Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
15. März 2023Alles toxisch, oder was?
08. März 2023Lieber tot als Sklave
27. Februar 2023Ein Lob der Schweiz
27. Februar 2023Sind Frauen faul?
15. Februar 2023Die Radikalisierungs-Spirale
15. Februar 2023Ein Lob der Großmütter
01. Februar 2023Bernie Madoff und die Gier
01. Februar 2023Russland führt Krieg mit unseren Euros
17. Januar 2023Von wegen freie Fahrt
10. Januar 2023Habecks Liebling
15. Juli 2019
Die Bahn – chronisch unpünktlichWarum kriegen andere Länder das besser hin?
Neulich sind wir mit der Bahn von Samarkand nach Taschkent gefahren. Und waren verzaubert. Keine Angst: Das wird jetzt kein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, sondern der Bericht einer knallharten Recherche in Usbekistan. »Afrosiyob« nennt sich der Hochgeschwindigkeitszug der »Uzbekian Railways«, die diese gut dreihundert Kilometer lange Strecke seit geraumer Zeit bedienen. Die Züge bringen es in der Spitze auf eine Geschwindigkeit von 250 Kilometer, sind hell und sauber und der Reisende fühlt sich umsorgt von freundlichem Personal. In gut zwei Stunden schafft man die Strecke locker; mit Bus oder Sammelaxi wären wir deutlich länger unterwegs. Das Ganze, nur nebenbei, kostet in der zweiten Klasse knapp elf Euro.
Nun aber die märchenhafte, aber wahre Nachricht: Fahrplanmäßige Abfahrt des Zuges in Samarkand war 17 Uhr 28. Und wann fuhr der Zug ab? Pünktlich um 17 Uhr 28. Fahrplanmäßige Ankunft in Taschkent: 19 Uhr 44. Und wann kam der Zug an? Pünktlich um 19 Uhr 44. Zugegeben, meine Verwunderung verrät ein Vorurteil, hätte ich so viel Pflichterfüllung der Staatsbahn des zentralasiatisch-postkommunistischen Landes an der Seidenstraße gar nicht zugetraut. Aber eben: Wir sind hier nicht in Preußen, sondern in einem armen und heißen Schwellenland, wo die Leute erst einmal anderes zu tun haben, als sich um sekundengenaue Pünktlichkeit ihrer Züge zu scheren. Apropos heiß: Die Klimaanlage im Zug funktionierte prächtig. Es kommt noch besser: Einem Informationsblatt in der Rückentasche der Sitze kann jeder Reisende auf Usbekisch, Russisch oder Englisch entnehmen, dass ihm bei einer Verspätung der Bahn zwischen 15 und 30 Minuten bereits fünfzehn Prozent des Fahrpreises erstattet werden. Die weitere Staffelung: Bis 60 Minuten gibt es 25 Prozent, bis 120 Minuten 75 Prozent und von der 121 Minute an gar 90 Prozent Rückzahlung.
Gestrandet in Stuttgart
Wissen Sie was es in Deutschland in solchen Fällen gibt? Bei einer Verspätung bis 60 Minuten zahlt die Bahn gar nichts. Danach 25 Prozent und von der 121 Minute an gerade mal 50 Prozent. Zugegeben, der Vergleich zwischen Deutschland und Usbekistan ist ein bisschen unfair: Das Land ist weniger dicht besiedelt, die Schnellzüge fahren nicht im Stundentakt. Und ehrlich gesagt konnte ich die Typen noch nie leiden, die ständig an der Bahn herum nörgeln. Ich habe Twitter-Freunde, die drohen, jeden zu entfolgen, der Bahn-Geschichten ins Netz stellt. Aber was kann ich dafür, dass bei dieser sanften Fahrt durch Usbekistan in mir die Erinnerung an die letzte Bahnreise in Deutschland an einem brüllend heißen Juni-Sonntag von Lindau nach Frankfurt wach wurde. Um es nüchtern zusammenzufassen: In Ulm konnte wegen Verspätung der Anschluss-ICE nicht warten, der Zutritt zum folgenden Euro-City war uns verwehrt, weil in einigen Wagen die Klimaanlage ausgefallen war, und der danach folgende Zug strandete in Stuttgart, gut 200 Kilometer vor meinem Ziel Frankfurt. Kurzum: Am Ende war ich – müde, verschwitzt und verärgert – nach sieben, anstatt geplanten fünfeinhalb Stunden endlich zuhause. Um dann das »Fahrgastrechte-Formular« – nicht nur sprachlich eine bürokratische Meisterleistung – auszufüllen, benötigt man mindestens weitere fünfzehn Minuten.
Anekdotische Evidenz kann trügerisch sein. Kommt es mir nur so vor, als gehe es mit der Bahn bergab, verspätungsmäßig gesehen? Oder habe ich auf den letzten drei Reisen (ich spare mir weitere Details) nur Pech gehabt? Man kann das nachlesen; alles wird objektiv erfasst. Demnach war das Jahr 2018 besonders desaströs. Nach Pünktlichkeitsquoten von gut 78 Prozent in den Vorjahren verzeichnet die Statistik für 2018 einen Rückfall auf 74,9 Prozent. Der Jahresauftakt 2019 soll dann wieder besser gewesen sein. Als unpünktlich gilt bei uns ein Zug dann, wenn er sechs Minuten später als geplant an seinem Ziel ist. Mit einer solchen Definition kann ich wenig anfangen: Ich will nicht wissen, ob der Zug pünktlich ist, sondern ob ich pünktlich an meinem Ziel ankomme und meine Anschlüsse nicht verpasse. So misst die Schweiz die Pünktlichkeit – neben Japan und für mich neuerdings Usbekistan (!) das große Vorbild für alle Eisenbahngesellschaften der Welt: Ein leerer Zug, der fahrplanmäßig am Ziel ankommt, zählt für die Eidgenossen nicht. Es zählt lediglich, wieviel Fahrgäste verspätet sind. Und außerdem gilt dort ein Zug schon als unpünktlich, wenn er über drei Minuten Verspätung hat. Gemessen an den deutschen Kriterien weist die Schweiz nach eigenen Angaben eine Pünktlichkeitsquote von 98 Prozent aus. Da ist für die Deutsche Bahn noch Luft nach oben, zumal die Strecken- und Besiedlungsdichte in der Alpenrepublik der unseren um nichts nachsteht.
Kennen Sie Fairtiq, die ideale Bahnbezahl-App?
Nun könnte man aus Gründen der Deeskalation zu mehr Gelassenheit aufrufen. Aber es ist nun einmal so, dass Verspätung Stress macht, Unglücksgefühle auslöst und ökonomische und psychische Kosten verursacht angesichts ausgefallener Geschäftstermine oder verpasster privater Dates. Bei der derzeitigen Klimarettungseuphorie wäre tatsächlich einiges gewonnen, wenn mehr Menschen vom Diesel auf den Zug umsteigen würden. Vollmundig kündigt die Bahn an, in absehbarer Zeit ausschließlich mit regenerativ erzeugtem Strom zu fahren und hofft auf eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen auf jährlich 260 Millionen. Aber eben nicht pünktlich.
Warum aber hat die Deutsche Bahn ihr chronisches Verspätungsproblem? Mit der Beantwortung dieser Frage haben viele Beratungsgesellschaften schon viel Geld verdient. Der Volksmund ist der Ansicht, Bahnchef Mehdorn und der verkorkste Börsengang der Bahn seien schuld. Eine bessere Erklärung kam jüngst vom Chef der Schweizer Bahn (F.A.Z. vom 29. Juni). Der Mann heißt Meyer und hat, wie gesagt, bewiesen, dass er es besser kann: Deutschland sei ordnungspolitisch unentschieden, was es von seiner Bahn wolle, sagt Herr Meyer. Will man eine Bahn als »Service public«, als öffentliche Dienstleistung? Oder will man ein Wirtschaftsunternehmen, das Dividende an den Staat abführt? Für die Schweiz gelte: »Unsere Dividende ist ein Beitrag an die Lebensqualität in der Schweiz und die Wettbewerbsfähigkeit des Landes und seiner Regionen, ein System, das komplett anders ist als in Deutschland.« In Deutschland erwartet die Politik einerseits Dividende für die Staatskasse, aber trotzdem eine sehr gut funktionierende Bahn. Der Mix von verkehrs- und industriepolitischen Zielen ist ordnungspolitisch verkorkst.
Wo wir schon beim Vorbild Schweiz sind. Haben Sie schon von »Fairtiq« (sprich: fertig) gehört? Das ist eine App (www.fairtiq.com), mit der die Schweizer ihre Bahn bezahlen und die ganz simpel über GPS funktioniert. Man muss kein Ticket mehr kaufen, die App wird beim Einsteigen in den Zug aktiviert (wischen von links nach rechts) und beim Aussteigen deaktiviert. Der Betreiber berechnet automatisch den jeweils günstigsten Tarif für genau die gefahrene Strecke. Fertig! Welch eine Erholung im Vergleich zu all den Super- und Sonstwiesondertarifen mit oder ohne Zugbindung, mit oder ohne City-Ticket. Kürzlich hat Fairtiq im Wettbewerb den Zuschlag für London erhalten. Mal sehen, ob demnächst Frankfurt folgt – oder eher Samarkand?
Rainer Hank
09. Juli 2019
Wem nützt Migration? Wem schadet sie?Eine Zwischenbilanz der Migrationsdebatte
Vier Jahre ist es nun her, dass Deutschland unvorbereitet von einer Welle von Migranten in eine Identitätskrise gestürzt wurde. Der Schock sitzt bis heute. Wie tief, das wird sich spätestens dann zeigen, wenn in wenigen Wochen die Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen vorliegen.
Doch es geht nicht nur um Nachwirkungen. Dass Menschen ihr Land verlassen und in andere Länder einwandern wollen, ist in unserer Welt nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall. Im Jahr 2017 waren 234 Millionen Menschen weltweit unterwegs, soviel wie noch nie in der Geschichte. Es ist illusionär zu meinen, es ließen sich die Ursachen der Wanderung eines Tages erfolgreich bekämpfen, so dass die meisten Menschen ein Leben lang da bleiben, wo sie geboren wurden. Solch eine Welt wäre weder ökonomisch noch moralisch wünschenswert. Auswandern ist ein Freiheitsrecht. Mitteleuropa war bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ein Kontinent, von dem große internationale Migrationsströme ausgingen, nicht nur, aber vor allem mit dem Ziel Amerika. Seither hat sich die Richtung gedreht: Heute sind wir attraktiv für Wanderer aus Südeuropa, aus dem Orient oder aus Asien.
Kein Schaden für Arbeit und Beschäftigung
Umso wichtiger wäre eine nüchterne Bilanz über Kosten und Nutzen der Zuwanderung. Auch wenn Migration ein Freiheitsrecht ist, so haben doch die Bürger der Zielländer ebenfalls ein Recht, nach Kosten und Nutzen zu fragen. Denn die Ängste sind groß; wir fremdeln alle.
Leider sind die Ökonomen, wie es so ihre Art ist, uneins, wie wir die Effekte der Migration beurteilen sollen. Ein gewisser Konsens lässt sich indes erkennen, weil es inzwischen auch eine große Zahl empirischer Literatur gibt. Ich halte mich im Folgenden an eine gute Zusammenfassung des Bochumer Finanzwissenschaftlers Martin Werding. Ihr Tenor: Befürchtungen, dass Zuwanderung die Konkurrenz am Arbeitsmarkt des Ziellandes stark verschärft und/oder Beschäftigung der bereits ansässigen Arbeitskräfte unter Druck setzt, haben sich als »weit übertrieben« erwiesen. So positiv freilich die Bilanz für Löhne und Beschäftigung ausfällt, so kritisch wird es, blickt man auf Finanz- und Sozialsysteme in den Zuwanderungsländern; ich komme darauf zurück.Beginnen wir mit den Löhnen. Die Theorie würde annehmen, dass bei wachsendem Arbeitsangebot der Preis für die Arbeit, also der Lohn, sinken muss. Doch das ist offenkundig selten der Fall. Als empirisches Beispiel dient der sogenannte »Mariel Boatlift«, der extrem gut untersucht ist: Im Frühjahr 1980 ließ Kuba 125000 Bürger nach Miami ausreisen, was die Zahl der Erwerbspersonen dort schlagartig um acht Prozent erhöhte, die der Kubaner sogar um 20 Prozent. Die neuen Zuwanderer waren jung, unqualifiziert und erhielten schlechte Löhne. Doch bereits ansässige Gruppen (Weiße, Schwarze, andere Hispanics, früher eingewanderte Kubaner) mussten keinen Abschlag auf ihre Löhne hinnehmen – mit Ausnahme einer kleinen Gruppe farbiger Highschool-Abbrecher. Das heißt: Die Beschäftigung im Zielland leidet nicht oder nur wenig und allenfalls kurzfristig. Noch nicht einmal in Großbritannien, wo der Aufreger »Personenfreizügigkeit« maßgeblich zur Brexit-Mehrheit beitrug, lassen sich negative Effekte im großen Stil nachweisen.
Wie kommt es zu diesem überraschenden Befund? Eine Erklärung des Ifo-Ökonomen Panu Poutvaara geht so: Migranten befinden sich häufig in einer schlechteren Verhandlungsposition als Einheimische. Deshalb erhalten sie auch schlechtere Löhne als die Einheimischen. Dies wiederum erhöht die erwarteten Gewinne von Unternehmen und ermutigt sie, zusätzliche Stellen zu schaffen. Einheimische des gleichen Qualifikationstyps verlieren nicht notwendigerweise durch einen Zustrom von Einwanderern, wie man es theoretisch eigentlich erwarten müsste: Obwohl es einen Wettbewerbseffekt gibt, der die Löhne der Zuwanderer drückt, werden zugleich neue Stellen geschaffen, von denen auch die Einheimischen profitieren können. Der Migrationsforscher Michele Battisti von der Universität Glasgow hat zwanzig Länder untersucht und herausgefunden, dass in vierzehn von ihnen sowohl hoch- als auch niedrigqualifizierte einheimische Personen von der Anwesenheit der Migranten profitiert haben.
Einwanderung in den Sozialstaat
Also alles prima. Nein. Denn die Betrachtung von Löhnen und Beschäftigung ignoriert den Umstand, dass die Migranten auch staatliche Infrastruktur- und Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Da kann sich der gerade beschriebene positive Effekt für Zuwanderer und Unternehmen für die Gesellschaft insgesamt problematisch auswirken. Straßen sind überlastet, Bauland wird teuer. Insgesamt wird es eng. In Deutschland mag das – zumal auf dem flachen Land – nicht das größte Problem sein. In der Schweiz, ein kleines und offenes Land, ist es ein großes Thema: Man hat dort eigens dafür den aus der Zoologie entlehnten Begriff »Dichtestress« erfunden. Es geht mithin um fiskalische und psychische Kosten für die Einheimischen.
Hinzu kommt das, was man »Einwanderung in den Sozialstaat« zu nennen sich angewöhnt hat. Ein gut ausgestatteter Wohlfahrtsstaat wie Deutschland wird zum Ziel ärmerer Migranten gerade auch aus der EU, die viele Sozialleistungen (Arbeitslosigkeit, Krankheit, später Rente) in Anspruch nehmen, obwohl sie dafür gar keine oder nur in geringem Maße Anrechte erworben haben. Das empfinden viele Einheimische als ungerecht. Es ist zugleich auch eine Erklärung für die Paradoxie, dass etwa in Ostdeutschland kaum Zuwanderer leben, aber zugleich die Ausländerdistanz bis –feindlichkeit sehr groß ist. Man braucht den Fremden nicht unbedingt in der Nachbarschaft haben: Es genügt, ausrechnen zu können, was unter dem Strich nach allen Abzügen einer arbeitenden Familie bleibt und in Beziehung zu setzen zu den Ansprüchen aus Hartz IV, die Zuwanderern zustehen. Die Ansprüche an Sozialleistungen stehen zwar in gleichem Maße auch den »Biodeutschen« zu. Doch viele Untersuchungen zeigen, dass die Bereitschaft der Bürger zu sozialstaatlicher Umverteilung abnimmt, wenn die ethnisch-multikulturelle Vielfalt des Landes zunimmt. »Kirchturmaltruismus« oder »National-Chauvinismus« heißen die etwas arroganten Fachbegriffe dafür.
Das Soziale mit dem Nationalen versöhnen
»Man kann offene Grenzen haben oder einen üppigen Wohlfahrtsstaat, aber keinesfalls beides zusammen«, so lautet die klassische These des Chicago-Ökonomen Milton Friedman. Politiker ziehen daraus unterschiedliche Schlüsse: Die dänischen Sozialdemokraten haben kürzlich spektakulär eine Wahl gewonnen mit einem sehr stark »national-chauvinistischen« Programm, das sich natürlich so nicht nennen durfte. Die deutsche SPD hat sich davon distanziert. Die AfD im Osten (Björn Höcke) verspricht üppige Rentenzuwächse – ausschließlich für »Volksdeutsche«, ein Programm, das man national-sozial nennen muss. Die CDU hat vorvergangene Woche die Aussage einiger Unionsparlamentarier aus Sachsen-Anhalt, man müsse das »Soziale« mit dem »Nationalen« versöhnen, ziemlich ruppig abgebürstet und die Parteifreunde mit einem Maulkorb bestraft. Ob das klug war, bezweifle ich. Was Ökonomen einfällt, um den Widerspruch zwischen offenen Grenzen und üppigem Sozialstaat aufzulösen – dazu mehr in einer der nächsten Folgen von »Hanks Welt«.
Rainer Hank
09. Juli 2019
Wie leben die Superreichen?Gary Shteyngart: Lake Success. Ein Tipp für die Urlaubslektüre
Kevin Kühnert, der deutsche Juso-Vorsitzende, der Chancen hat, SPD-Vorsitzender zu werden, denkt bekanntlich darüber nach, die Superreichen zu enteignen und den Autobauer BMW zu kollektivieren, damit es keinen »kapitalistischen Eigentümer dieses Betriebs gibt«. Das hat jetzt sogar die kapitalistischen Großeigentümer dieses Betriebs, die Quandt-Erben Susanne Klatten und Stefan Quandt, auf den Plan gerufen, die ansonsten das Licht der Öffentlichkeit scheuen: Die Leute denken, »dass wir ständig auf einer Yacht im Mittelmeer herumsitzen«, sagte Susanne Klatten im »Manager-Magazin:2 Das aber sei falsch.
Was machen die Superreichen aber dann den lieben langen Tag? Das ist gar nicht so leicht zu sagen. Denn nicht nur bei den Quandts ist höchste Diskretion eine hervorstechende Eigenschaft der Milliardäre: man bleibt unter sich, um nicht dem Neid derer ausgesetzt zu werden, die es trotz größter Anstrengungen im Leben nicht zum Milliardär gebracht haben.
Vielleicht wissen die Dichter mehr? Da sind wir häufig schon enttäuscht worden, weil auch die Schriftsteller über keinen exklusiven Zugang zu den »gated communities« der Milliardäre verfügen und in ihrer Not dann eben nur phantasieren, was ihr Ressentiment so alles hergibt. Doch jetzt haben wir einen Roman gefunden, der der Wirklichkeit nahezukommen scheint und dazu noch super-lustig ist. Der Autor heißt Gary Shteyngart. Sein im Frühjahr bei Penguin erschienener Reichen-Roman heißt »Willkommen in Lake Success« und handelt von den traurig-komischen Abenteuern eines dreiundvierzigjährigen Hedgefonds-Managers namens Barry Cohen, dessen Fonds »The other side of capital« Anlagen im Wert von 2,4 Milliarden Dollar verwaltet. Das bringt dem Mann in guten Zeiten immerhin ein Jahreseinkommen von über hundert Millionen Dollar. Sein einziger kreativer Gedanke: Milliardärssammelkarten für arme Kinder herauszubringen, auf deren Rückseite alle Daten über die Superreichen stehen (der Rang auf der Forbes-Liste zum Beispiel), damit arme Jugendliche motiviert würden, sich in der Schule mehr anzustrengen. Womöglich könnte die SPD ihm diese Idee abkaufen?
Leben bei den Investmentbankern
Dieser Roman von Gary Shteyngart (ein in St.Petersburg geborener Jude, der siebenjährig mit seinen Eltern nach New York emigrierte) sei deshalb all jenen empfohlen, die noch nach einer Ferienlektüre suchen und gerne etwas über die Welt der Superreichen (in Amerika) erführen.
Woher hat Shteyngart sein Wissen? Nun, der Mann hat immerhin drei Jahre lang bei den Reichen Manhattans recherchiert und Gespräche mit ihnen geführt. Er wolle herauskriegen, was Menschen dazu bringt, nach der großen Krise des Jahres 2008 in die Finanzindustrie zu gehen und wie es sich da so lebt, hat Shteyngart der britischen Internetzeitung »The Independent« erzählt. Wir Leser können das nicht überprüfen, aber das Personal des Romans schaut glaubwürdig aus.Hier kurz der Plot: Barry Cohen, der Held, ist Aufsteiger. Sein Vater war ein jüdischer Arbeiter aus der Bronx, der den Reichen ihre Swimmingpools reinigte. Der Sohn kennt deren Leben also von Kindesbeinen an, gehört aber nicht dazu. Seine Aufstiegsgeschichte führt ihn über ein Studium an der Eliteuniversität Princeton zur Investmentbank Goldman Sachs, bis er seinen eigenen milliardenschweren Fonds gründet und wie sein Autor (und viele erfolgreiche Männer) eine Vorliebe für teure Uhren entwickelt. Seema, seine deutlich jüngere Ehefrau mit indischen Wurzeln und einem erfolgreichen Jurastudium, stiehlt auf den Partys allen anderen Frauen die Show.
Doch das ist nur die Vorgeschichte. Der Roman setzt ein mit einer Katastrophe: Nach einer teuren Fehlinvestition, die seine Anleger in die Flucht geschlagen hat, Vorwürfen der amerikanischen Börsenaufsicht wegen Insiderhandels und einem Streit mit einem befreundeten Paar verlässt Cohen von jetzt auf nachher seine Frau und sein autistisches Kind, um mit einem Greyhound-Bus durch halb Amerika zu fahren auf der Suche nach seiner Studentenliebe Layla an der mexikanischen Grenze und dem Grab seines Vaters in Kalifornien.
Die Somewheres und die Anywheres
Das alles klingt an den Haaren herbeigezogen, ist es aber nicht. Ich will mich bemühen, mein Lektürevergnügen zu erläutern. Anders als in vielen Romanen aus der Finanzwelt ist Barry Cohen kein Kotzbrocken. Aber auch alles andere als ein edler Kapitalist. Einige der Fondsmanager, die er kennengelernt habe, seien wahnsinnig unsympathisch, andere aber auch bloß tief traurig, weil sie spürten, dass es auf Dauer hohl bleiben müsse als ausschließliches Lebensziel die Vermehrung des Bankkontos zu verfolgen, sagt Gary Shteyngart. Mit seinem Kollegen Jeff Park (den er später feuert, weil er ein Minuszeichen in einer Excel-Tabelle vergessen hat) ist Romanheld Barry Cohen sich einig: »Wenn nach unserem Tod auf dem Grabstein steht, dass wir einen steinreichen Fonds gemanagt haben, dann sind wir gescheitert.«
Die Welt in Lake Success ist nicht schwarz-weiß. Das zeigt schon die erwähnte Katastrophenszene, die alles zum Laufen bringt. Das Ehepaar Cohen aus dem 20. Stock des New Yorker Flatiron Buildings (die noch vornehmeren obersten Stockwerke gehören dem Verleger Rupert Murdoch) ist eingeladen bei einem Schriftsteller-Paar aus Guatemala, welches im zweiten Stock wohnt. Auch wenn die unteren Etagen zu einer Art Holzklasse gehören, schätzt Cohen das Appartement des Schriftstellers auf immerhin 4,1 Millionen Dollar und fragt sich, wie erfolgreich man als Autor sein muss, um sich das leisten zu können. Dann kommt raus, dass sich dessen Hauptwerk »Der mitfühlende Metzger« (ein wunderbarer Gruß an Adam Smith) miserabel verkauft (Amazon-Rang 1123340). Doch die New Yorker Intelligenz nährt sich selbst. Die Universitäten laden den Luxusschriftsteller für satte Honorare zu Vorträgen und Lesungen ein. Bildungselite trifft Geldelite, man trinkt teuren Whiskey der Marke Karuizawa (10000 Dollar die Flasche) und freut sich des Lebens. Die »Anywheres« der globalen Oberschicht, das sind eben nicht nur die »rechten« Finanzkapitalisten, sondern auch die »linken« Multikulturalisten. In gegenseitiger Abneigung getrennt, sind sie sich im überheblichen Habitus näher als man denkt.
Geld und Sex
»Lake Success« funktioniert aus zwei Gründen: Als Leser können wir gar nicht anders, als uns mit Cohen, dem Helden, wenigstens teilweise identifizieren, weil weite Strecken des Romans aus seiner Warte erzählt werden. Und: Die geniale Idee, den Helden aus seiner vertrauten Umgebung in New York zu isolieren und ihn ausgerechnet in einem Greyhound-Bus, dem Roadtrip-Mythos Amerikas, hinaus in das weite Land zu schicken, gibt seinen Charakter umso prägnanter zu erkennen und hat zugleich den Nebeneffekt, die Spaltung des Landes zwischen Ostküsten-Eliten und vergessenen Mittelschichten erzählen zu können. Dieser Roman ist endlich das erzählerische Pendant zum großen ökonomischen Diskurs über die wachsende Ungleichheit, bisweilen sogar analytisch differenzierter und, wie gesagt, obendrein auch noch lustig.
Überzeugt? Ich kann nur beteuern, dass der Roman um Strecken besser ist als meine karge Zusammenfassung hier. Und übrigens: Es geht nicht nur um Geld, sondern auch um Sex.
Rainer Hank
24. Juni 2019
Armut kostet LebenszeitWer mehr verdient, soll weniger Rente kriegen: Gerecht ist das nicht.
Es geht uns allen heute so gut wie noch nie in der Menschheitsgeschichte. Das ist die positive Nachricht. Aber einigen geht es besonders gut, anderen weniger gut. Ist das die schlechte Nachricht?
Seit vielen Jahren steigt die Lebenserwartung in den meisten Ländern der Welt kontinuierlich an. Bedanken können wir uns bei den Medizinern, denen es gelungen ist, Kindersterblichkeit weitgehend zu besiegen und viele Krankheiten auszukurieren, an den die Menschen früher gestorben sind. In den Industriestaaten erhöht sich die Lebenserwartung seit mehr als 150 Jahren alle zehn Jahre um etwa 2,5 Jahre. Wer heute geboren wird, hat – wenn es normal läuft – fünfzehn Jahre mehr vom Leben als ich (Jahrgang 1953) und wird, wenn er/sie sich gut hält, mühelos hundert Jahre alt. Schon hier könnte sich eine Ungerechtigkeit des Schicksals andeuten, zumindest dann, wenn man der Ansicht ist, mehr Lebensjahre seien ein Wert an sich. Dann sind die Spätgeborenen gegenüber früheren Generationen privilegiert, denn sie kommen dem alten Menschheitstraum der Unsterblichkeit relativ näher.
Es wird noch ungleicher: Die wachsende Langlebigkeit verbessert sich nicht gleichmäßig. Die Sterbewahrscheinlichkeit (Mortalität) unterscheidet sich sehr stark nach Bildung, Region, Vermögen oder Einkommen. Gebildete leben länger als die Ungebildeten, in Europa hat man mehr vom Leben als in Afrika und die Reichen sterben später als die Armen. Mehr noch: die Unterschiede in der Lebenserwartung innerhalb derselben Kohorte schrumpfen nicht etwa mit dem medizinischen Fortschritt, sie weiten sich. Deutsche Männer der Jahrgänge 1926 bis 1928 werden durchschnittlich 83 Jahre alt – aber nur dann, wenn sie aufs Lebenseinkommen gerechnet zum reichsten Zehntel ihres Geburtsjahrgangs zählen. Die Ärmsten unter ihnen werden dagegen lediglich 79 Jahre alt. Die Differenz der Lebenserwartung beträgt vier Jahre.
Reiche leben im Schnitt sieben Jahre länger
Blickt man auf die Jahrgänge 1947 bis 1949 so vergrößert sich der Lebenserwartungsabstand zwischen Arm und Reich auf sieben Jahre. Die Einkommensgewinner werden gut 87 Jahr alt, die Verlierer bringen es nur auf 80 Jahre, haben also am wenigsten vom medizinischen Fortschritt im Vergleich mit ihren Eltern. Armut kostet Lebenszeit.
Woran das liegt? Darüber ist die Forschung uneins. Auf der Hand liegt: Wer gebildet ist, geht mit seiner Gesundheit pfleglicher um, trinkt und raucht seltener, und verlängert damit statistisch sein Leben. Wer reich ist kann es sich leisten, in einer angenehmeren Umgebung zu leben und Stress zu reduzieren, weil er sein Leben besser im Griff hat. Doch da fangen die Unsicherheiten schon an. Wichtig wäre es zu wissen, wieviel davon Schicksal ist und wieviel Leistung. Dass ärmere Menschen viel rauchen – ist das ihr Lebenslos? Und warum sind die Reichen überhaupt reich geworden? Weil sie ihres Glückes Schmied sind oder weil sie ihr Erbe einigermaßen zusammengehalten haben und der Zufall ihnen auch noch einen Lottogewinn beschert hat?
Kurzum: wir tappen ein wenig im Dunkel. Ganz und gar nicht im Dunkeln tappen indessen die Forscher des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die vor kurzem errechnet haben, wie sich die wachsende Kluft zwischen der Lebenszeit auf die Rentenerwartungen auswirkt. Generell gilt im deutschen Rentensystem: Wer als Berufstätiger mehr verdient hat, soll später auch eine höhere Rente erhalten. Die monatlichen Rentenauszahlungen errechnen sich proportional zu den eingezahlten Beiträgen. Das nennt man Äquivalenzprinzip. Wenn die Reichen immer länger leben bedeutet dies, dass sie länger Rente beziehen, also im Verhältnis zu ihren gezahlten Beiträgen mehr Rentenauszahlungen erhalten als die Armen. Für einen relativ Armen des Jahrgangs 1949 verzinst sich sein Rentenbeitrag real (also abzüglich der Inflation) um 0,7 Prozent. Der Reiche erzielt eine doppelt so hohe Rendite von 1,4 Prozent. Er hat also nicht nur ein längeres Leben, sondern auch mehr von der staatlichen Umverteilung.
Das DIW macht Politik
»Skandal!«, ruft das DIW und sieht in der Ungleichbehandlung eine Verletzung des Äquivalenzprinzips, also eine gravierende Gerechtigkeitslücke zu Lasten ärmerer Schichten. Die DIW-Forscher verbinden damit eine politische Absicht: Der Verstoß gegen das Äquivalenzprinzip spreche für eine Aufwertung niedriger Rentenansprüche. Wer weniger verdient und deshalb statistisch früher stirbt, soll mehr Rente erhalten als es sich nach der Rentenformel (und dem Äquivalenzprinzip) errechnet. Andere Ökonomen wollen gleich die die ganze Rentenformel ändern und generell den Ärmeren höhere, den Reicheren geringere Auszahlungen zubilligen. Für das DIW wäre das ein gerechter Ausgleich der Benachteiligung ärmerer Rentner.
Das DIW leistet damit Schützenhilfe für Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD), der mit großer Dickköpfigkeit das Ziel verfolgt, langjährigen Beitragszahlern eine Rente oberhalb der Grundsicherung zu garantieren, die er »Respekt-Rente« nennt und für die es keine Bedürftigkeitsprüfung geben soll, also nicht nachgeschaut werden darf, ob der Rentner ein entsprechendes Vermögen hat und die höhere Rente gar nicht verdient. Heils Argument gegen die Bedürftigkeitsprüfung lautet, so etwas sei in der Rente systemfremd. Die Schützenhilfe des DIW für Heil bringt die Legitimation: Mehr Geld für ärmere Rentner ist nichts anders als eine dem Äquivalenzprinzip geschuldete Kompensation für das längere Leben (und die höhere Rente) der reichen Rentner. Also alles systemkonform. Chapeau, liebe DIW-Leute! Erst kommt das politische Ziel, die ökonomische Begründung wird nachgeliefert.
Doch wie überzeugend ist die ökonomische Begründung? Ich finde sie schwach. Gewiss, es gibt keine amtliche Definition des Äquivalenzprinzips. Doch aus seiner Logik ergibt sich zwingend, dass es sich strikt auf das Verhältnis der monatlichen Rente zum früheren Monats-Einkommen beziehen darf. Dies muss äquivalent sein. Bezieht man es auf die Lebenserwartung, kommt man in Teufels Küche: Im Sinne der DIW-Forscher müssten nämlich starke Raucher eine höhere Rente bekommen, denn sie sterben mit tödlicher Sicherheit früher als Nichtraucher – eine schreiende Verletzung des Äquivalenzprinzips. Frauen dagegen würden gemäß dieser Logik leider einen Abschlag auf ihre Alterssicherung in Kauf nehmen müssen, denn sie haben ohne eigenes Verdienst eine höhere Lebenserwartung als Männer, die – allen Gleichheitshoffnungen zum Trotz – nicht verschwinden will. Doch Strafabschläge für Raucher und Frauen sind natürlich politisch unkorrekt. Mit den Reichen kann man es dagegen machen.
Die Rente ist eben kein Sparschwein, aus dem jeder später proportionale Auszahlungen erhält. Die Rente ist eine Versicherung gegen das Risiko, sehr alt zu werden. Rein finanziell gesehen käme ein früher Tod mich (und die Gesellschaft) billiger. Gegen die verständliche Angst, sich ein langes Leben nicht leisten können, haben die Väter der gesetzlichen Rente hellsichtig eine staatliche Versicherung gegründet. Sie transformiert die Unwägbarkeiten der Lebensdauer in mathematisch kalkulierbare Risiken. Man sollte daran nicht mit windigen Gerechtigkeits- und Äquivalenzbegriffen herumfingern.
Rainer Hank
18. Juni 2019
Immer auf die DickenWarum wir die Fettleibigkeit wohl nie besiegen werden
Heute müssen wir uns mit dem größten Menschheitsprobleme der Gegenwart beschäftigen. Nein, nicht mit dem Klimawandel, das kriegen Greta Thunberg und Robert Habeck besser hin. Hier soll es stattdessen um Übergewicht und Fettleibigkeit gehen, deren säkulare Dramatik uns zuletzt der israelische Historiker Yuval Harari vor Augen geführt hat: »Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stirbt der Durchschnittsmensch mit größerer Wahrscheinlichkeit, weil er sich bei McDonalds vollstopft, als durch eine Dürre, Ebola oder einen Anschlag von Al-Qaida.« Anthony Warner, ein britischer Koch, spricht in seinem neuen Buch »Die Wahrheit über Fett« von einer »modernen Epidemie«.
Die Menschheit hat es zwar hinbekommen, den Hunger einzudämmen, aber die Dicken kriegt sie nicht in den Griff. Dazu reicht ein Blick in das letzte »Obesity Update« der »Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung« (OECD). Danach gilt in den OECD-Ländern jeder zweite Erwachsene und fast jedes sechste Kind als übergewichtig oder fettleibig (»obese«). Merke: Wer einen Body-Mass-Index (Körpergewicht geteilt durch Quadrat der Körpergröße) von 30 und mehr hat, ist nach dieser Definition »fettleibig«; bei einem BMI zwischen 25 und 30 nennt man ihn/sie »übergewichtig«. Wir nehmen statistisch gesehen alle zu an Gewicht – und dies trotz größter politischer und gesellschaftlicher Anstrengungen, den Anteil der Übergewichtigen zu minimieren. Zuckersteuern, schöne Modells als Vorbilder, moralische Denunziation der Übergewichtigen – es nützt alles nicht viel. Selbst die jüngste Youtube-Aktion von Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner und dem Lebensmittel-Konzern Nestlé zur Reduktion von Zucker und Fett brachte keine Linderung – sondern lediglich einen Shitstorm.
Der wirtschaftliche Schaden der Fettsucht
Dabei ist es ziemlich unklug, dick zu werden. Denn es gilt das Gesetz: Einmal dick, immer dick. Schon in der Schule werden sie gehänselt und dann kriegen die Schlanken auch noch die hübscheren Partner. Lauter verpasste Chancen. Wer diskriminiert wird, braucht sich um den Spott keine Sorgen zu machen und wird darüber hinaus am Ende auch noch unglücklich. Auch den wirtschaftlichen Schaden der Fettsucht sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen: Die Übergewichtigen melden sich häufiger krank, sind weniger produktiv, verschlingen dafür aber einen größeren Anteil der Gesundheitskosten. Dicke sind relativ ärmer als die Dünnen und sterben auch noch früher. Schätzungen der Fettleibigkeitskosten klingen dramatisch: Auf mindestens 25 Milliarden Euro jährlich beziffert die deutsche Adipositas-Gesellschaft die direkten (Kassenleistungen) und indirekten Kosten (Arbeitsausfälle, Produktivitätseinschränkungen).
Historiker, denen wir inzwischen eine wachsende Fetten-Forschung verdanken, belehren uns, dass es ein Irrtum war zu glauben, früher hätten die Dicken besser dagestanden, weil Körperfülle als Zeichen von Macht gedeutet worden sei (Lucas Cranachs Luther-Bild galt als Prototyp). Doch meist war die Macht der Dicken eine Stärke, die man verabscheuen sollte. Dem Tyrannen einer Stadt in Kleinasien namens Dionysius von Herakleia wurde nachgesagt, er sei so verfressen, dass er Mühe habe zu atmen und dass er seine Audienzen hinter einer Truhe gebe, damit niemand sehen könne, wie sehr er aus dem Leim gegangen war. Das galt den antiken Autoren nicht als Stärke, sondern als Warnung, dass der Herrscher sich von seiner Fresssucht habe versklaven lassen. Fresserei ist ein Laster der »Fremden« und markiert die Differenz zwischen zivilisierten und unzivilisierten Völkern, schreibt der Historiker Christopher E. Forth (»Fat. A cultural history of the Stuff of Life«, 2019). Ganz besonders wurde die Fett-Phobie des europäischen Körpers durch eine widerliche Portion Rassismus befördert: Fett sind immer die anderen, vor allem die schwarzen Menschen Afrikas. Saartjie Baartman, eine überaus dicke Südafrikanerin, wurde im 19. Jahrhundert als »Hottentotten Venus« in Paris öffentlich zur Abschreckung zur Schau gestellt, damit die Franzosen auf ihr Gewicht achten und sich nicht vom »afrikanischen Schönheitsideal« versklaven lassen. Eine merkwürdige Verkehrung der wahren Sklavenverhältnisse.
Das alles macht die Sache nur noch irrationaler. Wie kann es kommen, dass trotz Jahrtausende alter Abschreckungsdiskurse im Maße wachsender Aufklärung die Menschen zugleich immer dicker wurden? Vielleicht gibt es ja eine Art perverses Naturgesetz, wonach wachsender wirtschaftlicher Wohlstand dick macht? Weit gefehlt, sagen unsere OECD-Statistiker. Zwar wird die Liste der heutigen Fetten angeführt von den Vereinigten Staaten, dem reichsten Land der Welt. Doch es folgen sogleich Mexiko (nicht wirklich das zweitreichste Land der Erde), Neuseeland, Ungarn und Australien. Wäre der Prokopfwohlstand maßgeblich, müssten die Schweiz, Norwegen oder Japan ziemlich rasch hinter Amerika auf der Liste erscheinen. Das Gegenteil ist der Fall: Japan hat im OECD-Vergleich den geringsten Anteil an Übergewichtigen. Die Schweiz und Norwegen, wohlhabende Länder auch sie, schneiden ebenfalls gut ab.ver
Selbst schuld oder verführt vom bösen Kapitalismus?
Wer also trägt die Verantwortung? Grob gesprochen spalten sich die üblichen Verdächtigen in zwei Gruppen: Entweder sind die Fetten selber schuld an ihrem Schicksal oder andere sind dafür verantwortlich. Die Selberschuld-Hypothese wirkt stets kränkend. Dass nämlich die Fettleibigkeit trotzt einer Inflation an Ernährungs- und Fitness-Ratgebern zunimmt, müsste ja bedeuten, dass Aufklärung als Weg zur Verhaltensänderung dramatisch überschätzt wird. Dann wäre es pure Willensschwäche, die uns wider besseren Wissens zur nächsten Tafel Schokolade greifen ließe, obwohl uns die Daten auf der Verpackung über viele Dickmacher aufklären. Wir stürzen uns freiwillig in unser Unglück. Das ist schwer zu ertragen.
Lieber wäre es uns, wir könnten andere für unser Schicksal verantwortlich machen. Infrage kommen böse Kapitalisten, die fette Gewinne mit den Dickmachern und zudem mit vermeintlichen Schlankmachern (Low-Fat-Joghurts et al.) einfahren, aber auch unsere Gene, die uns einer Sucht gleich zu abhängigen Fresssäcken haben werden lassen. In die genetische Debatte wollen wir uns lieber nicht einmischen; einiges spricht dafür, dass auch hier die Prädispositionen prägender sind als es uns lieb ist. Verstärkt wird alles noch durch das Phänomen des »assortative Mating«: Dicke neigen dazu, sich mit Dicken zu paaren, eine Symbiose, der schwer zu entkommen ist.
Was tun? Das Menschheitsproblem Adipositas werden auch wir hier nicht lösen. Aber sollte man deswegen ganz resignieren, wie die Zeitschrift »Brigitte«, die nach jahrzehntelang fehlgeschlagenen Diät-Empfehlungen jetzt plötzlich die Parole »curvy is trendy« ausgibt und das Hohelied der Fettpolster singt? Eine »Kombination vieler Schritte sei nötig, um den beständigen Anstieg des Übergewichts zu stoppen«, heißt es in einer neuen Metastudie. Was heißt hier stoppen – verlangsamen wäre schon viel. Ich schlage folgende Arbeitsteilung vor: Frau Klöckner führt den »Nutri-Score« ein, der auf Lebensmitteln den Nährwert in bunten Buchstaben bewertet. Und ich halte mich an den – ebenfalls wissenschaftlich erwiesenen – Ratschlag, wonach ausreichend Schlaf schlank hält.
Was die Historiker dazu sagen findet sich hier gut zusammengefasst.
Rainer Hank