Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
29. November 2023Allahu Akbar
21. November 2023Frau unter Männern
31. Oktober 2023Gaza und Singapur
12. Oktober 2023Sklaven-Ökonomie
04. Oktober 2023Klimageld, nein danke!
27. September 2023Die Misere an den Schulen
18. September 2023Über tausend Brücken
05. September 2023Inflation der Demokratie
30. August 2023Fiskalmagie der Lisa Paus
24. August 2023Will Hollywood demnächst ganz Italien kapern?
11. Dezember 2019
Zigarren rauchen die Reichen2 Bilder ›
Was man in »The Crown« so alles über die Klassengesellschaft lernt
Am Ende der dritten Folge der neuen Staffel von »The Crown«, jenem wunderbaren Epos über Königin Elizabeth II, gibt es eine im Jahr 1966 spielende Szene, in welcher der damalige Premierminister Harold Wilson seiner Königin ein persönliches Bekenntnis macht. Wilson, Vorsitzender der Labour Party, erklärt der staunenden Königin, wie fremd er sich als Arbeiterführer fühle: Er, der Oxford-Absolvent, der nie mit eigenen Händen gearbeitet habe, gesteht, lieber Brandy als Bier zu trinken, Wildlachs Dosenlachs vorzuziehen, Chateaubriand mehr zu schätzen als Rindfleischpastete und, dann kommt es, lieber Zigarre als Pfeife zu rauchen.
Dazu muss man wissen: Wilsons Markenzeichen war die Pfeife. Es ist schwer, Fotos zu finden, die ihn ohne Pfeife zeigen. Wilson rauchte im Kabinett und bei öffentlichen Auftritten. Wilson hatte seine Pfeife praktisch immer bei sich. Wenn er Interviews gab und ihm auf eine Frage spontan keine Antwort einfiel, holte er erst einmal ein Streichholz, um den Pfeifentabak neu anzuzünden und sich damit Nachdenkzeit zu erkaufen. Sein überraschendes Bekenntnis bei der Queen, für dessen Wahrheitsgehalt es historische Zeugen gibt, lautet nun: »Zigarren sind ein Symbol kapitalistischer Privilegien.« Und ein Arbeiterführer, der sich mit kapitalistischen Insignien schmückt, das geht nun einmal gar nicht. Mit der Pfeife, so Wilson, werde er »nahbar«, »liebenswert«, gemocht vom Volk. Das hat einen Preis: »Man kann sich nicht selbst treu bleiben und gleichwohl jedem gerecht werden.« Wilson zahlte diesen Preis, Pfeife rauchen und Brandy trinken erlaubte er sich nur privat, wenn keiner zusah.
Heute, in Zeiten, in denen öffentliches Rauchen, weil verboten, quasi nicht mehr vorkommt, muss man sich erst wieder einmal in diese andere Zeit des 20. Jahrhunderts zurück versetzen, um ein Gespür für die qualmenden Requisiten einer Klassengesellschaft zu bekommen. Denn natürlich inszeniert sich Wilson als Gegenmodell zu einem der bekanntesten Zigarrenraucher der Weltgeschichte – zu Winston Churchill. Churchill, ein Konservativer, der aus einer der aristokratischsten Familien Großbritanniens stammte, wurde praktisch nie ohne Zigarre (Marke »Romeo y Julieta« oder »La Aroma de Cuba«) gesehen. Zigarre und Scotch begleiten ihn von den frühen Morgenstunden an: Auf zehn Zigarren brachte er es im Schnitt am Tag, rauchte praktisch ununterbrochen während der Arbeit, während der Mahlzeiten, während der Kabinettssitzungen. Einer seiner Butler notierte, Churchill vermöge es, in nur zwei Tagen den Gegenwert seines Wochenlohns zu Asche zu verwandeln. Churchill selbst war der Ansicht, das Zigarre-Rauchen tue seinen Nerven gut. In aufgeheizten Situationen ruhig und höflich zu bleiben, verdanke er »the goddess Nicotine«, seiner Göttin Nikotin. Churchill wurde 90 Jahre alt.»Manchmal ist eine Zigarre einfach nur eine Zigarre« (Sigmund Freud)
Pfeife oder Zigarre – es sind jene feinen Distinktionsmerkmale von Klasse und Habitus, welche den Reiz der Zivilisation ausmachen. Der Arbeiterführer raucht Pfeife; der Großbürger und Aristokrat hingegen raucht Zigarre. Es ist kaum zu vermuten, dass Churchill lieber Pfeife geraucht hätte. Die gesellschaftlichen Aspirationen gehen von unten nach oben, nicht umgekehrt. Wie es zur sozialen Klassentrennung zwischen Pfeife und Zigarre kam, ist nicht mit Sicherheit auszumachen. Gewiss, Pfeifentabak ist billiger als Cochibas oder eine Davidoff, auch wenn man natürlich – wie mein Onkel Hugo in den fünfziger Jahren – seine »Villiger-Stumpen« schon für 30 Pfennig bekommen konnte. Der Pfeifenraucher wirkt eher väterlich. Der Konsument (»Aficionado«) teurer Zigarren inszeniert sich dagegen männlich potent, so dass selbst Sigmund Freud sich veranlasst sah zu beschwichtigen: »Manchmal ist eine Zigarre einfach nur eine Zigarre.«
In Deutschland, keine Klassengesellschaft, sondern bekanntlich spätestens seit Ende des zweiten Weltkrieges eher eine »nivellierte Mittelschichtsgesellschaft«, ist die Sache nicht so eindeutig wie in England. Gewiss, Ludwig Erhard, passt ins Bild: Der Mann, dessen Zigarre emblematisch für das Wirtschaftswunder wurde, war ein Liberal-Konservativer. Der Wohlstand für alle war auch das Versprechen, jeder könne Zigarrenraucher werden. Norbert Blüm, ebenfalls ein Konservativer, raucht dagegen Pfeife, kokettiert freilich stets mit seiner IG Metall-Vergangenheit in Rüsselsheim und gab sich damit als christlich-sozialer Arbeiterführer. Der Zigarrenraucher beruhigt sich selbst, der Pfeifenraucher will auch die anderen beruhigen: Eure Rente ist sicher. Zwei besonders prominente linke Pfeifenraucher in Deutschland sind Herbert Wehner und Björn Engholm: der kommunistische Kämpfer auf der einen Seite und der Vorsitzende der Toskana-Fraktion auf der anderen. Harold Wilsons deutscher Gegenspieler aber ist zweifellos Gerhard Schröder. Was Wilson unterdrückte, traute sich SPD-Mann Schröder zu zeigen: Seine Cohiba (plus Brioni-Anzüge und reichlich teurer Rotwein) haben ihn zum »Genossen der Bosse« geadelt. Schröder zelebrierte als Bundeskanzler das gelungene Aufstiegsversprechen der Sozialdemokraten. Wenn ihr euch anstrengt, ihr vaterlosen Kriegskinder aus dem armen Arbeitermilieu, dann könnt ihr es dorthin schaffen, wo die Bürger und Aristokraten immer schon sind und mit ihnen teure Zigarren rauchen und Bordeaux trinken; Frauen scheinen ebenfalls wichtig zu sein. Schröder hat dafür viel Spott (»Klassenverrat«) und Misstrauen von der Linken in Kauf genommen; geschadet hat es ihm am Ende nicht. Der SPD schon.
Norbert Walter-Borjans oder Saskia Esken können wir uns nicht als Raucher vorstellen
Dass alles muss Lichtjahre her sein. Pfeifenraucher sind praktisch von der Bildfläche verschwunden. Zigarre kann man noch in feinen Lounges rauchen wie der legendären Times-Bar des Berliner Savoy-Hotels, wo Christian Lindner und Wolfgang Kubicki nach der versemmelten Wahl 2013 einander feierlich schworen, vier Jahres später abermals in den Bundestag einzuziehen. Aber eben: Allenfalls als FDP-Politiker kann man es sich noch leisten, im geschützten Raum einer Bar mit einer Davidoff gesichtet zu werden. Robert Habeck oder Saskia Esken müssten einpacken, würde man sie dort erspähen. In einer fünfstündigen Fernseh-Dokumentation der BBC über Harold Wilson, gedreht im Jahr 2013, hatte der Produzent die Direktive vorgegeben, möglichst zu vermeiden, den Labour-Führer mit Pfeife ins Bild zu setzen. Die Geschichtsfälschung nach Maßgabe der heutigen »political correctness« sollte als »Pipe-Gate« in die britische Parteiengeschichte eingehen.
So ändern sich die Normen, wobei kein Zweifel besteht, dass, epidemiologisch gesehen, die Verbannung der Raucher aus der Öffentlichkeit der Volksgesundheit nützt. Aber soziologisch, oder sollen wir sagen »distinktionslogisch«, ist es eben doch ein Verlust. Es fehlen die Signale. Woran erkennen wir jetzt einen Arbeiterführer oder einen Aristokraten? Olaf Scholz könnte locker bei der Union durchgehen. Armin Laschet würde auch als SPD-Mann nicht sonderlich auffallen. Es ist nicht nur die Groko, die zur Nivellierung politischer Profile beiträgt. Es ist auch das Ende der Pfeifen- und Zigarren-Ära.
Rainer Hank
06. Dezember 2019
Generation SorgenfreiWas Babyboomer und Generation Z eint
So langsam fangen wir damit an, in das Jahr 2020 zu blicken. Und was sehen wir? Die Babyboomer gehen in Rente. Babyboomer, so nennt man bekanntlich die Generation der zwischen 1955 und 1965 Geborenen. Deren erste Besonderheit besteht darin, dass sie viele sind. Sieger wie Besiegte hatten zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges das Schlimmste hinter sich und konnten optimistisch in die Zukunft blicken. Optimismus ist eine geburtenfreundliche Grundstimmung, die zehn Jahre andauerte: Dann kam der sogenannte Pillenknick, die folgenreiche Entkoppelung von Sex und Zeugung.
Unter dem Motto »Leben und leben lassen« haben die Babyboomer ein gutes, meist sorgenfreies Arbeitsleben hinter sich: sie erreichten ein höheres Einkommen und einen besseren sozialen Status als ihre Eltern, blieben verschont von der Erfahrung von Krieg, Flucht oder Vertreibung, konnten viele ihrer Interessen umsetzen. Weniger militant als ihre Vorgänger, die Achtundsechziger, haben die Babyboomer aber auch gemäßigt politisiert. Sie kämpften für eine bessere Welt, fanden freilich die bestehende Welt nicht so verderbt, dass gleich eine Revolution nötig gewesen wäre.
Die jungen Alten – kurz »Yoldies«
2020 also beginnt der Rückzug des ersten Jahrgangs der Boomer. Denn nach wir vor ist es in vielen Ländern üblich, mit 65 in Rente geschickt zu werden. Doch was heißt hier Rückzug! Bei den Babyboomer wird alles anders als bei den vorangegangenen Generationen. Das hängt zum einen mit ihrer schieren Zahl zusammen – dem Boomer-Club gehören weltweit 134 Millionen Mitglieder oder elf Prozent der Bevölkerung in der entwickelten Welt an. Diese Masse verschafft ihnen etwa als Wähler oder als Konsumenten auch künftig große politische und wirtschaftliche Macht. Zugleich profitieren sie vom Fortschritt der Wissenschaft, der bewirkt, dass die heute Fünfundsechzigjährigen zwar als alt gelten, aber alles andere als alt sind: Im OECD-Schnitt liegen noch zwischen 25 (Frauen in Japan) und 17 (Männer in der Türkei) Lebensjahre vor ihnen, der Statistik nach die meisten davon bei bester Gesundheit. Deutschland hat sich geringfügig unter dem OECD-Durchschnitt eingependelt: Frauen leben hierzulande vom Rententeintritt an noch 22, Männer 18 Jahre.
Der Clou dabei: Wer jetzt in Rente geht, ist so fit und agil wie noch keine Kohorte früher es war. Die Alternsforschung – einer der besonders schnell wachsenden Zweige der Wissenschaft – unterscheidet zwischen den »Jungen Alten« und den »Alten Alten«. Für die jungen Alten zwischen 65 und 75 gibt es einen Gruppennamen; sie heißen »Yoldies«, nach »Young Old«. Dass das auch ein bisschen nach »gold« klingt, ist durchaus beabsichtigt: ihr Leben mag sich golden anfühlen. Sie entsprechen so ganz und gar nicht dem Klischee jener »Senioren«, die den lieben Tag lang Kochshows im Fernsehen gucken oder auf der Parkbank hocken und sich ihre Gebrechen erzählen. Die Yoldies sind psychisch und physiologisch im Schnitt zehn bis fünfzehn Jahre jünger als ihr biologisches Alter es anzeigt. Sie sind ständig in Bewegung, geistig und körperlich, Aktivitäten, die ihrerseits dazu beitragen, nicht zu vergreisen. Als der leider früh verstorbene Frankfurter Medizinprofessor Rudi Busse schon vor über zehn Jahren von einem Kardiologenkongress in Amerika zurückkam, bei dem die Kapazitäten der Welt sich getroffen hatten, lautete die Antwort auf die Frage, was einen im Alter am Leben erhalte, sehr simpel: »Exercise, exercise, exercise.« Das ist zugleich in etwa die Zusammenfassung eines gerade erschienenen schönen Buches der britischen Publizistin Camilla Cavendish mit dem Titel »Extra Time. Ten Lessons for an Ageing World«.
Doch es geht mir hier nicht darum, einen Ratgeber für Yoldies zu schreiben, sondern um das Phänomen, dass hier eine idealtypisch zehn Jahre währende Zeitspanne den Menschen geschenkt wird. Ausgemustert aus dem Berufsleben, aber vom Siechtum – hopefully – noch Lichtjahre entfernt tut sich für diese Generation ein neuer Raum der Möglichkeiten auf. Während für andere Phasen des Lebens (Pubertät, Studienzeit, Berufstätigkeit) Muster, gelebte wie literarische, zur Verfügung stehen, an denen man sich orientieren kann, ist das Yoldie-Leben noch vielfach Terra incognita. Das hat den Vorteil des Pionierdasein, aber auch den Nachteil, dass Nebenwirkungen und Risiken noch im Dunkeln liegen und für einige Überraschungen gut sein könnten.Ok Boomer!
Wer die Yoldies indessen bereits kritisch ins Visier genommen hat, das ist die Generation Z. Im Spiel der Generationentheorie werden als Generation Z die zwischen 1997 und 2012 Geborenen bezeichnet. Sie folgen auf die »Millenials« und sind zu hundert Prozent »Digital Natives«. Während die Babyboomer dabei sind, das Berufsleben zu verlassen, betritt die Generation Z gerade die erwachsene Welt. Was für die Generation Z, nennen wir sie Youngsters, an den Yoldies bedrohlich wirkt, ist abermals deren Masse: Dass die allein aufgrund ihrer Vielzahl ihre Deutungs- und Gestaltungsmacht nicht abzugeben bereit sind.
»Ok Boomer« heißt ein inzwischen millionenfach verbreitetes Video, das auf der sozialen Plattform Tiktok kursiert. Tiktok, muss man wissen, ist quasi die soziale Hausplattform der Z-Jugend, Nachfolger von Facebook und Instagram, welche die Youngsters uns Älteren überlassen haben. In dem erwähnten Video behauptet ein weißhaariger Mann mit Baseballmütze und Poloshirt, die Generation Z sei vom Peter-Pan-Syndrom infiziert, leide mithin darunter, nicht erwachsen werden zu können. Darauf antwortet ein Angehöriger der Youngsters nur kurz mit »Ok Boomer«. Soll heißen: »Schnauze!«, wobei Boomer nicht als Ehrentitel gemeint war, sondern dabei ist, zum Schimpfwort zu werden.
Tut sich hier ein neuer Generationenkonflikt auf? Das mag schon sein und kann noch sehr lustig werden. Denn dass die Babyboomer sich einen Maulkorb von den Joungsters verpassen lassen werden, ist nicht zu befürchten. Doch es fällt auf, dass Boomer und Youngsters einander mehr ähneln als ihnen lieb ist. Klaus Hurrelmann, ein Bildungsforscher, der sich viel mit der Generation Z befasst hat, beschreibt sie als skeptischer und zugleich politisch engagierter als ihre Vorgänger (man denke nur an Greta und Fridays for Future). Das liege auch daran, dass Youngsters nicht ihre ganze Kraft darauf verschwenden müssen, exzellente Leistungen zu erbringen, um einen Job zu ergattern. Das wiederum liegt daran, dass die vielen Babyboomer für die wenigeren Youngsters Platz machen: die Veränderung der Knappheitsrelation stärkt die Nachfragemacht der Arbeitssuchenden. Einen Job werden sie, wenn sie nicht ganz blöd sind, allemal finden. Da bleibt Zeit zur Weltenrettung.
Was also eint Yoldies und Youngsters? Die Tatsache, dass beide Kohorten sich relativ wenig Sorgen machen mussten oder müssen. Bildungsforscher Hurrelmann bringt es auf die paradoxe Formel: Nur wer sich um sein Leben nicht zu sorgen braucht, kann sich um Welt, Gesellschaft und Klima Sorgen machen. In gewisser Weise wäre politisches Engagement also ein Luxusphänomen, was ganz und gar nicht spöttisch gemeint ist: Weltenrettung muss man sich leisten können. Gut, dass wir es so weit gebracht haben.
Rainer Hank
29. November 2019
Deutschland im HerbstWas uns Alfred Herrhausen heute sagt
Als Alfred Herrhausen am Mittwoch, den 29. November 1989, nach Gesprächen mit hochrangigen sowjetischen Politikern in der Nacht nach Bad Homburg zurück gekehrt war, hatte er das dringende Bedürfnis, am heimischen Küchentisch mit Traudl, seiner Frau, noch einen Schnaps zu trinken. Mit diesem Satz beginnt das letzte Kapitel (»Das Attentat«) in Friederike Sattlers großer, gerade erschienenen Herrhausen-Biographie, die Dennis Kremer am vergangenen Sonntag in der F.A.S. vorgestellt hat. Herrhausen, Chef der damals mächtigen Deutschen Bank, machte an jenem Abend seiner großen Wut darüber Luft, dass die »Bedenkenträger im Vorstand« alle seine Ideen blockierten, die Bank zum großen internationalen Player umzubauen. Er witterte eine »Palastrevolution«, liebäugelte mit Rücktritt: Deprimiert und resigniert, befindet er sich in der tiefsten persönlichen Krise. Als Traudl zu Geduld mahnt, fühlt er sich am Ende auch von der Ehefrau im Stich gelassen.
Am nächsten Morgen, dem 30. November 1989 fuhr Herrhausen in seinem gepanzerten Wagen, eskortiert von zwei Begleitfahrzeugen mit Sicherheitspersonal, ins Büro. Unweit seiner Wohnung geriet er in eine Sprengfalle. Traudl Herrhausen, die ihrem Mann sofort nachgefahren war, konnte keine lebensrettende Soforthilfe mehr leisten. Herrhausen war auf der Stelle tot, er wurde das Opfer brutaler Terroristen.
Am kommenden Samstag jährt sich dieser Mord zum dreißigsten Mal. Die Erinnerung daran versetzt uns in ein anderes Jahr 1989 als jenes, das wir derzeit feiern. Exakt drei Wochen nach dem als Freudentag erlebten Fall der Mauer, hatten mutmaßlich der sogenannten »Rote Armee Fraktion« (RAF) angehörende Terroristen mit einer Bluttat auf sich aufmerksam gemacht. Bankiers waren als Repräsentanten des verhassten Finanzkapitalismus bevorzugte Ziele dieser Verbrecher. Es war eben auch eine »bleierne Zeit« (Margarethe von Trotta), die Deutschland viel länger als nur jenen blutigen Herbst 1977 lang in Atem hielt, als Terroristen den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer barbarisch ermordeten und anschließend die RAF-Promis Baader, Ensslin, Raspe im Hochsicherheitstrakt von Stuttgart-Stammheim Selbstmord begingen. Auch wenn man als Wirtschaftsjournalist den Schock des 30. Novembers 1989 miterlebt hat, sorgt offenbar eine beschönigend-unzuverlässige Erinnerung dafür, die RAF-Jahre der Republik auf eine kurze Phase fälschlicherweise zu komprimieren. Dabei zeigt ein kurze Blick ins Lexikon, dass die linksextremen Mörder von Anfang der siebziger Jahre bis zu ihrer offiziellen Selbstauflösung als Verbrecherbande im Jahr 1998 zwanzig Jahre lang unter uns waren – und das Leben von Top-Managern und Politikern stets von Todesangst überschattet wurde. Herrhausen hatte schon während der Schleyer-Entführung seiner Frau einen verschlossenen Umschlag in Verwahrung gegeben und verfügt, dass, sollte er selbst entführt werden, dürfe man auf »unverantwortliche Erpressungen gegen den demokratischen Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland« nicht eingehen. Die Mörder Herrhausens wurden übrigens bis heute nicht gefasst; eklatante Versäumnisse des BKA wurden nie aufgearbeitet.Wer es selbst erlebt hat, weiß gar nichts
Gefragt, warum sich die Lektüre einer Biographie über Alfred Herrhausen auch für Leute lohnt, die keine Bankexperten oder Wirtschaftshistoriker sind, würde ich auf die Konfrontation mit der Fremdheit einer Zeit verweisen, die gar nicht allzu lange zurück liegt und uns deshalb zu Unrecht vertraut dünkt. Gegen das verbreitete Diktum, man könne eine Zeit nicht verstehen, wenn man nicht dabei gewesen sei, gilt viel eher: Gerade, wer dabei war, versteht wenig und Falsches, benötigt die Korrektur durch die Historiker. Das glückliche deutsche Jahr 1989 war zugleich ein Jahr des deutschen Terrors. Nicht erst die Islamisten haben den Terror zu uns gebracht.
Spiegelbildlich zur Bedrohung der Manager durch den Terror steht auf der anderen Seite ihre damals machtvolle gesellschaftliche Position, die ihnen heute ebenfalls weggerutscht ist. Herrhausen war der ungekrönte Vorstandssprecher der sogenannten »Deutschland AG«. Banken hielten erhebliche Industriebeteiligungen, alle waren miteinander verbandelt, gerne auch über sogenannten Überkreuzbeteiligungen nach dem Motto: Der Deutschen Bank gehören zehn Prozent an der Allianz und die Allianz hält zehn Prozent an der Deutschen Bank.
Mit Wettbewerb hatte diese Welt eher weniger zu tun. Die Führungsmitglieder der Deutschen Bank besaßen rund 400 (!) Aufsichtsratsmandate: Ein Netzwerk von mächtigen Männern begegnete sich permanent im Club der Ihresgleichen. Man hatte seine Hausbank (Deutsche, Dresdner oder Commerzbank), man hatte seine Hausberater (Roland Berger oder Gertud Höhler). Und man achtete im korporativen Kapitalismus darauf, auch die Gewerkschaftsführer bei Laune zu halten.
Bankiers waren damals noch keine Banker
Oberhaupt dieses Deutschland-Netzes in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre war zweifellos Alfred Herrhausen, geboren 1930, erzogen in einem nationalsozialistischen Elite-Internat am Starnberger See, dessen Ideologie er zwar abgelegt hatte, nicht aber das dort erworbene Selbstbewusstsein eines Auserwählten. Bankiers waren damals noch keine Banker: Strenge Konventionen unter den Herren in Nadelstreifen brachten es mit sich, dass die Scheidung seiner ersten Ehe Herrhausen beinahe das Vorstandsamt gekostet hätten. Doch er hielt sich an der Macht. Er, der als brillanter Vortragender auf den Bühnen der Welt gefragt war, kümmerte sich um das große Ganze: die Internationalisierung (»Globalisierung« war damals als Begriff noch nicht geläufig), die Rettung der armen Länder Afrikas (Schuldenerlass) oder die geistige Aufrüstung der Deutschen (Universitätsgründungen).
Herrhausen, der sich freimütig zur Macht der Banken bekannte, legte großen Wert auf Nähe zu Kanzler Helmut Kohl, eine Nähe, die freundschaftlich zu nennen ihm wichtig war und die in beiderseitigem Interesse lag. »Die Gipfel grüßen sich«, wie es bei Nietzsche heißt. Die Rollenbeschreibung für Herrhausen lautete »Ratgeber«. Er begleitete den Kanzler auf Auslandsreisen, war häufig im Kanzleramt zum Hintergrund, womöglich noch häufiger holte sich Kohl telefonisch seinen Rat. Diese enge Bindung zwischen politischer Macht und Finanzmacht ist seit der großen Finanzkrise zerbrochen. Der letzte Deutschbanker, der sich in der Ratgeberrolle habituell gefiel (und dem Kanzlerin Angela Merkel 2008 ein Abendessen im kleinen Kreis zum 60. Geburtstag ausrichtete) war Josef Ackermann, Bankchef von 2006 bis 2012. Doch Ackermann war es auch, dessen Uneinsichtigkeit für die Mitschuld der Banken an der Krise nachhaltig zum Bruch zwischen deutscher Politik und Deutsche Bank führte.
Dies alles wirkt inzwischen noch viel weiter weg als es wirklich ist. Die Deutsche Bank – 1870 gegründet steht kurz vor dem 150. Geburtstag – kämpft um ihre Daseinsberechtigung. Mittlerweile reicht der amerikanischen Bank JP Morgan, zweimal ein Quartalsgewinn wie zuletzt (8,6 Milliarden Euro), um die gesamte Deutsche Bank kaufen zu können, deren Börsenwert bei knapp 15 Milliarden Euro liegt. Sie könnte, tut es aber nicht. Ohnmacht kann schlimmer sein als Macht. Männer wie Alfred Herrhausen sind ein für alle Mal Geschichte.
Zum ungelösten Mord gibt es eine neue ZDF-Doku
Rainer Hank
20. November 2019
Warum wir die Milliardäre brauchenUnd warum mit eine Obergrenze für große Vermögen alle ärmer wären
Immer im November veröffentlich die Schweizer UBS-Bank ihren Milliardärsbericht. Nach den jetzt vorgelegten Daten ist die Zahl der Superreichen im vergangenen Jahr leicht zurückgegangen: Weltweit gibt es genau 2101 Menschen, die mehr als eine Milliarde Dollar ihr eigen nennen (F.A.Z. vom 9. November). Im Jahr zuvor zählte man noch 2158 Schwerreiche. Ihr Vermögen addiert sich heute auf unvorstellbare 8,5 Billionen Dollar. Wäre es gleich verteilt, entfielen auf jeden Milliardär gut vier Milliarden Dollar. Aber so ist es natürlich nicht: Auch unter den Milliardären gibt es große Ungleichheiten, eine Art Gerechtigkeitslücke im Club der »Happy Few«. Microsoft-Gründer Bill Gates, nach Amazon-Gründer Jeff Bezos der zweitreichste Mann der Welt, hat ein geschätztes Vermögen von 109 Milliarden Dollar – ein großer Abstand zu den unbekannten Milliardären, die mit einer oder zwei Milliarden auskommen müssen.
Dass die Reichsten der Reichen 2018 insgesamt weniger geworden sind, wird freilich die Kritiker großer Vermögen ebenso wenig besänftigen wie der Umstand, dass die Zahl der Milliardärinnen inzwischen rascher wächst als jene der milliardenschweren Männer. Denn wahr ist auch: Seit Jahren wächst das Vermögen der Superreichen deutlich rascher als der globale Wohlstand. Kein Wunder, dass die Kritik an der Plutokratie immer populärer wird – von links bis rechts. In den Vereinigten Staaten, wo man Reichtum traditionell eher als Ausweis von Leistung bewundert, erhält die Demokratin Elizabeth Warren viel Unterstützung für ihren Vorschlag, den Reichen jährlich sechs Prozent ihres Vermögens abzuknöpfen (zusätzlich gibt es selbstverständlich eine progressive Einkommensteuer). Radikaler noch ist der Links-Demokrat Bernie Sanders, der findet, Milliardäre sollte es eigentlich gar nicht geben – »jeder Superreiche ist ein Beleg für Politikversagen«. Und in Großbritannien tritt Jeremy Corbyn im Dezember zur Wahl mit einem sozialistischen Programm an, das sich wenig von Sanders unterscheidet. Was ist nur aus der Politik im angelsächsischen Kapitalismus geworden!
Die Deutschen sind weniger milliardärskritisch
Im Vergleich zu Großbritannien und Amerika geht es hierzulande geradezu bescheiden zu, was womöglich auch damit zusammenhängt, dass sich nicht nur SPD, sondern auch die »Linke« nach dem Rückzug von Sahra Wagenknecht in einem Prozess stiller Selbstfindung befinden, der – vorerst – keine Zeit lässt für Reichen-Bashing und Antikapitalismus. Okay: Die SPD hat durchgesetzt, dass die Reichen noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag als Strafe für ihren Reichtum den Soli zahlen müssen. Zudem hat man in Berlin den Immobilienbesitzern einen Mietendeckel verpasst, der einer Teilenteignung gleichkommt. Und auf die Managergehälter kommt künftig auch ein Deckel zulässiger Maximalvergütung. Doch im Vergleich mit den Vereinigten Staaten, wo neben einer hohen Vermögenssteuer Vorschläge für Einkommensteuertarife von bis zu 90 Prozent im Umlauf sind, könnte man meinen, wir leben hier im Land der fast unbegrenzten Bereicherungsmöglichkeiten.
Immer vernehmlicher indessen artikuliert sich auch im deutschsprachigen Raum die moralische und ökonomische Kritik am Milliardärsdasein. Christian Neuhäuser, ein Professor für praktische Philosophie an der TU Dortmund, schreibt in seinem im vergangenen Jahr erschienenen Buch »Reichtum als moralisches Problem«, er wisse nicht, warum Menschen, die bereits reicher sind, als irgendeiner nötig hat, ihre Mittel verdoppeln, um Dinge zu kaufen, die außer Zurschaustellung ihres Reichtums nur wenig oder gar keine Freuden schaffen. Man sieht: Hier wird generell die Legitimation großer Vermögen infrage gestellt. Als Kriterien dienen der Bedarf – wer braucht schon so viel Geld! – und der auf null zurückgehende Grenznutzen zusätzlichen Reichtums – wir sollen uns Dagobert Duck als einen unglücklichen Menschen vorstellen.
Konsequenterweise plädiert Neuhäuser für eine »Obergrenze« des Vermögens, die er ziemlich weit unten, nämlich schon bei zwei Millionen Euro ansetzt: »Auf alles darüber liegende Einkommen fiele dann eine Steuer von hundert Prozent an.« Zu Deutsch: Alles privat erworbene Einkommen über zwei Millionen fällt an den Staat.
Ordnungspolitik ist die beste Entmachtung von Reichtum
Ähnlich radikal geht Martin Schürtz vor, ein Ökonom und Psychotherapeut, der bei der österreichischen Nationalbank in Wien arbeitet. In seinem gerade erschienenen Buch »Überreichtum« schlägt auch er einen »Maximalwert« vor, um die »zerstörerischen Folgen exzessiven Reichtums« einzudämmen. Dass solche Obergrenzen willkürlich sind, ficht Schürtz nicht an: Es will sie demokratisch aushandeln lassen, was per se Legitimation genug sei. Dass Reichtum legal als Eigentum erworben wurde, genügt Schürtz als Rechtfertigungskriterium nicht. Die Reichen sollen sich vor der demokratisch verfassten Gesellschaft verantworten und Rechenschaft geben über die Verwendung ihres Geldes. Das sei nötig, um Akzeptanz ihrer gesellschaftlichen Besserstellung zu erhalten.
Das alles ist starker Tobak. Gleichwohl sollte man sich auf die Argumentation einlassen und einmal nach Reichtumserwerb und Reichtumsverwendung bei den Milliardären fragen. Das hat dankenswerterweise das britische Magazin »Economist« unter Verwendung von Zahlen des amerikanischen Journals »Forbes« in der vergangenen Woche getan. Das Ergebnis: Dreiviertel des Wohlstands der Milliardäre sei »fair« erworben. Unter »unfair« versteht der Economist Gewinne, die erworben wurden auf Märkten, auf denen wenig oder kein Wettbewerb herrscht. Was nämlich von den Reichtums-Bashern gerne übersehen wird: Nichts erschwert das Reichwerden in einer gut funktionierenden Marktwirtschaft so sehr wie der Wettbewerb. Dass Konkurrenten das Gleiche besser oder billiger machen, nagt gewaltig an der Rendite. Statt Obergrenzen sollte die Politik also den Wettbewerb befeuern, Oligopole und Monopole zerschlagen und die Hand von Subventionen lassen. So etwas nennt man auf altdeutsch »Ordnungspolitik«.
Daneben bleibt jene überwältigende Mehrheit der Milliardäre, die ihren Reichtums »fair« erworben haben: Dazu braucht man nicht nur an Bill Gates oder Elon Musk zu denken, sondern an all jene einfallsreichen Entrepreneure, die mit guten Ideen dazu beitragen, dass unser aller Reichtum wächst. Das Gewinnstreben bleibt ein Trieb der menschlichen Natur, von dem alle profitieren. Den Milliardären das Handwerk zu legen, würde die Wirtschaft weniger dynamisch machen und unseren Wohlstand schmälern. Dass in den Vereinigten Staaten, dem Land mit dem höchsten Prokopfeinkommen der Welt, auch die meisten Milliardäre leben, sollte zu denken geben.
John Rawls, ein eher linker Moralphilosoph, hat in seiner »Theorie der Gerechtigkeit« (1971) ein plausibles Erlaubniskriterium für Reichtum aufgestellt. Es besagt, dass die besseren Einkommensaussichten der Reichen dann gerechtfertigt sind, wenn sie auch zur Verbesserung der Lage der am wenigsten begünstigtsten Mitglieder der Gesellschaft beitragen. Wir Ärmeren brauchen die Milliardäre aus eigenem Interesse. Fazit: Mit Rawls kommen wir moralphilosophisch besser voran als mit den Philosophen der Obergrenze.
P,S, Im Deutschlandfunk (»Sein und Streit«) habe ich mit Martin Schürz zum Thema kontrovers diskutiert. Hier kann man das nachören und nachlesen.
Rainer Hank
13. November 2019
Es geht um die WurstWarum die Metzgereien in Deutschland sterben
Ich esse gerne Wurst. Dies zuzugeben stößt hierzulande beinahe schon an die Grenzen des Sagbaren. Aber das macht mir nichts: Wurst schmeckt nicht nur gut, sondern ist auch ein Kulturgut. Deutschland ist nämlich, frei nach Heinrich Heine, berühmt für seine Universitäten und für seine Würste, von denen es nach amtlichen Schätzungen 1500 Sorten gibt, ein Rekord, der allenfalls in Österreich übertroffen wird, während es sonst weltweit mau aussieht. Doch schon bei den Universitäten liegt inzwischen hierzulande einiges im Argen. Deutlich problematischer noch sieht es bei der Wurst aus.
Das erste Alarmzeichen war ein Aushang in der Metzgerei unseres Vertrauen (»Qualität seit 1851«). »Sehr verehrte Kunden«, stand da geschrieben: »Seit einem Jahr arbeiten wir mit unterbesetztem Personal. Alle Versuche, unser Team zu verstärken, sind gescheitert.« Deshalb sehe man sich nun gezwungen, »die Öffnungszeiten der Kapazität anzupassen«. Im Klartext heißt das: Geöffnet wird erst um 9 Uhr und um 17 Uhr ist Ladenschluss, samstags sogar schon um 13 Uhr. Schön ist das nicht – für die Umsatzerwartung der Metzgerei ebenso wenig wie für alle Menschen, die gerade in diesen Kernzeiten arbeiten und deshalb, nur so als Beispiel, auf die wunderbare Gelbwurst unseres Metzgers verzichten müssen. Man habe wirklich alles versucht, erzählt die Metzgersfrau, viele Anzeigen geschaltet, übertarifliche Bezahlung angeboten – schließlich lebt man in Frankfurt nicht günstig – und beim Arbeitsamt um Hilfe gerufen, bereit, auch Ungelernte zu nehmen: Doch die Arbeitslosen seien nur vorbei gekommen, um Sanktionen zu entgehen. An einem sicheren Job waren sie offenkundig weniger interessiert.
Ein Einzelfall? Ganz gewiss nicht, worüber ein Anruf beim Bundesverband des Fleischerhandwerks Aufschluss gibt. In den vergangenen dreißig Jahren hat sich die Zahl der Metzgereien in Deutschland von 27000 auf 12000 mehr als halbiert. Relativ gut versorgt sind die Menschen erwartungsgemäß in Bayern, wo es für hunderttausend Einwohner 37 Fleischereien gibt. Auch Baden-Württemberg kann mithalten (29 Läden). Hier in Hessen liegen wir mit 21 Metzgereien auf hunderttausend Menschen im Mittelfeld. Ganz weit weg hängen die Würste in Mecklenburg-Vorpommern (17 Läden). Der Osten ist auch hier wieder einmal abgehängt.
Die Veganer sind nicht schuld am Sterben der Metzgereien
Und die Gründe? An der Nachfrage liegt es nicht. Die ist seit Jahren stabil. Der Deutsche bleibt ein Fleisch- und Wurstesser, aller vegetarischen und veganen Propaganda zum Trotz verzehrt er im Schnitt 60 Kilo Fleisch und Wurst im Jahr (den Löwenanteil bei der Wurst stellen die Brühwürste). Unter den 73 Millionen Deutschen über vierzehn Jahren sind gerade einmal sechs Millionen Vegetarier und knapp eine Million Veganer. Die Zahl der Veganer ist seit Jahren ziemlich konstant, die Vegetarier nehmen sogar ab.
Auch Bestseller vom Schlage »Eating Animals« (Jonathan Safran Foer), denen es weniger um das Menschen-, als um das Tierwohl und die Qual bei der Schlachtung zu tun ist, haben uns Wurstesser nicht nachhaltig zu Abstinenzlern werden lassen. Wir vertrauen der Versicherung der Branche: »Das deutsche Schwein wird gut behandelt«, wie es im Jahresbericht des Fleischerhandwerks heißt, das sich auf diese Weise von der industriellen Tierverarbeitung abzusetzen sucht: Artgerechte Haltung und schmerzfreie Tötung seien heutzutage Standard. Aber machen wir uns nichts vor: Um zur Wurst zu kommen, muss ein Tier getötet werden. Dies verwerflich zu finden, lässt sich ethisch begründen. Wer es gleichwohl bejaht, muss sich auf die Evolution und den Gang der Zivilisation berufen, zugegeben keine ganz harten Kriterien.
Ich persönlich kann mich auf biographisch prägende Erfahrungen herausreden, warum ich Metzgereien liebe. Meine Tante im schwäbischen Oberland betrieb bis in die siebziger Jahre einen Gasthof (»Adler«) mit Metzgerei. Geruch und Geschmack von Leberkäs und Schinkenwurst gehören zu Kindheitserinnerungen, die mir lieb sind. Und auch, ich gestehe es, der Anblick der kunstvollen Zerlegung einer Sau im Schlachthaus, hat mich fasziniert: Wie aus einer blutigen Tierhälfte hinterher Blut- und Leberwürste wurden, daran konnte ich mich gar nicht satt sehen. Das zugehörige Bildungswissen vermittelte »Herings Lexikon der Küche«, seit 1907 immer wieder neu aufgelegt, wo auf Seite 841 der Prozess der Schlachttierzerlegung minutiös dokumentiert ist und man lernen kann, wo beim Schwein die Oberschale sitzt und was die Wamme vom Rückenspeck unterscheidet.
»Mohrenköpfle« aus dem Hohenlohischen
Das alles ist Geschichte. Es gibt eine Vielzahl von Gründen, die den Schwund der Metzger erklären. Unter jungen Leuten ist der Beruf nicht attraktiv, gilt als hart und in der heutigen guten Arbeitsmarktsituation gibt es coolere und besser bezahlte Alternativen. Mit 2400 Euro im Monat – das ist der tarifliche Ecklohn in Hessen – lassen sich wahrlich keine großen Sprünge machen. Dramatisch sieht es bei den Lehrlingen aus: Gab es im Jahr 2000 in Deutschland noch 12000 junge Leute, die eine Ausbildung zur »Fleischereifachverkäuferin« (welch schönes Wort) anstrebten, waren es 2018 nur noch gut 3000. Vielen Betrieben fehlt es zudem an Nachfolgern. Die Erben scheuen die Arbeit im Schlachthaus, alles andere als ein Zuckerschlecken. Bei den Fleischern hat offenkundig nicht funktioniert, was bei den Winzern gut gegangen ist: Als junger »Winemaker« an Rhein, Mosel oder Neckar und mit Hochschulabschluss in Geisenheim genießt man unter Kennern ein hohes Renommee, obwohl die Arbeit im steilen Weinberg auch nicht gerade leicht ist. Zu sagen »Ich bin Fleischer« bringt hingegen keine Statuspunkte. Der Weg vom Schwein zur Wurst ist offenbar nicht ganz so gradlinig wie der von der Sylvanertraube in die Bocksbeutelflasche.
Müssen wir uns also in das Schicksal fügen, dass nun ein altes Handwerk langsam stirbt, in welchem Deutschland im Vergleich der Esskulturen zweifellos einen komparativen Vorteil hat? Kulturpessimismus ist eigentlich nicht mein Ding. Doch die bestandserhaltenden Ideen der Branche klingen nicht allzu prickelnd, auch wenn sich das Stichwort »Digitalisierung« inzwischen bis in das Jahrbuch 2019 des deutschen Fleischerhandwerks Einzug gefunden hat. Mut macht uns das Schwäbisch-Hällische Landschwein, ein Vorzeigetier aus dem lange als strukturschwach geltenden Hohenlohischen. Das Schwein geht auf König Wilhelm I. von Württemberg zurück, welcher um 1820 der Landeszucht einige chinesische Maskenschweine zuführte, ein frühes Beispiel schwäbisch-chinesischer Kooperation. Die »Mohrenköpfle«, wie die Schweine aufgrund ihrer charakteristischen Färbung genannt werden, sind robuste und stressresistente Tiere, die inzwischen ihren Siegeszug durch ganz Deutschland angetreten haben. Die Hohenloher Erzeuger arbeiten deutschlandweit mit ausgewählten Metzgern zusammen, vereinen sozusagen ökonomische Skaleneffekte mit klassisch handwerklicher Tradition. Und sie versprechen, ihre Tiere restlos zu verwerten und zu verwursten, was sogar den Klimaschützern gefallen dürfte. Mir gefällt vor allem das Motto der Hohenloher: »Vom Rüssel bis zum Schwänzle«.
Rainer Hank