel größerer Reputationsschaden entstand.
Das führt – ordnungspolitisch – zur größten Verhaltensauffälligkeit der Branche, dem Oligopol von vier Platzhirsche (»Big Four«) Deloitte, PwC, EY und KPMG. Es geht ein bisschen zu wie bei den »Zehn kleinen Jägermeistern« der »Toten Hosen«: Erst waren es fünf, dann verschwand Arthur Andersen. Jetzt droht EY das Aus. Es blieben noch drei Gesellschaften übrig. Bei funktionierendem Wettbewerb müsste jetzt ein kleiner Prüfer der »Next Ten« in den Olymp aufsteigen. Dass das nicht passiert, liege daran, dass die Kleineren der Branche die für das Wachstum erforderlichen hohen Investitionskosten nicht stemmen könnten, sagt man mir. Und dass die besten Uniabsolventen aus Karriere- und Einkommensgründen alle bei den Großen anheuern. So geben sich die Big Four bei den Dax-40 die Klinke in die Hand (mit Ausnahme von SAP, den kein Großer prüfen will, weil sich dort mit Beratung viel mehr verdienen lässt).
Oligopole müssen nicht per se schädlich sein, solange es einen harten Preis- und Qualitätswettbewerb gibt. Aber kann es gut sein, dass reihum immer die Gleichen rotieren? Und neuerdings auch wieder hohe Preise durchsetzen können? Schon droht der Staat, in einem künftig möglichen Dreierkarussel die Prüfungsmandate hoheitlich zu vergeben. Das würde den Teufel mit Beelzebub austreiben. Stattdessen wäre es den Schweiß der Edlen wert zu prüfen, wie sich die Zugangsschwelle zum Club der Wenigen senken ließe. Vielleicht hat die Monopolkommission ein bisschen Luft und kann sich Gedanken machen?
Rainer Hank
29. März 2023
Neoliberalismus in ChileWas trieb gute Ökonomen in die Arme eines Diktators?
Vor 50 Jahren, am 11. September 1973, putschte das Militär in Chile. Der drei Jahre zuvor demokratisch gewählte, sozialistische Präsident Salvador Allende nahm sich das Leben. Eine Junta unter der Führung des Generals Augusto Pinochet regierte das Land bis zum 11. März 1990. Staatlicher Terror, politische Morde, Folter und Verschleppungen waren an der Tagesordnung.
Zur Gesundung der wirtschaftlichen Situation des Landes holte sich Pinochet Hilfe bei marktliberalen Ökonomen in den USA. Unter Allende hatte das Land ökonomisch abgewirtschaftet, war buchstäblich bankrott und die Menschen bettelarm. Die Ökonomen aus Chicago, angeführt von Milton Friedman, verordneten dem Land einen wirtschaftlichen Reformkurs: radikale Privatisierung, Förderung des Unternehmertums, Abbau von Zöllen, niedrige Steuern, Öffnung der Märkte und eine unabhängige Notenbank. Man kann sich das ähnlich vorstellen wie im China von Deng Xiao Peng nach dem 11. Parteitag 1978 – nur dass es in Südamerika kein maoistisches Regime war, das den Markt entfesselte, sondern eine autoritäre Militärjunta.
Seit Pinochets Chile – noch vor der Thatcher-Revolution (1979) und dem Regierungsantritt Ronald Reagans (1981) – ist der Begriff »Neoliberalismus« in Verruf gekommen. Das war zuvor anders: Da verstand man etwa in Deutschland unter Neoliberalismus die »soziale Marktwirtschaft« der Freiburger Schule Walter Euckens, der wir das Wirtschaftswunder nach 1945 verdanken. Tatsächlich lässt sich der Umschlag von der positiven zur negativen Konnotation des Begriffs mit Inhaltsanalysen publizistischer Texte auf Mitte der siebziger Jahre datieren.
Verführung von rechts
Die blutige Revolution Pinochets in Chile hat dem Neoliberalismus einen Tiefschlag versetzt, von dem er sich bis heute nicht erholt hat. Viele Chilenen fanden damals Asyl in Deutschland, viele davon in der DDR. In Oste und West las man die Gedichte des Literaturnobelpreisträgers Pablo Neruda, der wenige Tage nach dem Putsch einem Giftanschlag erlegen war und zum Helden der kommunistischen Freiheitsbewegung verklärt wurde.
Wie aber konnten Freude der bürgerlichen Freiheit dazu kommen, ein autoritäres Regime zu unterstützen, das die Freiheit seiner Bürger brutal unterdrückt? Milton Friedman, Ökonomie-Nobelpreisträger von 1976, rechtfertigte sich in einem Newsweek-Artikel vom 14. Juni 1976 mit einem technokratischen Argument: »Trotz meiner tiefen Ablehnung des autoritären politischen Regimes in Chile betrachte ich es nicht als böse für einen Ökonomen, der chilenischen Regierung technischen wirtschaftlichen Rat zu geben. Gleichermaßen würde ich es auch nicht als verwerflich erachten, wenn Ärzte dem Regime medizinischen Rat zuteilwerden ließen, wenn es gälte, in Chile eine Krankheitswelle zu beenden.« Wirklich überzeugend finde ich diese Apologie nicht, hatte Friedman doch selbst in seiner Schrift »Capitalism and Freedom« von 1962 die Auffassung vertreten, wirtschaftliche und politische Freiheit seien untrennbar.
Unrühmlich ist auch die Rolle des österreichischen Ökonomie-Nobelpreisträgers Friedrich A. von Hayek, der Pinochets Chile zweimal bereist hat, im Mai 1977 und im April 1981, wobei es beim ersten Besuch zu einer kurzen Begegnung mit dem Diktator gekommen war. Anders als Friedman hat Hayek sich nicht zu Mord und Folter geäußert und sich nie von den Menschenrechtsverletzungen Pinochets distanziert. Aus seinen zahlreichen öffentlichen Äußerungen ist ein Leserbrief an die britische »Times« vom August 1978 von Interesse. Hier versichert Hayek, er habe nie behauptet, dass autoritäre Regime besser als demokratische Regierungen in der Lage seien, die individuelle Freiheit zu sichern. Das bedeute freilich nicht, »dass unter bestimmten historischen Umständen die persönliche Freiheit von einem autoritären Regime nicht hätte besser beschützt werden können als von einer Demokratie«. Die umständliche doppelte Verneinung besagt im Klartext: Es gibt Situationen, in denen Diktaturen freiheitsfördernder sind als Demokratien.
Zum Beleg kommt Hayek nach einem missglückten Lob der Tyrannenherrschaft im antiken Athen und einem indiskutablen Lob des portugiesischen Diktators Salazar auf Chile zu sprechen: Er kenne keinen einzigen Menschen, der nicht der Aussage zustimmen würde, dass die persönliche Freiheit unter Pinochet größer sei als unter Allende. Auch diese Behauptung kann allenfalls im Umkehrschluss durchgehen: Beide Male handelte es sich um eine Diktatur, mal von links, mal von rechts. Mit der persönlichen Freiheit war es beide Male nicht weit her.
Gefahren der »unbegrenzten Demokratie«
Am Ende seines Briefs macht Hayek einen Punkt, der aus heutiger Sicht sehr nachdenkenswert ist. Eine »begrenzte Demokratie«, behauptet er, sei die überlegene Regierungsform und das beste Mittel, Frieden zu sichern. Eine »unbegrenzte Demokratie hingegen müsse durch die Logik der Übernahme unabhängiger Institutionen zum Totalitarismus führen. Darin wird man Hayek – bei allem sonstigen Widerspruch – unbedingt Recht geben müssen. Eine »begrenzte Demokratie« würde man heute als »liberale Demokratie« bezeichnen: Deren begrenzende Ideen heißen Toleranz, Respekt vor der persönlichen Autonomie und Respekt vor Minderheiten. Diese Werte muss eine Regierung garantieren, die ihrerseits durch das Recht diszipliniert wird. Der Rechtsstaat sichert das Privateigentum, die Vertragsfreiheit und freie Märkte: Nichts davon darf eine demokratisch gewählte Regierung über Bord werfen, gerade weil sie sich auf Mehrheiten berufen könnte.
Die Notwendigkeit, zwischen Demokratie und Rechtsstaat zu unterscheiden, könnte Hayek zu seinem Lob der Diktatur verführt haben. Eine »liberale Diktatur« hingegen ist ein Widerspruch in sich, den sie will mit Zwang Freiheit durchsetzen, die doch gerade durch Abwesenheit von Zwang definiert ist. Heute geht die Gefährdung der Freiheit eher von »illiberalen Demokratien« (Victor Orban & Co.) aus. Über die sogenannte Justizreform Benjamin Netanjahus hat der israelische Ökonom Eran Yashiv kürzlich in einem Spiegel-Interview bemerkt: »Wenn die Reformen mit ihren Angriffen auf die Medien, die Justiz und die akademische Welt umgesetzt werden, wird Israel sich in eine Autokratie verwandeln.« Und zwar auf demokratische Weise, müsste man hinzufügen.
Es ist der historische Irrtum der »neoliberalen« Ökonomen – oder soll man von Schuld sprechen -, aus berechtigter Sorge vor dem Umschlag eines demokratischen Regimes in den Totalitarismus blind gewesen zu sein gegenüber diktatorischen Unrechtsstaaten wie Chile oder Portugal. Das ändert indessen nichts daran, dass der Auftrag, die Demokratie rechtsstaatlich einzuhegen, heute wieder höchst aktuell ist. Eine Verabsolutierung der Demokratie wird die Freiheit abschaffen.
Rainer Hank
15. März 2023
Alles toxisch, oder was?Wer Gleichheit will, soll sich um die Männer kümmern
Lange musste mein Geschlecht den Spott über die »alten, weißen Männer« aushalten, die in der Hierarchie der Unsympathen einen Spitzenplatz einnehmen. Jetzt dreht sich der Wind: Zwei Journalistinnen haben gerade ein Buch über »alte, weise Männer« auf den Markt gebracht, das sie großzügig als »Schlichtungsversuch« anbieten. »We love alte weise Männer«, umschmeicheln die Autorinnen uns Männer, was die Kollegin Lucia Schmidt vergangene Woche in der FAS als vergiftete Liebeserklärung diagnostizierte: Männer würden reduziert auf die Rolle eines Produkts in der Werbung gerade so, »als seien sie eine Nuss-Nougat-Creme«.
Vielen Dank, kann ich da nur sagen. Was ist schlimmer, Spott oder Mitleid? Eindeutig Mitleid, finde ich, was wahrscheinlich auch wieder typisch männlich ist. Helden gieren nach Bewunderung, nicht nach Empathie. Man kann es uns schwer recht machen.
In dieser Situation kommt mir das Buch eines amerikanischen Ökonomen gerade recht, dessen Forschungsthema »Chancengleichheit« ist. Richard V. Reeves heißt der Mann. Er arbeitet an der renommierten Brookings Institution in Washington, hat sich einen Namen gemacht mit einer Biografie über den liberalen Philosophen John Stuart Mill – und nimmt sich jetzt der Männer an – aus gegebenem Anlass: er ist Vater von drei Jungs. »Von Buben und von Männern. Warum der moderne Mann ins Stolpern geriet, warum das ein Problem ist und was man dagegen tun kann«, so der Titel des Buches, das mir ein in den USA lebender Freund zum Geburtstag geschenkt hat – was immer er sich dabei gedacht hat.
Kein Blame-Game
Die Problembeschreibung ist nicht neu, aber gleichwohl überraschend. Mit einer 50prozentigen Wahrscheinlichkeit schneiden Jungs in zentralen Schulfächern schlechter ab als Mädchen – nämlich in Mathe und in Lesen. Viel mehr Buben als Mädchen verlassen die Schule ohne Abschluss. Mütter machen sich längst mehr Sorgen um ihre Söhne als um die Töchter. An den Universitäten stellen Studentinnen die Mehrheit. In fast allen westlichen Ländern sind die durchschnittlichen Löhne der Männer heute niedriger als vor dreißig Jahren. Im selben Zeitraum sind die Arbeitseinkommen der Frauen explodiert. Die Chance, Karriere zu machen, ist in Zeiten von Quote und Parität aus rein rechnerischen Gründen für Frauen viel größer als für Männer gleicher Qualifikation, und zwar mindestens so lange, bis Quote oder Parität aufgefüllt sind. Schließlich und bedrückend: In vielen Ländern ist Suizid die häufigste Todesursache von Männern unter 45 Jahren.
Normalerweise würde jetzt das Spiel der Schuldzuweisungen beginnen: Die Entgegnung auf den Einkommensschwund der Männer heißt bekanntlich »gender pay gap« oder auf Deutsch: immer noch verdienen Frauen bei gleicher Tätigkeit weniger als Männer (na gut sieben Prouzent). Rund um den Weltfrauentag musste man es diese Woche wieder auf allen Kanälen hören. Auf die heutigen Karrierenachteile der Männer angesprochen, erwidern die Frauen: So habt ihr es Jahrhundertelang mit uns gemacht. Jetzt seht ihr mal, wie es einem geht, wenn man benachteiligt ist. Die amerikanisch-israelische Journalistin Hanna Rosin hat schon vor zehn Jahren das »Ende der Männer« ausgerufen und unsere Zeit zum »Jahrhundert der Frauen« geadelt, in welchem weibliche Tugenden (Flexibilität, soziale Intelligenz, Kommunikationsfähigkeit) stärker nachgefragt würden als Muskeln und Machismo.
Richard R. Reeves, der Brookings-Forscher, kennt das alles, lässt sich freilich nicht auf das Spiel gegenseitiger Beschuldigungen ein. Nüchtern konstatiert er lediglich, dass man aus Gründen der Gerechtigkeit Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern in beide Richtungen problematisieren sollte. Wer vom Gender-Pay-Gap redet, sollte die Einkommensverluste der Männer gegenüber früher nicht verschweigen und konstatieren, dass Männer häufiger arbeitslos werden als Frauen. Wenn Ungleichheit ein Gerechtigkeitsproblem ist (was man bestreiten kann), dann ist Ungleichheit immer ein Problem – nicht nur, wenn Frauen betroffen sind.
Neue Konzepte der Männlichkeit gesucht
Erst recht sollten wir nicht mit zweierlei Maß messen: Geht es um die Benachteiligung von Frauen, sind stets die gesellschaftlichen und historischen Umstände – sprich: das Patriarchat und der Kapitalismus – schuld. Geht es um die Benachteiligung von Männern, heißt es: selber schuld, stellt euch nicht so an. Wenig hilfreich ist der Vorwurf »toxischer Männlichkeit«: Das bedeutet nämlich nichts anderes, als das wir Männer ein Gift in uns haben, das dem Körper entzogen werden muss – am besten durch Detox-Kuren und Aggressionsabbau-Therapien. In religiösen Jahrhunderten hätte es dafür Exorzisten (Teufelsaustreiber) gebraucht. Dabei trifft der Vorwurf, wir Männer seien testosterongetrieben, nicht uns, sondern die Evolution oder den Schöpfergott, der sich bevölkerungspolitisch vermutlich was gedacht haben wird.
Noch einmal: Das Blame-Game der Schuldzuweisungen bringt nichts. Es ist ja keine Frage: Während Frauen spätestens seit Simone de Beauvoirs »Deuxième Sexe«, erschienen 1949, erfolgreich für Freiheit und Emanzipation gekämpft haben, wofür sie, zumindest im statistischen Mittel, mit mehr Glück und Zufriedenheit belohnt wurden, haben Männer den Blick auf das eigene Geschlecht lange ignoriert und es verschlafen, sich um ein neues Rollenmodell zu kümmern.
Es ist die Stärke des Buches von Reeves, dass er sich nicht den Schlachtruf der amerikanischen Konservativen zu eigen macht und die Traditionswerte (Familie, Religion, Nation) beschwört. Stattdessen plädiert er für neues Selbstbewusstsein und neue Rollenmodelle. Nicht alle Vorschläge überzeugen: Jungs ein Jahr länger auf die Schule zu schicken (weil unser Gehirn sich blöderweise später entwickelt) oder sie vorwiegend von männlichen Lehrern unterrichten zu lassen, klingt ein bisschen nach Sonderschule. Zielführender wäre es, die Buben gezielt mit typisch weiblichen Berufsfeldern im Dienstleistungsbereich (Gesundheit, Bildung, Administration) vertraut zu machen, quasi als
Stipendiengegenprogramm zu all dem vielen Fördergeld, das mit den MINT-Initiativen für Mädchen (Mathe, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) ausgegeben wurde. Nur ein Beispiel: Das Ende des »Verbrenners«, den die EU bekanntlich verbieten will, bedeutet eben auch den Abschied vom männlich-stolzen »Facharbeiter« in Fabrikhalle.»Ein Mann käme nie auf die Idee, ein Buch zu schreiben über die besondere Situation des Mannes«, heißt es bei Simone de Beauvoir. Das war, wie gesagt, 1949. Heute hat sich die Situation verändert: »Gesucht wird das Konzept einer neuen Männlichkeit in einer postfeministischen Welt«, schreibt Reeves. So unklar deren Konturen sind, es wäre allemal hilfreicher als das Gequatsche über alte weiße oder weise Männer.
Rainer Hank