Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 05. Oktober 2020
    Wer klatscht, soll zahlen

    Was gebührt den Helden von Corona? Foto unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Müllwerker, Krankenschwestern und die Leistungsgesellschaft

    Nie werde ich die Bilder der leeren, tomatenverschmierten Pizza-Kartons aus dem Kopf kriegen, die während des Lockdowns rund um die Parkbänke verstreut lagen. Es ist mein Bild der Corona-Krise. Ich sah die Pappwüste, wenn ich abends noch einmal eine Runde mit dem Fahrrad drehte. Doch wenn ich früh morgens wiederkam, waren die Abfallberge weggeräumt; die Müllabfuhr war schon vor mir dagewesen.
    Jeder hat so seine eigenen Corona-Helden. Für mich sind es die Müllmänner (ich glaube, bei uns sind es wirklich nur Männer, keine Frauen darunter). Verlässlich holen sie ab, was die Haushalte ausscheiden und trennen – Corona hin, Corona her: Verpackungen in die gelbe Tonne, Obst, Gemüse und Blumen in die braune, Zeitungen in die grüne. Der Rest landet in der grauen Tonne. Und wenn die Nachbarn ihre Bücherregale entsorgen, rückt die Sperrmüllbrigade an. So sieht Daseinsvorsorge im Sozialstaat aus.

    An die Müllmänner muss ich denken, seit Verdi, die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, für höhere Löhne ihrer Klientel streitet und streikt. 4,8 Prozent mehr sollen es sein. Ganz schön üppig, zumal in Zeiten ohne Teuerung dieses Geld brutto wie netto zu nehmen ist. »Klatschen allein reicht nicht« lautet die Kampfesformel, die an den Applaus erinnert, den die Bürger in den Shutdown-Wochen dem medizinischen Personal, aber auch den Kassiererinnen im Supermarkt und den Erzieherinnen der Kitas gespendet hatten. Diese Berufe hat man damals für »systemrelevant« erklärt, gekoppelt an die Frage, warum, was systemrelevant ist, nicht herausragend bezahlt werde.
    Werden systemrelevante Tätigkeiten von der Gesellschaft tatsächlich wenig gewürdigt? Da hilft ein Blick in das Tarifarchiv der gewerkschaftseigenen Hans-Böckler-Stiftung und die Zahlenreihen des statistischen Bundesamtes. Generell können sich die privat und öffentlich beschäftigten Arbeitnehmer in Deutschland derzeit nicht beschweren. In der vergangenen Dekade seit 2010 haben sich ihre Einkommen nominal um 1,6 und real um 1,4 Prozent verbessert. In den davor liegenden zwanzig Jahren sah es vergleichsweise mau aus. Der Lohnanstieg im öffentlichen Dienst verlief mehr oder weniger im Gleichschritt mit der Privatwirtschaft. Die meisten öffentlichen Teilbranchen konnten ihren Rückstand inzwischen wettmachen. Die Gehälter der »systemrelevanten« Erzieher haben sich seit 2009 um 56 Prozent erhöht. Das klassische Argument von Verdi & Co., der öffentliche Dienst müsse finanziell attraktiv werden, sonst fände er keine Leute, sticht nicht: Seit 2007 ist die Zahl der öffentlich Beschäftigten um fast eine halbe Million Arbeitnehmer auf 4,9 Millionen angewachsen. Also weder kaputtgespart noch geschrumpft.

    Entlohnung nach Systemrelevanz?

    Das alles lässts sich auch belegen mit den durchschnittlichen Bruttostundenvergütungen: da liegt das private produzierende Gewerbe bei 23,80 Euro, der öffentliche Dienst mit 23,90 Euro sogar geringfügig drüber (Stand: I. Quartal 2020). Wer im Gesundheitsbereich beschäftigt ist, kann im Schnitt sogar 26 Euro erwarten. Deutlich schlechter stellen sich meine Müllmänner: Sie bringen es lediglich auf knapp 17 Euro.
    Soviel steht fest: Eine systematische Benachteiligung systemrelevanter öffentlicher Dienste gibt es nicht. Aber natürlich gibt es Berufe, für die deutlich mehr gezahlt wird: Finanzleute zum Beispiel (ein bisschen systemrelevant sind die freilich auch, wie wir seit der großen Finanzkrise 2008 wissen) oder Apotheker, die natürlich erst recht systemrelevant sind. Aber warum verdienen sie so viel mehr als Krankenschwestern?

    Es führt wohl doch in Teufels Küche, wenn man die Höhe der Bezahlung von der Systemrelevanz abhängig machen will. Müsste eine Kassiererin an der Kasse der Lebensmittelabteilung dann mehr bekommen als die Kassiererin bei den Sportartikeln? Warum kriegen meine Müllmänner weniger als die Krankenschwestern? Womöglich aus egoistischen Gründen: weil mir meine Gesundheit wichtiger ist als mein Abfall. Aber die Arbeit der Müllmänner ist womöglich körperlich schwerer als die der Krankenschwester? Und was ist mit jenen Krankenschwestern, die in den Shutdown-Zeiten gar nichts zu tun hatten, weil außer Corona-Patienten niemand sich traute, krank zu werden?

    Man muss die Idee der Entlohnung nach Systemrelevanz derart ins Absurde führen, um sich von ihr zu verabschieden. Aber wonach soll sich dann die Bezahlung richten? Viele propagieren das meritokratische Prinzip, also die Bezahlung nach Leistung. Leistung wird dabei meist mit Bildung gleichgesetzt. Wer von der Harvard Business School kommt, wird von seinem Arbeitgeber mit offenen Armen und einem üppigen Gehalt empfangen. Wer noch nicht einmal die Hauptschule schafft, kommt in seinem Leben finanziell meist auf keinen grünen Zweig. Die sogenannte Bildungsrendite fällt hierzulande üppig aus: Nichtakademiker erzielen ein durchschnittliches Lebenseinkommen von 1,8 Millionen Euro. Akademiker mit Master-Abschluss kommen auf 2,9 Millionen Euro, erhalten mithin einen Bildungszuschlag von 1,1 Millionen Euro.

    Die Falle der Meritokratie

    Ist Meritokratie fair? Daran gibt es Zweifel – einige davon leuchten mir ein. Anführer der neuen Anti-Meritokraten ist – ausgerechnet – ein Philosophie-Professor aus Harvard namens Michael Sandel. Er sagt: Kognitive Intelligenz wird überbewertet, während etwa emotionale Intelligenz keinen Einkommenseffekt hat. Die üppigen Belohnungen, die der Markt den Studierten beschert, und die magere Bezahlung, die er Arbeitern ohne akademischen Abschluss bietet, sei nicht gerechtfertigt. Meritokratie könne nicht als Maß für das Gemeinwohl dienen. Das »Zeitalter der Meritokratie« habe den Arbeitern ihre Würde genommen, so Sandel: Die Idee der Meritokratie moralisiert Einkommens- und Statusverteilung. Das führt fast zwingend in die Sackgasse einer Systemrelevanzdebatte.

    Tatsächlich trifft sich Sandel, ein linker Autor, in seiner Kritik an der Meritokratie mit dem liberalen Ökonomen Friedrich August von Hayek. Dessen zentrale Argument: Meritokratie gibt den akademischen Eliten das Gefühl, sie hätten auch moralisch verdient, was sie finanziell verdienen. Es gibt zugleich den Nichtakademikern das Gefühl, sie seien selbst schuld an ihrem geringen Einkommen. Markteinkommen werden durch die Meritokratie moralisch aufgeladen. Wenn Leistung Einkommen und Status bestimmen, dann müssten umgekehrt Einkommen und Status sichtbar machen, was einer geleistet hat. Das stimmt nicht, überfordert die Menschen und entzieht ihnen das Recht, Misserfolge und Scheitern anderen Umständen (Pech, böse Gegenspieler, falsche Gene) zuzuschreiben.

    Was soll man daraus schließen? Darin unterscheiden sich Sandel und Hayek. Sandel identifiziert den Markt als Bösewicht der Meritokratie, will ihn deshalb am liebsten abschaffen, zumindest aber domestizieren. Hayek sieht klarer, dass der Arbeitsmarkt vielen Zufällen gehorcht: Das Wissen darum verhindert, dass einer, der es auf einen gut bezahlten Job geschafft hat, dies auch noch als moralisches Verdienst überhöht. Weder sind die Besserverdiener bessere Menschen, noch sind die mittleren Einkommen Minderleister. Millionär zu sein ist keine moralische Auszeichnung.

    Rainer Hank

  • 05. Oktober 2020
    Mit Kanonen auf Spatzen schießen

    Ja nicht mit Kanonen drauf schießen Foto: Oldiefan/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie viel Freiheitsbeschränkungen darf der Staat seinen Bürgern zumuten?

    Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat für Juristen einen großartigen Klang, Ich habe bislang keine Notwendigkeit gesehen, mich um seine Bedeutung zu kümmern.

    Das ändert sich jetzt gerade. Schuld daran ist erstens Corona, zweitens der Berliner Mietendeckel und drittens die Europäische Zentralbank. Mein nichtjuristisches Vorurteil: Verhältnismäßigkeit ist ein gummiweicher Begriff. Zu sagen, irgendeine staatliche Maßnahme sei verhältnismäßig, dient den einen zur Legitimation von Freiheitsbeschränkungen. Wem das nicht passt, der macht geltend, die Maßnahme sei unverhältnismäßig. Gerade wie es einem passt.

    Gehen wir also die Beispiele durch:

    (1) Nach Ausbruch der Pandemie wurden hierzulande von heute auf morgen mit Bezug auf das Infektionsschutzgesetz Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt. Dagegen wandte sich im April ein Katholik hilfesuchend an das Verfassungsgericht, der darunter litt, dass er nicht mehr an einer Heiligen Messe teilnehmen konnte. Das vollständige Zurücktreten des Grundrechts der Glaubensfreiheit hinter das kollidierende Grundrecht auf Leben beziehungsweise auf körperliche Unversehrtheit nannte der fromme Mann unverhältnismäßig. Er suchte darzulegen, dass die gemeinsame Feier der Eucharistie ein zentraler Bestandteil seines Glaubens sei und ihm Schaden für sein Seelenheil drohe.
    Gleichwohl sahen die Richter des Ersten Senats in Karlsruhe keine Notwendigkeit, katholische Messfeiern in Corona-Zeiten zu erlauben. Ihr Argument: Gegenüber den Gefahren für Leib und Leben, vor denen zu schützen der Staat nach dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verpflichtet sei, müsse das grundrechtlich geschützte Recht auf die Feier von Gottesdiensten »derzeit« zurücktreten. Sie fügten sogleich hinzu, dies gelte nicht für immer, sondern müsse immer wieder einer strengen Prüfung der Verhältnismäßigkeit unterliegen, bei der zu untersuchen sei, ob ein Verbot von Gottesdiensten verantwortet werden könne angesichts neuer Erkenntnisse zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystem.

    Das Wägen divergierender Freiheitsrechte klingt einleuchtend. Doch die Kriterien dafür bleiben vorerst dunkel. Das Gericht hat lediglich festgestellt, dass der eucharistische Lockdown zulässig ist. Alles andere bleibt dem noch ausstehenden Hauptsacheverfahren vorbehalten.

    (2) Das Gesetz zur Mietenbegrenzung in Berlin macht detaillierte Vorschriften über Mietenstopp, die Mietobergrenzen und die Absenkung von Bestandsmieten. Das schränke die Freiheit des Eigentums unverhältnismäßig ein, so klagen derzeit mehrere Vermieterverbänden in Karlsruhe. Die Maßnahmen seien darüber hinaus weitgehend ungeeignet, den – ebenso legitimen wie unterstützenswerten – sozialpolitischen Gesetzeszweck (»Eigentum verpflichtet«) zu erreichen, bezahlbaren Wohnraum für Haushalte mit geringem Einkommen zu schaffen und zu erhalten. Doch der »Mietendeckel« wirke kontraproduktiv und verknappe günstigem Wohnraum. Soll heißen, es hätte bessere Maßnahmen gegeben als den Deckel.

    Dass der Deckel seinen Zweck nicht erfüllt, liegt meines Erachtens auf der Hand. Aber hilft in der Schlacht gegen ihn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit?

    (3) Nun zur Europäischen Zentralbank. Hier haben sich die Richter des Zweiten Senats in Karlsruhe vor ein paar Monaten zum Milliarden-Anleihekaufprogram der EZB geäußert. Sie kamen zum Schluss, dieses sei wegen einer Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit kompetenzwidrig. Freilich drücken sich die Richter um die Frage der materiellen Kriterien herum. Sie monieren lediglich, dass die EZB selbst die Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf seine Folgen (etwa die Nullzinsen für die Sparer) weder geprüft noch dargelegt hätten. Somit hatte die Zentralbank es leicht, den Schaden durch ein Schreiben nach Berlin zu heilen. Mehr hatte das Gericht nicht verlangt. Es machte sich gerade nicht anheischig, selbst zu beurteilen, ob Risiken und Nebenwirkungen des Anleihekaufs im Vergleich zum Nutzen für das Stabilitätsziel der EZB verhältnismäßig sind.

    Woher haben die Richter ihr Wissen?

    Die Sache ist also einigermaßen verwirrend. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit scheint zwar universale Bedeutung in der Rechtsprechung zuzukommen, wenn er für Religion, Mieteigentum und Geldpolitik gleichermaßen herhalten muss. Woher die Richter aber wissen, was höher zu gewichten ist (der deutsche Sparer oder die Rettung des Euroraums; der geschröpfte Mieter oder sein Vermieter, das Seelenheil oder das physische Heil) bleibt im Dunkeln.

    In der Not hilft manchmal die Wissenschaft: Argumente und Material bietet das von Matthias Jestaedt und Oliver Lepsius herausgegebene Standardwerk zur Verhältnismäßigkeit . Für den Eingriff in die Freiheit der Bürger müssen drei Voraussetzungen gegeben sein: Er muss (1) geeignet sein, seinen Zweck zu erreichen. Er muss (2) erforderlich sein. Dabei muss dargelegt werden, dass es kein milderes Mittel gibt, den Zweck zu erreichen. Schließlich muss der Freiheitsentzug (3) angemessen sein. Das heißt, die Nachteile einer Maßnahme müssen in einem angemessenen Verhältnis stehen zu den Vorteilen. Der Volksmund sagt dazu, man dürfte nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen.

    Löffelenten und Kammmolche

    Die Freiheit des Einzelnen ist in einem liberalen Land unbegrenzt. Die Macht des Rechtsstaates ist dagegen prinzipiell begrenzt. Begründungspflichtig ist der staatliche Eingriff als Ausnahme, nicht die als Regel gesetzte individuelle Freiheit. Dieses Verhältnis von Ausnahme und Regel diene im freiheitsrechtlichen Kontext als Korrektiv, welches verhindert, dass die staatliche Befugnis zur Begrenzung der Freiheitsrechte die individuelle Freiheit zu weit zurück drängt, schreibt der Kieler Verfassungsrechtler Andreas von Arnauld. Man kann sich fragen, ob die Exekutive hierzulande in Corona-Zeiten dies zu jedem Zeitpunkt im Blick hatte.

    Doch gibt es für solches Abwägen objektive Kriterien? Die Suche muss scheitern, wie abermals Andreas von Arnault mit einem skurrilen Beispiel veranschaulicht: Wenn – so lautet tatsächlich ein ernst gemeinter Vorschlag eines Rechtsgelehrten – im Konflikt zwischen Naturschutz und Arbeitsschutz einer zu schützenden Löffelente oder einem Kammmolch ein bestimmter Punktwerkt zugeordnet würde, auf der anderen Seite der Schutz eines Arbeitsplatzes ebenfalls einen Punktwert erhielte, könnte man am Ende auf objektive und transparente Ergebnisse hoffen. Das Beispiel macht sofort deutlich: Es kommt heraus, was man vorher hineingegeben hat. Wer vor allem Arbeitsplätze im Blick hat, wird das relative Gewicht auf dieser Seite hoch punkten. Wem der Naturschutz am Herzen liegt, der gibt den Löffelenten viele Punkte.

    Am Ende bleibt reflektiertes Unbehagen: Die Frage, was angemessen ist, ist aus prinzipiellen Gründen mit hoher Unsicherheit behaftet und hängt entscheidend von Wertenscheidungen, gesellschaftlichen Plausibilitäten und Evidenzen ab, ist somit auf die Akzeptanz der Bürger angewiesen.

    Am Ende bleibt das Verhältnismäßigkeitsprinzip eine regulative Idee, nicht mehr, aber auch kein purer Gummibegriff. Immerhin schützt das Prinzip den Bürger davor, vom Staat mit Kanonen beschossen zu werden. Gar nicht so schlecht, wie ich inzwischen finde.

    Rainer Hank

  • 27. September 2020
    Anleitung zur Rechthaberei

    Die Lust am Weltuntergang Foto Gerd Altmann/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum Grüne und Liberale sich nicht vertragen

    Eine Freundin beschwert sich regelmäßig darüber, dass andere ihr Rechthaberei vorwerfen. Sie findet den Vorwurf grob ungerecht, weil, so ihr trotziger Kommentar, es nun mal leider eine Tatsache sei, dass sie immer Recht habe.

    Warum neigen viele Leute zu der Ansicht, dass sie selbst mit fast allem Recht haben und die anderen falsch liegen? Viele Corona-Demonstranten sind davon überzeugt, dass die geltenden Pandemieauflagen – Abstand, Hygiene, Maske – vollkommen übertrieben sind und in keinem Verhältnis stehen zu den zu erreichenden Gesundheitszielen. Was den Demonstranten als völlig plausibel erscheint, halten viele Bürger für eine gefährliche Verharmlosung, gespeist von Ignoranz und kruden Verschwörungstheorien. Rationalität bestreitet man einander, eine Versöhnung der Positionen ist nicht vorgesehen.

    Dass sich Ansichten unversöhnlich gegenüberstehen ist keine Spezialität der Corona-Epidemie. Es findet sich überall und es wird schlimmer, so scheint es mir. Nehmen wir nur die Frage, wie wir es mit unserem Planeten halten. Gerade habe ich das neue Buch des amerikanischen Naturwissenschaftlers Andrew McAfee gelesen, das den sprechenden Titel trägt: »Mehr aus weniger.« McAfee, Direktor der »Initiative on the digital Economy« am MIT in Cambridge, setzt darin zu einem fulminanten Lob des Kapitalismus an und zu einer Verteidigung der Marktwirtschaft gegen ihre sich ständig vermehrenden Kritiker. Grob zusammengefasst lautet die These: Anders als es die gängige grün-linke Meinung behauptet, schaufelt der Kapitalismus sich nicht sein Grab durch ausbeuterischen Ressourcenverbrauch. Ganz im Gegenteil besitzt er die Fähigkeit, mit immer besserer Technologie und immer weniger Ressourcen immer mehr Wachstum und Wohlstand zu schaffen.

    Die freudige Botschaft für den McAfee-Leser lautet: Wir und unser Planet werden überleben, ohne dass wir dafür Verzicht üben müssen. Es ist eine Botschaft, die dem Zeitgeist öko-protestantischer Umwelt-Askese fundamental widerspricht. Kluge Technologie, ein waches Bewusstsein der Menschen und gut reagierende Politik haben die Wende zum Positiven längst herbeigeführt, was für McAfee nicht bedeutet, dass wir die Hände in den Schoß legen dürften. Doch sein Plädoyer für grüne Gentechnik und Atomenergie muss die Öko-Fraktion abermals in Zornesglut versetzen.

    Die apokalyptische Gegenthese

    Zur Kontrasterfahrung braucht man nur das Buch der Nachhaltigkeitswissenschaftlerin Maja Göpel lesen, das »Unsere Welt neu denken« heißt und seit Monaten auf den Bestenlisten steht. Göpel liefert die apokalyptische Gegenthese zum Trostprogramm von McAfee: Das anrollende Klimachaos mit sich verschärfenden Konflikten zwischen Arm und Reich sind für sie ein Beweis dafür, dass Weitermachen keine Option ist. Das Wohlstandsmodell des Westens habe ausgedient, grundsätzliches Umsteuern von Wirtschaft und Gesellschaft seien unausweichlich: Konsumverzicht ist nur eine von mehreren Konsequenzen, die für die Autorin zwingend sind: Wir sollen aufhören, Geld auszugeben für Dinge, die wir nicht brauchen, deren Herstellung aber den Planeten zugrunde richtet, zu dem es bekanntlich keine Alternative gibt. Als die F.A.S. kürzlich Maja Göpel mit den Thesen von McAfee konfrontierte, reagierte sie fassungslos (»steile These«, »jahrzehntelange Ressourcenforschung ignorierend«). Umgekehrt ist zu vermuten, dass auch McAfee sich nicht lange mit Göpels Gedanken aufhalten würde.

    Ich gestehe, dass mir McAfee mehr einleuchtet als Göpel. Doch heute soll es nicht um meine Rechthaberei gehen, sondern darum, Rechthaberei zu verstehen. Ich will wissen, wie es kommt, dass ich mich mit meiner Sympathie für McAfee in einer Minderheitenposition befinde (jedenfalls findet sich das McAfee-Buch nicht auf den deutschen Bestenlisten). Zwar hat die Mehrheit nicht einfach recht, weil sie die Mehrheit ist. Aber hier werden sich gemäß den Gesetzen der Normalverteilung doch auch viele vernünftige Leute befinden.
    Rat verspricht der Moralpsychologe Jonathan Haidt und sein 2012 erschienenes Buch »The righteous mind«. Der Begriff »righteous« changiert in der Bedeutung zwischen »tugendhaft«, »von seiner Rechtschaffenheit überzeugt« und auch »selbstgerecht«. Es geht also gerade darum, warum wir meinen, stets auf der moralisch besseren Seite zu stehen. Haidt, 1963 geboren und heute an der Business Schule der New York Universität lehrend, bezeichnet sich selbst als typischen Vertreter des an der Ostküste dominierenden Linksliberalismus. Die Großeltern flohen aus dem zaristischen Russland nach Amerika und gehörten einer Generation an, für die Sozialismus und Gewerkschaftsbewegung die einzig moralisch vertretbare Weltsicht darstellten. Der Enkel ist in diese Welt hineingewachsen. Dass Konservative anders ticken, habe er zur Kenntnis genommen und psychologisierend zu verstehen versucht, sagt er. Psychologisierung aber ist eine Strategie, die den eigenen Standpunkt nicht infrage stellt, sondern sich über die anderen stellt. »Die Möglichkeit alternativer moralischer Welten« mit vergleichbarem intellektuellem Existenzrecht sei ihm nie in den Sinn gekommen, schreibt Haidt.

    Erst kommt die Intuition, dann der Verstand

    Haidt vergleicht unser Bewusstsein mit einem Reiter auf einem Elefanten. Emotion und Intuition sind der Elefant; der hat seine eigene Intelligenz und seinen eigenen Willen. Er neigt dazu, den Weg einzuschlagen, den er für den richtigen hält. Der Reiter, unser Bewusstsein, liefert lediglich nachträglich die rechtfertigenden Kommentare. »Wir sind gewissermaßen nur dir Pressesprecher unseres tieferen, verborgenen Selbst.« Erst ist die Intuition da, danach kommt das strategische Räsonnement.

    Die moralischen Grundlagen der Intuition hält Haidt für universal, jenseits kultureller Unterschiede. Sie bestehen aus fünf »Haltungen« oder »Tugenden«, die alle Menschen teilen, freilich mit unterschiedlicher Akzentuierung. Die moralischen Grundlagen heißen: Sorge für Schwächere, Fairness, Loyalität, Autorität, Heiligkeit. Man muss das hier nicht im Einzelnen erläutern (es gibt von Haidt eine spannende TED-Präsentation. Wichtig ist: Während es der Linken vor allem um Sorge für die Schwachen und Fairness geht, haben Konservative ein weiteres Spektrum moralischer Grundüberzeugungen (Loyalität, Autorität, Heiligkeit), gewichten dagegen Leidvermeidung und Fairness weniger prominent. Mehr und mehr verabsolutieren alle ihre jeweilige Weltsicht.

    Was bringt der Verweis auf die moralischen Grundüberzeugungen? Keinesfalls den moralischen Relativismus. Aber er kann die rigoristische Rechthaberei unserer Tage lindern. Es gibt nicht nur das Entweder-Oder (links oder rechts, öko oder Wirtschaft), es gibt auch moralische Ergänzungen: Die Pflicht, sich um Gerechtigkeit zu kümmern UND den Auftrag zu seiner Familie oder seiner Nation loyal zu sein. Jonathan Haidt bezieht sich auf asiatische Religionen, wo Yin und Yang polar aufeinander bezogen sind und dennoch sich ergänzen. Die daraus folgende Haltung wäre es anzuerkennen, dass der Gegner eine moralische Position artikuliert, die mir selbst latent vertraut, womöglich sogar unbewusst sympathisch ist. Man kann das auch eine Haltung »moralischer Demut« nennen.

    Rainer Hank

  • 21. September 2020
    Vom »kranken Mann« zum Vorbild

    Das Vorbild! Foto Cleo Robertson auf Pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Sind wir Deutschen jetzt erwachsen? Ein Brite behauptet das

    Manchmal braucht es den Blick von außen: »Deutschland ist ein beneidenswertes Land. Es hat eine Reife entwickelt, mit der nur wenige andere Länder mithalten können.« Welche andere Nation hätte einen armen Cousin wie die DDR mit so wenig nachhaltigem Trauma aufnehmen können? Welche andere Nation hätte über einer Million der ärmsten Menschen der Welt in der Flüchtlingskrise eine Heimat geben können?

    Solche und noch viele mehr die Deutschen lobenden Sätze finden sich in einem Buch des englischen Publizisten John Kampfner, das gerade erschienen ist und den provozierenden Titel trägt »Warum die Deutschen es besser machen.«

    Man kann den Titel in zwei Richtungen lesen: Natürlich richtet sich das Buch zunächst an die britischen Leser, denen der Autor Deutschland als Vorbild vorsetzt. Wie muss es um den kollektiven Gemütszustand Großbritanniens bestellts sein, dass seine Bürger sich jetzt solche Überschriften und ausgerechnet ein Lob der »Krauts« gefallen lassen müssen? Als Deutscher liest man das Buch vor allem als Außenansicht, welche mit distanziertem Blick keine Rücksicht auf unsere eigenen in langen Jahren eingespielten Traumata, Nörgeleien und Selbstkasteiungen nehmen muss. Aber natürlich auch mit der skeptischen Haltung: Nun macht mal halb lang!

    Angela Merkel als Vorbild

    Wir erinnern uns noch: Der Tiefpunkt war vor gut zwanzig Jahren erreicht. Damals, im Sommer 1999, taufte das britische Magazin »Economist« Deutschland als den »kranken Mann Europas«, oder, nicht minder abwertend gemeint, als »das Japan Europas«. Es deutet sich schon seit einer Weile an, dass die Schulnoten aus dem Ausland stetig besser werden: Jetzt also gibt es eine »Eins plus«. Die Bewältigung der Corona-Krise ist dafür lediglich der eindrucksvolle Schlusspunkt: Deutschland hat in der Pandemie bislang knapp 10 000 Tote zu betrauern, in Großbritannien sind es mehr als 40 000. Auch der wirtschaftliche Schaden, den das Virus anrichtet, ist hierzulande viel glimpflicher als auf der britischen Insel. »Corona war der ultimative Test für die Führungsqualität Angela Merkels«, schreibt Kampfner.
    John Kampfner ist der Sohn eines von Hitler aus Bratislava geflohenen Juden und einer englischen Protestantin (»solide christliche Arbeiterklasse«). Er studierte in Oxford Geschichte und Russisch, war Auslandskorrespondent renommierter Zeitungen in Moskau, Bonn und im Berlin der Wendezeit. Für sein Deutschlandbuch ist er ein Jahr durch unser Land gereist, hat sich umgehört, nicht nur am Prenzlauer Berg in Berlin, sondern auch zum Beispiel in Mönchengladbach (»das deutsche Manchester«: Textilindustrie und Fußball) oder bei Porsche in Stuttgart-Feuerbach. Und er hat viel gelesen, Bücher des deutschen Wirtschaftshistorikers Werner Abelshauser zum Beispiel, oder aber auch die amerikanische Philosophin Susan Neiman: »Von den Deutschen lernen«, ein Buch, das in dieselbe Lobeskerbe haut und preist, wie ernsthaft die Deutschen sich mit ihrer verbrecherischen Geschichte auseinandergesetzt haben.

    Was ist es denn nun, was dem britischen Beobachter so gut an uns gefällt? Es sind die unaufgeregten Tugenden der Deutschen, vor allem die Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und Bescheidenheit, in denen er die Grundlage für den Erfolg erkennt. Und es ist die anti-charismatische Kanzlerin, eine Gegenfigur zum derzeitigen britischen Premierminister, die diese Tugenden in größter Selbstverständlichkeit verkörpert. Tatsächlich gelingt es Kampfner, aus dieser Tugendlehre das deutsche Modell der sozialen Marktwirtschaft abzuleiten. Der berühmte »Mittelstand« mit seiner Verwurzelung in der Provinz (die Milliardäre Reinhold Würth in Künzelsau oder Ralph Dommermuth in Montabaur), das sind für Kampfner Vorbilder im Unterschied zu den Brutalo-Kapitalisten, die er aus den Romanen von Charles Dickens kennt.
    Das Motto der sozialen Marktwirtschaft heißt für Kampfner: Langsam, aber sicher. Es ist ein wirtschaftspolitisches Programm der kollektiven Entschleunigung, ein bisschen langweilig, auch nicht besonders innovativ, aber am Ende erfolgreicher als eine Ökonomie angeberischer Heißspunde. Da kommt der Brite dann mit ganz wenig Ironie aus, wenn er schwärmt von der deutschen Vereinskultur, der freiwilligen Feuerwehr, der Spargelzeit, der Kehrwoche und dem rheinischen Karneval. Das sind ihm die Garanten des sozialen Zusammenhalts.

    Ist das nicht doch alles ein bisschen einseitig, geschuldet dem aktuellen britischen Brexit-Katzenjammer? Gewiss, Kampfner, bietet nicht nur Lobhudelei. Er erwähnt Martin Winterkorn und den VW-Skandal. Er moniert den digitalen Rückstand Deutschlands und die marode Infrastruktur (die berühmten Schultoiletten), kritisiert die starke Exportabhängigkeit, die wacklige Haltung gegenüber Russland (Nordstream II). Und er findet es beschämend, dass dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung, kein Ostdeutscher an der Spitze eines Dax-30–Unternehmens oder einer deutschen Universität steht.

    Wonder über Wonders

    Aber die dominante Melodie des Buches ist ein Preisgesang: Am Ende des Kapitels über die »Wonders«, die deutschen Wirtschaftswunder, wird es sogar richtig hymnisch: Deutschland sei bis heute erfolgreich mit seinem Mix aus wirtschaftlichem Wachstum und sozialer Inklusion. Das Land zeige, dass sich Wohlstand auch schaffen lasse ohne Thatcheristische Exzesse. Früh habe das Land realisiert, dass man nur erfolgreich sein könne, wenn regionale Ungleicheiten versöhnt würden (Länderfinanzausgleich).

    Insbesondere die letzten zwölf Jahre seit der Finanzkrise werden für Kampfner zu einer Triumphgeschichte: die längste zusammenhängende Wachstumsgeschichte, die höchste Beschäftigungsquote jemals, Schuldenabbau, ausgeglichene Haushalte und ständig üppigere öffentliche Budgets. Das alles sei der Erfolgsbeweis für Deutschlands langfristigen ökonomischen Atem, die Tradition der Tüftler von den Technischen Universitäten, das duale System der Berufsausbildung. Da zeige sich, dass Deutschland auch mit »Disruption« und Veränderung umgehen könne. Jegliche »Schadenfreude«, so Kampfners Lehnwort, verbiete sich.

    Schon gut. Genau in dieser Einseitigkeit liegt der Reiz der Lektüre für deutsche Leser. Aber man wird schon darauf hinweisen dürfen, dass wir nun nicht alles besser machen und besser können. Die Schwäche der deutschen Banken und der Finanzindustrie kommt nur am Rande vor; der deutsche Arbeitsmarkt ist immer noch überreguliert. Und was der Überehrgeiz der Klima- und Energiepolitik als Schaden für die deutsche Industrie bewirkt, ist noch offen.

    Wer nüchterne Korrekturen zum schmeichlerischen Lob sucht, ist mit dem neuesten breit gefassten Index zur wirtschaftlichen Freiheit gut bedient, der vergangene Woche vom amerikanischen Fraser-Instituts veröffentlicht wurde. Da rangiert Deutschland auf Platz 21, Großbritannien aber auf Rang 13. Die Spitzenplätze nehmen Hongkong, Singapur, Neuseeland und die Schweiz ein. Ein Buch »Why the Swiss do it better«, hätte also ebenfalls seine Berechtigung. Jedenfalls ist noch nicht ausgemacht, wo die protektionistische Altmaier-Mode am Ende hinführt, nationale Champions mit dauerhafter Staatsbeteiligung zu schaffen. Es wäre jedenfalls schade, wenn der Zyklus der Deutschland-Bücher in dreißig Jahren wieder beim »kranken Mann« landen würde.

    Rainer Hank

  • 07. September 2020
    Gegen die Verschwörungsmythen

    Gelernt ist gelernt Foto Engin Akyurt/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wir müssen Unsicherheit in Risiko zu verwandeln lernen

    Die greise Mutter eines Freundes hat sich – kurze Zeit nach Ausbruch der Corona-Pandemie – ihre Patientenverfügung noch einmal vorgenommen. Darin hatte sie eigentlich verfügt, dass sie keine lebensverlängernden medizinischen Maßnahmen wünsche. An diesem Grundsatz wollte die bald neunzigjährige Dame auch festhalten – es sei denn, bei der Krankheit handele es sich um Corona: In diesem Fall, so ihre Korrektur, sollten die Ärzte alles in ihrer Macht Stehende tun, um sie am Leben zu erhalten.

    Ich habe viel über diese Geschichte nachgedacht. Die Frau hat keine Erklärungshilfe für ihr Verhalten gegeben, so dass die Fantasie freie Bahn hat. Wo wir – je älter, umso wahrscheinlicher – doch ohnehin sterben müssen, könnte es uns doch eigentlich egal sein, woran wir sterben? Man kann den Gedanken ins Absurde treiben: Wäre die Frau im April an einem plötzlichen Herzversagen gestorben, wäre für sie alles »in Ordnung« gewesen. Wäre sie am selben Tag aber »an oder mit« Corona gestorben, wäre aus ihrer Sicht etwas schiefgelaufen. Offenbar ist es nicht so, dass wir dem Tod Pleinpouvoir, freie Wahl, geben, wie er uns aus dem Leben holt. Mit den »normalen« Todesursachen ist zu rechnen. Aber mit Corona war nicht zu rechnen: dass wir einmal an dieser Seuche sterben könnten, wie im Mittelalter die Menschen an der Pest, hat uns vorher keiner gesagt. Gerade das könnte der Grund sein, warum die alte Dame hier nun eine Ausnahme zu machen fordert: Corona lassen wir nicht als Todesurteil zu.

    Womöglich hilft zum Verstehen dieser Merkwürdigkeit der große amerikanische Ökonom Frank H. Knight (1885 bis 1972). Von ihm stammt die Unterscheidung zwischen Risiko und Unsicherheit, zwei Begriffe, die wir umgangssprachlich gerne synonym gebrauchen. Knight, Mitbegründer der Chicago-Schule des Liberalismus, hat 1916 an der Cornell Universität eine Dissertation eingereicht, die den Titel trug »Risk, Uncertainty and Profit«, mit der er weltberühmt werden sollte. Der springende Punkt dabei: Risiken lassen sich berechnen, weil dem Eintreten bestimmter Ereignisse eine Wahrscheinlichkeit zugeordnet werden kann. Im Falle von Unsicherheiten sind uns hingegen keine Wahrscheinlichkeiten bekannt. Risiken kommen typischerweise etwa bei Glückspielen vor, aber auch bei Versicherungsfällen oder dort, wo wiederholbare Zufallsexperimente die Schätzung von Wahrscheinlichkeiten zulassen. Unmittelbar nach 9/11 hatte ich den damaligen Chef des Versicherungskonzerns Allianz, Henning Schulte-Noelle, gefragt, ob es bei der Allianz künftig Policen gegen Terroranschläge zu kaufen gäbe. Nüchtern wie Versicherungsleute sein müssen, gab er zur Antwort, dass sei – noch – nicht möglich, weil Kenntnisse über Frequenz und Größenordnung solcher Terrorangriffe fehlten, was jede vernünftige Risiko-Kalkulation vereiteln und zu einer willkürlichen Wette machen würde. Der Terror, so Schulte-Noelle, konfrontiere die Menschheit »mit einer völlig neuen Dimension« von Schrecken: Unsicherheit in ein berechenbares Risiko zu wandeln werde deshalb – leider – erst im Wiederholungsfall möglich.

    Wir haben Probleme mit Wahrscheinlichkeiten

    Unsicherheit löst Angst aus, das Risiko ermöglicht rationale Vorsorge: Alles, was versicherbar ist, ist dergestalt sicher, dass es eine Kompensation für den entstandenen Schaden gibt, welche uns hilft, trotz des Unglücks weiterzuleben. Unsicherheit dagegen führt zu irrationalem Verhalten. Weil wir das Risiko nicht kennen, verhalten wir uns falsch: Nach dem 11. September 2001 weigerten sich viele Leute, ein Flugzeug zu besteigen, weil sie Angst vor einem Terroranschlag hatten. Lieber legten sie lange Strecken mit dem Auto zurück. Ganz falsch, wie wir im Rückblick wissen: In den zwölf Monaten nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center waren etwa 1600 Amerikaner über dem jährlichen Sterblichkeitsdurchschnitt auf den Straßen verunglückt: »Menschen, die von Angst getrieben handeln – oder auch nicht handeln, bringen sich oft zusätzlich in Gefahr«, sagt der Risikoforscher Gerd Gigerenzer. In den vergangenen fast zwanzig Jahren haben wir gelernt, mit dem Terror zu leben. Wir steigen (bis Corona) wieder in Flugzeuge und sind bereit, für unsere Sicherheit einen Preis zu zahlen: Kontrollen mit Leibesvisitation durch die Security.

    Zum Glück sieht es ganz danach aus, als ob wir jetzt auch dabei wären, einen vernünftigen Umgang mit Corona zu erlernen – allen gefährlichen Irrationalismen bei den sogenannten Corona-Demonstrationen zum Trotz. Am Anfang standen die schrecklichen Fernsehbilder aus Bergamo, die die Angst auslösten, bald willkürlich von der Seuche dahingerafft zu werden. Dem folgte der totale Stillstand des zivilen, politischen und wirtschaftlichen Lebens auf nahezu der ganzen Welt, einerlei wie hoch oder niedrig die Infektionsrisiken waren. Mit Frank H. Knight kann man sagen: Es war die Situation einer diffusen und ängstigenden Unsicherheit, die noch wenig über die Corona-Risiken wusste.
    Inzwischen haben wir alle unsere Erfahrungen gemacht auf dem zivilisatorischen Weg, Unsicherheiten in Risiken zu wandeln. Wir wissen zum Beispiel, dass das Infektionsrisiko mit dem Alter korreliert – gemäß der Regel: je älter desto krankheitsgefährdeter (was bekanntlich nicht heißt, dass jüngere Menschen immun wären). Wir wissen auch, dass die Wahrscheinlichkeit zu erkranken nicht nur vom Alter abhängt, sondern auch vom Ort auf der Welt, an dem wir leben. In Südkorea ist die Gefahr, sich anzustecken deutlich geringer als in Großbritannien, wo es wiederum relativ sicherer ist im Vergleich mit der Corona-Gefahr in den Vereinigten Staaten.

    Ein tödlicher Motorradunfall ist wahrscheinlicher

    Mit den (mit Unsicherheit behafteten) Daten dieses Corona-Wissens hat der Ökonom Tim Harford (»The Undercover Economist«) am vergangenen Wochenende in der »Financial Times« den lohnenden Versuch gemacht, einen »Survival Guide« für Corona-Zeiten zu erstellen, der Risiken bezifferbar macht. Das geht so: Derzeit infizieren sich im Vereinigten Königreich täglich im Schnitt 44 Menschen bezogen auf eine Million Einwohner. Das wiederum bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit zu erkranken dort derzeit 44 zu einer Million ist. In den Vereinigten Staaten ist dieses Risiko zehn Mal höher als in Großbritannien, während es in Deutschland mit 18 zu einer Million deutlich geringer ist. Deutlich geringer als in Großbritannien ist in Deutschland auch das Risiko, an Corona zu sterben. Das Ifo-Institut hat (Stand Ende Mai) auf der Basis von Daten des Statistischen Bundesamtes hierzulande keine Übersterblichkeit (weder in der Bevölkerung insgesamt noch für die meisten Altersgruppen) erkennen können. Viel wahrscheinlicher als an Corona zu sterben ist es, bei Ski- oder Motorradunfällen ums Leben zu kommen. Doch Menschen neigen dazu, die Gefahren bekannten Verhaltens zu unterschätzen, während ihnen das Neue übergroße Angst macht.

    Solche Überlegungen dienen gerade nicht dazu, die Seuche zu verharmlosen. Im Gegenteil: Nachdem Corona uns gelehrt hat, die Illusion der Gewissheit zu verabschieden, geht es jetzt darum, Ungewissheit in rationale Risikokalküle zu wandeln. Das imprägniert gegen die rabiate Irrationalität der Verschwörungstheoretiker ebenso wie gegen Ängstigungsrhetorik gewisser Staatsvirologen.

    Rainer Hank