Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 01. Dezember 2020
    Alternative für Deutschland

    Traute Einheit: Annalena Baerbock und Robert Habeck Foto: Dominik Butzmann/Die Grünen

    Dieser Artikel in der FAZ

    Kann man die Grünen heute (noch) wählen?

    Es sieht ganz danach aus, als ob es im Herbst 2021 zu einer schwarz-grünen Mehrheit in Deutschland kommen würde. Gewiss, bis zur Wahl im nächsten September fließt noch viel Wasser die Spree und den Neckar hinab. Doch so langsam muss man sich als Bürger ein Urteil bilden. Wer im nächsten Jahr die Konservativen anführen wird, wissen wir nicht. Das Spitzenpersonal der Grünen ist bekannt. Seit dem vergangenen Wochenende gibt es auch ein neues Grundsatzprogramm. Da sind beste Voraussetzungen zu prüfen, was von einer grünen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu erhoffen oder zu befürchten ist. Und ob man die Partei am Ende selbst wählen könnte oder gar sollte.

    Politische Grundsatzprogramme haben einen schlechten Ruf. Papier ist geduldig, heißt es. Das mag sein. Aber Grundsatzprogramme spiegeln auch den Geist einer Zeit, lassen erkennen, aus welcher normativen Grundgestimmtheit heraus die Akteure politisch handeln. Grundsatzprogramme seien »unsere verschriftlichten grünen Wurzeln«, meint Michael Kellner, der politische Bundesgeschäftsführer der Grünen, in einem hübsch verunglückten Bild.

    Drei Programme haben die Grünen in ihrer vierzigjährigen Parteigeschichte geschrieben (hinzu kommt ein Vereinigungstext mit Bündnis90 aus dem Jahr 1993). Das erste Programm von 1980, kurze 47 Seiten lang, beginnt mit einem Paukenschlag: »Wir sind die Alternative zu den herkömmlichen Parteien« lautet der erste Satz, mit dem man sich als eine Art damaliger AfD präsentierte, die nicht nur die drei »Altparteien« herausfordern wollte, sondern auch als radikale Alternative zum Parlamentarismus sich verstand, dessen Repräsentationsprinzip durch eine von der Basis organisierte Direktdemokratie ersetzt werden sollte.

    Das radikal-liberale Manifest von 2002

    Von 1980 war es ein weiter Weg zum nächsten Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2002. Dieser Text, verfasst mitten in den rot-grünen Aufbruchsjahren, ist, heute gelesen, große Klasse und unbedingt zur Lektüre empfohlen, mit 181 Seiten allerdings etwas zu episch: ein radikal-liberales Manifest, das sich affirmativ zu (Direkt)-Demokratie und Marktwirtschaft bekennt. »Wir wollen die Einzelnen stärken und die Gesellschaft, in der sie ihre Freiheit und Verantwortung verwirklichen«, heißt es gleich zu Beginn, ein Satz, der jegliche Trivialität verliert, wenn man sieht, woher die Grünen kommen. Der Text lobt Globalisierung (mit Einschränkungen), Subsidiarität (statt Zentralstaat) und plädiert für sparsamen Ressourcenverbrauch kombiniert mit technischer Innovation und einer marktwirtschaftlichen Effizienzrevolution, um die ökologischen Herausforderungen zu meistern. Klimasorge und Fortschrittsglaube ergänzen sich, Wachstum und Bruttosozialprodukt werden nicht verteufelt. Im Gegenteil: Es findet sich sogar ein Kapitel mit der Überschrift »Marktwirtschaft und Ordnungspolitik«, das die FDP heute Eins zu Eins übernehmen könnte, wenn sie den Grünen nicht gleich das ganze damalige Programm abkaufen will. Selbst die Idee einer »sozialen Grundsicherung« könnten die Liberalen teilen, weil diese nicht »bedingungslos« an alle gezahlt werden sollte, sondern abhängig von Bedürftigkeit, die individuell geprüft wird.

    Dieses Programm von 2002 ist quasi der Agenda-Text der Grünen. Anders als bei der SPD führte er nicht zur Abspaltung der Links-Fundis. Es spielgelt sich darin der damalige Zeitgeist des dritten Weges zwischen Turbo-Kapitalismus und Sozialismus, eben das, was man in Deutschland »soziale Marktwirtschaft« nennt, ein Wirtschaftsverständnis, das der SPD-Finanzminister Karl Schiller in den späten sechziger Jahren auf die Formel »So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig« gebracht hatte. Die Grünen seien jetzt die »Partei des aufgeschlossenen Bürgertums«, kommentierte die den Grünen nahestehende taz damals. Die Kollegin Heike Göbel schrieb in der F.A.Z., die Grünen seien »wirtschaftspolitisch in der Mitte« angekommen.

    Antikapitalismus und Umsonst-Kultur

    Und heute? Heute segelt die Partei gewiss eng am biederen Zeitgeist, aber weit weg vom liberalen Geist. So viel Staat wie möglich und Markt nur dann, wenn unbedingt nötig, so ließe sich das Schiller-Zitat heute abwandeln. Fast wäre es so weit gekommen, dass die Basis den Begriff »Marktwirtschaft« gänzlich aus dem Programm getilgt hätte, ersetzt durch »Gemeinwohlwirtschaft« oder ähnliche Lyrismen. Das wirtschaftliche Wachstum hat es heute wieder ausgesprochen schwer, von einem neuen »Wohlstandmaß« jenseits des BIP schwadroniert der Text. Nicht wenige an der Parteibasis liebäugeln mit den populären Degrowth-Theorien, getreu der asketischen Anfangstradition der Partei. Wohneigentümer will man enteignen, die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank gilt als überholt. Keinen Verzicht soll es lediglich beim Grundeinkommen geben, das »bedingungslos« allen zur Verfügung steht. Auch hier begegnet einem der frühe grüne Illusionismus wieder. Während traditionelle Linke der Auffassung sind, Geld müsse erst erarbeitet werden, bevor es üppig umverteilt wird, regnet es die Euroscheine bei den Grünen direkt von oben herab. Für »Arbeiterkind« Cem Özdemir, der noch weiß, das Leistung und Bildung zusammengehören, blieb angesichts solcher Träume einer Umsonstkultur nur ein enttäuschter Stoßseufzer auf Twitter übrig.

    Wie soll man das grüne Rollback deuten? Ich habe Ralf Fücks, einen altgedienten Fahrensmann der Öko-Partei, um seine Einschätzung gebeten. An der grünen Basis gebe es ein hohes Maß an Unverständnis, was Marktwirtschaft bedeute. Das spiegele einen generellen Trend: »Antikapitalismus is back«, vor allem unter Schülern und Studierenden infolge der Radikalisierung der Klimadebatte. Die schreiende ökonomische Unbildung an Schulen und Universitäten werde durch antikapitalistische Phrasen kompensiert, so Fücks: Das stehe in auffälligem Kontrast zu den Bemühungen der grünen Funktionselite, mit Unternehmensvorständen ins Gespräch zu kommen und Vertrauensbildung zu betreiben. Im »grünen Wirtschaftsforum« drängeln sich inzwischen die Dax-Vorstände.

    Man muss am Ende nicht völlig pessimistisch werden. An der Spitze der Partei ist man offen für Ökonomen wie Jens Südekum, der dringend dazu rät, sich vom Wachstumsglauben nicht zu verabschieden und stattdessen auf die Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch in einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft zu setzen.

    Taktisch und strategisch ist es für eine Partei sicher klug, sich so gut es geht an den Fridaysforfuture-Geist anzuschmiegen. Das Volk selbst will man indessen, anders als früher, lieber nicht abstimmen lassen. Hinzu kommt: Dem neuen grünen Staatspaternalismus wurde von den Merkel-geführten Koalitionen der letzten fünfzehn Jahre ein breiter Weg geebnet. Dass ausgerechnet die Grünen davon abweichen, wäre zu viel verlangt. Anders als früher stehen sich heute auch nicht mehr Fundis und Realos schroff gegenüber. Die Fronten haben sich verschoben: Machwillige Realo-Eliten mit einem charismatischen Führungspaar halten eine links-fundamentale Basis in Schach. Sie wissen, dass sie ihre Regierungschancen verschlechtern, wenn sie der Basis zu weit entgegenkommen.

    Das ändert alles nichts an meinem Fazit: Die Grünen waren zwischendrin einmal eine liberale Partei. Heute sind sie das nicht mehr.

    Rainer Hank

  • 23. November 2020
    Apollos Pfeil

    Römischer Apollo Foto Stuart Yeates/wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Es gibt Hoffnung für die Zeit nach der Pandemie

    In diesen unsicheren Zeiten, in denen wir auf den wöchentlichen Corona-Verhaltens-Ukas aus der Berliner Regierungszentrale warten, wüsste man schon gerne, wie lange dieser Ausnahmezustand noch dauert. Dass die Kanzlerin und die Virologen ihres Vertrauens uns das nicht sagen können, werfen wir ihnen nicht vor. Aber was weiß die Wissenschaft?

    Unter der kaum noch unüberschaubaren Corona-Literatur dieses Jahres fiel uns jetzt »Apollos Pfeil« in die Hände, das neue Buch des Yale-Soziologen Nicholas Christakis über die bleibenden Folgen der Corona-Krise und die Frage, wie wir danach leben werden. Der Titel spielt auf eine Episode am Anfang der Ilias an: Um den Priester Chryses zu rächen, dem Agamemnon die Tochter vorenthielt, sendet Apollon den Achäern mit seinem Pfeil die Pest. »Rastlos brannten die Totenfeuer in der Menge«, heißt es bei Homer. Am zehnten Tag gelang es den Achäern, Apollo zu besänftigen. Man sei bereit, alle Forderungen der Götter erfüllen. Schließlich sei es besser, »dass das Volk gesund ist, als dass es sterbe«, befand Agamemnon.

    Da war man bei Homer mit zehn Tagen Seuche noch einigermaßen davongekommen, wenngleich zu befürchten ist, dass Pandemien damals deutlich schlimmer wüteten als heute, wo wir nun alle zu Verhaltensexperten im Abflachen von Infektionskurven geworden sind. Die Seuchen der Moderne dauern dafür bekanntlich deutlich länger. Die Spanische Grippe zog sich vom Ende des ersten Weltkriegs 1918 in drei Wellen bis 1920. Die sogenannte Hongkong-Grippe, von der geschätzt weltweit zwei Millionen Menschen hingerafft wurden, datiert von 1969 bis 1970, ohne dass öffentlich darum viel Aufhebens darum gemacht wurde.

    Vor dem Kipppunkt

    Woher wissen die Bürger, wann Schluss ist? Wird es eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages ein Gipfeltreffen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten geben, gefolgt von einem Auftritt bei der Bundespressekonferenz, bei dem sie verkünden, am darauffolgenden Montag sei Corona vorbei, weil entweder ausreichend Bürger geimpft oder das Volk hinreichend durchseucht sei? Nein, so muss man sich das nicht vorstellen. Hier endet die ansonsten naheliegende Analogie zwischen Pandemien und Kriegen, bei denen es am Ende einen Waffenstillstand oder Friedensvertrag gibt. Nicholas Christakis – der Forscher ist nicht nur Soziologe, sondern auch Arzt – hat sich das Ende früherer Pandemien angesehen. Da zeigt sich: »Pandemien enden, wenn alle glauben, sie sind vorüber.« Seuchen haben eben nicht nur ein biologisches, sondern auch ein soziales Ende. Das muss man sich vorstellen als Ergebnis eines gesellschaftlichen Diskurses über Nutzen und Kosten der Einschränkungen des Lebens. Irgendwann kommt es zu einem Kipppunkt, an dem die Bevölkerung bereit ist, weitere Infektions- und Todesrisiken in Kauf zu nehmen, um auf der anderen Seite sich wieder ein »normales« soziales Leben mit funktionierenden Theatern, Schulen, Universitäten, Ferien und Familienfeiern gönnen zu können. Der Sozialwissenschaftler sieht, was der naturwissenschaftliche Virologe nicht in den Blick bekommt: Pandemien sind (auch) sozial konstruierte Realitäten, bei denen es um den Umgang mit dem Tod geht. Historisch und geographisch gibt es große Unterschiede, in welchem Ausmaß wir Autounfälle, Suizidraten oder Drogenmissbrauch zu tolerieren bereit sind.

    Und dann? Wird die Welt danach ganz anders sein als vor Corona? Das nicht. Aber ein bisschen anders schon. Umfragen, die freilich unter Corona-Bedingungen gemacht wurden, zeigen, dass die Menschen bevölkerte Plätze oder S-Bahnen zur Rushhour künftig auch dann noch meiden wollen, wenn großflächig Impfungen zur Verfügung stehen. Heimarbeit, so viel scheint inzwischen ebenfalls festzustehen, nimmt deutlich zu. In den Städten könnte es etwas gemächlicher, womöglich auch langweiliger werden, die Suburbs werden aufgewertet. Dass wir uns zur Begrüßung die Hände geben, werde wohl dauerhaft aus der Mode kommen, prophezeit Nicholas Christakis. Vielleicht gewöhnen wir uns wie die Asiaten auch ans Masken-Tragen. Ich persönlich will mich daran nicht gewöhnen.

    Das klänge alles eher traurig, hätte der Soziologe Christakis am Ende nicht noch eine frivole Prognose im Angebot: Wenn die Menschen wieder Vertrauen fassen und glauben, dass das Virus seine bedrohliche Macht über uns verloren hat, werden sie wieder bereit sein, höhere Risiken einzugehen. Wir werden nach dieser Pandemie nicht noch Jahrzehnte als schüchterne Angsthasen durch die Welt hoppeln. Christakis äußert die Vermutung, dass die »Roaring Twenties« im 20. Jahrhundert auch eine Reaktion auf die – kollektiv verdrängte – Spanische Grippe sein könnten. Wer erlebt hat, welchen Verzicht kultureller Ausdrucksmöglichkeiten mehrere Lockdowns bedeuten, entwickelt danach vitale Kräfte, das Leben in vollen Zügen zu spüren.

    Kollektive Katastrophenignoranz

    Deutlicher werden inzwischen auch die Parallelen der Corona-Pandemie der Jahre 2020/2021 zur Finanzkrise 2008/2009. Beide Male liegt der Krise eine merkwürdige kollektive Amnesie und Katastrophenignoranz zugrunde. Vor der Finanzkrise hatten die Menschen munter in Aktien und Immobilien investiert und konnten sich gar nicht vorstellen, dass die Preise auch einmal fallen würden. Die ökonomische Wissenschaft bestärkte sie darin, dass das weltweite Finanzsystem vor größeren Schocks gefeit sei. Der Konjunkturzyklus mit seinen Aufs und Abs galt als weitgehend besiegt. Die Jahre 2008/2009 führten uns dann vor Augen, dass der Kapitalismus ohne Krisen und Katastrophen nicht zu haben ist.

    Ähnlich vertrauensselig hielten wir es mit der Gesundheit. »Krankheitsausbrüche werden im 21. Jahrhundert nicht mehr zu Pandemien führen«, befand der Harvard-Psychologe Steven Pinker in seinem Lob des Fortschritts (»Aufklärung jetzt«) aus dem Jahr 2018: »Fortschritte der Biologie machen es leichter, Krankheitserreger zu identifizieren, Antibiotika zu erfinden und im Nu Impfstoffe zu entwickeln«. Warnungen hat man nur zu gerne überhört: Der Glaube, Pandemien seien ein für alle Mal eliminiert, könnte sich als der größte Irrtum unserer Zeit erweisen, gab das amerikanische Verteidigungsministerium schon 1998 zu bedenken.

    Inzwischen wurden wir eines Besseren belehrt. Sowohl das Finanz- wie auch das Gesundheitssystem bleiben dauerhaft instabil. Das hätte man bei Marx und bei Homer vorher schon lesen können. Aber erst treffen wir auf »unbekannte Unbekannte« (»unknown unknowns«), dann finden wir die passenden Bücher, in denen sie uns erklärt werden.

    Ein großer Fehler wäre es indes, den Glauben an den Fortschritt auf die Müllhalde der Ideen zu verbannen. Langfristig sind die Kosten von Wirtschaftskrisen verdaubar. Nimmt man die aktuellen Kurse der maßgeblichen Börsenindizes oder das robuste Wirtschaftswachstum von 2010 bis 2019 als Indiz, ist daran kaum zu zweifeln.

    Niemand braucht eine Seuche. Doch ähnlich wie aus dem Konjunktur-Zyklus ließe sich auch aus dem Seuchen-Zyklus der Weltgeschichte am Ende eine Fortschrittsgeschichte destillieren: Wir können froh sein, dass das durch die Erfahrung von Pandemien ausgelöste medizinische Wissen uns jene gute Intensivmedizin und Pflege ermöglichen, die die gesundheitspolitischen Folgen von Seuchen heute deutlich milder ausfallen lassen als in Antike und Mittelalter.

    Rainer Hank

  • 17. November 2020
    Herbert Grönemeyer und die Reichen

    Herbert Grönemeyer Foto Wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Früher systemkritisch, heute systemrelevant

    Einen groben Gedanken in eigener Sache, nennt der Sänger Herbert Grönemeyer seinen Vorschlag einer Solidaritätssonderzahlung der Vermögenden in Zeiten von Corona. Das geht so: Die Wohlhabenden erklären sich bereit zu einer zweimaligen Sonderzahlung von Beträgen zwischen 50 000 und 150 000 Euro. Als »wohlhabend« definiert Grönemeyer die 1,8 Millionen Vermögensmillionäre in Deutschland. Verhalten sich alle »solidarisch« und zweigen von ihrer Habe einen mittleren Betrag ab, so kommen ad hoc circa 200 Milliarden Euro jährlich zusammen. Was mit dem Geld passieren soll, wie es verteilt wird, wer alles sich zu Künstlern und Komparsen zählen darf, mit solchen Nebensächlichkeiten hält der Barde aus Bochum sich nicht weiter auf. Ihm reicht zur Begründung des neuen Corona-Solis der Verweis auf die Familienähnlichkeit unserer Gesellschaft – Brüder und Schwestern in einem guten Land halten zusammen, der reiche Onkel alimentiert die arme Nichte.

    Weil Grönemeyer aus guten Gründen seinem Appell an die Freiwilligkeit nicht traut, folgt der Ruf nach dem Staat auf dem Fuße: Die von der Merkel-Regierung angebotene einmalige Kompensation von 75 Prozent des durchschnittlichen Vorjahresumsatzes für den Monat November 2020 reiche bei weiten nicht aus. Das Mindeste, so Grönemeyer, wäre eine dauerhafte monatliche Grundsicherung für die Künstler. Schließlich leiste der Kulturbetrieb viel für den Zusammenhalt der Gesellschaft und habe in Vor-Corona-Zeiten üppig Steuern an das Gemeinweisen abgeführt.

    Nun ist es schon ein wenig putzig, wenn »der kommerziell erfolgreichste Musiker Deutschlands« (Wikipedia) und mutmaßliche Mehrfachmillionär Grönemeyer sich als Verfasser von öffentlichen Corona-Bettelbriefen profiliert. Mit Sicherheit gehört er selbst zu den Corona-Profiteuren. Sein jüngstes Album »Tumult«, das ich beim Schreiben dieser Kolumne gerne gestreamt habe, läuft gewiss nicht nur in meinem Homeoffice. Für jeden Song fallen bei Spotify 0,4 Cent für den Künstler ab, mager im Einzelfall, mit der Zeit läppert es sich. Grönemeyer würde entgegnen, dass er gar nicht egoistisch für die Maximierung seines eigenen Einkommens kämpfe, sondern sich als Anwalt für die Entrechteten verstehe, die keine Stimme haben, um in großen deutschen Magazinen und Wochenzeitungen Gehör zu finden. Die Kunst hat keine Lobby, so heißt es ja immer.

    Spotify-Künstler profitieren von der Krise

    Nun wollen wir gar nicht bestreiten, dass viele Künstler in diesen Tagen leiden. Sie leiden vor allem dann, wenn sie ihre Kunst nicht vor Publikum zu Gesicht und Gehör bringen können. Dabei geht es ihnen um viel mehr als nur darum, ein Einkommen zu erzielen. Man konnte es spüren in den Monaten Juli bis Oktober, welch ein befreiendes Aufatmen Musiker und Zuhörer erfasste, wenn sie sich unter Wahrung des AHA-Abstands wieder näherkommen durften.

    Das alles, wie gesagt, soll nicht bestritten werden. Mit Nachdruck widersprechen will ich aber dem pauschalen Gejammere, Kunst und Künstler seien allesamt Opfer der Pandemie. Falsch ist auch die ständig wiederholte Behauptung, Kultur habe hierzulande keine Lobby. Dreist und billig ist es überdies, mal wieder die Reichen zur Kasse zu bitten. Und gefährlich ist am Ende, die »Kulturschaffenden« als eine Zweck- und Beschäftigungsgesellschaft der Nation zu behandeln, eine Art Unterabteilung des öffentlichen Dienstes.

    Der Reihe nach. Mit 30 Prozent mehr Nutzern und 27 Prozent mehr Dauer-Abonnenten im laufenden Pandemiejahr bei knapp zwei Milliarden Umsatz prahlt der Musikkanal Spotify. Im Branchenreport »Music in the Air« rechnet die Investmentbank Goldman Sachs mit einem jährlichen Wachstum von zwölf Prozent für die Audio-Streamingangebote über die nächsten zehn Jahre. Ähnliche Jubelarien hört man von Netflix, das mit ständig neuen Serien einen Zeitvertreib für die Corona-Abende bietet (mein aktueller Tipp: »Das Damengambit«, und von jetzt an selbstredend die vierte Staffel der »Crown«). Es gibt eben nicht nur Verlierer unter den Künstlern, der Boom der Streamingdienste macht viele zu Gewinnern, ein Gewinn, von dem sie dauerhaft nach der Pandemie profitieren dürften.

    Künstker aks Kulturbeamte?

    Natürlich kompensieren die Spotify-Gewinne nicht die finanziellen Einbußen angesichts abgesagter Live-Konzerte, die seit geraumer Zeit schon als Substitut magerer Plattenerlöse herhalten müssen. Aber eben deshalb erhalten die Kulturleute seit dem Frühjahr öffentliches Geld als »Schadenersatz für untersagte wirtschaftliche Aktivitäten«. Dies dementiert das Gerücht, die Kultur habe keine Lobby. Ihre größte Lobbyistin sitzt in der Regierung und heißt Monika Grütters, die den Titel »Staatsministerin für Kultur und Medien« trägt. Schon im Frühjahr hat sie unter dem Motto »Neustart Kultur« eine Milliarde Euro Hilfsgeld ausgereicht. Die Szene mault, bei der Beantragung gehe es bürokratisch zu. Ein bisschen Bürokratie ist vielleicht nicht falsch, wenn es um Steuergeld geht. Im Jahr 2005 gab die öffentliche Hand für Kultur 373 Millionen Euro aus; für das Jahr 2021 kann Frau Grütters mit knapp zwei Milliarden rechnen. Wenn das kein Lobby-Erfolg ist!
    Damit kommen wir zu den Millionären, die Grönemeyer schröpfen will. Es ist ja nicht so, dass die ihr Geld bisher nur für ihre Villen im Tessin und die Yacht in der Ägäis ausgegeben hätten. Über die steuerliche Progression tragen sie den Löwenanteil des Steueraufkommens. Die reichsten zehn Prozent finanzieren dem Fiskus 57 Prozent seiner Einnahmen. Da die Hochkultur hierzulande stark öffentlich subventioniert wird, landet das Geld der Reichen überproportional bei den Opernhäusern und Theatern. Dort konsumieren die Reichen die Hochkultur, zahlen mit ihren Tickets jedoch nur ein Viertel der tatsächlichen Kosten, profitieren also von jenen Subventionen, die sie selbst zuvor finanzieren. Das Geld fließt, geschleust über die staatliche Fiskalmaschine, von ihrer rechten in ihre linke Tasche, eine Art von Umverteilung innerhalb der Oberschicht, wofür man den Staat eigentlich nicht braucht, wie die Ökonomin Christiane Hellmanzik findet, die viel über die Ökonomik des kreativen Sektors forscht.

    Dieser kreative Sektor neigt indes nicht erst in Zeiten der Pandemie dazu, statt weniger noch mehr Staat zu beanspruchen. Sie betrachtet den Staat als eine Art nachhaltige Künstlerversorgungskasse. Die soziale Marktwirtschaft mit ihren Risiken, aber auch ihren Anreizen und Chancen scheint als Lebensmodell für Künstler keine Attraktivität zu besitzen. Dass die Idee der künstlerischen Avantgarde im Grunde der unternehmerischen Existenz viel näher ist als dem öffentlichen Dienst, wird nicht wahrgenommen. Dabei haben Wissenschaft, Kunst und Unternehmertum viel gemeinsam: Kreative Zerstörung, Einfallsreichtum und Neugier zum Beispiel.

    Die Künstler sollen aufpassen, ob selbsternannte Anwälte vom Typus eines Herbert Grönemeyer ihnen auf Dauer wirklich nützen: Grönemeyer sieht die Kulturschaffenden als Beamte eines öffentlichen Unternehmens im Auftrag der Daseinsvorsorge der Nation. Wer penetrant auf seine Systemrelevanz pocht und daraus die Pflicht zur staatlichen Alimentierung ableitet, läuft zwangsläufig in die Falle einer öffentlichen Bespaßungsindustrie, in der weder Kreativität noch Kritik noch Freiheit einen Platz haben.

    Rainer Hank

  • 10. November 2020
    Zeit der Prohibition

    Alphonse »Al« Capone (1899 – 1947) Foto wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Mit Al Capone unterwegs im Lockdown light

    In Brian De Palmas Film »Die Unbestechlichen« aus dem Jahr 1987 können sich alle, die keine Lust auf James Bond 007 haben, von der Schauspielkunst Sean Connerys überzeugen. Connery ist am vergangenen Wochenende im Alter von 90 Jahr gestorben. In den »Unbestechlichen« spielt er den Straßenpolizisten Jim Malone, der es sich zum Ziel gesetzt hat, im Chicago der Prohibition der Mafia ein Ende zu bereiten. Dafür hat Connery den einzigen Oscar in seiner Karriere erhalten.

    Der Film setzt ein mit einer grandiosen Szene, in der Al Capone (Robert De Niro), der berühmteste Mafioso aller Zeiten, sich auf einer Liege von einem Dutzend seiner Domestiken pflegen lässt. Während der eine den Mafia-Boss rasiert, feilt der andere die Nägel, kümmert ein weiterer sich um die Füße, cremt ein Vierter seine Haut. Gleichzeitig gibt Al Capone aus seiner Wellness-Horizontale heraus den im Halbkreis um ihn versammelten Journalisten Chicagos ein Interview. »Ich bin Geschäftsmann«, so erklärt der Schwerkriminelle sein Business-Modell. Was die Menschen wollen, das wüssten doch alle: trinken. Der freie Markt, so soll man den Mafia-Boss verstehen, hat die Aufgabe, die Bedürfnisse der Menschen zu stillen. Wenn sie nach Bier oder Whisky verlangen, dann wird der Markt ihnen diese Getränke zur Verfügung stellen. Dass der Import von Alkohol zu jenen Jahren strikt verboten war, davon gehört zu haben bestreitet Al Capone nicht. »Die einen nennen es Schmuggel, die anderen nennen es Fürsorge«, so beschreibt er sich als Wohltäter der Menschheit. Als einer der Journalisten ihn am Ende des Interviews darauf anspricht, dass er doch mit ziemlich brutalen Methoden sein Geschäft betreibe, antwortet er nüchtern: »Du kommst mit guten Worten und mit Waffen weiter als nur mit guten Worten.«

    Illegale Märkte: Die Mafia

    Die Mafia als Paradeunternehmen organisierter Kriminalität ist ein Musterbeispiel für das Funktionieren illegaler Märkte. Der Drogenhandel oder die Wilderei wären weitere Beispiele. Illegale Märkte destabilisieren die staatliche Ordnung, können als Märkte aber gleichwohl ziemlich stabil sein. Illegale Märkte gab es immer schon. Sie bilden sich immer dann heraus, wenn die Freiheit der Menschen staatlich eingeschränkt wird. Meist hat der Staat dafür gute moralische Gründe. Deshalb ist ein Blick auf die Prohibition der dreißiger Jahre in unseren merkwürdigen Pandemie-Zeiten nicht vollkommen daneben. Das vergangene Wochenende, die Tage vor dem neuen »Lockdown light« am 2. November 2020, hätten sich angefühlt, wie wenn Silvester und Prohibition zusammenfallen, so war dieser Tage zu hören. Der Eindruck ist nicht falsch.

    Wie kam es zu Prohibition in den Vereinigten Staaten? Am 30. Juli 1917 verabschiedete der amerikanische Senat den sogenannten 18. Verfassungszusatz. Demzufolge war »die Herstellung, der Verkauf oder der Transport von berauschenden alkoholischen Getränken innerhalb der Vereinigten Staaten verboten, desgleichen der Import oder die Ausfuhr derselben.« Fundamentalistische Protestanten hatten sich politisch auf breiter Front durchgesetzt, die schon lange den Genuss von Alkohol verdammten. Alkohol übe eine zersetzende Wirkung auf Familie und Gesellschaft aus, verstoße gegen das göttliche Gesetz und gegen die menschliche Natur. Die frommen Christen untermauerten ihre Thesen mit vielen medizinischen Argumenten. Fortdauernde Trunkenheit werde am Ende zwangsläufig tödlich enden. Das müsse der Staat unterbinden.

    Die Argumente der Alkoholgegner waren nicht falsch. Im Gegenteil. Wer würde es abwegig finden, dass ein Staat seine Bürger vor gesundheitlichem Schaden bewahren will und dafür Verhaltensnormen und Verbote erlässt. Trunkenbolde schädigen nicht nur sich selbst, sondern verursachen externe Effekte, weil sie ihrer Umwelt zur Last fallen – ein klassisches Argument für einen staatlichen Paternalismus. Zum Schutz des Lebens dürfe die Freiheit eingeschränkt werden.

    Vorher noch mal Party feiern

    Doch die Epoche der Prohibition, die in Amerika bis zum Jahr 1933 dauerte, zeigt eben auch: Gut gemeinte staatliche Fürsorge und Verbote haben »unintendierte Konsequenzen«, wie die Politökonomen dies nennen: illegale Märkte, die zugleich der Doppelmoral Tür und Tor öffnen. Drei Monate vor Inkrafttreten der Prohibitionsgesetze füllten die Besserverdiener ihre Keller mit Spirituosen, während die Arbeiter dafür kein Geld hatten. Man kann sagen, die reicheren Amerikaner wollten sich die Party von den frommen Asketen nicht verderben lassen und sorgten auch unter dem Prohibitionsregime für reichlich Gelegenheiten zu »feiern«. Die Pointe besteht darin, dass nicht wenige dieser Feiernden selbst fromme Christen waren. Die halbe Chicagoer Polizei stand zeitweise auf der Payroll Al Capones. Freiheitsbeschränkungen hat ihren Preis: Spirituosen kosteten bis zu zehn Mal so viel wie früher, die Qualität dagegen war lausig. Der Konsum ging zwar zurück, aber längst nicht so sehr, wie der Gesetzgeber sich das erhofft hatte. Viele illegalen Trinker ließen ihr Leben, weil der Fusel aus Industriealkohol und Glyzerin den Körper viel rascher und radikaler zerstörte als normaler Whisky oder Gin.

    Vergleiche hinken. Gleichwohl sind sie lehrreich. Unsere neue Ära der Prohibition heißt: Keine Restaurantbesuche, keine Opern und Popkonzerte, keine privaten Partys schon gar nicht spät in der Nacht mit viel Alkohol. Ein Staat, der aus Gründen der Gesundheitsfürsorge die Freiheit seiner Bürger einschränkt, muss um die »unintendierten Konsequenzen« wissen. Bevor es am 2. November los ging, haben wir noch einmal die Sau rausgelassen. Und auch jetzt wird die Freiheit vier Wochen lang ihre Schlupflöcher in der Subversion und Illegalität suchen. Eine Kanzlerin, deren Hauptaufgabe in diesen schweren Tagen das Loben und Mahnen ihrer Bürger ist, macht sie zu Kindern, die mal gehorchen, mal nicht. Damit ist keinesfalls behauptet, die aktuellen Corona-Maßnahmen seien nicht verhältnismäßig oder gar falsch.
    Sechzehn Jahre lange dauerte die Prohibition in Amerika. Unsere Pandemie geht hoffentlich rascher vorbei. Wie ursprünglich der menschliche Trieb der Freiheit ist, dieser »erste und stärkste Wunsch der menschlichen Natur« (John Stuart Mill), merkt man erst, wenn die Freiheit eingeschränkt wird. Für die Freiheit ist es alles andere als komfortabel, wenn sie dauerhaft nur in der Illegalität zu sich selbst kommt. Rasch wird sie dann zur Beute durchgeknallter Verschwörungstheoretiker, die sie in Verruf bringen.

    Es hilft freilich auch nichts, schadet eher, wenn jetzt einige versuchen, »wahre« Freiheit als Einsicht in Notwendigkeit pandemischer Isolation zu vermarkten. »Nichts ist gewonnen mit der Verwirrung der Begriffe«, sagte der liberale Philosoph Isaiah Berlin (1909 bis 1997) in seiner Oxforder Antrittsvorlesung von 1958: »Ein Opfer vergrößert nicht das, was geopfert wurde, nämlich die Freiheit, wie groß auch das moralische Bedürfnis oder der moralische Gewinn dafür sein wird. Alles ist, was es ist: Freiheit ist Freiheit, nicht Gleichheit oder Fairness oder Gerechtigkeit oder Kultur, oder menschliches Glück oder ein ruhiges Gewissen.« Freiheit heißt: nicht herumkommandiert zu werden. Derzeit werden die Bürger herumkommandiert, ohne Frage für einen guten Zweck.

    Rainer Hank

  • 02. November 2020
    Burger-Krieg

    Rind oder Soja, das ist die Frage Foto Shutterbug/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über die Politisierung unseres Essens

    Soja-Hamburger und Steaks aus pflanzlichen Proteinen dürfen auch künftig Burger oder Steaks genannt werden. So hat es das Europäische Parlament vor kurzem entschieden. Der Antrag, den Begriff Wurst, Schnitzel oder eben Hamburger ausschließlich tierischen Produkten vorzubehalten, fand keine Mehrheit.

    Anhänger des grün-veganen Glaubens quer durch Europa jubelten über diese gewonnene Burger-Schlacht: Der mündige Bürger sei schließlich selbst in der Lage, zwischen einer Frikadelle aus argentinischem Rind und aus Soja zu unterscheiden. Und außerdem, so klang implizit mit, würden über kurz oder lang ohnehin alle Schnitzel und Würste dieser Welt auf solider pflanzlicher Grundlage stehen. Bloß der Bauernverband zeigte sich verstimmt, weil seine Grillware von der Veggie-Fraktion gekapert wurde: »Ein Marketing, mit dem das Original erst in Verruf gebracht und dann in der Bezeichnung kopiert wird, ist unlauter«, so tönte der Generalsekretär des Verbands.

    Am europäischen Burger-Krieg gibt es merkwürdige Veränderungen der Schlachtordnung zu beobachten. Üblicherweise sind es die grün-ökologischen Verbraucherschützer, die für strenge Kennzeichnung unserer Lebensmittel eintreten, während Produzenten und Handel lieber den mündigen Bürger preisen. Beim Fleisch ist es nun umgekehrt: Bauern und Lebensmittelindustrie wollen erreichen, was ihnen bei der Milch vor Jahren schon gelungen ist. Als Milch dürfen nur tierische Produkte verkauft werden, weshalb Soja-Milch verboten ist und als Soja-Getränk vermarktet werden muss. Ein Soja-Schnitzel aber geht durch: der mündige Bürger werde es schon vom Schwein zu unterscheiden wissen.

    »Vegange Erbsenklopse« klingt einfach blöd

    Merkwürdig, dass die vegan-vegetarischen Aktivisten partout die herkömmlichen Namen erhalten wollen, anstatt sich neue, hippe Begriffe für die fleischlose Nahrung der Zukunft auszudenken. Das liegt wohl daran, dass die bisherigen Ideen nicht so recht gezündet haben: Ein »Soja-Brätling« oder eine »vegane Tofu-Rolle nach Art einer Salami« klingt einfach nicht besonders appetitanregend. Alles soll aussehen wie Fleisch, schmecken wie Fleisch und heißen wie Fleisch – mit dem kleinen entscheidenden Unterschied, dass es kein Fleisch im herkömmlichen Sinn ist.

    Gerade der Burger ist auf seinem internationalen Siegeszug nicht zu stoppen, allen Globalisierungskritikern zum Trotz. An allen Ecken unserer Städte wachsen die Hamburger-Bratstationen aus dem Boden, gegen deren guten Klang sich auch die Pflanzenesser nicht immunisieren können. »Beyond Meat«, jenes extrem erfolgreiche, auf vegane Fleischersatzprodukte (Wasser, Erbsenproteinisolat und pflanzliche Öle) setzende, börsennotierte Unternehmen, weiß, dass es Kunden und Investoren auf Dauer nicht glücklich machen wird, wenn es »vegane Erbsenklopse« auf die Speisekarte schreibt. Dass die Freunde einer laxen Kennzeichnungspflicht den Kapitalinteressen eines Konzerns aus Kalifornien in die Hände spielen, wäre undenkbar, würde es sich um McDonalds & Co. handeln. Bei Beyond Meat hat das, soweit ich sehe, bislang niemanden gestört.

    Neben dem Marketing-Aspekt gibt es ein nicht ganz zu vernachlässigendes sprachphilosophisches Problem: Existiert hier eine notwendige Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem dergestalt, dass Fleisch stets auf Schweinisches (respektive Rind, Kalb, Lamm oder Geflügel) verweist? Oder ist das Wort »Fleisch« nur an Akzidentelles – die äußere Form, die Farbe oder den Geschmack eines Schnitzels – gebunden, einerlei welche biochemische Substanz das Mittagessen enthält? Ginge es nicht um einen Modetrend urban-gesunder, wohlhabender Eliten, hätte man früher von Bluff oder gar Etikettenschwindel gesprochen. Aber jetzt ist ja alles für einen guten Zweck.

    Man könnte, wollte man dem betriebswirtschaftlichen, sprachphilosophischen und politischen Aspekt noch eine theologische Komponente hinzufügen, auch von einer Art ökologischer Transsubstantiation sprechen: wie beim Abendmahl aus dem Brot (Weizen) und dem Wein (Trauben) Christi Leib und Blut werden, so wird nun aus einem Burger, für den ein Tier sterben muss, ein veganer Burger, der ernährungsphysiologisch und klimapolitisch uns zum Heil gereicht. Hier breche ich ab, bevor es blasphemisch wird.
    Das Private ist politisch, so lautete ein berühmter Slogan der Achtundsechziger, die freilich mit Essen und Trinken ziemlich unachtsam umgingen. Heute ist die Ernährung eminent politisch geworden. Was einer isst, ist ein Statement: Für das Tierwohl, für das Klima, für die Gesundheit und für die Schönheit. Der Genuss kommt an letzter Stelle. Dass der politische Streit als Kampf um die Begriffe ausgetragen wird, scheint mir im Trend einer Zeit zu liegen, in der man höllisch aufpassen muss, was man sagt. Man kann das als Kultur sprachlicher Sensibilität und Achtsamkeit begrüßen. Man kann es freilich auch als Tod jeglicher Spontaneität und Ausgelassenheit beklagen.
    Kennen Sie Mark Post? Das ist ein Physiologie-Professor von der Universität Maastricht, der jahrelang daran gearbeitet hat, einen Rindfleisch-Burger aus sich vermehrenden Muskelzellen im Labor (also »in vitro« aus Stammzellen) herzustellen. Das war ihm im Jahr 2013 endlich gelungen – allerdings hatte ihn das ganze Experiment am Ende 300 000 Dollar gekostet, ein Betrag, für den Google-Mitgründer Sergey Brin aufkam.

    Leckere In-Vitro-Viertelpfünder

    Inzwischen, so entnehmen wir es der Internetseite »transgen.de«, ist der Preis für In-Vitro-Viertelpfünder drastisch gesunken. Schon bald will Mosameat, das von Post gegründete Unternehmen, »tierfreie« Burger auf den Markt bringen, die auch preislich mit herkömmlichen Fleischklopsen mithalten können. Viele Fachleute erwarten, dass die Umsätze mit diesem Fleisch aus dem Labor langfristig schneller wachsen als vegane Fleischersatzprodukte. Das wäre dann womöglich die Rettung: Wir essen weiterhin tierisches Fleisch, ohne dass dafür ein Tier leiden und sein Leben lassen müsste, ohne dass die Umwelt mit klimaschädlichen Methangasen verpestet würde und ohne dass wir allzu kapriziöse semantische Klimmzüge machen müssten. Freilich handelt es sich bei diesem Kunstfleisch (»cultured meat«) um Gentechnik in Reinkultur, was üblicherweise von der grünen Fraktion als wider die Natur und gefährlich bekämpft wird. Doch gibt es Signale, dass Tierschützer, Vegetarier und Fleischindustrie hier einen gemeinsamen Nenner finden könnten.

    Wie sähe die Zukunft aus? »Varkenshuis« (»Saustall«) heißt ein utopisches Experiment aus den Niederlanden, das sehr spannend klingt. Dort werden glückliche Schweine gehalten, die keine Angst vor einem unnatürlichen Tod haben müssen. Sie suhlen sich behaglich im Schlamm, werden groß und stark. Die Kinder der Nachbarschaft lieben und füttern sie gerne mit artgerechten Lebensmitteln aus ihrer Menschen-Küche. Jede Woche müssen sich die Säue einer kleinen, völlig harmlosen Biopsie unterziehen, aus dem die neue Kunstfleischindustrie, gentechnisch sauber, große Mengen Würste, Schnitzel und Hackfleisch herstellt. Hundert Prozent Schwein – ohne dass ein einziges Schwein dafür getötet werden muss. Und auch der Big Burger dieser neuen Zeit wird hundert Prozent Rind sein, während glückliche Kühe auf den Almen der Alpen zufrieden leben und sterben.

    Rainer Hank