Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 25. Mai 2021
    Ran an die Reichen

    Von oben sieht die Welt besser aus Foto Austin Distel/unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum eine Vermögenssteuer nichts bringt

    »Wer hat, der gibt.« So lautet der Slogan einer Kampagne links-grüner Organisationen und ihnen gewogener Sozialwissenschaftler zu einem »Bündnis für Umverteilung«: »Die Reichen müssen für die Krise zahlen«, heißt die Forderung der Gruppe, zu der sich unter anderen Oxfam, Attac, Fridays for Future und der Paritätische Wohlfahrtsverband gesellen. Weil Reichtum unanständig ist, sollen die Millionäre jetzt für die Schäden der Corona-Pandemie zur Kasse gebeten werden.

    Nun könnte man die Initiative als Nischenprojekt ignorieren, wären im September nicht Wahlen. Die Aktivisten bereiten für den 21. August, vier Wochen vor der Wahl, einen bundesweiten Umverteilungs-Aktionstag vor, der den Parteien ordentlich einheizen soll. Die Hitze ist jetzt schon zu spüren. Ich habe mich dem etwas speziellen Vergnügen ausgesetzt, die Parteiprogramme danach durchzukämmen, was aus den Wohlhabenden werden soll. Das Fazit: Sie könnten bald arm aussehen. Oder genauer: Sie sollten beizeiten nachdenken, wie sie ihr Vermögen in Sicherheit bringen.

    In Umkehrung des Bündnis-Slogans lassen sich die Steuerkonzepte von Grünen, SPD und Linken unter dem Motto »Wer hat, dem wird genommen« zusammenfassen. Höhere Spitzensteuerätze beim Einkommen, mehr Erbschaftssteuer, Reichen-Soli bis zum Sankt Nimmerleinstag. Breiten Raum nimmt insbesondere die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer ein.

    Damit es übersichtlich bleibt, will ich mich hier auf diese Vermögenssteuer konzentrieren, die sich in allen Programmen der drei linken Parteien findet. Auf das Programm der Union warten wir noch. Die FDP hat am vergangenen Wochenende zu Protokoll gegeben, höhere Steuern zu verhindern (oder abermals nicht mitzuregieren). Und bei der AfD weiß man nie so genau, was sie will.

    Die Ungleichheit der Vermögen nicht nicht zu

    Nun also zu den Programmen der Grünen, der SPD und der Linken. Die Warnung vor R2G (»Rot-Rot-Grün«) ist mehr als Zweckpessimismus. In den aktuellen Sonntagsfragen kommen sie zusammen auf rund 47 Prozent Wählerstimmen. Die Vermögenssteuer ist eine sogenannte Substanzsteuer, würde also Jahr für Jahr auf den Reichtum erhoben, unabhängig davon, ob der sich mehrt oder schrumpft. Einkommens- oder Kapitalertragssteuer werden dagegen immer nur auf den Zugewinn fällig. Die Grünen und die SPD haben in ihren Programmen jeweils eine Vermögenssteuer von jährlich 1 Prozent oberhalb von zwei Millionen Euro Vermögen. Die Linken legen ein paar Schippen drauf: da wächst die Steuer von einem Vermögen von 50 Millionen Euro an auf fünf Prozent – das wären also 2,5 Millionen Euro jährlich. Außerdem soll es noch eine saftige Vermögensabgabe zur Behebung von Corona-Schäden geben, die sich, verteilt über 20 Jahre, auf bis zu 30 Prozent des Gesamtvermögens hochschaukelt.

    Zur Begründung ihrer Pläne nennen die Grünen »die immer stärker werdende Ungleichheit« im Land, mit der sie sich nicht abfinden wollen. Bei der SPD steht im Vordergrund, »die Finanzkraft der Länder für wichtige Zukunftsaufgaben zu verbessern«. Wer viel hat, soll viel zahlen. Das ist die berühmte Antwort des Bankräubers Will Sutton auf die Frage, warum er Banken überfalle: »Because thats where the money is.« Um welche »Zukunftsaufgaben« es geht und warum die gigantische Neuverschuldung und die 2022 erwartbar wieder sprudelnden Steuereinnahmen dafür nicht ausreichen, mit solchen Nebensächlichkeiten halten die Parteien sich nicht weiter auf.

    Stimmt es denn, dass die Vermögensungleichheit zunimmt? Und taugt eine Vermögenssteuer dazu, sie zu schrumpfen? Tun wir einmal so, als ließe sich das Vermögen der Deutschen einigermaßen exakt beziffern (die Statistik ist ziemlich windig) und befragen den in der vergangenen Woche erschienenen »Armuts- und Reichtumsbericht« der Bundesregierung. Mit insgesamt 7,8 Billionen Euro Bruttovermögen sind wir ziemlich reich. Und wir wurden immer reicher: Betrug das durchschnittliche Vermögen eines privaten Haushalts im Jahr 2008 noch 144 000 Euro, so waren es 2018 schon 194 000 Euro. Immobilien, mit 70 Prozent der wichtigste Teil des Vermögens, verbesserten sich in dieser Zeit im Wert um 41 Prozent, der Rest um sieben Prozent.

    Produktivvermögen in Arbeitnehmerhand

    »Wir« ist freilich relativ: Grob gesagt vereinen die reichsten zehn Prozent der Haushalte die Hälfte des Vermögens auf sich, während die untere Hälfte gerade einmal zwei Prozent hat. Doch geht die »Schere« auf? Der Reichtumsbericht widerspricht. Blickt man auf die Nettovermögen (das sind die Vermögenswerte abzüglich der darauf lastenden Schulden), so ist die Ungleichheit seit 2008 nicht größer geworden. Im Gegenteil: Der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit misst (0 heißt völlige Gleichheit, 1 heißt komplette Ungleichheit), ist von 0,75 auf 0,71 zurückgegangen. Die Autoren des Berichts führen dies auf steigende Arbeitseinkommen der ärmeren Schichten und zunehmenden Immobilienbesitz der Mittelschicht zurück. So viel, nur nebenbei, zur Behauptung, dass es in Deutschland heutzutage nicht mehr möglich sei, Wohneigentümer zu werden.

    Nun könnte man mit gewissem Recht argumentieren, die Vermögensverteilung bleibe grob ungerecht, auch wenn die Ungleichheit seit über zehn Jahren nicht mehr zunimmt. Doch wäre eine Vermögenssteuer ein geeignetes Gegenmittel? Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), ein eher linkes, keynesianisches Institut, hat Zweifel, die mir einleuchten: Es fängt schon damit an, dass es außerordentlich aufwendig ist, einigermaßen exakt das individuelle Vermögen zu bewerten. Was mein Reihenhaus wert ist, weiß ich erst, wenn ich es verkaufe. Selbst wenn es gelänge, vergleichbare Kriterien zur Bewertung von Haus, Betrieb, Oldtimer und Picasso-Gemälde aufzustellen, würde bis zu einem Drittel der Steuereinnahmen gleich wieder von der Bürokratie aufgefressen. Zur Reduktion der Ungleichheit trüge das nicht bei, eher zum Aufblähen des Staates.

    Mehr noch: die Reichen sind nicht blöd. Allein die Ankündigung einer Vermögenssteuer führe zu »Ausweichreaktionen«, schreibt das DIW. Das ist die Umschreibung dafür, dass Vermögen ins Ausland transferiert wird, um dem Fiskus zu entkommen. Als der sozialistische Staatspräsident François Hollande im Jahr 2013 eine Reichensteuer einführte, nahm der Schauspieler Gérard Depardieu flugs die russische Staatsangehörigkeit an. Und weil die Vermögenssteuer eine Substanzsteuer ist, die auf Betriebsvermögen auch in einer Rezession erhoben wird, müsste dies den Abschwung verstärken und Steuereinnahmen insgesamt mindern. Steuergesetze haben häufig (legale und weniger legale) Effekte, die ihre »gute« Absicht konterkarieren.

    Es gäbe wirksamere Wege, die Ungleichheit der Vermögen zu verringern. Altmodisch hieß das früher »Produktivvermögen in Arbeitnehmerhand«. Blackrock & Co., jene erzkapitalistischen Vermögensverwalter, bieten ETF-Sparpläne, bei denen sich mit monatlich 100 Euro in dreißig Jahren ein Vermögen von knapp 100 000 Euro bilden lässt. Der Staat kann dies, wenn er mag, mit Freibeträgen fördern. Er kann sich zur Förderung von Wohneigentum klügere Dinge einfallen lassen als das zu Mitnahmeeffekten einladende Baukindergeld. Das und einiges mehr wären Ideen, Ungleichheit schlauer zu mindern als mit einer Vermögenssteuer. Allein, die linken Populisten wird man damit nicht erreichen.

    Rainer Hank

  • 19. Mai 2021
    Warum liegen so viele Corona-Prognosen daneben?

    Immer ins Schwarze Foto Ricarda Mölck/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Treffen ist eben Glückssache

    Corona-Prognosen liegen weit auseinander – und am Ende häufig daneben. Vor der Bundes-Notbremse hatten die Pessimisten Oberwasser. Sie prophezeiten einen dramatischen Anstieg der Todesfälle. Tatsächlich gab es die meisten Corona-Toten am 22. Januar mit 819 Fällen. Am 21. April, dem Tag vor Inkrafttreten der Bremse, waren es 331. Natürlich: Jeder Tote ist einer zu viel. Doch aus der rücklaufenden Todesrate lässt sich schwerlich ein Argument machen für eine Verschärfung der Maßnahmen. Im Februar 2021 verzeichnete Deutschland eine Untersterblichkeit, also im Saldo weniger Tote als in den Jahren 2016 bis 2019. Akademische Häretiker, wie der Mainzer Epidemiologe Sucharit Bhakdi, ärgern den akademischen Mainstream mit solchen Vergleichen schon seit Monaten. Die schlimmsten Wochen waren die Tage rund um Weihnachten 2020. Von da an ging es uns besser. Die Bundesnotbremse wurde gezogen, als der Infektionszug längst in die richtige Richtung rollte.

    Warum treffen wir völlig unterschiedliche Entscheidungen auf ein und derselben Faktengrundlage? Wieso kommen zwei Fachleute, die über identische Informationen verfügen, zu komplett anderen Schlussfolgerungen? Und warum kann sogar ein Experte in Windeseile seine Meinungen ändern, wie etwa der Bundeshauptvirologe Christian Drosten, der, vom Pessimisten zum Optimisten gemausert, uns jetzt einen großartigen Sommer verspricht? Das sei auf die vielen Impfungen zurückzuführen, von denen es noch Ende April hieß, davon dürfe man sich keinesfalls eine rasche Entspannung erhoffen.

    »Noise« versus »Bias«

    Spannende Antworten auf unsere Frage bietet das neue Buch des Psychologen und Ökonomienobelpreisträgers Daniel Kahneman, das, gemeinsam verfasst mit Olivier Sibony und Cass Sunstein, am Montag unter dem Titel »Noise« in die Buchhandlungen kommt. Es geht Kahneman darum »was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können.«

    Bias und Noise

    Kahneman ist Mitbegründer der Verhaltensökonomie. Die steht für die Erkenntnis, dass die Menschen sich weitaus weniger rational verhalten, wie sie es selbst gerne täten. Nur zum Beispiel: Wir verschieben wichtige Entscheidungen oder neigen dazu, uns permanent selbst zu überschätzen. Wir können für unser Versagen sogar rationale Gründe anführen. Kahneman nennt dies »Bias«, eine konsistente Abweichung von einem Ziel. »Bias« ist unserer ganzen Gattung eigen.

    Bei »Noise«, Kahnemans aktuellem Fokus, ist keine Gesetzmäßigkeit hinter den Fehlern zu erkennen. Die Streuung der Treffer ist breit. Es sind »nicht vorhersagbare Fehler«: In unserer Grafik (siehe zweites Bild der Foto-Galerie) ist der Unterschied von »Bias« und »Noise« am Beispiel von Einschüssen auf einer Zielscheibe dargestellt. Bias (oben rechts) zeigt eine regelhafte Abweichung nach links unten. »Noise« (unten links) ist ein chaotische Streuung fehl geschlagener Treffer; das Ergebnis ist »verrauscht«, »noisy«. Unten rechts haben die Schützen systematisch danebengeschossen, ihre Treffer sind aber weiterhin breit gestreut (»Bias« und »Noise«). »Bias« ist längst bekannt; »Noise« wird übersehen, unterschätzt, geleugnet. Wir tun so, als ob alle Wissenschaftler in ihren Urteilen übereinkommen müssten, weil sie doch alle die gleichen Fakten interpretieren und daraus Handlungsanweisungen ableiten. Abweichler werden »gecancelt«, am Ende stigmatisiert. »Das Unwissen wird geleugnet«, schreibt Kahneman – denn es wäre für den Wissenschaftler eine schwere Kränkung.

    Wie wir die Welt verbessern können

    Menschen meinen, dass ihre Mitmenschen die Welt genauso sehen wie sie selbst. Kahneman hat viele Beispiele für den Schaden, den »Noise« anrichtet. Straffällig gewordene Menschen erhalten für genau dieselbe Straftat völlig unterschiedliche Strafmaße – eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren der eine, der andere bleibt zur Bewährung frei. Der eine Richter setzt auf Resozialisierung und verhängt eine milde Strafe, der andere setzt auf Abschreckung und geht an die obere Grenze. Stimmungen sind wichtig: Am Montag nach einer Niederlage der lokalen Footballmannschaft neigen Richter dazu, härtere Strafen zu verhängen.

    In Versicherungen berechnen sogenannte Underwriter die Prämien für die Policen. Sie selbst meinen, eine Abweichung der Prämienkalkulation von zehn Prozent sei üblich und tolerabel. In Wirklichkeit kam Kahneman auf Unterschiede von 55 Prozent. Wenn der eine Underwriter eine Prämie von 9500 Dollar festsetzt, kostet der Vertrag beim zweiten 16 700 Dollar (und nicht nur 10 500). Wohlgemerkt: Beide berechnen aufgrund identischer Daten, nutzen die identischen Risikomodelle. Zu niedrige Prämien führen in die Pleite. Bei zu hohen Prämien wandern die Kunden ab.

    Diagnosen von Ärzten weichen ähnlich breit gestreut voneinander ab. Entsprechend unterscheiden sich die Therapien. Es ist eine Lotterie, die über Schicksale von Menschen entscheidet.

    Zurück zu Corona: Die Abweichungen der Experten sind sowohl von »Bias« wie von »Noise« geprägt. Direkt oder indirekt im Auftrag der Regierung arbeitende Fachleute tendieren je nach politischem Ziel zu Optimismus oder Pessimismus (»Bias«). Mediziner konzentrieren sich auf die Gesundheit; Sozialwissenschaftler raten zu breiteren Kosten-Nutzen-Erwägungen. Eine »Noise«-Streuung.

    Wer die Welt verbessern will, muss »Noise« reduzieren. Kahneman hat kein Patentrezept. Doch seine Empfehlungen haben es in sich: »Noise« nicht zu verleugnen, wäre schon viel. Alle Urteile sollen in ihrer ganzen Streuung unabhängig voneinander transparent werden (»Noise-Audit«). Unabhängig ist wichtig. Denn Teambildung, in Coronazeiten sehr beliebt, verstärkt leider den Noise-Effekt: Pessimisten und Optimisten radikalisieren sich gegeneinander. Intuition ist genauso gefährlich wie die Dominanz von Herrschaftswissen. »Betrachten Sie den Fall aus der Außenperspektive«, rät Kahneman: »Versuchen Sie, gegen sich selbst zu denken!« Nicht leicht, aber lohnend: Skepsis und Bescheidenheit müssten sich miteinander verbünden.

    Rainer Hank

  • 10. Mai 2021
    But, Schweiß und Patente

    Wem gehört das Patent? Foto Spencer Davis/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Verhindert Big Pharma eine gerechte Verteilung von Corona-Impfstoff?

    Es gibt unterschiedliche Arten von Massenmord. Eine davon heißt »Patent«. Mit diesen beiden Sätzen beginnt der Schriftsteller Ilja Trojanow eine Kolumne in der »Tageszeitung« (taz). In einer Welt extremer sozialer Unterschiede entschieden Patente darüber, wer in der Pandemie überleben dürfe – und wer nicht.

    Trojanows Attacke ist keine Einzelmeinung. Aktivisten bedrängen Mitarbeiter von Impfstoffherstellern, die Patente rauszurücken, um sich nicht am Tod von Menschen zu versündigen. Pharmapatente trügen Schuld an einer künstlichen und somit profitablen Verknappung des Impfstoffs gegen Covid-19. Viel mehr Impfstoff könnte hergestellt werden, gäbe es das Patentrecht nicht. Während Industrienationen sich Zweidrittel aller Impfstoffe gesichert hätten, eskaliere die Lage in der armen Welt.

    Die meisten Impfstoffe gäbe es gar nicht, wäre ihre Erforschung nicht Jahrzehnte lang mit öffentlichen Milliarden finanziert worden, monieren die Patent-Kritiker. Warum sollen die Staaten für die Abnahme von Impfstoffen zahlen, die sie vorher bereits mit ihren Steuergeldern finanziert haben? Die private Aneignung öffentlichen Geldes wäre selbst in der kapitalistischen Logik eine Sünde: »Dieser Impfstoff gehört den Menschen«, rufen die Patent-Kritiker.

    Mitte vergangener Woche schloss sich die amerikanische Regierung der Forderung Indiens und Südafrikas an, die Welthandelsorganisation (WTO) solle die Patente für Corona-Impfstoffe aussetzen (genannt »waiver«), um »so viele Impfungen so schnell wie möglich zu so vielen Menschen wie möglich zu bringen«. Das Ziel wird niemand infrage stellen wollen. Die Frage ist, ob ein »waiver« dafür das richtige Instrument ist. Die altruistisch klingende Initiative Amerikas ist schon deshalb scheinheilig, weil kein Land bislang so wenig Impfstoff exportiert hat wie die Vereinigten Staaten. Die deutsche Kanzlerin hält dagegen. Noch.

    Die Profite gehören denen, die dafür ins Risiko gehen

    Fakt ist: Noch nie wurde derart rasch ein wirksamer Impfstoff entwickelt wie in dieser Pandemie, und zwar von privaten Unternehmen. Der Eindruck ist irreführend, die Staaten hätten den Firmen die Forschung bezahlt. Es sind die Strüngmann-Milliardäre, die mit dem Verkauf des Generikaherstellers Hexal ein Vermögen gemacht haben, die das Biontech-Gründerpaar Türeci und Sahin finanzieren. Dort waren sie schon 2007 mit 150 Millionen Euro eingestiegen, um Krebsmedikamente zu entwickeln. Staatliche Unterstützung gab es erst, als es konkret um die Entwicklung von Corona-Impfstoff ging. Wenn der Staat sich jetzt mit 300 Millionen Euro am Tübinger Impfstoffentwickler Curevac beteiligt, dann partizipiert der Steuerzahler als Großaktionär an den Kursgewinnen. So gerecht geht es im Kapitalismus zu. Der Impfstoff gehört den Menschen. Die Profite aber gehören jenen, die dafür ins Risiko gehen.

    Was aber ist mit den Patenten? Forschung und Entwicklung in der Pharmaindustrie sind geprägt von Versuch und Irrtum. Nicht jedes Projekt führt am Schluss zu einem wirksamen Arzneimittel. Allemal sind teure klinische Studien erforderlich, ein Umstand, welcher die Erforschung von Impfstoffen von der Entwicklung von Batterien unterscheidet. Um mit einem Medikament am Ende Geld zu verdienen, wurde vorher mit gescheiterten Medikamenten viel Geld verbrannt. Gäbe es nicht die Aussicht auf ein Patent, stünden wir heute ohne Biontech & Co. da. Damit leisten private Unternehmen in dieser Pandemie einen gesellschaftlichen Nutzen.

    Ich will noch etwas grundsätzlicher werden. Patente sind Monopole auf Zeit. Sie geben einem Unternehmen das Recht, eine Erfindung exklusiv zu nutzen. Will ein Konkurrent es ihm gleichtun, muss er dafür Lizenzgebühren zahlen. Geistiges Eigentum einfach plagiieren, steht unter Strafe. Ob das in der Wirtschaftsgeschichte den Fortschritt gefördert oder als Demotivation eher gebremst hat, ist auch unter Liberalen strittig. Mondpreise kann das Patent-Unternehmen nicht verlangen. Wie wir derzeit sehen, verhindert das Patentrecht nicht, dass gleichzeitig mehrere substituierbare Impfstoffe auf den Markt kommen. Dies wirkt als Treiber, schneller ein Medikament zu entwickeln als die anderen (»First mover advantage«). Schon deshalb ist auch fraglich, ob ein Aussetzen der Patente Impfstoffe verbilligen würde.
    Wie kann es überhaupt sein, dass inzwischen eine ganze Reihe von Impfstoffen verschiedener Hersteller auf dem Markt sind – trotz Patentschutz? Jetzt wird es kompliziert. Dafür hole ich mir Rat bei Reto Hilty in München. Er ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Innovation und Wettbewerb und ein weltweit führender Fachmann für das Patentrecht. Hilty stellt klar: Es gibt im Moment noch gar keine erteilten Patente auf Covid-Impfstoffe. Das Prüfen der Patentanmeldung dauert nämlich oft Jahre. Lediglich für die dafür benötigte Grundlagentechnologie (etwa die »Spike-Proteine« der mRNA-Basis) müssen Lizenzen erworben werden. Diese Grundlagentechnologien indes haben noch andere vielversprechende Anwendungsbereiche, etwa in der Krebstherapie. Dass es ein Verteilproblem bei Corona-Impfstoffen gibt, liegt nicht am teuren Patentschutz, sondern hat andere Gründe. Würde man den Patentschutz für Corona-Impfstoffe aussetzen, würde man die weitere Krebsforschung gefährden, während in der Pandemie nichts gewonnen wäre. Fraglich wäre, ob die Forscher sich für künftige Entwicklungen abermals so ins Zeug legen würden wie bei der Entwicklung der Corona-Impfstoffe. Hilty warnt: »Wer in der Corona-Krise am Patentschutz rüttelt, spielt mit dem Feuer.«

    Patente bringen nichts, wenn es an Knowhow fehlt

    Wenn es also nicht an Monopol-Preisen liegt, dass vor allem die armen Länder keinen oder wenig Impfstoff haben, woran liegt es dann? Es fehle im Moment an Produktionskapazitäten und dem Personal mit dem entsprechenden Knowhow, sagt Hilty. Dass das Geschäft relativ kompliziert ist, sieht man schon daran, dass auch Biontech/Pfizer auf Kooperationen mit Novartis oder Sanofi angewiesen ist – immerhin Weltkonzerne. Kenia oder Ghana die Lizenzgebühren zu erlassen, brächte gar nichts: Die Länder könnten trotzdem keinen Impfstoff herstellen.

    Und Indien, jenes Land, das derzeit besonders gebeutelt ist? Indien verfügt selbst über eine starke Pharmaindustrie, die bis vor kurzem Millionen Dosen eines unter Lizenz von AstraZeneca produzierten Impfstoffes profitabel in die ganze Welt exportiert hat. Reto Hilty, mein Gewährsmann, weist darauf hin, dass Indien – die »Apotheke der Welt« – die führenden Hersteller von Generika (Nachahmerprodukten) beherbergt, die von der Aussetzung der Patente finanziell profitieren würden. So unschuldig, wie sie daherkommt, ist die WTO-Initiative also nicht. Für das Leiden Indiens unter der Pandemie sind nicht »böse« Patente verantwortlich, sondern die katastrophale Gesundheitspolitik von Ministerpräsident Narendra Modi.

    Dass jetzt eine Gerechtigkeitsdebatte über das Impfen geführt wird, ist nötig. Sie als Kampf gegen die Patente zu führen, läuft komplett in die falsche Richtung. So lange nicht für die gesamte Weltbevölkerung Impfstoff da ist, nötigt die Knappheit zu Rationierung. Das ist ein ethisches, kein ökonomisches Problem: Wären die Deutschen bereit, aus ihren Steuern bezahlten Impfstoff nach Afrika zu verschenken und dafür zwei oder drei Wochen auf den Piks zu warten?

    Rainer Hank

  • 04. Mai 2021
    Müssen alle Menschen Akademiker werden?

    Lebensziel Master? Foto Brett Jordan/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Natürlich nicht. Aber sie sollten wenigstens darüber nachdenken.

    Als ich jüngst wieder fast gescheitert wäre beim Versuch, einen Nagel in die Wand zu schlagen, erhärtete sich mein Verdacht, eine Welt, die nur aus Kopfarbeitern bestünde, wäre wohl auf Dauer nicht überlebensfähig. Insofern habe ich das neue Buch des britischen Publizisten David Goodhart »Kopf, Hand, Herz« mit großer Sympathie angeschaut. Zugleich ist das hier mein Beitrag zum 1. Mai 2021, an dem man die Gewerkschaften aufrichtig bedauern muss, dass dieser traditionell auf Straßen und Plätzen gefeierte Tag nun zum zweiten Mal zum Streaming-Event verkommt.

    Goodhart startet einen Angriff auf die Welt der Kopfarbeiter. Er findet es nicht in Ordnung, dass sie viel mehr Status und Einkommen erzielen als Menschen im Handwerk und in den sozialen Berufen. Klagen dieser Art fallen in der Corona-Pandemie auf fruchtbaren Boden. In der Krise habe sich gezeigt: Die meisten systemrelevanten Menschen haben kein Studium. Daraus folgert Goodhart: Wir brauchen breitgefächert mehr Eliten, die sich mit Hand und Herz (und nicht nur mit Köpfchen) mutig und integer für die Gesellschaft einsetzen. Die Kritik am »Akademisierungswahn«, so der ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin, hat hierzulande seit Jahren Konjunktur.
    In der Tat wird man über den Alleinvertretungsanspruch des Kognitiven nachdenken müssen. Einseitigkeiten tun keiner Gesellschaft gut. Was sind wir froh über die tüchtigen Schreiner, die uns im vergangenen Jahr eine neue Küche tipptopp montiert haben. Doch stimmt es wirklich, dass ausschließlich die Unstudierten systemrelevant sind? Was ist mit den Ärzten – studierten Handarbeitern gewissermaßen? Was ist mit den Virologen und Epidemiologen? Und was ist schließlich mit den Bio- und Gentechnologen, denen wir die Impfstoffe verdanken, die uns nachhaltig von dem tödlichen Virus erlösen werden? Es wird schon paar Gründe haben, dass all die hier genannten Berufe ein Studium voraussetzen und nicht jeder werkeln kann, wie ihm der Sinn steht.

    Die Dummen an die Macht?

    »Die Schlauen haben zu viel Macht«, tönt Goodhart. Da wird es schief. Will im Ernst irgendjemand lieber in einer Welt leben, in der die Dummen die Macht haben? Ich jedenfalls will das nicht. Und will jemand behaupten, meine Küchenschreiner seien nicht auch schlau? Zugleich steckt hinter der wohlfeilen Klage über den Akademisierungswahn viel paternalistische Sozialtechnologie. Studium und Beruf sind Entscheidungen freier Menschen. In einem Interview erzählt Goodhart, alle seine vier inzwischen erwachsenen Kinder hätten studiert. Ein Sohn sei heute Ingenieur. Da habe sich das Studium gelohnt. Bei den anderen Kindern sei es eher ein Luxus gewesen, »drei Jahre philosophische Texte zu lesen«. Heute würde er ihnen raten, direkt in einen Beruf einzusteigen. Da hätten wir gerne einmal bei den zugehörigen Kindern nachgehört. Philosophische Texte zu lesen hat noch selten jemandem geschadet, finde ich.

    Dass immer mehr junge Leute studieren, entspringt darüber hinaus einem vernünftigen Kosten-Nutzen-Kalkül. Trotz des progressiven deutschen Spitzensteuersatzes bringt jeder höhere Bildungsabschluss hierzulande unter dem Strich zwischen 22 und 64 Prozent mehr Einkommen im Verlauf des Lebens. Das sind Daten des Ifo-Forschers Ludger Wößmann aus dem Jahr 2017. Nicht überall sind die Renditen gleich hoch: Während sich ein medizinisches Hochschulstudium bei Männern während des Erwerbslebens mit einem Plus von fast einer Million Euro auszahlt, sind es in der Sozialarbeit nur noch 20 000 Euro. Aber immerhin. Die Aufwendungen für den Lebensunterhalt während des Studiums (im Schnitt 48 000 Euro) sind darin schon verrechnet. Das ist nicht alles: Das Risiko, während des Lebens arbeitslos zu werden, sinkt signifikant mit einem höheren Bildungsabschluss. Und die Berufszufriedenheit nimmt tendenziell zu, ein Faktor, den man nicht unterschätzen sollte.

    Das Prekariat wird überschätzt

    Apropos Jobzufriedenheit und -sicherheit. Neulich bin ich über eine Untersuchung zweier Ökonomen der London School of Economics vom vergangenen August gestolpert. Die beiden Forscher setzen sich mit der verbreiteten These auseinander, Jobs würden immer unsicherer und der Fall ins Prekariat (»Bullshit-Jobs«) sei für immer mehr arbeitende Menschen unabwendbares Schicksal. Die These knallt schön, lässt sich aber empirisch nicht verifizieren. Im Gegenteil. Nimmt man für Deutschland Zahlen des vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erstellten Sozio-Ökonomischen Panels (Soep) zeigt sich: Der Anteil deutscher Arbeiter, die ihre Jobs in Gefahr sehen, ist heute um fünfzehn Prozent geringer als Mitte der Zweitausenderjahre. Ostdeutschland, gebeutelt nach der Wende, hat inzwischen gleich gute Werte.

    Auch in Amerika sieht es gut aus. Zweidrittel der Amerikaner sagen nach Angaben des »Economist« (10. April), sie seien komplett zufrieden und fänden ihren Job sicher. 1999 waren es nur halb so viel. Nun könnte man sagen, die Menschen neigen dazu, ihre Situation schön zu reden: Sie fühlen sich sicher, obwohl ihr Arbeitsplatz in Wirklichkeit unsicher ist. Doch auch dafür gibt es keinen Beleg, sonst müsste sich die Anzahl der Zeitverträge vergrößert und die Dauer der Befristung verkürzt haben. Warum sich an all dem durch Corona etwas ändern sollte, verstehe ich nicht. Wenn die Pandemie vorbei ist, werden wir kräftig in die Hände spucken und das Bruttosozialprodukt steigern. Auch deutsche Unternehmen suchen derzeit wieder Personal, hat das Ifo-Institut am Mittwoch gemeldet.

    Am 1. Mai 2021 leben wir in der besten aller Arbeitswelten. Die Beschäftigungsquote ist nicht nur hierzulande auf einem Höchststand. In den meisten OECD-Ländern steigen die Löhne. Demographische Knappheit wird den Arbeitern künftig noch mehr Macht geben. 2019 war die Arbeitslosenquote in den reichen Ländern so niedrig wie nie seit 1999. Das muss dann zwingend bedeuten, dass es den Hand- und Herzarbeitern auch nicht ganz schlecht gehen kann, zumindest auch sie von der guten Lage profitieren, selbst wenn ihr Einsatz in vielen Fällen nicht angemessen gewürdigt wird.

    Das alles kann man deshalb nicht laut genug weitersagen, weil der publizistische Mainstream sich lieber an Untergangsszenarien labt. Die »working class« werde ausgebeutet, könne nicht mehr von dem erzielten Einkommen leben, sei enttäuscht und verzweifelt, liest man. Gegen diesen düsteren Hintergrund erstrahlt dann um so heller der Mythos des »Goldenen Zeitalters« der Nachkriegszeit, wo die Löhne des Arbeiters dank starken Gewerkschaften hoch und sein Arbeitsplatz sicher und schön gewesen sei und er auf seine Arbeit habe stolz sein können. Ich erinnere mich an Werksarbeit am Fließband in der Fabrik in den siebziger Jahren, die einfach nur öde und stumpfsinnig war. Das war damals auch der Tenor der soziologischen Arbeitsforschung, welche die Arbeitsteilung am Band als Zustand der Entfremdung analysierte. So heil kann sie damals nicht gewesen sein, die Arbeitswelt, wie sie von heutigen Kapitalismuskritikern beschrieben wird. Dass sie sich inzwischen verbessert hat ist nicht nur, aber auch ein Erfolg der Gewerkschaften.

    Rainer Hank

  • 28. April 2021
    Ein Freund, ein guter Freund

    Bernard (»Bernie«) Madoff Foto Wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Bernie Madoff: Warum vertrauen kluge Leute einem Betrüger?

    Es war am 11. Dezember 2008. Da erhielt die in New York lebende Künstlerin und Journalistin Alexandra Penney einen Anruf von ihrer besten Freundin. »Ich hoffe, es ist nur ein Gerücht«, so die Freundin: »Ich habe gerade gehört, man habe Bernie Madoff ins Gefängnis gesteckt«. In diesem Moment klingelte ihr anderes Telefon, an dem sich der Sohn meldet: »Setz Dich hin, Mama: Madoff ist ein Betrüger.«
    Bernard (»Bernie«) Madoff wurde zu einer Haftstrafe von 150 Jahren verurteilt. Um 65 Milliarden Dollar soll der Mann seine Kunden gebracht haben. Viel Geld, das gar nicht da war. Es ist einer der ungeheuerlichsten, wenn nicht der größte Finanzskandal in der Wirtschaftsgeschichte. Im Vergleich mit Madoff sind die Gauner bei Wirecard blutige Anfänger, allenfalls Lehrlinge. Madoffs Trick ging einfach, es ist das gute alte Ponzi-Schema, zu Deutsch »Schneeballsystem«. Mit dem Geld seiner Neukunden hat der Gauner den Altkunden die versprochene Rendite ausgezahlt. Das geht so lange gut, wie mehr Geld hereinkommt als raus muss. Als im Zuge der Finanzkrise 2008 viele Anleger ihre Einlagen zurückhaben wollten, zeigte sich, dass der Kaiser nackt war. Nach zwölf Jahren Haft ist Madoff jetzt im Alter von 82 Jahren gestorben.

    Alexandra Penney, die Künstlerin und Journalistin, hatte Madoff ihr gesamtes Vermögen anvertraut. Wie hoch die Summe war, hat sie auf Rat ihres Anwalts nie verraten. Ihren Durchbruch hatte die Frau 1981 mit dem Titel »Wie man mit einem Mann Liebe macht« (»How to make love to a man«). Das Buch stand über ein Jahr lang auf der Bestenliste der New York Times. Danach gesellte sich ein Erfolg zum anderen, was es Penney schließlich erlaubte, das Schreiben für Geld dranzugeben und sich gänzlich ihrer Kunst zu widmen. Als Madoff kollabierte gehörten ihr ein Atelier im coolen New Yorker Viertel Soho und ein Appartement – »bescheiden«, wie sie sagt – auf Long Island am Atlantik. Dazu noch ein Cottage in West Palm Beach.

    Dass wir das alles wissen, liegt daran, dass Alexandra Penney – nicht zuletzt, weil sie jetzt Geld brauchte – auf Tina Browns Portal »The Daily Beast« eine Artikelserie über ihre Gefühle nach dem Zusammenbruch Madoffs schrieb. Es ist unter dem Titel »The Bag Lady Papers« als Buch veröffentlicht: »Die Papiere der Stadtstreicherin«. Was Penney erlebte, nennt sie eine »emotionale Hölle«. Sie ist gezwungen, ihre Immobilien zu verkaufen, nimmt sich eine einfache Wohnung – und fährt zum ersten Mal in ihrem Leben mit der Subway. Es gibt Schlimmeres, würden Leute sagen, die es nicht auf die Sonnenseite des Lebens verschlagen hat. Doch Absturz bleibt Absturz, die Wucht des Aufschlags wird von der Fallhöhe bestimmt. Soziologen nennen das den »sozialen Tod«: Zum Verlust des Vermögens kommt bei Alexandra Penney gesellschaftliche Ächtung und Scham.

    Nicht alle Eier in einen Korb

    Über Madoff und seine Psyche ist viel geschrieben worden. Mich interessieren seine Kunden. Warum haben unzählige reiche und kluge Menschen, die in Finanzfragen gebildet sind, ihr Vermögen komplett seinem Fonds überlassen, wo doch jedes Kind weiß, dass man nicht »alle Eier in einen Korb« legt? Warum sind sie nicht hellhörig geworden, als Madoff ihnen nicht einmal verraten wollte, wie er ihr Geld verwaltet. Wer gibt schon einem Vermögensverwalter sein Geld, der Intransparenz zu seinem Geschäftsmodell erklärt? Wiederholte Warnungen eines Whistleblowers stießen bei der Finanzaufsicht SEC auf taube Ohren. Warum?

    Alexandra Penney erzählt, es sei ein »guter Freund« gewesen, der ihr geraten habe, ihr Geld bei Madoff anzulegen. Das Vertrauen dem Freund gegenüber reichte offenbar aus, ungeprüft alles auf eine Karte zu setzen. Ein bisschen Gier wird dazu gekommen sein: Das Versprechen, Jahr für Jahr zehn Prozent zu bekommen und dies mit »sicheren« Anlagen, das wirkt. Dass daran etwas nicht stimmen kann, wird verdrängt. Irgendwann war Penney dann gefangen: Sechs Prozent Schuldzinsen für ihre Immobilienkredite konnten mit Madoffs zehn Prozent Habenzinsen bequem finanziert werden – so lange eben, bis das Kartenhaus zusammenbrach.

    Elie Wiesel, ein berühmter Schriftsteller, der Auschwitz überlebt hat, investierte nicht nur das ganze Kapital seiner wohltätigen Stiftung bei Madoff, sondern zusätzlich sein gesamtes Privatvermögen. Auch Wiesel nennt einen »alten Freund« als Gewährsmann, »ein reicher Mann, nicht aus der Finanzindustrie«, der ihm den Tipp mit Madoff gegeben habe. Der Freund habe am Ende ebenfalls 50 Millionen Euro verloren. Wiesel sagt, er habe sich die Leute angesehen, die bei Madoff investiert waren und festgesellt: »Es sind die besten Adressen der Wall Street.« Entschuldigend fügt er hinzu, er sei kein Finanzgenie, sondern ein Mann, der Philosophie und Literatur unterrichtet. »Und so passierte es eben.«

    Die Lehre des Elie Wiesel

    Die Schneebälle Madoffs flogen von Freund zu Freund. Man befand sich in den gleichgesinnten professionellen und religiösen Milieus. Mehr als ein Drittel der Mitglieder des »jüdischen Country Clubs« in Palm Beach vertraute Bernie Madoff, dem Sohn jüdischer Einwanderer aus Osteuropa. Madoff selbst passte perfekt in diese Umgebung: jüdisch, erfolgreich, vermögend, charmant, intelligent. Die Verluste waren am Ende exorbitant. Carl Shapiro, der »Baumwollkönig von New York«, soll 545 Millionen Dollar verloren haben. Der Philosoph Michael Walzer sagte damals: »Für uns Juden ist es in Ordnung, Geld zu machen – solange dabei kein Betrug im Spiel ist.« Jetzt waren sie alle zu Opfern eines Betrügers geworden und zur Zielscheibe von Judenfeindlichkeit.

    Trau keinem Deiner Freunde, so müsste zumindest eine wichtige Lehre des Madoff-Skandals lauten. Wir sind bereit, unseren Freunden einen Vertrauensvorschuss zu geben und die kritische Überprüfung ihres Rats wenn nicht zu suspendieren, so doch weniger ernst zu nehmen. Ich nenne das die Falle der Loyalität, die in vertrauten Milieus zuschnappt. Wenn der eine Freund sich auf den anderen Freund verlässt, schließt sich rasch ein dritter Freund an. Konformitätskaskaden verleiten zu blindem Vertrauen. Madoff scheint sich diesen Mechanismus zunutze gemacht zu haben. Freunde können in den Ruin führen. Das ist kein Plädoyer gegen Freundschaft. Aber es ist die kontraintuitive Botschaft, dann besonders vorsichtig zu sein, wenn ein Rat von guten Freunden kommt, – die es natürlich stets nur gut meinen.

    In einem Gespräch mit Oprah Winfrey im Jahr 2012, drei Jahre nach dem Ende von Madoff, berichtet Elie Wiesel vom Schock des Vermögensverlustes. Es lohnt sich, das Gespräch bei Youtube zu hören. Er habe seinen Lebensstil ändern müssen, okay, sagt Wiesel: »Wir haben Schlimmeres gesehen.« Madoff habe ihn mit dem »Anderssein des Anderen« (»the otherness oft he other«) konfrontiert, ihm aber nicht den Glauben an die Menschlichkeit genommen. Bei Oprah Winfrey klingt Wiesel versöhnlich. Unter der Wirkung des Schocks drei Jahre zuvor hatte er den Betrüger zu Höllenstrafen verflucht: Madoff solle mindestens fünf Jahre seines Lebens in einer Einzelzelle sitzen, in der es nichts außer einem großen Bildschirm gebe. Darauf muss sich der Betrüger Tag und Nacht die Fotos seiner vielen Opfer ansehen und sagen: »Schau, was Du dieser alten Lady angetan hast. Schau, was Du diesem Kind getan hast.«

    Rainer Hank