Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
15. November 2024Zwangsarbeit
05. November 2024Totaler Irrsinn
18. Oktober 2024Arme Männer
14. Oktober 2024Christlicher Patriotismus
08. Oktober 2024Im Paradies der Damen
28. September 2024Von der Freiheit träumen
28. September 2024Reagan hätte nie für Trump gestimmt
10. September 2024Das Ende der Ampel
27. August 2024Streit ist das Wesen der Demokratie
27. August 2024Lauter Vizepräsidentinnen
10. Februar 2021
Und vergib uns unsere SchuldenMit Corona lässt sich viel Schindluder treiben
Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, im Dezember 1944, erschien in der angesehenen Zeitschrift »The American Economic Review« ein Aufsatz des Wirtschaftswissenschaftlers Evsey D. Domar. Der Artikel trug den Titel »Die Last der Schulden«. Im Krieg waren Staatsschulden Amerikas auf über hundert Prozent des Bruttosozialprodukts gestiegen; kurz vorher lagen sie noch bei knapp zwanzig Prozent. Grund genug zu fragen, wie solche Lasten je wieder abgetragen werden können.
Domar war damals dreißig Jahre alt und Mitarbeiter der amerikanischen Notenbank Fed. Mit seinem Aufsatz fand er mit einem Schlag öffentliche Bekanntheit. Domar konnte eine typische Immigrantenbiografie des 20. Jahrhunderts erzählen. Geboren im Jahr 1914 im polnischen Lodsch hatte er seine Jugend in der Äußeren Mandschurei in Russland verbracht. 1936 wanderte er in die Vereinigten Staaten aus, studierte an der Universität von Kalifornien in Los Angeles Ökonomie, bevor er 1947 an der Harvard Universität promoviert wurde. Als Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) profilierte er sich als einer der ersten Keynesianer und als Wirtschaftsexperte für die Sowjetunion.
Die Zeit unmittelbar nach dem Krieg, so die Prognose Domars, sei noch das geringste Problem für die Staatsverschuldung. Der Wiederaufbau würde Amerika einen Wachstumsboom und den Menschen Vollbeschäftigung bescheren. In dieser Zeit könnten öffentliche Defizite rasch durch Überschüsse der privaten Wirtschaft finanziert werden. Doch das halte nicht dauerhaft: Dann aber stellt sich die Frage, wann und unter welchen Bedingungen Staatsschulden »tragfähig« sind.
Das Zauberwort: Schuldentragfähigkeit
»Schuldentragfähigkeit« heißt bis heute das Zauberwort der Finanzwissenschaft, das man umgangssprachlich mit »können wir uns leisten« übersetzen könnte. Das ist nicht ganz trivial, setzt es doch voraus, dass Staatsschulden per se nicht schlecht sind, solange sie einem langfristig nicht über den Kopf wachsen.
Interessant sind Domars Annahmen darüber, wie sich wohl die Verschuldung der Vereinigten Staaten mittelfristig entwickeln werde. Realistisch sei ein eher dunkles Bild, schreibt er. Danach würden sich jeweils 25 Jahren Frieden mit fünf Jahren Krieg abwechseln. Damit lag der Wissenschaftler natürlich komplett daneben (so viel zur Prognosekraft der Wirtschaftswissenschaft). Doch man sieht sofort, wie Domar zu seiner Annahme kommt: Genau fünfundzwanzig Jahre liegen zwischen dem Beginn des Ersten und des Zweiten Weltkriegs; beide Kriege dauerten etwa fünf Jahre. Domar befürchtete offenbar, das Muster werde sich wiederholen.
Weltkriege gab es seither zum Glück keine mehr. Doch niemand hat verraten, dass hundert Jahre nach der Spanischen Grippe uns abermals eine weltumspannende Pandemie ereilt. Für die Friedenszeiten beziffert Domar die staatlichen Defizite auf jährlich sechs Prozent, während die Kriegswirtschaft einen Verschuldungsbedarf von 50 Prozent habe. Unter diesen Annahmen würden sich die Schulden bald so rasch vermehren wie das Wirtschaftswachstum: Grund zur Sorge.
Domar nennt für die Schuldentragfähigkeit vier Bestimmungsgrößen: (1) die Defizitquote, welche neue Schulden in Bezug zur Wirtschaftsleistung eines Landes setzt, (2) die gesamte Schuldenquote, (3) die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und schließlich (4) den Zinssatz. Das hat bis heute Bestand. Wichtig zu sehen ist dabei, dass die einzelnen Bestimmungsgrößen nicht unabhängig voneinander sind: Steigende Schulden können zu höheren Zinsen führen, was negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum und auf die Staatsausgaben hat, die vom Schuldendienst aufgefressen werden.
Hätte man Domars Sorgen ernst genommen, hätte es nahegelegen, schon früher eine Schuldenbremse in die Verfassungen zu schreiben. Seit der Nachkriegszeit sind die Schulden nahezu aller Länder gestiegen, in Deutschland von knapp zwanzig Prozent in den fünfziger Jahren auf über achtzig Prozent nach der Jahrtausendwende. Mit Einführung der Schuldenbremse wurde der Bann gebrochen. Die »Last der Schulden« verringerte sich bis zum Jahr 2019, also vor Corona, auf knapp sechzig Prozent der Wirtschaftsleistung, womit sie wieder im Einklang waren mit den Anforderungen des Maastricht-Vertrags.
Corona verdirbt die Sitten
Der Clou der Schuldenbremse besteht darin, dass sie der Politik die willkürliche Verfügungsmacht über die Staatsverschuldung entzieht und sie an Regeln bindet, die, da in der Verfassung verankert, von jeder Regierung befolgt werden müssen. Das Prinzip ist wichtiger als die konkrete Ausgestaltung. Derzeit ist ein jährliches Defizit erlaubt von 0,35 Prozent des BIP. Etwas raffinierter wäre es, die Begrenzung der Neuverschuldung an steigende Zinsen zu binden, wie es der Ökonom Carl Christian von Weizsäcker vorschlägt: Je höher der Zins, umso geringer die erlaubte Neuverschuldung. Denn sonst ist es um die Tragfähigkeit der Schulden rasch geschehen; Staatspleiten drohen. Gottgegeben sind niedrige Zins-Wachstums-Verhältnisse nämlich nicht: Historisch folgten auf Phasen negativer Zins-Wachstums-Differenzen Zeiträume, in denen die Zinsen deutlich über dem realen BIP-Wachstum lagen.
Das alles klingt plausibel und war auch bis vor kurzem vielfach Konsens. Doch richtig gepasst hat der Politik die Schuldenfessel noch nie. Mit Schulden können sie, anders als mit höheren Steuern, den Bürgern Wohltaten bescheren, ohne dass es weh tut. Blumig sprechen sie von einer »Entlastung« für die Zukunft. »Wir dürfen die Erde nicht tot sparen«, heißt eine meiner Lieblingsformulierungen von Umweltministerin Svenja Schulze. Auch viele Ökonomen plädieren inzwischen für ein Zurück zur sogenannten »Goldenen Regel«, die qua Verfassung früher einzuhalten war: Erlaubt war das Schuldenmachen für Investitionen, die einen Nutzen für künftige Generationen haben. Ein ziemlicher Gummiparagraf: Was Investitionen sind, ist nebulös: Der Bau von Straßen gilt als Investition (auch wenn es die Brücke ins Niemandsland ist). Die Finanzierung von Schulunterricht dagegen fällt unter die Kategorie »Konsum«.
Zwar will immer noch die Mehrheit der deutschen Finanzwissenschaftler an der Schuldenbremse festhalten, wie die Sonntagszeitung vergangene Woche erfragt hat. Doch die Gegner finden immer mehr Gehör bei der Politik. Jetzt bietet es sich an, mit der Keule Corona die Schuldenbremse aus der Verfassung zu verbannen. Dass diese Meinung inzwischen auch im Kanzleramt vertreten wird, quasi als Morgengabe für die Koalition der Union mit den Grünen, ist beunruhigend. Übersehen wird dabei der Umstand, dass es gerade ein Erfolg der Schuldenbremse war, dass Deutschland fiskalisch während Corona so stark dasteht.
Corona verdirbt die Sitten. Wenn es ernst wird, ändert man die Regeln, die doch gerade für den Ernstfall gedacht waren. Und wenn es noch standhafte Ökonomen gibt, wie Lars Feld, den Vorsitzenden des Sachverständigenrats, der die Schuldenbremse mannhaft verteidigt, dann droht man solch unabhängigen Beratern mit seiner Entlassung, betrieben von der SPD und schein-unschuldig von der Union beobachtet. Dass die Partei Ludwig Erhards bereit ist, einen Ökonomen wie Lars Feld, weil »zu liberal«, in die Wüste zu schicken, kann man einfach nur schäbig nennen.
Rainer Hank
04. Februar 2021
Freiheit in der Pandemie (II)Wider die Corona-Müdigkeit: Jetzt muss sich zeigen, was Freiheit konkret bedeutet
Die Zeitdiagnostiker beschreiben die aktuelle Phase der Pandemie als »Corona-Fatigue«. Man kann es mit »coronamatt« übersetzen. Im Unterschied dazu erinnern wir die erste Phase im Frühjahr 2020 als »coronaängstlich«. Das ist ein riesengroßer Unterschied: Damals standen wir unter Schock, wollten alle staatlichen Anordnungen brav befolgen und wurden – scheinbar – damit belohnt, dass im Sommer alles gut sein werde. Heute ist die Angst vor Ansteckung angesichts eines Gewöhnungseffekts zurückgegangen. Doch trotz großer Anstrengungen nun schon seit November gibt es keine Erfolgserlebnisse. Mehr noch: Den immer strenger werdenden Mitteln rutschen die Ziele weg. Zwar gehen die Infektionszahlen zurück, aber wir kriegen keine Belohnung dafür. Denn jetzt lugt ja gefährlich die Mutante um die Ecke. Man mag den Mechanismus von Zuckerbrot und Peitsche als kindlich-archaisch beschreiben: Doch er wirkt eben auch bei erwachsenen Leuten. Oder anders gesagt: ist der Anreizmechanismus außer Kraft gesetzt, stellt sich Corona-Mattigkeit ein.
Angesichts der Zermürbung ist es wichtig, dass eine liberale Gesellschaft nicht alle Prinzipien über Bord wirft. Freiheit ist nicht (nur) etwas für Schönwetterzeiten, sondern hat immer Vorfahrt. Wer jetzt von Zero-Covid träumt und alles Leben abschalten will, hat mit der Freiheit gebrochen. Man sagt uns, wir müssten erst mit radikalen Maßnahmen die Freiheit einschränken, damit möglichst niemand krank wird. Wenn das dann wirkt, könnten wir auch wieder über die Freiheit reden. Der gute Zweck – »Bleibt alle gesund« – rechtfertigt im Ausnahmezustand alle Mittel. Das kommt davon, dass wir offenbar immer noch sehr im Dunkeln tappen bei der Frage, wo sich eigentlich die Menschen infizieren. Das Totschlagargument der Freiheitsgegner lautet: Wenn ihr hinterher an oder mit Corona gestorben seid, nützt euch die Freiheit auch nichts mehr.
Wo bleibt die Verhältnismäßigkeit?
Verhältnismäßig ist das alles schon lange nicht mehr, wie Uwe Volkmann, ein in Frankfurt lehrender Professor für Öffentliches Recht, jüngst in der hier in der F.A.Z. geschrieben hat. Verhältnismäßig heißt, die Maßnahmen müssen »geeignet, erforderlich und angemessen sein«. Oder umgangssprachlich: Man soll nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen. Die Freiheit des Einzelnen ist in einem liberalen Land unbegrenzt, solange sie nicht die Freiheit anderer mindert. Die Macht des Rechtsstaates ist dagegen prinzipiell begrenzt. Begründungspflichtig ist der staatliche Eingriff als Ausnahme, nicht die als Regel gesetzte individuelle Freiheit. Dieses Verhältnis von Ausnahme und Regel dient im freiheitsrechtlichen Kontext als Korrektiv, das verhindert, dass die staatliche Befugnis zur Begrenzung der Freiheitsrechte die individuelle Freiheit zu weit zurückdrängt.
Die Rhetorik der Regierung führt zwar stets die Verhältnismäßigkeit im Munde. Aber nur um zu kaschieren, dass man in Wirklichkeit mit Kanonen auf alles schießt, was sich bewegt, weil man gar nicht weiß, wo die Spatzen sitzen. Fragen der Eignung (bringt das etwas?) und der Erforderlichkeit (geht es nicht auch ein paar Nummern kleiner?), fallen unter den Tisch, moniert Uwe Volkmann. Vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bleibt dann nur noch eine ganz abstrakte Abwägung zwischen den verfolgten Zwecken (Schutz der Bevölkerung, Belastung der Kliniken) und der von ihr ausgehenden Beeinträchtigung (im Vergleich zum Zweck ist das immer akzeptabel).
Deswegen ist die Frage, wie wir in der Gesellschaft mit den gegen Corona geimpften Mitbürgern umgehen alles andere als eine Petitesse. Wer geimpft ist, sollte so schnell wie möglich in die Freiheit entlassen werden. Alles andere widerspricht den Kriterien der Verhältnismäßigkeit. Für sie muss Normalität herrschen. Sie arbeiten, reisen, gehen ins Restaurant und in die Oper. Der ökonomische Nebeneffekt: Wirtschaft und Gesellschaft kommen aus dem Stillstand heraus. Der psychologische Nebeneffekt: Freiheit wird für jedermann konkret erlebbar als eine Erzählung der Hoffnung.Die These »Vorfahrt für Geimpfte«, die ich am vergangenen Sonntag auf diesem Kolumnenplatz argumentiert habe, hat ungewöhnlich viel Resonanz gefunden. Ich will hier auf einige Kritikpunkte eingehen.
Müsste es nicht besser heißen: »Freiheit für alle, die immun sind«? Ja, das wäre in der Tat konsequent. Darunter fallen dann auch die vielen Menschen, die die Krankheit überwunden haben und gesund sind. Und alle, die ein aktuelles negatives Testergebnis vorweisen können. Hundert Prozent sicher ist das alles nicht. Da haben die Kritiker Recht. Aber wenn die Freiheit Vorrang hat, dann sollen Geimpfte so lange frei sich bewegen dürfen, bis belastbar erwiesen ist, dass sie trotz Impfung das Virus weitergeben. Ich bin kein Virologe, sagt man heute gerne. Aber ich habe genügend Aussagen von Mainstream-Virologen gelesen, man brauche sich nach derzeitigem Wissensstand keine Sorgen machen, dass die Impfstoffe gegen Mutanten wirkungslos seien. Allenfalls werde die Wirksamkeit etwas reduziert. Im Sinne der Verhältnismäßigkeit gilt: Wir sperren die Bürger ja auch nicht vom Straßenverkehr aus, obwohl es viele Unfallrisiken gibt.
Wer hätte einen Schaden?
Ist es denn gerecht, Geimpfte in die Freiheit zu entlassen, obwohl noch lange Zeit nicht jeder geimpft wird, der das will? Aus Sicht der noch nicht Geimpften mag sich das ungerecht anfühlen. Aber hätten sie außer innerer Genugtuung einen Vorteil davon, dass die Geimpften so lange im Lockdown bleiben, bis alle geimpft sind? Und hätten sie einen Schaden durch die Freiheitsausübung der bereits Geimpften? Dass sich die große Mehrheit der Bevölkerung und sogar die Mehrheit der Impfwilligen dagegen ausspricht, die Geimpften ins Leben zu entlassen, zeigt, wie sehr die Freiheit inzwischen auf den Hund gekommen ist.
Das alles schließt nicht aus, dass über Priorisierung der Impfung gestritten wird. So ist es immer, wenn der Preismechanismus zur Zuteilung von Gütern außer Kraft gesetzt wird und die Bürokratie Schlange stehen anordnet. Wir wollen aus guten Gründen nicht, dass derjenige zuerst an Impfstoff kommt, der am meisten bezahlt. Doch sollen die Geimpften gefangen gehalten werden, weil hinten noch viele in der Impfschlange warten? Das leuchtet mir nicht ein.
Und wie sähe das alles konkret aus? Treu und Glauben werden nicht reichen. Es wird nicht zu vermeiden sein, dass vor dem Betreten eines Restaurants, eines Schuhgeschäfts oder eines Gottesdienstraums der Impfpass, das Testergebnis oder das Genesungs-Zertifikat des Gesundheitsamtes vorzulegen sind. Schön sind Kontrolleure nie. Und natürlich ist nicht auszuschließen, dass der Kneipenbesitzer ein Auge zudrückt. Aber das gilt derzeit generell: Es ist auch anzunehmen, dass der ein oder andere Friseur seine Stammkunden zum Hintereingang reinlässt.
Dass das Freiheitsversprechen Anreize setzt, sich impfen zu lassen und Pharmaindustrie und Staaten unter massiven Druck bringt, ihre Impfstrategie zu forcieren, ist gewollt. Es ist evident, dass die Vorteile des Impfens deren Risiken bei weitem übertreffen. Niemand wird genötigt, sich impfen zu lassen. Solange er eine mögliche Gefahr für die Gesundheit seiner Mitmenschen bedeutet, sind ihm Einschränkungen zuzumuten.
Rainer Hank
27. Januar 2021
Vorfahrt für GeimpfteZwang als Solidarität zu verkaufen geht gar nicht
An ihren Worten könnt ihr sie messen: Es war ein Sozialdemokrat, der Außenminister und Vizekanzler Heiko Maas, der als erster Spitzenpolitiker dafür warb, Bürger, die gegen Corona geimpft wurden, in die Freiheit zu entlassen. Vom neu gewählten Vorsitzenden der CDU, Armin Laschet, war zu diesem Thema nichts dergleichen zu vernehmen. Eine verpasste Chance, finde ich: Laschet hat die Gelegenheit verschenkt, am Start seiner bundespolitischen Karriere konkret zu werden – und zugleich seine Partei einzunorden. In jeder Sonntagsrede betonen CDU-Leute, man sei konservativ, christlich und liberal. Jetzt, wo das liberale Bekenntnis konkret werden könnte, pennt Laschet.
Wäre er gefragt worden, hätte Laschet Maas mutmaßlich entschieden widersprochen und – wie in früheren Interviews – als »obersten Wert« verkündet, es dürfe kein »indirekter Impfzwang ausgeübt« werden. Da zeigt sich ein zutiefst paternalistisches Politikverständnis, dem die Ruhe im Land wichtiger ist als die Freiheit. Aus Angst vor den »Impfgegnern« wird den Geimpften ihre Freiheit vorenthalten. Man sollte hier besser von Diskriminierung der Geimpften statt von Privilegierung reden.
Das Argument für die Freiheit ist nicht kompliziert, hierzulande aber auch nicht sehr beliebt: Freiheit ist in einer liberalen Demokratie der höchste Wert und die logische Voraussetzung aller anderen Werte. Deshalb steht sie auch in der Verfassung an oberster Stelle: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Dieses Recht wird dem Bürger weder vom Staat, noch von sonst jemandem gnädig verliehen. Freiheit ist kein Privileg, sondern Selbstverständlichkeit. Der Bürger hat seine Freiheit quasi immer schon. Der Staat braucht Gründe, wenn er die Freiheit einschränkt.
Schlag nach bei John Stuart Mill!
Ein Geimpfter muss von und vor niemandem geschützt werden. Heiko Maas hat Recht: der Geimpfte nimmt niemandem ein Beatmungsgerät weg. Niemand hat Nachteile. Je schneller die Geimpften wieder in die Kinos, die Restaurants und auf die Skipisten kommen, umso rascher kommen wir auch wirtschaftlich wieder in die Normalität zurück. Doch eher liebäugeln die Politiker mit gesetzlichen Eingriffen in die Vertragsfreiheit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern oder zwischen Gastwirten und Gästen.
Bleiben wir noch kurz beim Grundsätzlichen und rufen als Gewährsmann den großen englischen Freiheitsphilosophen John Stuart Mill (1806 bis 1863) mit seiner Schrift »On Liberty« in den Zeugenstand: Danach ist Freiheit jene Grenzziehung, die es jedermann (eben erst recht auch dem Staat) verbietet, sich in die Entscheidungen und Handlungen der Bürger einzumischen und ihnen Vorgaben zu machen. Freiheit ist das Recht, zu tun und zu lassen, was ich will. Mill fügt sogleich hinzu, dass dieses Recht dann und nur dann eingeschränkt werden darf, wenn die Freiheit des einen den anderen schädigt. Absolute Freiheit findet ihre Grenze an der Freiheit und dem Recht auf Unversehrtheit des anderen.Wie weit der Respekt vor der Freiheit geht, dafür gibt es bei Mill ein berühmtes Beispiel: Ein Ausländer, der im Begriff ist über eine einsturzgefährdete Brücke zu gehen und die warnenden Rufe der Umstehenden nicht verstehen kann, darf zwar von anderen am Weitergehen gehindert werden – aber nur, damit er sich der Gefahr bewusst wird. Ebenso darf ein Selbstmörder an seiner Tat nur gehindert werden, wenn er offenkundig krank und nicht Herr seiner Sinne ist.
Halten wir also zur künftigen Orientierung im politischen Spektrum fest (man muss jetzt ja schon Strichlisten machen für die Wahl im Herbst): Der christlich-konservativen Union ist die Freiheit egal, der gewöhnlich egalitär argumentierenden Sozialdemokratie nicht. Eine Solidaritätsadresse des Kanzlerkandidaten Olaf Scholz an Heiko Maas wäre freilich dringend nötig. Christian Lindner von der FDP, angeblich auch eine Partei der Freiheit, warnt ähnlich wie Laschet vor einer Zweiklassengesellschaft zwischen Geimpften und Nichtgeimpften. Ein klares Bekenntnis zur Freiheit klingt anders; Warnungen vor Zweiklassengesellschaften kommen in der Regel eher von den Linken. Das Wort »Ausgangs-Sperre«, was im Klartext bedeutet, Bürger in ihre Wohnungen einzusperren, kommt vielen Politikern derzeit flüssiger über die Lippen als das Wort »Freiheit«.
Es gilt das Gebot der Verhältnismäßigkeit
Kommen wir jetzt zu den Gegenargumenten und prüfen sie an Mills Freiheitsverständnis: Freiheitsrechte für die Geimpften bedeuten mitnichten einen Impfzwang durch die Hintertür, also keine Einschränkung der Freiheit anderer. Jedermann ist frei, sich nicht impfen zu lassen, muss aber wie sonst auch die Konsequenzen seiner Freiheitsentscheidung tragen. Weil ein nicht Geimpfter potenziell eine Gefahr für Gesundheit und Leben seiner Mitmenschen darstellt (und vice versa), sind ihm Einschränkungen seines Freiheitsgebrauchs zuzumuten, solange sie sich am Gebot der Verhältnismäßigkeit orientieren. Der Freiheitsgewinn wird ein Anreiz, sich impfen zu lassen. Was spricht gegen Anreize?
Ist es aber womöglich ein Gebot der Solidarität, Geimpfte so zu behandeln wie Nicht-Geimpfte? Solidarität mit den Schwächeren? Was hätte ein Nicht-Geimpfter davon, dass einem geimpften Paar Kaffee und Kuchen in der Konditorei verweigert wird? Nichts, außer einer Befriedigung seines Neidgefühls. Das Solidaritätsargument wird auch nicht besser durch den zusätzlichen Hinweis etwa der Kanzlerin, viele Impfwillige müssten noch lange warten, bis sie dran sind. Viel eher ließe sich diese der Not geschuldete Geduldsprobe als Akt der Solidarität bewerben – den Alten und Kranken und dem Pflegepersonal den Vortritt zu lassen ist solidarisches Handeln, eben weil diese Personengruppen von Corona am stärksten gefährdet sind.
Nun zum Vorwurf der Zweiklassengesellschaft. Das Argument ist triftig, denn dahinter steckt viel Wahrheit: Freiheit schafft Ungleichheit. Das ist unvermeidlich. Wer seine Begabung dazu nutzt, ein berühmter Cellist oder ein erfolgreicher Spekulant zu werden, unterscheidet sich danach von all jenen, die es nicht so weit gebracht haben. Wer es mit der Freiheit ernst meint, muss diese Ungleichheit in Kauf nehmen. Sozialisten, Kommunisten und Urchristen wollen das nicht und geben der Gleichheit den Vorzug.
Schließlich zum Totschlagargument, womöglich würden auch Geimpfte das Virus als Transporteur an Nicht-Geimpfte weitergeben. Da tappen die Weisen offenbar tatsächlich noch im Dunkeln. Doch müsste man nicht vom Standpunkt der Freiheit aus den Spieß umdrehen? Die Beweislast haben jene, die den Geimpften zu einem Gefährder machen. Solange das nicht feststeht, hat er frei seiner Wege zu gehen. Ein Generalverdacht allein reicht zur Freiheitsbeschränkung nicht aus. Zumal im Totschlagargument ein Denkfehler steckt: Der Geimpfte trifft in der Freiheit doch nur auf seinesgleichen: andere Geimpfte oder frisch negativ Getestete. Es kann also wenig schief gehen. Oder wollen wir die Freiheit suspendieren, bis die ganze Menschheit immun ist?
Es ist dringend nötig, die Welt wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Impfen, impfen! Testen, testen! Für alle, die geimpft oder getestet sind, tritt der Normalfall der Freiheit ein: Sie können und sollen mit allen, die getestet und geimpft sind, reisen, musizieren, Autos bauen, Feste feiern.
Rainer Hank
18. Januar 2021
Kommen jetzt die Roaring Twenties?Das wird lustig, wenn Corona endlich vorbei ist
In Zeiten des Lockdowns haben wir viel Muße zu sinnen, wie die Welt aussehen wird, wenn diese Pandemie vorbei ist – oder wenigstens so viele Menschen geimpft sein werden, dass ein normales Leben möglich sein wird. Ich jedenfalls, der ich nie ein großer Fernreisender war, sehe mich mehrere Wochen in Südafrika verbringen und anschließend den Lockrufen derer nachzugeben, die mir immer schon von Neuseeland vorschwärmten. In der Nacht sind meine Träume derart bevölkert, dass ich mir beim Aufwachen große Feste vorstelle mit noch den entferntesten Bekannten. Der Caterer bekommt, meinem schwäbischen Naturell zum Trotz, den Auftrag, richtig in die Vollen zu gehen. Später dann schließen sich mindestens zwei Wochen New York an, wo kein einziger Konsumwunsch unerfüllt bleiben soll. Ein Paradox des Corona-Zeit besteht ja darin, mehr Geld zu haben als wir ausgeben können. Vornehm gesagt: Die Konsummöglichkeiten hinken den verfügbaren Einkommen hinterher.
Höre ich mich bei Freunden um, die bislang nicht dafür bekannt waren, das Geld mit vollen Händen auszugeben, scheint es denen ähnlich zu gehen. »Wir wollen es krachen lassen und mit allen Schikanen essen gehen«, whatsappt eine Berliner Freundin. Es ist, als ob wir uns kollektiv zu einer Art von Belohnungskonsum berechtigt fühlen. Käme es so, hätte die Sause den nicht zu verachtenden Nebeneffekt, dass wir uns um die Konjunktur nach Corona keine Sorgen machen müssten: An unserer aggregierten Nachfrage wird es nicht scheitern. Am Angebot wohl auch nicht, denn anders als nach Kriegszeiten können Fabriken und Geschäfte auf der Stelle hochgefahren werden, wenn der Spuk vorbei ist.
Was spricht dafür, dass wir einen derartigen Boom erleben werden? Hört man sich um, so teilen sich die Prognostiker etwa halb und halb in Pessimisten und Optimisten auf. James Rickards etwa, ein sehr erfolgreicher amerikanischer Untergangsprophet, sieht die Welt auf direktem Weg in eine neue »Große Depression«. Hat er recht, wird uns nichts erspart bleiben: Deflation, Schuldenchaos, Arbeitslosigkeit und demographische Verwerfungen lassen uns in seinen Büchern jetzt schon in Abgründe blicken. Rickards beruft sich auf die renommierte Harvard-Ökonomin Carmen Reinhart, die der Ansicht ist, die Zeit nach Corona werde den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ähneln. Das kann heiter werden.
Reaktion auf die Spanische Grippe
Gottlob finden sich auch Optimisten. Nicholas Christakis, ein an der Universität Yale lehrender Sozialwissenschaftler, deutet die »Roaring Twenties« des 19. und 20. Jahrhundert als eine Reaktion auf die Spanische Grippe 1918 bis 1920. Wer damals erlebt hat, welchen Verzicht kultureller Ausdrucksmöglichkeiten mehrere Lockdowns bedeuten, entwickelte vitale Kräfte, das Leben in vollen Zügen zu spüren. Dem schließt sich Klaus Kaldemorgen an, ein erfahrener Fondsmanager Deutschlands: »In den Goldenen Zwanzigern gab es einen gewaltigen Börsenaufschwung, nachdem die spanische Grippe überwunden war«, sagt er im Gespräch mit der F.A.S.
Alles hängt davon ab, ob wir als Referenzjahr zu heute wie die Pessimisten das Jahr 1930 nehmen oder wie die Optimisten das Jahr 1920. Stehen wir – wirtschaftshistorisch gesehen – vor den Zwanziger- oder den Dreißigerjahren? Wenn mein »Wunschdenken« die Realität bestimmen könnte, wüsste ich, wie es ausgeht. Wer Recht hat, wissen wir erst in zehn Jahren. Aber nach spekulativen Plausibilitäten können wir fahnden.
Nachfrage bei Harold James, einem Professor der Universität Princeton, der viel über die Wirtschafts- und Finanzgeschichte des 20. Jahrhunderts geforscht hat. Harold James outet sich als Optimist. »Wir werden die Segnungen der Globalisierung zurückgewinnen«, mailt er mir und verweist auf seine Forschungen zur Frage, wie sich die Wirtschaft nach sogenannten Angebotsschocks entwickelt hat. Allemal, so das Resultat des Wissenschaftlers, wurde die weltweite Vernetzung der Wirtschaft nach solchen Krisen nicht etwa beschnitten, sondern sogar noch ausgeweitet – mit positiven Auswirkungen für den Wohlstand der Menschen.
Return to Normality
Dieser Wohlstandsgewinn lässt sich an der Dekade zwischen 1920 und 1929 im Detail nachzeichnen. Der amerikanische Politiker Warren G. Harding (1865 bis 1923), ein Republikaner, wurde 1921 zum Präsidenten gewählt mit dem Slogan »Return to Normality«, zurück zur Normalität. Damit traf er offenbar einen Nerv der Zeit, ein optimistisches Grundgefühl eben. Die Wirtschaft entwickelte sich prächtig. Die Amerikaner, bis dahin eher calvinistisch-sparsam, entwickelten große Freude am Geldausgeben und hatten auch keine Scheu, auf Pump zu konsumieren. Henry Ford kam kaum mit der Fließbandfertigung seines T-Modells kaum nach. Waschmaschinen, Kühlschränke, Bügeleisen und Nähmaschinen galten unter den Hausfrauen als der neueste Schrei. Die Erfindung der Werbung sorgte dafür, dass die neuen Produkte auch überall im Land bekannt und als begehrenswert erachtet wurden. Vor dem Krieg hatten sich nur die Reichen Aktien geleistet, jetzt wurde die amerikanische Börse ein Tummelplatz für jedermann. Teure Mode verführte Männer wie Frauen. Das öffentliche Leben blühte überall auf. New York wurde zur Hauptstadt des Jazz (Louis Armstrong, Duke Ellington); Hollywood entwickelte sich zur Welthauptstadt der Filmindustrie. Wer es genauer haben will, braucht bloß »The Great Gatsby«, den 1925 veröffentlichten Roman von F. Scott Fitzgerald zu lesen.
Das Deutschland der zwanziger Jahre war alles in allem nicht ganz so glamourös. Aller heutigen Mythen zum Trotz war Berlin kein Babylon. Autos oder Haushaltsgeräte für jedermann gab es erst im Wirtschaftswunder nach dem zweiten Weltkrieg. Das Wohlstandsgefälle zwischen Amerika und Deutschland war viel größer als heute Aber gleichwohl: Auch Deutschland blühte auf, und das war nicht nur eine Scheinblüte, wie manche Historiker meinen. Schon bald waren Produktion und Einkommen wieder auf das Vorkriegsniveau angestiegen. Massenkonsum und Massenunterhaltung wurden zur Signatur der Zeit; zugleich leisteten es sich die Deutschen, Bismarcks Sozialstaat weiter auszubauen.
Natürlich können die zwanziger Jahre in Deutschland und Amerika nicht zur Blaupause für unsere Zeit übernommen werden. Vor allem fehlen uns heute die in die Massenproduktion eingehenden technischen Innovationen von damals; der zu erwartende Digitalisisierungsschub nach Corona wird das nicht leisten. Aber das optimistische Grundgefühl könnte jener positiven Stimmung von damals ähneln. Stimmungen und Gefühle als Konjunkturtreiber – die berühmten »animal spirits« von John Maynard Keynes – sollte niemand unterschätzen.
Beckmesser werden jetzt daran erinnern, wie die zwanziger Jahre endeten: mit einem schlimmen Börsencrash im Oktober 1929, gefolgt von Schuldendeflation, Bankenkrise, Arbeitslosigkeit, den barbarischen Nazis und einem schrecklichen Krieg. Doch Geschichte muss sich ja nicht komplett wiederholen. Wir – geleitet von klugen Fiskal- und Geldpolitikern – hätten ja noch bis 2029 Zeit dafür zu sorgen, dass es dieses Mal besser endet. Ich jedenfalls hätte nichts dagegen, wenn ein deutscher Kanzlerkandidat des Jahres 2021 – ähnlich wie damals Warren G. Harding – mit dem Wahlspruch »Auf in die wilde Normalität« in den Kampf zöge. Meine Stimme hätte er.
Rainer Hank
12. Januar 2021
Hans im UnglückWer zu spät kommt, taugt nicht zum Spekulanten
Dass ich zum Spekulanten nicht tauge, hat mir diese Corona-Krise wieder einmal eindrücklich vor Augen geführt. Wenn wir schon unter dieser gottverdammten Pandemie leiden, so dachte ich, dann ließe sich zur Entschädigung nach Wegen am Aktienmarkt suchen, davon wenigstens finanziell zu profitieren. Doch da ging es mir nicht anders als der EU, die im Sommer vor der Frage stand, welches Pharmaunternehmen als erstes mit einem Impfstoff auf den Markt kommen würde. Dass Biontech das Rennen machen würde, konnten nur Hellseher wissen. Und als man es dann wusste, war es zum Investieren zu spät, weil die Kurse längst durch die Decke gingen.
Was mir nicht in den Sinn kam, war eine alte Spekulanten-Weisheit aus den Zeiten des amerikanischen Goldrausches. Statt in Goldminen zu investieren, empfiehlt es sich, Aktien der Schaufel- oder Siebhersteller zu kaufen. Denn Schaufel und Sieb braucht jeder Goldsucher, einerlei, ob er am Ende fündig wird oder nicht. Wer stellt eigentlich die Gläschen her, in die jetzt die Impfdosen abgefüllt werden? Woher kommen die Milliarden an Spritzen? Und wer fertigt die Kühlaggregate, die den Biontech-Impfstoff auf minus 70 Grad eisgekühlt halten? Das sind die Schaufelhersteller der Corona-Pandemie.
Nun gut, der Schaufel-Einfall kam mir ebenfalls nicht. Besser gesagt: er kam mir erst, nachdem ich einen Artikel im F.A.Z.-Finanzteil darüber gelesen hatte. Und da war es dann abermals zu spät und die Gerresheimer-Aktie (Glasfläschchen) schon viel zu teuer. Merke: Wer zu spät kommt, taugt nicht zum Spekulanten.
Wer weiß, was ein ETF ist?
Mein einziger Trost: Ich bin in allerbester Gesellschaft. »Geld können wir immer brauchen«, schreibt mir dieser Tage eine Bekannte. Aber um die Geldkompetenz – vornehm »financial literarcy« – steht es in unseren aufgeklärten Zeiten zum Trotz nicht zum Besten. Gerne würde ich die Wette machen, wie viele W3–Professoren deutscher Universitäten wissen, was ein ETF ist. Nicht sehr viele, vermute ich. Empirisch gut untersucht sind die sogenannten »Big-Three«-Fragen: Da soll man zum Beispiel sagen, ob aus hundert Euro bei einem Zinssatz von zwei Prozent in fünf Jahren exakt 102 Euro oder mehr oder weniger als 102 Euro geworden sind. Lediglich jeder zweite Deutsche beantwortet diese Frage richtig. Kleiner Trost: In Italien kennt nur jeder Vierte die Antwort.
Vieles spricht dafür, dass Geld-Kompetenzen ähnlich wie Klavier- oder Fußballspielen in frühen Jahren erworben werden. Bei uns zuhause galt wie in vielen Familien der Grundsatz, dass man über Geld nicht sprach. Mein Vater hat nie verraten, was er verdient. Ich sah bloß, dass es immer knapp war.
Eine schöne Geschichte erzählt Patrick Jenkins, stellvertretender Chefredakteur der britischen Wirtschaftszeitung Financial Times. Aufgewachsen im Süden von Wales als Kind eines Musiklehrers und einer Psychologin hätten seine Chancen ziemlich schlecht gestanden, dass aus ihm einmal ein Finanzexperte würde. Doch zu seinem sechzehnten Geburtstag erhielt Patrick ein Geschenk von seinem Vater: British-Telekom Aktien im Wert von hundert britischen Pfund, ausgegeben anlässlich der Privatisierungswelle in den Thatcher-Jahren. Die Folge: Patrick Jenkins studierte täglich aufmerksam die Kursseiten des Daily Telegraph, freute sich über jedes Pfund, das sein kleines Depot an Wert zunahm. Und, was noch mehr wert war, fortan wusste er Bescheid. Das, so sieht er es selbst, war die Voraussetzung dafür, dass er heute an der Spitze einer der wichtigsten Finanzzeitungen der Welt steht.
Es gab in Deutschland viele Eltern und Patenonkel, die nach dem Fall des Postmonopols in den neunziger Jahren ein kleines Päckchen Telekom-Aktien von Ron Sommer den Neugeborenen als Taufgeschenk mitbrachten. Das ist gründlich schief gegangen. Aus Schaden wird man nicht in jedem Fall klug: Seither halten sich viele Deutsche von Aktien fern.
Das Hans-im-Glück-Syndrom
Es gibt eine noch gefährlichere Art finanzieller Unbildung, die auf den ersten Blick als kompetentes Expertentum daherkommt, am Ende aber geradewegs in die Katastrophe führt. Dazu lohnt die Lektüre der vor Kurzem unter dem Titel »Glücksritter« erschienenen »Recherche über meinen Vater« des Berliner Schriftstellers Michael Kleeberg. »Mein Vater hatte immer Pech gehabt, wenn es um Geld gegangen war oder immer die falsche Entscheidung getroffen.« Dabei sei Geld eigentlich zuhause ein großes Thema gewesen, lässt der Rechercheur uns wissen: schon als kleines Kind redeten die Eltern in seiner Gegenwart darüber. Stolz gab sich der Vater, dass er keine »Lohntüte« erhielt, die der Sohn sich wie ein konusförmiges Papiertütchen vorstellte, sondern ein »Gehalt«. Das Gehalt, ausgezahlt am 15. des Monats, erhebt den Angestellten über den Arbeiter, der erst am Monatsende seinen Lohn bekommt.
Der Angestellte dünkte sich etwas Besseres und wollte mehr. Vater Kleeberg machte sich auf den Weg vom Kleinbürger zum Kleinunternehmer – und scheiterte dramatisch. Ein Geschäftspartner, dem er blind vertraute, hatte ihn arg über den Tisch gezogen – am Ende war all sein Geld weg. Um Scham und Schande auszuwetzen stürzte er sich in immer neue finanzielle Abenteuer: In späten Jahren fiel er gar Betrügern zum Opfer, die ihn mit sogenanntem »Vorschussbetrug« abzockten. Der Trick dabei: Bevor das »Versprechen« eines Millionengewinns eingelöst wird, werden die Opfer zu einer »Vorauszahlung« gedrängt. Die versprochene Leistung bleibt jedoch aus. Erst spät war der Sohn dahintergekommen; zehn Millionen Euro hatte der Betrüger dem Vater versprochen, 15000 Euro hatte der Vater ihm dafür als Vorschuss in den Rachen geworfen.
Unverstanden bleibt dem Sohn Kleeberg, warum der Vater, ein Mann, der eigentlich besessen war vom Geld, am Ende seines Lebens finanziell alles falsch gemacht hatte. Finanzielle Un- oder Halbbildung führt dazu, dass das Vermögen darbt. Finanzielle Besessenheit führt schlimmstenfalls dazu, dass am Ende das ganze Geld weg ist.
Warum lernen wir nicht wenigstens aus solchen negativen Erfahrungen? Womöglich hängt es mit einem Phänomen zusammen, das die Psychologen »Hans-im-Glück-Syndrom« nennen und das sich beim Vater des Schriftstellers Kleeberg quasi lehrbuchhaft nachzeichnen lässt. Das Hans-im-Glück-Syndrom kommt bei Zockern (sei es an der Börse oder im Casino) vor, die erst aufhören können, wenn der ganze Einsatz verspielt ist. Dann entsteht – wie im Märchen der Brüder Grimm – ein kurzfristiges Hochgefühl der Befreiung und der Erleichterung, dass es vorbei ist. Aber wie geht es weiter, wenn das Märchen zu Ende ist? Dann folgt der Katzenjammer: Was verloren und verspielt ist, muss um jeden Preis verdrängt werden. Denn sonst wäre Hans im Glück nicht wie es im Märchen heißt der glücklichste, sondern der unglücklichste Mensch auf Erden.
Es bräuchte also wohl nicht nur frühe Bildung über die Effekte von Zins und Zinseszins, den Unterschied von real und nominal oder von Brutto und Netto. Dafür wäre ein Unterrichtsfach »Wirtschaft/Finanzen« sicher hilfreich. Angesichts der komplexen Interdependenz von Geldgier, Verdrängung, Scham und Achtungsverlust zwischen den Generationen sind aber wohl nicht nur die Ökonomen und Pädagogen, sondern auch die Psychologen gefordert.
Rainer Hank