Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 30. August 2020
    Das Elend der FDP

    Christian Lindner, FDP-Chef: Wie lange noch? Foto: FDP

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum hat es der Liberalismus bloß so schwer?

    Ist es wirklich eine gute Idee, dass ausgerechnet jener Mann, der 2017 keine Lust zum Regieren hatte, im kommenden Jahr Spitzenkandidat dieser Partei sein wird? Da mag Christian Lindner noch so oft betonen, das nächste Mal sei alles anders. Es wird ihm nichts nützen. Der Wähler wurde damals mit der Formel überrumpelt, »besser nicht als schlecht zu regieren«. Dabei hatten meine liberalen Freunde im Vordertaunus Lindner doch gewählt, damit er gut regiert. Und jetzt sollen sie demselben Mann, der damals davonrannte, noch einmal ihre Stimme geben? Dann doch lieber zur Konkurrenz: Bei Markus Söder besteht keine Gefahr, dass er im letzten Moment den Bettel hinwirft.
    Demokratie, so kann man es in dem klugen neuen Buch des Politikwissenschaftlers David Stasavage »The Decline and Rise of Democracy« nachlesen, ist jenes institutionelle Arrangement, bei dem sich die Herrschenden die Zustimmung zum Regieren bei den Beherrschten abholen müssen. Demokratien setzen aus einer systemisch-sympathischen Schwäche heraus – anders als Autokratien – auf Konsultation und Konsens. Wenn Politiker ein Mandat bekommen, es dann aber nicht nutzen, dann läuft nicht nur strategisch, sondern auch demokratietheoretisch etwas schief: Der Bürger wurde verraten, seine Stimme war am Ende wertlos. Es könnte sein, dass es bei der FDP nicht damit getan ist, die kluge Linda Teuteberg zu feuern, um die Haut des Vorsitzenden zu retten.

    Neu ist die heutige Situation nicht. »Der Niedergang des Liberalismus« war ein Vortrag überschrieben, den der deutsche Liberale Friedrich Naumann (1860 bis 1919) im Jahr 1901 auf dem nationalsozialen Vertretertag in Frankfurt am Main zu halten hatte. Die Liberalen, diagnostizierte Naumann, hätten sich längst im Seelenzustand jener elegisch veranlagten Gemüter eingerichtet, die ans Verlieren gewöhnt seien. Hoffnung, sie könnten einmal als Gewinner dastehen, hatte Naumann wenig.

    An Grabreden gewöhnt

    Der Normalzustand der Liberalen ist offenbar der Niedergang. Bemerkenswert daran ist allenfalls, dass sie es die meiste Zeit vermochten, diesen Zustand ganz ohne vorherige Siege zu erreichen: Abstieg ohne Aufstieg. »Es ist für uns spaßhaft, die Grabreden zu lesen, die man uns wieder einmal hält«, sagt Friedrich Naumann: »Wir kennen das. An solchen Grabreden wächst unser Lebensgefühl.«

    Die Frage, warum es die Lindner-FDP schwer hat, ist mit Verweis auf die Jamaika-Verweigerung im Jahr 2017 relativ leicht zu beantworten: Das hatte einen kontinuierlichen Abfall der Zustimmungswerte von 10,7 auf derzeit rund fünf Prozent zur Folge, mithin jenem kritischen Punkt, an dem abermals der parlamentarische Rauswurf droht wie schon 2013. Schwerer ist es herauszufinden, warum es der Liberalismus hierzulande immer schon so schwer hatte. Denn er ist wirtschaftlich eine Erfolgsgeschichte: was, wenn nicht die Marktwirtschaft ist dafür verantwortlich, dass es uns heute so gut geht? Auch philosophisch ist der Liberalismus eine Erfolgsgeschichte: Was Größeres sollte es geben als die Freiheit, verstanden als Autonomie (Selbstbestimmung) jedes einzelnen Menschen? Das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl etwa? Oder das Paradies auf Erden, genannt Sozialismus? Wenn das die Alternativen wären (ein paar andere hier nicht aufgezählt), dann gilt es doch allemal, für die Freiheit zu sein!

    Noch einmal: Woran liegt es, dass der Liberalismus hierzulande auf keinen grünen Zweig kommt, unabhängig davon, wer gerade den FDP-Vorsitz innehat? Zwei Antworten sind im Umlauf: (1) Der Bürger ist schuld. (2) Die Agenten des Liberalismus vertreten ihre gute Sache nicht gut. Otto Graf Lambsdorff (1926 bis 2009), selbst lange Jahre FDP-Vorsitzender, den ich im Jahr vor seinem Tod gefragt habe, gab den Leuten die Schuld: »Die Deutschen wählen auch heute noch lieber Sicherheit und Gleichheit und nicht die Freiheit.« Er könne verstehen, so Lambsdorff damals, dass die Ostdeutschen mit ihrer DDR-Geschichte so handeln: »Dass aber auch die Westdeutschen so denken und fühlen, ist schrecklich. Überragende Wahlerfolge hatten die Deutschen immer nur nach Zeiten großer Unfreiheit.«

    Angewandt auf unsere Corona-Tage, müsste man Lambsdorffs Antwort so übersetzen: Wenn die Menschen sich um ihre Gesundheit sorgen, wollen sie klare Ansagen, was sie tun sollen und »keine Experimente«. Um die Freiheit kümmern wir uns wieder, wenn die Seuche vorbei ist. In Umfragen der vergangenen Wochen gab es große Zustimmung zu der Aussage, es brauche »strengere staatliche Regeln, um nicht selbst entscheiden zu müssen«. Von oben verordnete Regelbindung mit Sanktionsandrohung durch den Staat – das erklärt, warum Law-and-Order-Leute wie der CSU-Mann Markus Söder als Gewinner der Krise dastehen und warum die Enttäuschung über Söder bei der ersten Test-Panne gleich so groß war. Der starke Mann darf kein bisschen schwach werden. Komplizierte Erwägungen über Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit der harten Freiheitsbeschränkung, ein inszenierter Wettbewerb der Krisenbewältigung im föderalen Wettbewerb – so etwas wollen die Bürger nicht haben, wenn sie um ihre Gesundheit fürchten. Dann wollen sie keine Übungen in Ambiguitätstoleranz, sondern fürsorgliche Verhaltensvorgaben, die, weil allgemeingültig und eindeutig, vertrauensbildend wirken.

    Gefühlsbetonter Antikapitalismus

    Hinzu kommt jene Haltung des »gefühlsbetonten Antikapitalismus«, die schon der FDP-Bundespräsident Theodor Heuss unter den Deutschen ausmachte. Noch nicht einmal auf die Wirtschaft selbst können die Liberalen heute zählen: Unternehmer – erst recht Manager – sind wankelmütige Burschen, die gerne ihr Fähnlein nach dem Wind drehen. Wenn dieser gerade öko-grün bläst, dann stellen sich die Unternehmen nicht dagegen. Denn sie würden sich ja um ihre Geschäfte bringen.

    Doch es wäre nicht redlich – erst recht nicht demokratisch -, den Menschen die Alleinschuld zu geben nach dem Motto: Die Bürger sind nicht reif für Liberalismus, Freiheit und Kapitalismus. Viel spricht dafür, dass die politischen Agenten des Liberalismus gerade in Krisen nicht besonders stark und mutig sind. Vergegenwärtigt man sich, dass Krisen derzeit im Fünfjahreszyklus durch die Welt ziehen – Eurokrise 2010, Flüchtlingskrise 2015, Corona-Krise 2020 – so hatte die FDP nie oder allenfalls zu spät klare liberale Alternativen zum Mainstream zu bieten, einerlei ob sie an der Regierung beteiligt (2010), außerparlamentarisch (2015) oder parlamentarisch (2020) in der Opposition war. Über ein zaghaft-affirmatives »ja, aber« kam die Partei selten hinaus. Dafür ist derzeit nicht nur, aber auch die AfD verantwortlich, die alternative Positionen radikal-populistisch besetzt, womit sie für die FDP verbrannt sind.

    Ob sich die Zustimmungswerte noch einmal verbessern bis zur Bundeswahl? Viel hängt davon ab, ob es der FDP gelingt, die schleichende Bedrohung des grassierenden Nach-Corona-Sozialismus (auch »Altmaier-Sozialismus« genannt) zu problematisieren. Oder haben wir uns bereits zu sehr an eine Wirtschaft gewöhnt, in der mit kollektiven Rettungsschirmen teilverstaatlichte Zombieunternehmen die neue Normalität sind und mit Staatslöhnen (genannt Kurzarbeitergeld) bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag gepäppelte Arbeitnehmer in den Hängematten ihrer Homeoffices gelangweilt auf die Rente warten?

    Rainer Hank

  • 18. August 2020
    Nützliche Illegalität

    Pokerspiel Foto: pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum schummeln Firmen nicht noch viel mehr?

    Als wir neulich im Kreis von Freunden mal wieder über den Wirecard-Skandal plauderten und uns erregten, warum niemand aufgefallen sein will, dass Milliardenbeträge auf asiatischen Konten nicht gedeckt waren – das hätte ja selbst ich gemerkt! -, gab einer in der Runde, Partner einer internationalen Kanzlei, sein Insiderwissen zum Besten: Der Mann hat lange in Russland und in arabischen Staaten gearbeitet und wurde dabei sozusagen auf natürliche Weise zum Experten für Korruption und Bilanzfälschung.

    Korruption, so unser Insider, darf man sich nicht wie bei Karl May vorstellen, wo gebündelte Scheine als Bakschisch den Besitzer wechseln. Bilanzen, das wisse man doch seit dem Enron-Skandal in Amerika, fälsche man am besten durch die Errichtung sogenannter »Special Purpose Entities«, Zweckgesellschaften, bei denen die Leistung und Verschwiegenheit der Geschäftsführer (abgesegnet durch die Wirtschaftsprüfer) »ganz legal« mit Millionen Dollar vergütet werden. Und Schmiergeld, etwa bei großen staatlichen Bauaufträgen, verberge sich in der Regel hinter Rechnungen für Teilgewerke, bei denen von außen schwer zu durchschauen sei, ob eine Leistung wirklich erbracht wurde. Zur Erheiterung der Runde gab unser Anwalt dann noch eine kleine Geschichte zum Besten, wie er einmal sicher gewesen sei, den Schurken auf die Schliche zu kommen, nachdem sich auf der Rechnung für eine Großanlage in der Wüste auch die Lieferung mehrere Kubikmeter Sand gefunden habe. »Jetzt haben wir sie«, so unser Erzähler: Wer Sand in die Wüste liefern lasse, habe sich nun wirklich verraten. Doch leider war dieser Teil der Rechnung korrekt: Wüstensand ist zur Herstellung von Beton nämlich komplett ungeeignet.

    Wenn es also derart kompliziert ist, Regelverstöße dingfest zu machen, muss man sich fragen, warum in unserer Welt nicht viel mehr getrickst, betrogen und bestochen wird und warum die Grauzone zwischen legal, gerade noch korrekt und illegal nicht viel mehr ausgetestet wird. Die beruhigende Antwort könnte lauten: Weil keine Gesellschaft funktionieren würde, gäbe es keinen festen Grundbestand an Werten darüber, was man tut und was man nicht tut. Moral, die Befolgung von Regeln, hätte dann Priorität trotz augenscheinlicher Rationalität eines wenig riskanten Regelverstoßes. Die beunruhigende Antwort dagegen heißt: Woher wissen wir denn, dass es nicht viel mehr Illegalität gibt? Könnte Regelverstoß nicht in vielen Fällen die Regel sein, gerade weil so wenig aufgedeckt wird?

    Tatsächlich spricht einiges für die skeptische Alternative eines großen Feldes grauer Zonen. Bevor man gleich an die großen Skandale denkt, kommen einem all die vielen kleinen Steuergestalter in den Sinn. Wenige werden sich bewusst vornehmen, die Gemeinschaft, den Staat, bewusst zu betrügen. »Ich hatte einfach so viel zu tun und vergessen, mich um alle meine Einkünfte zu kümmern«, so lautete eine gängige Entschuldigung, die Regeltreue und Steuerhinterziehung psychologisch unter einen Hut bringt, wenngleich sie auf sehr wackligen Beinen steht.

    Regelmäßige Regelabweichung

    Der Bielefelder Soziologe Stefan Kühl nennt das – mit einem schönen Begriff Niklas Luhmanns – »brauchbare Illegalität«. Damit wird nicht nur ein Verhalten bezeichnet, das gegen staatliche Gesetze verstößt, sondern auch eine Praxis, die formale Erwartungen in Organisationen verletzt, gegen Compliance-Grundsätze verstößt– und gleichwohl, ausgesprochen oder unausgesprochen von oben geduldet, wenn nicht sogar gefördert wird: denn es ist ja für die Organisation nützlich. Es geht bei »brauchbarer Illegalität« etwa um die Missachtung von Arbeitsschutz- oder Arbeitszeitgesetzen (siehe die Debatte um den Fleischfabrikanten Tönnies), das Überschreiten staatlich vorgegebener Ruhezeiten bei LKW-Fahrern oder die Bestechung von Kunden, um einen Auftrag zu ergattern. Kühl ist überzeugt: Regeln werden in Organisationen regelmäßig gebrochen. Die Regelabweichungen sind so stark in der Organisation verankert, dass Firmenangehörige informelle Erwartungen enttäuschen, wenn sie sich nicht an diesen beteiligen oder sie nicht dulden. Sie sind zentraler Teil der Kultur von Organisationen.

    Der Klassiker solch«brauchbarer Illegalität« spielt im Amerika der Nachkriegszeit: Bei der Montage von Tragflächen für Kampfflugzeuge müssen Schrauben in vormontierte Muttern eingeführt werden. Durch Ungenauigkeiten im Fertigungsprozess gelingt das nicht immer reibungslos. Warum also keinen Gewindebohrer einsetzen, um ein wenig nachzuhelfen? Das ist zwar strikt verboten, weil es dazu führen kann, dass sich die Schrauben leichter lösen – im schlimmsten Fall wäre der Absturz eines Flugzeugs zu befürchten. Trotz des Verbots wird der Bohrer eingesetzt. Jeder Arbeiter hat Zugang zu einem, die Hälfte von ihnen besitzt sogar ein eigenes Exemplar, was einer Status-Aufwertung gleichkommt. Auch die hauseigene Qualitätssicherung duldet den Verstoß. Warum? Weil der Verstoß es möglich macht, die strengen Zeitvorgaben zu erfüllen. Das einzige Problem? Die Kontrolleure der Luftwaffe (intern nennt man sie »Gestapo«): Tauchen sie auf, warnen die Arbeiter einander und lassen die Bohrer so lange verschwinden, bis auch die Kontrolleure wieder verschwunden sind.
    Solche Verstöße sind nützlich und funktional im Sinne des Unternehmenszwecks – sie verkürzen Abläufe, sparen Geld. Oder anders: Man handelt zwar gesetzeswidrig, aber für einen »guten Zweck« (jedenfalls solange die unerlaubte Praxis nicht auffliegt). Die meisten Kollegen wissen davon, ahnen dumpf, dulden stillschweigend. Anders als im Märchen gibt es keinen eindeutigen Schurken, den man hinterher verantwortlich machen könnte. Man will das Unrecht nicht sehen, würde es noch nicht einmal als ein solches benennen.

    Audi-Chef Stadler vor Gericht

    Das Muster kommt uns bekannt vor: Denken wir an die Skandale bei den Banken vor und nach der Finanzkrise, wo Zinsen manipuliert, Steuern in großem Stil unterschlagen und den Kunden zu hohe Gebühren abgeknöpft wurden. Das prominenteste Beispiel aber ist der VW-Skandal, wo eine manipulative Software in den Autos verbaut wurde, um den vorschriftsmäßigen Ausstoß von Stickoxiden zu vorzutäuschen. Bald wird dieser Großversuch nützlicher Illegalität in einem Weltkonzern öffentlich zu besichtigen sein: Im September beginnt der erste deutsche Strafprozess im VW-Skandal gegen den ehemaligen Audi-Chef Hubert Stadler, dem die Staatsanwaltschaft vorwirft, die Softwaremanipulationen nicht gestoppt zu haben, als er davon erfuhr. Eine Anklage gegen Ex-VW-Chef Martin Winterkorn ist dagegen bis heute (noch) nicht vom Gericht in Braunschweig zugelassen worden.

    Werden solche Prozesse an der üblichen Praxis »nützlicher Illegalität« etwas ändern? Soziologe Kühl, dessen Buch »Brauchbare Illegalität«https://campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/soziologie/brauchbare_illegalitaet-16237.html passend zum Stadler-Prozess im September erscheint, ist skeptisch. Für Skepsis spricht nicht nur das geringe Aufdeckungsrisiko und der große organisatorische Nutzen des Regelbruchs, sondern auch die ritualisierte Form der Aufarbeitung der Skandale nach dem Muster: Personalisierung (Schurken vorführen), Skandalisierung (Überbietungsberichterstattung), Moralisierung (»wie böse sind die Menschen«). Kenner und Organisationssoziologen wissen: Nichts verpufft schneller als die öffentliche Empörung.

    Rainer Hank

  • 11. August 2020
    Sind Seuchen sozial?

    New York, 939 Lexington Avenue Foto Tabitha Turner/unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Nein. Die Welt wird nach Corona ungleicher sein.

    Sind Seuchen die »sozialsten aller Krankheiten«? Solche Behauptungen hört man derzeit öfter: Seuchen treffen nie nur den Einzelnen, sondern immer die Gesellschaft als Ganzes. Daraus lässt sich dann ableiten, dass auch alle Menschen gleichermaßen Anspruch haben auf Hilfe, eben weil eine Pandemie wie Covid 19 weder Arme noch Reiche verschont. Ob man diese Nichtdiskriminierung »sozial« nennen sollten, scheint mir eher unangemessen zu sein, zumindest dann, wenn bei »sozial« die Assoziation »solidarisch« oder gar »gemeinnützig« mitschwingt.

    Auch wenn das Virus nicht diskriminiert, der ökonomische Schock, den die Pandemie auf die Welt gebracht hat, tut es durchaus – und zwar in erheblichem Maße. Die Frage ist bloß wie: Wird die Welt nach Corona gleicher oder ungleicher? Folgt man Walter Scheidel, einem an der Universität Stanford lehrenden Althistoriker, müsste Corona die Welt egalisieren. In seinem Buch »Nach dem Krieg sind alle gleich« (englisch: »The Great Leveller«) zeigt er, dass in normalen Zeiten die soziale Ungleichheit zwischen den Menschen stets größer wird, während hingegen schlimme Zeiten wenigstens ein Gutes haben: Sie nivellieren Einkommensabstände. »Schlimme Zeiten«, das sind große Kriege, Revolutionen, dramatische Staatspleiten und eben Pandemien. Sie eint, dass die Vermögen der Reichen vernichtet werden und zugleich ärmere Schichten mehr Geld haben, weil – so zynisch es klingt – nach der Katastrophe weniger Menschen übrig sind, die um Arbeitsplätze konkurrieren. Das Arbeitsangebot ist knapper geworden, die Nachfrage aber wächst in Zeiten des Wiederaufbaus. Der Befund trifft besonders für die Zeit vor hundert Jahren zu, weil damals das Ende des Ersten Weltkrieg und die schreckliche Spanische Grippe in ihrer Wirkung sich überlagerten.

    Die Wahrheit der Kreditkarten

    Gilt also auch: Nach Corona sind alle gleich? Vermutlich nicht. Eher ist zu befürchten, dass Covid19 die Welt ungleicher machen wird und dass vor allem die Ärmeren leiden werden. Die Aktienbesitzer konnten sich nach einem kurzen Schock wieder freuen; ihr Depot erreicht bald wieder die Vor-Corona-Höchststände. Dass die hohe Staatsverschuldung einen Schuldenschnitt für Millionäre mit sich bringt, ist kaum zu befürchten; eher trifft eine Inflation alle, vor allem die Ärmeren. Jetzt schon steigt weltweit die Arbeitslosigkeit, insbesondere bei gering Qualifizierten. Mehr noch: Corona wurde nicht selten aus den reichen Städten der Welt in die armen Länder verschleppt. In den reichen Ölstaaten des vorderen Orients bedeutete der Lockdown, dass Hundertausende Wanderarbeiter aus Indien, Bangladesch oder Indonesien nachhause geschickt wurden mit der Folge, dass sie das Virus in ihre Heimat importierten. Sozial kann man das nicht nennen.
    Doch welche Verteilungswirkung das das Virus in reichen Ländern? Aggregierte Zahlen – Rückgang des Bruttosozialprodukts, steigende Arbeitslosigkeit – bleiben ziemlich abstrakt. Wie soll man sich einen Einbruch der Wirtschaftsleistung um zehn Prozent konkret vorstellen, den die Statistiker für das zweite Quartal in Deutschland errechnet haben?

    Einen faszinierenden Versuch, Verteilungswirkungen konkret zu machen, hat jetzt der Harvard-Ökonom Raj Chetti zusammen mit seinem »Opportunity Insight Team« unternommen. Er greift auf Big Data zurück, um das wirkliche Verhalten von Unternehmen und Menschen in der Krise zu untersuchen. Dazu wertet das Team Daten zum echten Konsumverhalten der Menschen aus, die von Kredit- und Debit-Kartenunternehmen zur Verfügung gestellt werden. Für sensible deutsche Datenschützer muss man sogleich hinzufügen, dass es sich zwar um eine Fülle von Echtzeitdaten handelt, die man am Markt kaufen kann, die aber selbstverständlich alle anonymisiert sind.
    Was kommt dabei heraus? Zunächst: Der größte Anteil der ausbleibenden Wirtschaftsaktivitäten lässt sich auf den zusammengebrochenen Konsum zurückführen. Das wiederum liegt weniger an schwindender Kaufkraft, sondern am coronabedingt verriegelten Angebot insbesondere bei allen personenbezogen Dienstleistungen: Hotels, Restaurants, Reisen, Einkäufe in der Boutique – all das kam zum Erliegen in den Zeiten des harten Lockdowns, was man daran sehen konnten, dass Kreditkarten viel weniger belastet wurden. Es gibt aber einen gravierenden Unterschied: der Konsum der Reichen ging in Amerika im zweiten Quartal 2020 viel stärker zurück als die Geldausgaben der Ärmeren, und zwar proportional wie absolut. Die Reichen reduzierten ihre Konsumausgaben um 3,1 Milliarden Dollar (31 Prozent), die Armen lediglich um eine Milliarde (23 Prozent).

    Nichts gegen die Trickle-Down-Theorie

    Was hat das mit der Ungleichheit zu tun? Viel. Denn dort, wo die Reichen üblicherweise viel Geld lassen – in Restaurants, in teuren Boutiquen oder Hotels, auf Kreuzfahrten – stieg die Arbeitslosigkeit signifikant an. So ist das in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, wo die einen auf die anderen angewiesen sind. Wanderarbeiter werden in ihre arme Heimat zurückgeschickt. Bedienungspersonal in Hotels und Gaststätten der Upper East- oder Westside Manhattans wird in die Arbeitslosigkeit geschickt. 70 Prozent der Arbeiter im Niedriglohnbereich, die in reichen Stadtteilen Manhattans ihre Jobs hatten, verloren ihre Arbeit. Die Arbeitslosigkeit der Bronx nahm hingegen viel weniger zu. Man könnte sagen: Hier hat sich die geschmähte Trickledown-Theorie bewahrheitet. Ärmere sind auf Reichere angewiesen. Wenn die Reichen kein Geld ausgeben können, leiden darunter vor allem die Armen.

    Ein weiteres Indiz dafür, dass die Ungleichheit durch Corona größer wird, zeigen Chettis Daten über die Inanspruchnahme von Bildung, die der Ökonom von Daten verbreiteter Mathematik-Apps bezieht. Während des harten Lockdowns haben sich Collegestudenten allüberall wenig mit Mathematik beschäftigt. Als sich die Lage entspannte, fingen Studenten aus bildungsbürgerlichen Schichten sogleich wieder an, Matheaufgaben zu lösen, während Kommilitonen aus ärmeren Milieus deutlich länger säumig blieben. Das korrespondiert mit einem Befund des deutschen Ifo-Instituts: Nicht-Akademikerkinder und leistungsschwache Schüler fanden in der Krise besonders selten Hilfe zum Lernen.

    Die entscheidende Frage ist jetzt, ob sich die Kluft zwischen Arm und Reiche wieder schließen wird, wenn Corona vorbei ist. Auch hier ist Skepsis angebracht. Unterschiede im Lernverhalten werden ohnehin längerfristige negative Wirkungen haben. Aber auch die Veränderung der Arbeitswelt könnte sich negativ auswirken: Wenn viele gut bezahlte Banker oder Anwälte in Frankfurt künftig häufiger zuhause irgendwo in der Wetterau arbeiten, werden sie nicht mehr in den teuren Restaurants des Frankfurter Westends essen. Und wenn Migranten und Wanderarbeiter als virologisch gefährlich gelten (Tönnies), könnte es sein, dass Schlachtbetriebe aus Kostengründen künftig stärker automatisieren und Roboter die Schweine zerlegen. Ein steigender Mindestlohn – wie hierzulande beschlossen – bei gebremster Globalisierung und reduziertem Arbeitsangebot, würde diesen Trend verstärken.

    Soweit sich die Lage Anfang August 2020 überblicken lässt, sieht es so aus, als ob diese blöde Pandemie noch nicht einmal als Egalisierungsmaschine taugt.

    Rainer Hank

  • 06. August 2020
    Brüsseler Milliarden

    Klio – die Muse der Geschichtsschreibung und des Storytellings Quelle: Wiktionary

    Dieser Artikel in der FAZ

    Hauptsache, man erzählt schöne Geschichten

    Mit 750 Milliarden Euro will die Europäische Union den sogenannten Wiederaufbau Europas nach der Corona-Pandemie fördern. 390 Milliarden davon werden an notleidende Staaten (vor allem Italien und Spanien) verschenkt, während die EU Kredite aufnehmen und Zinsen bezahlen muss, um das Hilfspaket zu finanzieren.

    »Die Investition der EU rechnet sich«, so tönt es jetzt vielfach. Das Geld sei nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch gut angelegt. Die Argumentation geht ungefähr so: Wenn Italien Geld geschenkt bekommt, wird es davon seine Wirtschaft fit machen. Die Firmen dort bekommen wieder Aufträge und stellen Arbeiter ein. Und was machen die mit dem Geld? Die Firmen kaufen deutsche Maschinen und die Arbeiter kaufen einen Mercedes oder einen unserer Volkswagen. Wer bezahlt, bekommt für sein Geld also eine Gegenleistung, so lautet die Botschaft. Die Gegenleistung bestehe darin, dass in Deutschland Arbeitsplätze gesichert werden, weil die Italiener dank der Aufbauhilfe ihre Märkte offenhalten: Deutschland lebe schließlich vor allem vom Absatz seiner Produkte innerhalb der EU.

    Ein Freund aus der deutschen Hochfinanz, mit dem ich diese Brüsseler Hilfslogik jüngst debattierte, schüttelte verdrießlich den Kopf und meinte, das klinge so, als ob mir die Marktfrau erst das Geld in die Hand drücken müsse, mit dem ich ihr anschließend ihre frischen Pfirsiche kaufen könne – eine irgendwie verkehrte Welt, die auf ein wirtschaftliches Perpetuum Mobile setzt. Nun weiß auch mein Freund, dass die Hilfseuropäer nicht ganz so simpel ticken, wie es das Marktfrau-Beispiel unterstellt. Das magische Zauberwort in all solchen Fällen heißt »Hebel«, was in etwa bedeutet: Das nach Italien und Spanien verschenkte Geld zahlt sich vielfältig und mit einer positiven Rendite für uns aus, ist also eine Art Anschubfinanzierung, mit der am Ende der Saldo für Daimler, seine Arbeiter und den indirekt profitierenden deutschen Steuerstaat positiv ist. Man hört es freilich schon mit, das »Hätte, hätte Fahrradkette«: Die Behauptung, das rechne sich, ist sehr stark konditioniert. Wenn Italien es nicht schafft, seine Wirtschaft wettbewerbsfähig zu machen und seine Unternehmen aus dem Geflecht von Vorschriften – vor allem Arbeitsmarktregulierungen – zu befreien, werden die Milliarden aus Brüssel am Ende verpuffen. Und Deutschland kann seine Geldspende abschreiben.

    Narrative reduzieren Komplexität

    Was bleibt dann am Ende von der Aussage, das »rechnet sich«? Leider nur ein »Narrativ«. Das Wort wird seit geraumer Zeit ein bisschen inflationär gebraucht, weshalb man sagen muss, was damit gemeint sein soll. Narrative erzählen Geschichten, damit wir die Welt, in der wir leben, besser verstehen. In diesem Fall also die Geschichte von Italien, das unterstützt werden müsse, damit wir (und nicht nur Italien) bald wieder wirtschaftlich auf die Beine kommen. Narrative konstruieren Wirklichkeit – nicht, indem sie etwas komplett frei erfinden, sondern indem vieles ausgelassen wird, was auch zur Wahrheit gehört, zum Beispiel das Risiko, das Geld könnte verpuffen.
    Alles im Leben hat mindestens seine zwei Seiten. Ein Narrativ begnügt sich mit einer Seite. Denn es verfolgt weniger die Absicht, die Wahrheit zu erzählen, als es vielmehr mit Worten oder Sätzen etwas bewirken will. Im Falle der Brüsseler Milliarden geht darum, Akzeptanz bei den Deutschen für das viele Geld zu schaffen, mithin für den finanzpolitischen Paradigmenwechsel Europas von einer Haftungs- zu einer Transferunion. Altruismus – Ursula von der Leyen: »we are all Italian« – genügt offensichtlich nicht zur Legitimation der Hilfsaktion. Unser Narrativ befriedigt darüber hinaus den deutschen Egoismus, wenn es behauptet, das Geld rechne sich »für uns«.
    Henry James, ein amerikanischer Schriftsteller (1843 bis 1916), hat gesagt, dass man jede Geschichte auf fünf Millionen Arten erzählen kann. Das Narrativ wählt eine davon aus, unterschlägt die anderen. Denn, wie gezeigt, es verfolgt eine wirtschaftspolitische Absicht: Die Deutschen sollen beruhigt werden. Blickt man auf die öffentliche Debatte hierzulande seit dem Brüsseler Mammutgipfel am vorvergangenen Wochenende, dann scheint die Rechnung aufzugehen. Die Erregung hielt sich – jenseits der üblichen Verdächtigen – sehr in Grenzen. Das mag auch an der Wirkung eines zweiten, unterstützenden Narrativs liegen: Wer schuldlos in Not gerät, dem zu helfen ist der Barmherzige Samariter verpflichtet. Auch dieses Narrativ unterschlägt etwas: Dass zwar alle Staaten von der Pandemie geschlagen sind, einige von ihnen aber besser gerüstet waren und angemessener zu reagieren vermochten als andere.

    Die Wirtschaftswissenschaft hat sich lange Zeit um Narrative – Formen des wirtschaftspolitischen Erzählens – wenig geschert. Ihr Element sind die mathematischen Modelle. Seit letztere in der Finanzkrise des Jahres 2008 an Renommee verloren haben, haben auch Ökonomen angefangen, in Nachbardisziplinen auszuschwärmen. Sehr erfolgreich ist hier Robert Shiller unterwegs, ein an der Universität Yale lehrender Ökonom, der im Jahr 2013 den Nobelpreis erhielt. Im Dialog mit Psychologen interessiert Shiller sich dafür, warum der Homo Oeconomicus sich häufig irrational verhält, wenn er zum Beispiel glaubt, die Immobilien- oder Aktienpreise müssten immer weiter steigen, obwohl sie aller Erfahrung nach immer wieder gewaltig einbrechen. Jetzt hat Shiller sich den Nachbarn der Literatur- und Geschichtswissenschaft zugewandt. Sein Buch »Narrative Economics« aus dem vergangenen Jahr gibt es seit ein paar Monaten auf Deutsch, leider unter dem missverständlichen Titel »Narrative Wirtschaft«: Es geht aber um narrative Ökonomik, also darum, wie man mit Geschichten über die Wirtschaft Menschen beeinflusst.

    Wettbewerb im Storytelling

    In einer erfrischenden Naivität, die man sich nur vor Ausbruch von Corona leisten konnte, spricht Shiller von »viralen« Prozessen, mit denen solche Narrative andere »anstecken« und einer »Epidemie« gleich sich ausbreiten. Narrative, so Shiller, sind populäre Geschichten, die absichtsvoll eine moralische Lektion im Gepäck haben, welche die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen der Menschen nachhaltig prägen sollen.

    Shillers Buch sprudelt vor Beispielen solcher die Realität beeinflussender Narrative. Ein Klassiker ist die sogenannte Laffer-Kurve, welche erzählt, dass Einkommensteuersätze von einer bestimmten Höhe an das Steueraufkommen nicht vermehren, sondern schrumpfen. Darauf hat Ronald Reagan in den achtziger Jahren seine gesamte Steuerpolitik gestützt. Hartnäckig hält sich auch seit bald zweihundert Jahren das Narrativ, Automaten und Roboter würden den Menschen dauerhaft die Arbeit wegnehmen. Noch nicht einmal das nachweisliche empirische Dementi (bis Corona gab es hierzulande annährend Vollbeschäftigung) kann solchen Narrativen etwas anhaben.
    Es würde das Leben ärmer machen und wäre fürchterlich naiv, sich eine Welt ohne Narrative zu wünschen. Aber es wäre schon einiges gewonnen, Narrative kritisch lesen zu lernen. Dabei könnten wir die Fähigkeit ausbilden, Gegennarrative zu konstruieren, die das zur Sprache bringen, was die Narrative unterschlagen. Wettbewerb hilft noch immer: Das bessere Narrativ ist der Feind jeder simplen Erzählung.

    Rainer Hank

  • 27. Juli 2020
    Schweinekotelett in Kräutermarinade

    Billiges Schweinefleisch Foto Morgens Petersen/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Billiges Essen macht arme Menschen satt und reich

    Nahrungsmittel sind zu billig. Das hört man jetzt ständig. Die Corona-Masseninfektionen auf den Schlachthöfen gelten als Beweis. Die Begründung geht ungefähr so: Schlecht bezahlte Arbeiter aus Osteuropa verarbeiten unter unwürdigen Arbeitsbedingungen in Massentierfarmen gezüchtete Tiere, bloß damit wir hinterher beim Discounter vier Nackensteaks in Kräutermarinade zum Preis von 2 Euro 89 (alle viere, wohlgemerkt) kaufen können.

    Selbst wenn die Voraussetzungen der Argumentationskette zuträfen, ist dann die Schlussfolgerung korrekt? Wären die Arbeitsbedingungen für Menschen und die Wohlfühlbedingungen für Tiere besser, wenn unsere vier Nackensteaks für den doppelten Preis von 5,78 Euro verkauft würden? Böse Kapitalisten (wie es die Fleischfabrikanten nun einmal sind!) würden doch die höhere Marge sogleich ihren fetten Gewinn aufaddieren, anstatt das Geld an Öko-Bauern und Werkevertrags-Arbeiter weiterzugeben. Allein dieses Gedankenexperiment macht deutlich, dass es ein riskantes Unterfangen ist, die Welt über höhere Preise verbessern zu wollen. In der Wirtschaftsgeschichte war es bislang jedenfalls eher üblich, dass die Welt sich über einen niedrigeren Preis gewandelt hat – zumal dies stets mit einem verteilungspolitischen Fortschritt verbunden war: Teure Dinge können sich nur die Reichen leisten. Billige Waren können Arme und Reiche kaufen.

    »Gute Lebensmittel muss sich in Deutschland jeder Bundesbürger leisten können«, verkündeten deshalb kürzlich Lidl & Co. Der Aufschrei war groß – vor allem von der mächtigen Wohlfahrtsindustrie, die durch die Einmischung der Discounter ihr Geschäftsmodell angegriffen sahen. Wer behaupte, billige Lebensmittel nützten den Armen, verhalte sich zynisch und missbrauche die Sozialhilfeempfänger, konterte der paritätische Wohlfahrtsverband, der kein Problem damit hat, dass Lebensmittel teurer werden: Wenn zugleich die Hartz-Sätze erhöht werden, müssen die Armen sich keine Sorgen machen. Eher schon die reicheren Bürger, die dann nicht nur beim Aldi, sondern auch beim Fiskus mehr Geld auf den Tisch legen müssen, um die Hartz-Sätze zu finanzieren.

    Niedrige Preise sind Treiber des Fortschritts

    In historischer Perspektive haben nicht die Barmherzigkeitsverbände, sondern die Discounter Recht: Niedrige Preise für Lebensmittel sind kein Skandal, sondern der Treiber des verteilungsgerechten Fortschritts. Während im Jahr 1850 hierzulande noch 61 Prozent der Konsumausgaben für Essen und Trinken (und Rauchen) aufgewendet werden mussten, waren es im Jahr 2018 nur noch knapp 18 Prozent. Das gesparte Geld kann für alternative Wünsche ausgegeben werden – Reisen an die Nordsee oder die Miete einer größeren Wohnung. Noch nie hat die Menschheit sich so gut ernährt wie heute. Noch nie mussten so wenige Menschen hungerleiden – trotz der Vermehrung der Weltbevölkerung.

    Es waren vor allem vier große Innovationen, die zur Verbilligung von Lebensmitteln beitrugen. (1) Chemie (vor allem die Erfindung von Nitratdünger) hat die Erträge der Landwirtschaft verbessert. (2) Kapitaleinsatz – die Erfindung von Landmaschinen – hat die Arbeit auf den Höfen und Feldern erleichtert. (3) Massentierhaltung und Lebensmittelindustrie profitierten von Skaleneffekten. (4) Globalisierung vergrößerte das Lebensmittelangebot auf den Märkten und verbilligte die Waren aus aller Welt.

    Dass die Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert zu großen Teilen auch auf der Verbilligung von Lebensmitteln beruht, kann man einer spannenden Arbeit von Sébastian Rioux entnehmen: »The Social Cost of Cheap Food«. Rioux lehrt politische Ökonomie an der Universität von Montreal in Kanada. Er hat die Veränderung der Preise und der Versorgung mit Lebensmitteln im England des Viktorianismus zwischen 1830 und 1914 untersucht. Es waren Straßenhändler in London (genannt »Costermonger«), die zur enormen Verbilligung des Angebots von Fisch, Gemüse und Obst beitrugen. Sie waren zumeist im Verbund einer Kleinfamilie organisiert, wo auch die Kinder arbeiten mussten. Im Jahr 1851, so berichtet Rioux, wurden auf den Märkten Londons Aufzeichnungen zufolge 145 000 Rebhühner, 107 000 Schnepfen, 40 000 Bachstelzen, 313 000 Lerchen, 102 000 Feldhasen, 860 000 Kaninchen und rund eine Million Gänse angeboten. Nebenbei erfährt man hier, welche Vögel der Brite damals als Delikatesse ansah, die es heute nicht mehr in unsere Feinkostgeschäfte schaffen würden. Nach dem Fall der protektionistischen Korn-Gesetze 1847 konnte sich die Globalisierung in England mit preissenkender Macht Raum schaffen: Es gab Butter aus Dänemark, Orangen aus Spanien, Käse und Schinken aus Amerika und Fleisch aus Neuseeland. Fast wie heute, möchte man sagen. Schiffe mit moderner Kühltechnik und ein ständig wachsendes Eisenbahnnetz sorgten für die Verteilung frischer Waren.
    Die armseligsten Gestalten dieser Fortschrittsgeschichte aber sind die erwähnten Straßenhändler, deren Geschichte wie ein Roman von Charles Dickens klingt. Sie mussten die sozialen Kosten des Fortschritts schultern. Schätzungen zufolge gab es Mitte des 19. Jahrhunderts 35 000 dieser Kleinhändler in London. Sie hatten morgens zwischen vier und fünf Uhr an Farringdon Market ihre Waren abzuholen: Das war der Beginn eines langen Arbeitstages, der erst am späteren Abend und mit insgesamt 90 Wochenstunden endete. Der große Traum dieser Lebensmittelhändler bestand darin, sich einen Eselkarren leisten zu können, der ihnen die Arbeit erleichterte. Doch die wenigsten haben es dahin gebracht: ihr Durchschnittseinkommen lag bei zehn Schilling die Woche; ein Wagen kostete zwischen 24 und 40 Schilling.

    Die Massen profitieren, die Straßenhändler darben

    Die Händler mussten sich mit einer geringen Profitmage zufriedengeben, weil der harte Wettbewerb ihnen nicht erlaubte, höhere Preise zu nehmen. Und genau das war die Voraussetzung für den Aufstieg der Massen, folgt man Sébastian Rioux, dem Wissenschaftler aus Kanada. Denn das steigende Nominaleinkommen der Arbeiter im Zuge der Industrialisierung wandelte sich durch die gleichzeitige Verbilligung der Lebensmittel in einen zusätzlichen realen Einkommensvorteil. Die Arbeiter konnten sich diese Lebensmittel leisten und mussten weniger Hunger leiden, weil die Straßenhändler sie ihnen zu Preisen anboten, die deren eigene Lebenslage verschlechterte. Die dialektische Lehre lautet: Der ökonomische und physiologische Fortschritt der Armen seit dem 19. Jahrhundert beruht auf der Ausbeutung einer Teilgruppe der Ärmsten, der Lebensmittelproduzenten und -händler, deren Lage sich nicht verbesserte.

    Ganz offensichtlich hat sich an diesem Muster bis heute nichts geändert, was man nun wirklich nicht feiern muss. Die Löhne in der Lebensmittelindustrie liegen im Vergleich mit anderen Branchen am unteren Ende der Tarifskala. Der Wohlstand der breiten Massen beruht immer noch auf der finanziellen Schlechterstellung der Arbeiter in der Fleischindustrie. Wer daran etwas ändern will, sollte nicht auf Mindestpreise setzen, sondern auf eine humane und strikte Regulierung der Arbeitsbedingungen – und auf eine bessere Integration der osteuropäischen Arbeiter in unsere Gesellschaft, die ihnen den sozialen Aufstieg ermöglicht. So hat es auch bei den Gastarbeitern der sechziger Jahre funktioniert!

    Rainer Hank