Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 16. Mai 2019
    Wir Opfer

    Auch schon alter weißer Mann?

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ohnmacht macht das Leben leicht

    Demnächst beginnen die Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Mauerfalls. Als eine Art Auftakt hat Alt-Bundespräsident Joachim Gauck jetzt die neuen Bundesländer bereist (darf man sie wirklich heute noch »neu« nennen?). Darüber gibt es einen sehenswerten Film von Stephan Lamby, der am kommenden Dienstag, 9. April, im ZDF läuft. Erschütternd ist eine Unterhaltung Gaucks mit Frauke Petry, jener Frau, die es mit Durchsetzungswillen und Skrupellosigkeit an die Spitze der AfD geschafft hat. Petry versteigt sich zu der Behauptung, wie damals in der DDR sei auch heute das Volk der politischen Elite ohnmächtig ausgeliefert. Gauck widerspricht, will Petry zumindest zu der Einschränkung überreden, es sei das »Gefühl« der Ohnmacht, das im Osten grassiere. Doch gereizt insistiert Petry, es gehe nicht nur um Einbildung (»Gefühl«), sondern um eine ganz reale Angelegenheit.

    Die Szene Ost im Jahr 2019 ist nicht zuletzt deshalb pikant, weil Pfarrer Gauck, bekanntlich selbst ein Mann mit ostdeutscher Biographie, vor sieben Jahren, am 4. Oktober 2012, der Chemikerin und Pfarrersfrau Frauke Petry im Schloss Bellevue das Bundesverdienstkreuz verliehen hat, freilich nicht für ihre Verdienste in der AfD (die es damals noch gar nicht gab), sondern für ihren Berufsweg als (damals) erfolgreiche Gründerin und Unternehmerin. Gauck lobte Petrys »besondere Courage und Tatkraft im Bereich Forschung und Entwicklung«, Eigenschaften, die so ziemlich das Gegenteil einer gefühlten oder realen Ohnmacht im Kapitalismus darstellen. Umso unfassbarer erscheint es Gauck, dass eine Frau mit dieser Nachwende-Erfolgsgeschichte sich und ihre Landsleute als wehrlose »Opfer« machtvoller Eliten darstellen kann anstatt zu loben, dass der 9. November 1989 für alle Ostdeutschen Freiheit und die Chance zu einem selbstbestimmten Leben gebracht hat.

    Auch alte weiße Männer sind Opfer

    »Du Opfer« lautet ein unter Jugendlichen beliebtes Schimpfwort. Daraus ist inzwischen ein Plural victimologischer Selbstbeschreibung einer ganzen Gesellschaft geworden, die sich in unterschiedliche Opfergruppen auffächert und einen Wettbewerb darüber abhält, wer von ihnen am ohnmächtigsten sei. Die Hierarchie der Opfer wird aktuell angeführt vom Ostbürger, dicht gefolgt von den Frauen als Gattung (unterdrückt, schlecht bezahlt, zum Kinderkriegen verurteilt, an der Karriere gehindert, unablässig männlichen Übergriffen ausgesetzt). Aber natürlich sind wir alle, Frauen wie Männer, Opfer der Globalisierung, die uns die Arbeit weg nimmt, dem Diktat von Amazon, Facebook & Co. unterwirft und an der Ungleichheit der Vermögen und Einkommen schuld ist. Ganz Afrika ist bis heute Opfer des Kolonialismus, das lindern auch Milliarden an Entwicklungshilfe nichts. Flüchtlinge sind Opfer der Gewalt in ihren Heimatländern und wir sind Opfer der Massenmigration von Flüchtlingen in den Westen. Bald werden wahrscheinlich auch die »alten weißen Männer« ihre Chance im Opferdiskurs ergreifen (Sophie Passmann wird das schon noch hinkriegen). Opfer allerorten. Manche von uns sind Mehrfachopfer. Die jeweiligen Erfolgsgeschichten unterschlägt man lieber.
    Was macht es so attraktiv, Opfer zu sein? Das Opfer kann die Schuld für ihr Schicksal anderen Menschen oder anonymen Mächten zuschreiben. Schicksal wird ausschließlich im Modus der Schuld verhandelt, freilich um den Preis des Eingeständnisses der eigenen Machtlosigkeit. Wer die Ostdeutschen, die Frauen etc. dazu auffordert, sich nicht als »Opfer zu definieren« (ein regelmäßiger Gesprächszug im Opferdiskurs) wird auf aggressive Zurückweisung stoßen und dem Verdacht ausgesetzt, anderen die Schuld für (gefühltes oder wirkliches) Unglück in die Schuhe schieben zu wollen. Dass das Schicksal stets eine Melange aus Zufall, Leistung, Strukturen und dem Willen zur Veränderung derselben ist, ist im fatalistisch enggeführten Opferdiskurs nicht vorgesehen. Es geht einzig um die binäre Schuldfrage: ich oder die anderen!

    Indessen erwächst dem Opfer eine abgeleitete Macht, eine Art sekundärer Krankheitsgewinn, der sich vor allem moralisch zu Gehör bringt. In der ökonomischen Spieltheorie rangiert dies unter dem Label »Samariterdilemma«. Das Opfer, der unter die Räuber Gefallene aus dem Neuen Testament, hat »theoretisch« zwei Wahlmöglichkeiten: Er kann sich bemühen, auf eigene Beine zu kommen. Oder er kann sich auf fortwährende Hilfe des Samariters verlassen und dessen »Barmherzigkeit« dauerhaft in Anspruch nehmen, um seine Schwäche in eine Form von Stärke zu pervertieren. Spieltheoretisch besteht das Dilemma darin, dass der Nutzen für das Opfer – anders als für die Gesellschaft als Ganzer – in beiden Fällen gleich groß ist, was bedeutet, dass es für das Opfer keinen Anreiz gibt, sich aus der Ohnmacht zu befreien. Er (oder sie) kann die Macht seiner Ohnmacht genießen und darauf setzen, dass die Göttin der Gerechtigkeit sich auf die Seite der Unschuldigen schlägt.

    Victim oder Sacrifice

    Die Opferforschung belehrt uns darüber, dass das passive Opferverständnis historisch relativ jung ist. Bis ins späte 19. Jahrhundert, schreibt die Züricher Historikerin Svenja Goltermann, dominierte der aktive Opferbegriff: »sich für jemanden aufopfern«, »ein Opfer für jemanden oder etwas bringen«. Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts verlor das »Opfer für etwas« an Bedeutung. Andere Sprachen teilen das Janusgesicht des Opfers auf zwei verschiedene Begriffe auf. »Sacrifice« beschreibt die »verzichtende Hingabe« (heute als Tugend praktisch komplett außer Mode), während »victim« die »geschädigte Person«, das »unschuldige Opfer« bezeichnet. Wer passives Opfer ist hat eine Entschuldigung dafür, nicht selbst für sein Leben verantwortlich sein zu müssen, hat freilich auch lediglich seine sekundäre, moralisch aufgeladene Macht der Machtlosigkeit als Waffe zur Verfügung.

    Das war nicht immer so, wie wir beim griechischen Historiker Thukydides lesen. Vor die Wahl gestellt, von den überlegenen Athenern sofort unterjocht oder später militärisch besiegt zu werden, entscheiden sich die Melier – stolze Bewohner einer kleinen Insel in der Ägäis – für die militärische Option. Sie wollen keine Opfer der Großmacht Athen sein, sondern lieber Verlierer im Kampf. Hier kommt der entscheidende Gegenbegriff ins Spiel: Niemand will heute Verlierer sein, alle wollen lieber Opfer sein. Dabei wäre die Haltung des Verlierers die sportlich überlegene Haltung, die sich nicht auf die passive Opferzuschreibung zurückziehen müsste. Der Verlierer ist ein Risiko eingegangen, hat sich womöglich verzockt, vielleicht hat er auch einen Fehler gemacht oder eine Schwäche gezeigt, woraus ihm aber keine moralische Schuld erwächst. Vor allem aber hat der Verlierer die Chance zur Wiederholung im Wettbewerb: Neues Spiel, neues Glück. Dem Opfer hin gegen bleibt nur der Hilferuf an die Politik.

    Damit sind wir wieder bei Joachim Gauck. Den Ostdeutschen fehle der Durchsetzungswille. Sie hätten sich eine Wettbewerbsmentalität wie ihre Landsleute im Westen nicht auf natürlichem Wege antrainieren können, vermutet der Alt-Bundespräsident. Damit kann er kaum sich selbst oder Frauke Petry gemeint haben. Er beschreibt jene, die sich selbst nur als Opfer sehen können. Und vom Wettbewerb nichts wissen wollen.

    Rainer Hank

  • 16. Mai 2019
    Musik und Kapitalismus

    Die Marienkirche in Lübeck – die Börse ist gleich daneben

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über Geschäfte bei Tage und solche in der Nacht

    Die sogenannten Abendmusiken in Lübeck gelten als älteste Konzertreihe der Welt. Sie gehen zurück auf Franz Tunder (1614 bis 1667), einen pausbäckigen Mann mit barocker Perücke, der seit 1641 als Organist an St. Marien wirkte, der Mutterkirche norddeutscher Backsteingotik – ein Gotteshaus, das jedem Vergleich mit den Kathedralen Frankreichs standhält. Tunder, so heißt es, habe die Chance erkannt, durch Konzerte eigens für die Kaufleute der Stadt sein Budget aufzubessern. Jeden Donnerstag spielte er vor Öffnung der Börse zum Vergnügen der Bürger auf seiner Orgel. Kirche und Börse grenzen aneinander. Da es damals noch keine öffentlichen Konzertsäle gab, war St. Marien in der Stadt der repräsentativste Raum zum Musizieren. Der Lübecker Kantor Caspar Ruetz hat ein Jahrhundert später folgendes berichtet: »Es soll die Bürgerschaft, ehe sie zur Börse gegangen, den löblichen Gebrauch gehabt haben, sich in St. Marien zu versammeln. Dort hat der Organist ihnen zur Zeit-Kürzung etwas auf der Orgel vorgespielet, um sich bei der Bürgerschaft beliebt zu machen. Von einigen reichen Leuten, die Liebhaber der Musik gewesen, ist der Organist beschenket worden. Dadurch ist er angetrieben worden, zunächst einige Violinen, und dann auch Sänger dazu zu nehmen, bis endlich eine starke Musik daraus geworden ist.«

    Die Entdeckung der Geschichte der »Abendmusiken« aus dem Geist des norddeutschen Börsenhandels – anlässlich einer kleinen Reise in die Hansestadt Lübeck – soll österlicher Anlass sein, über den Zusammenhang von Musik, Marktwirtschaft und Moral nachzudenken. Auffallend ist zunächst: Die in Marien aufgeführte Musik begann offenbar bereits im 17. Jahrhundert sich aus dem religiösen Kontext als Dienerin des Glaubens zu lösen. Die von Franz Tunder angebotenen Konzerte fanden zwar in der Kirche, aber nicht im Gottesdienst statt. Konsequent scheint denn auch ihr Zweck zum Zeitvertreib der Kaufleute und Börsenhändler im Vordergrund gestanden zu haben und die gläubige Erbauung eher zweitrangig gewesen zu sein. Man kann getrost von Unterhaltungsmusik sprechen.

    Bachs H-Moll-Messe spengt jede Messe

    Das bestätigt die Vermutung, dass die Säkularisierung ein Prozess der Verweltlichung ist, der bereits lange vor der eigentlichen Aufklärung als Autonomiebewegung musikalischer Ästhetik sich entwickelte. Die Musik bleibt in der Kirche, löst sich aber aus dem religiösen Kontext – und entwickelt sich fort: die offenbar beachtliche Einnahmen generierende Konzertreihe in St. Marien macht Schritt für Schritt aus dem Soloauftritt der Orgel ein ganzes Orchester nebst Chor, was vermutlich positive Rückwirkung auf die Einnahmen hatte. Es waren wirtschaftlich erfolgreiche Bürger, großzügige Sponsoren, denen wir »starke Musik« verdanken. Ein Jahrhundert später begannen die Komponisten, listig möchte man sagen, religiöse Werke zu schreiben, die für den gottesdienstlichen Einsatz gar nicht mehr geeignet waren. Die kompositorische Anlage von Johann Sebastian Bachs H-Moll-Messe überschritt die Gegebenheiten der regulären lutherischen wie katholischen Liturgie bei weitem – allein schon angesichts ihrer Aufführungsdauer von fast zwei Stunden.

    Die Stadt zu einem permanenten Marktplatz zu machen war die Idee der Hanse: ein Verbund von stolzen und selbstverwalteten Bürgerstädten, in dem Lübeck (»civitas Lubeke«) die zentrale Rolle spielte. Markt, Messe und Musik waren auf Tuchfühlung. Kirche und Börse sind in Lübeck einen Katzensprung voneinander entfernt. Als zentral für die Hanse gelten jene städtische Freiheiten (»libertates«), mit denen die Bürger Recht selbst setzten und sich autonom regierten. Lübecks Bedeutung stieg bereits als in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts nicht nur das Salz, sondern auch der Ostsee-Hering zu einem Exportschlager wurde, der wegen des Bevölkerungswachstums und des strengen christlichen Fastengebots (Fisch war erlaubt!) eine ständig wachsende Nachfrage befriedigen musste. Die Musik war quasi hörbarer Ausweis dieses wirtschaftlichen Erfolgs mit Salz und Heringen.

    Von der Kirche an die Börse

    Der Hanseforscher Rolf Hammel-Kiesow sieht in der Hanse nicht nur eine erste Phase der Globalisierung, sondern auch eine Frühform ökonomischer Netzwerke: das Geheimnis der Hansischen Kaufleute beruhte auf dem wechselseitigen Vertrauen, welches die Kosten ihrer Geschäfte beträchtlich reduzierte. Der Kaufmann in Lübeck konnte sich auf die Ehrlichkeit einer in Danzig, Novgorod, Bergen oder Brügge durchgeführten Warenkontrolle verlassen, die ihm Zeit und Kosten sparte. Man schickte einander Waren und jeder verkaufte an seinem Ort die Güter für den Partner. Für diese Arbeit berechneten sie einander nichts, der Lohn bestand in der Gegenseitigkeit. Besondere Bedeutung besaß das Hansekontor im flandrischen Brügge, wo seit dem 14. Jahrhundert am Marktplatz regelmäßiges Treffen für Handels- und Geldgeschäfte, aber auch Klatsch und Tratsch als »Börse« bezeichnet wurden: ein Tauschplatz für alles Mögliche, immer mehr aber auch für Kredit- und Wechselgeschäfte. Nach diesem Vorbild hatte bald auch Lübeck seine eigene Börse, gegenüber der Kaufmannskirche St. Marien eben. Auf die Idee, dass Geldgeschäfte und religiöse Geschäfte einander in die Quere kommen könnten, wäre in all diesen Zeiten niemand gekommen. Im Gegenteil.

    Autonomie der Städte und Globalisierung von West-, Nord- und Zentraleuropa bis nach Russland, die »universitas mercatorum«, mutet einerseits enorm modern an, wie andererseits die Nähe zwischen christlichem Glauben, Vertrauensethik und marktwirtschaftlichem Geschäftssinn ganz und gar einer Welt von gestern zu entstammen scheint. »Arbeite, bete und spare« hieß der gute Rat, den der Kaufmann und Konsul Buddenbrook seinem Sohn Thomas am Ende eines langen Briefes »in sorgender Liebe« mit auf den Weg gibt. Vom alten Buddenbrook stammt jener viel zitierte Grundsatz der Firmenethik: »Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bei Nacht ruhig schlafen können.« In Krisenzeiten erließ der Hansetag bisweilen zeitlich begrenzte Kreditverbote, um hansische Kaufleute, die die komplizierten geldpolitischen Zusammenhänge nicht kannten, zu schützen: Eine weise Vorsorge, gehen doch die meisten Finanzkrisen der Geschichte auf riskante Kreditgeschäfte zurück.

    Musik und Ökonomie mögen sich

    Was sagt uns das heute? Offenkundig bedurfte es eines fein austarierten Gleichgewichts von Nähe und Distanz, welche seit der frühen Neuzeit für den Erfolg des Kapitalismus verantwortlich wurde. Ethik, Ästhetik, Ökonomie und Religion genossen jeweils relative Autonomie: Die Musik entfernte sich vom Kult, um den Kaufleuten nicht nur Erbauung, sondern auch Zerstreuung zu bieten. Überschaubare Risiken konnte diese globale Kaufmannschaft eingehen, weil sie Vertrauen zueinander aufgebaut hatte, das im gemeinsamen christlichen Glauben gründete. Vieles davon, so dünkt mich, ist heute nicht mehr rückholbar. Dass aber Offenheit, Risikofreude und Vertrauen bei Wahrung urbaner Souveränität für den wirtschaftlichen Erfolg wichtiger sind als die protzige Blockbildung nationaler Champions, soviel Aktualisierung sei doch gestattet. Und dass Musik und Ökonomie einander gut tun, wird man darüber hinaus ebenfalls vermuten dürfen.

    Rainer Hank

  • 16. Mai 2019
    Macht der Kapitalismus depressiv?

    Burnout: Krankheit oder Diagnose?

    Dieser Artikel in der FAZ

    Die Zunahme psychischer Erkrankungen taugt nicht als Beleg

    Neulich wurden wir von einer dramatischen Meldung aufgeschreckt: Die Zahl der Krankentage wegen psychischer Probleme hat sich hierzulande innerhalb von zehn Jahren verdoppelt – von rund 48 Millionen im Jahr 2007 auf 107 Millionen im Jahr 2017. So steht es in einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine parlamentarische Anfrage. Das Ministerium hat den alarmierenden Befund auch gleich in »wirtschaftliche Ausfallkosten« umgerechnet: die nämlich sollen sich sogar fast verdreifacht haben – von 12,4 Milliarden auf 33,9 Milliarden Euro.

    Derartige Zahlen sorgen für Unruhe. Als ob wir es nicht immer schon geahnt hätten: Der Kapitalismus produziert nicht nur Armut, Ungleichheit und materialistische Einstellungen. Er macht die Menschen darüber hinaus auch noch schwer krank. Und zwar heute mehr als früher. »Stress hat in den letzten zehn Jahren in unserer Gesellschaft erheblich zugenommen« ist eine Aussage, die 56 Prozent der Manager und mehr als 60 Prozent der deutschen Angestellten eindeutig mit »Ja« beantworten. Und für den Fall, dass wir das lediglich unserer subjektiven Wahrnehmung zuschreiben sollten, wird uns versichert: »Unstrittig ist, dass psychische Belastungen mit dem Wandel der Arbeitswelt zunehmen«. Das seht in einem Bericht der Bundesregierung über den »Stand von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit«. Wie schön: Die Krankschreibungen wegen Stress, Burnout, Depression haben endlich eine Ursache gefunden.

    Erschöpfung als Dauerzustand?

    Bloß die Art der Ausbeutung habe sich geändert, machen uns die Schwarzmaler weis: Im 19. Jahrhundert ging es in den Fabriken auf unsere Knochen. Heute nimmt die Seele schaden. Erschöpfung sei ein Dauerzustand geworden. Depression, so sagt man uns, sei das Volksleiden des 21. Jahrhundert. Schuld hat wieder einmal der Kapitalismus.

    Es reicht schon, das Stichwort Digitalisierung in die Runde zu werfen, um zustimmendes Nicken zu ernten. Wer gewahr sein muss, dass sein Chef oder sein Kunde auch noch um Mitternacht per Mail, SMS, oder Whatsapp Wünsche und Anweisungen erteilt, wird leicht in Stress versetzt. Loslassen ist offenbar in unserem Alltag nicht mehr vorgesehen. Arbeitsverdichtung ist angesagt. Immer »agil« zu sein und der nächsten »Disruption« stand zu halten, dass bringt einen psychisch gehörig aus dem Gleichgewicht. Getreu dem alten Grundsatz, früher war alles besser, denken wir jetzt: Wie schön muss die deutsche Angestelltenwelt im 20. Jahrhundert gewesen sein, als Vater um 17 Uhr das Büro verließ; wenn er zuhause vom Telefon gestört wurde, dann war nicht der Chef in der Leitung, sondern Tante Lina.

    Es könnte allerdings alles auch ganz anders sein. Martin Dornes, ein Frankfurter Psychoanalytiker und Soziologe, hat vor drei Jahren ein Buch geschrieben mit dem Titel »Macht der Kapitalismus depressiv?«. Dornes beantwortet die Frage mit einem klaren »Nein«. Zugenommen, so Dornes, habe nicht die Krankheit, sondern ihre Diagnose, ein kleiner, aber alles entscheidender Unterscheid. Allein die öffentliche Aufmerksamkeit für einzelne Krankheitsbilder kann ihr tatsächliches oder vermeintliches Auftreten beeinflussen, sagt der Psychoanalytiker. Es kann auch mit einer Schamschwelle zusammenhängen: Psychisch krank zu sein, wurde lange Zeit stigmatisiert. Besser man gibt es nicht zu, weil damit Ächtung in der Gesellschaft, im Freundeskreise, am Arbeitsplatz verbunden ist. Nennt man die Krankheit aber nicht Depression, sondern – viel weniger dramatisch – »Stress« oder »Aufmerksamkeitssyndrom«, dann ist die Angelegenheit weniger peinlich, womöglich lässt sich damit sogar etwas hermachen. An der Depression könnte die genetische Veranlagung schuld sein, an der Antriebslosigkeit ist der Arbeitgeber schuld, was die Sache für einen selber erträglicher macht. Exemplarisch dafür steht die Diagnose Burnout. Einige Jahre lang war das Thema in den Schlagzeilen, parallel dazu stieg die Zahl der entsprechenden Krankschreibungen rapide an. Wer die Diagnose Burnout bekam, der fühlte sich auch gleich erschöpft. Wenn viele Leute um mich herum Burnout haben, dann nimmt es nicht Wunder, dass auch ich davon erfasst sein würde. Der Burnout-Höhepunkt war laut Zahlen der deutschen Betriebskrankenkassen um das Jahr 2011 herum erreicht. Inzwischen gehen die Fallzahlen, die von den Krankenkassen gemeldet werden, genauso rasant wieder zurück. Burn-out scheint also schon wieder aus der Mode zu kommen. Haben wir die Krankheit besiegt oder lediglich die Inflation ihrer Diagnose?

    Warum gibt es heute keinen Nervenzusammenbruch mehr?

    In meiner Schulzeit in den siebziger Jahren hatte es einmal geheißen, unsere Klassenlehrerin habe einen »Nervenzusammenbruch« erlitten. Das hörte sich ziemlich dramatisch an und sollte wohl auch heißen, unsere Klasse, die Saubande, trage daran eine Mitschuld. Damals war oft davon die Rede, jemand habe einen Nervenzusammenbruch gehabt. Heute hört man das nur noch selten. Sind unsere Nerven inzwischen robuster geworden oder hat die ärztlich gelenkte Öffentlichkeit sich anderen Diagnosen zugewandt?

    Eines freilich ist gewiss: Mit dem Kapitalismus hat die Konjunktur diagnostizierter Psycho-Moden herzlich wenig zu tun. Im schwedischen Sozialstaat der Nachkriegszeit (»Folksheim«), einer milden Form des Sozialismus, war laut Martin Dornes schon in den sechziger Jahren eine schwere ADHS-Epidemie ausgebrochen. Dass der Sozialismus in der DDR oder in der Sowjetunion einen herausragenden Beitrag zur Volksgesundheit geleistet habe, behaupten noch nicht einmal die schärfsten Kritiker des Kapitalismus.

    Vieles spricht dafür, dass wachsender Wohlstand positive epidemiologische Folgen hat: Es geht uns heute physisch und psychisch besser als vor hundert Jahren. Das Leben war früher viel anstrengender. Der Wirtschaftsnobelpreisträger William Fogel spricht von »physiologischem Kapital«, das der Kapitalismus seit der industriellen Revolution in breiten Schichten aufgebaut habe. In heutiger Sprache könnte man das als Resilienz bezeichnen, eine Art Widerstandsfähigkeit, die uns weniger schicksalsanfällig sein lässt, weil der Fortschritt die Welt beherrschbarer gemacht hat.
    Keine zufriedenstellende Antwort haben wir bislang auf die Frage, warum die Menschen mehrheitlich glauben, früher sei alles besser gewesen und heute das meiste schlechter. Der Fortschritt hat, anders als sein Name suggeriert, einen schweren Stand und einen schlechten Leumund. Nur noch 32 Prozent der Deutschen glauben nach Ausweis der Allensbacher Meinungsforscher an die Zukunft: Da ist der niedrigste Wert seit fünf Jahrzehnten. Dass Gegenwart und Zukunft einem unheimlich vorkommen, ist freilich nicht ganz neu: »Nervosität« oder »Neurasthenie« lautete im späten 19. Jahrhundert die verbreitete Diagnose, die das Bürgertum kollektiv krank werden ließ. Schwindel, Unwohlsein, Impotenz galten als untrügliche Symptome für den Fluch des Fortschritts – verantwortlich dafür war nach Ansicht der Zeitgenossen unter anderem die Eisenbahn, die, dreimal schneller als die Kutsche, die Sinne der Menschen dauerhaft in Verwirrung versetze.

    Wenn schon kein Lob des Fortschritts, so wenigstens ein bisschen Gelassenheit lässt sich daraus ableiten, wenn wir das nächste Mal wieder hören, dass der Kapitalismus uns heutzutage besonders krank macht.

    Rainer Hank

  • 16. Mai 2019
    Kinderkreuzug

    Greta Thunberg ist viel unterwegs

    Dieser Artikel in der FAZ

    Was Greta Thunberg mit fanatischen Kindern aus dem Mittelalter zu schaffen hat

    Zu Greta Thunberg, der sechzehnjährigen Klimaaktivisten aus Schweden, fällt mir nichts ein. So dachte ich – bis jüngst ein Bekannter das Wort vom »Kinderkreuzzug« in die Runde warf. Greta, so sollte das wohl heißen, führe einen Kreuzzug zur Rettung des Klimas, ähnlich fanatisch wie jene Kinder, die sich im Jahr 1212 zu Tausenden aus Deutschland und Frankreich aufgemacht hatten zur Befreiung Jerusalems von den Muslimen – eines der merkwürdigsten Ereignisse des europäischen Mittelalters.

    Das Fanatische an Greta ist ja gerade das Nicht-Empathische und Anti-Charismatische ihrer Erscheinung. Wie viele Autisten handelt sie hoch-moralisch, obwohl oder womöglich gerade weil ihr die Gabe der Einfühlung in andere abgeht. Sie lässt sich im Kampf für das Gute nicht irritieren vom Verständnis für die Schwachheit der CO2–ausstoßenden Kreatur. Greta macht die Erfahrung, dass sie etwas bewirken kann: Ihre politische Mission, so beschreibt es die Familie, wirkt auf sie selbst antidepressiv und quasi therapeutisch. Treffsicher benennt sie das Glaubwürdigkeitsdefizit der Politiker: Sie sagen das Eine und machen das Andere. Sie reden laut gegen den Klimawandel, weil das bei den Leuten gut ankommt, scheuen sich aber konkret zu werden, weil dann auch über die Kosten gesprochen werden müsste. Das derzeitige Gewürge um die CO2–Steuer zeugt davon. Für Politiker sind Ziele Gift, bei denen die Kosten kurzfristig anfallen, während der Nutzen erst langfristig sich einstellt.

    Greta lässt das nicht durchgehen. Sie antwortet auf Politikversagen mit Hypermoralisierung, die etwas Gnadenloses hat. Hypermoralisierung tendiert zu Vereinfachung und unfairer Schuldzuweisung: »Es gibt doch nur ein paar hundert Firmen, die für den gesamten CO2–Ausstoß stehen«, sagt Greta. Ein »paar wenige reiche Männer« hätten Tausende Milliarden damit verdient, dass sie den ganzen Planeten zerstören. Greta irritiert, fasziniert, und stößt zugleich ab. »Ich will, dass ihr in Panik geratet.«

    Eine religiöse Erweckungsgemeinschaft

    Ist das ein Aufruf zum Kreuzzug? Man kann es so sehen, sollte es sich freilich mit dem Begriff Kinderkreuzzug in keiner Weise leicht machen. Mein Gesprächspartner, der den Begriff in die Runde warf, ist weder ein Rechtspopulist noch ein Klimaleugner, der die von Menschen gemachte globale Erwärmung bestreitet. Der Mann hat eine ziemlich linke Vergangenheit und würde sich heute wohl der bürgerlich-liberalen Mitte zuordnen, darin verwandt dem ehemaligen Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust, der ebenfalls mit dem Begriff »Kinderkreuzzug« hantiert. Die Massenbewegung der »Fridays for Future« komme ihm vor wie ein »moderner Kinderkreuzzug« oder wie eine »beinahe religiöse Erweckungsgemeinschaft«, meinte Aust kürzlich. Man braucht sich dieser Debatte nicht versagen, bloß weil die AfD inzwischen Umwelt und Klima als Themen zur Erweiterung ihres migrations- und europapolitisch eingeengten Geschäftsmodells entdeckt hat. Der AfD-Einwand kommt als Totschlagargument immer mehr in Mode, so dass man am Ende auf die AfD eine Wut bekommt, weil sie dadurch erlaubte Spielzüge dem liberalen Diskurs entzieht.

    Doch wie weit trägt der Vergleich mit dem Kinderkreuzzug von 1212? Einer seiner Helden ist der fünfzehnjährige Stephan aus dem französischen Dorf Cloyes. Die Quellen beschreiben ihn als redegewandt und ausgestattet mit der Gabe, in kurzer Zeit zahlreiche Halbwüchsige zu begeistern für seine Idee, das Heilige Land von den Sarazenen, den islamisierten Völkern des Orients, zu befreien. In Paris betrachtete man Stephan als echten »Seher«. Er wurde vom König empfangen und predigte in Saint-Denis, der berühmtesten Abtei Frankreichs. Die Begeisterung für Stephans Unternehmen soll wie ein Lauffeuer um sich gegriffen haben, so sein Biograph Thomas Ritter. Stephan betrachtete sich als von Gott erwählt und berief sich auf die Erscheinung eines »Fremden«, in dem er Jesus von Nazareth erkannt haben will. Anders als ihre kreuzfahrenden Vorgänger widersetzten sich die Kinder des frühen 13. Jahrhunderts dem Kampf mit Waffen. Statt mit Schwertern rückten sie mit Posaunen los, die an die Einnahme von Jericho erinnern sollten. Ihre »Unschuld«, ein verbreiteter Topos, war die stärkste Waffe dieser Kinder.

    Religiöser und ökologischer Fanatismus sind – trotz acht Jahrhunderten Abstand – offenbar nicht sehr weit auseinander. Diejenigen, die von den Kreuzzüglern für ihr religiöses oder ökologisches Versagen angegriffen werden, wanzen sich flugs an sie heran. Kein Politiker traut sich heute noch, etwas gegen Greta und ihrer Freunde zu sagen. Der letzte, der das versucht hat, war FDP-Chef Christian Lindner. Es ist ihm nicht gut bekommen. Jetzt heißt die Devise: Durch lautes Zustimmen sich wegducken. Ganz so wie Papst Innozenz III. (1198 bis 1216) in Rom, der beim Erhalt der Kunde von den Kinderkreuzzügen gesagt haben soll: »Diese Kinder beschämen uns. Während wir schlafen, ziehen sie fröhlich aus, um das Heilige Land zu erobern.« Die Kinder kritisieren das Versagen der Eliten – und die Eliten haben nichts Eiligeres zu tun als ihnen Recht zu geben.

    Welterlöser oder dumme Jungs?

    Das ist noch nicht alles an Gemeinsamkeiten. Der Berliner Historiker Michael Menzel macht in einem spektakulären Aufsatz über die »Kinderkreuzzüge in geistes- und sozialgeschichtlicher Sicht« (In: Deutsches Archiv für die Erforschung des Mittelalters, 1999) darauf aufmerksam, dass schon die Zeitgenossen in zwei unversöhnliche Lager gespalten waren. Während die einen in den Kindern die Welterlöser sahen, von Gott zu ihrer heilgeschichtlichen Tat auserwählt, sahen andere in ihnen nichts als »stulti pueri«, dumme Jungs und Mädels, die sinnlos in Richtung Meer laufen. Das klingt uns Heutigen vertraut. Am Ende errang das Lager der Bewunderer den rhetorischen Sieg. Kindliche Armut schlägt kirchlichen Reichtum. Kindlichkeit, Unschuld und Armut sind Bilder und Metaphern, die offenbar bis heute stark wirken und die konkurrierende Einschätzung fanatischer, verführter, unreifer Apokalyptiker schlägt. Die Kinder haben es geschafft, dass ihre Umwelt sie als willenlose Instrumente Gottes darzustellen vermochte.

    Aus dem Vergleich folgt am Ende mehr als die bekannte Einsicht, dass der Gesinnungsethiker stets und unmittelbar mehr Gefolgschaft erhält als der Verantwortungsethiker. Bei genauer Betrachtung nämlich wird aus dem polemischen Etikett »Kinderkreuzzug« ein Wettstreit der Rhetoriken mit positiv lobendem Überhang: Unter dem Titel »Kinderkreuzzug« erschien im Jahr 1968 bei rororo ein von dem Sexualwissenschaftler Günter Amendt herausgegebener Band mit dem Untertitel »Beginnt die Revolution in den Schulen?«, der es bis 1971 auf über 50000 Exemplare gebracht hatte. Es ging darum, wie aus der »antiautoritären Bewegung« eine »sozialistische Schülerbewegung« werden könne, sozusagen als Avantgarde der Achtundsechziger. Dass er das Kampfwort vom »Kinderkreuzzug« mit Emphase positiv verwandte, war dem Herausgeber noch nicht einmal einer Begründung pflichtig. So zwingend ist offenbar der Charme von Naivität und Unschuld, höher als alles ökonomische Räsonnement. Wir wäre es, den erwartbar in Hollywood bald gedrehten Film zur Klima-Bewegung »Fridays for Future or The Children’s Crusade« zu betiteln?

    Rainer Hank

  • 10. Mai 2019
    Marktwirtschaft gehört nicht ins Grundgesetz

    Wozu braucht man das Grundgesetz?

    Dieser Artikel in der FAZ

    Denn dann gäbe es hierzulande plötzlich viele Verfassungsfeinde

    Das ökonomische und moralische Grundprinzip des Marktes lautet: Wir sind nicht auf Wohlwollen, Nächstenliebe oder Mitleid des Bäckers, Metzgers oder Hausbesitzer angewiesen, wenn wir Brötchen, Leberwürste oder Mietwohnungen begehren. Es ist in unser aller Interesse, auf das Profitinteresse des Kapitalisten zu setzen anstatt auf seine Menschenfreundlichkeit. Denn das garantiert, dass er uns aus Eigeninteresse Brötchen, Würste und Wohnraum bietet. Noch besser ist, wenn es in einer Stadt nicht nur einen, sondern mehrere Bäcker, Fleischer und Immobilieneigentümer gibt: der Wettbewerb unter ihnen garantiert, dass Waren und Dienstleistungen für uns Menschen tendenziell besser und billiger werden. Wer sich vom Gemeinwohl abhängig macht, liefert sich der Gnade anderer aus oder der Diktatur von Kevin Kühnerts & Co. Wer auf Eigenliebe baut, tritt anderen frei und gleichberechtigt gegenüber. »Nur ein Bettler zieht es vor, hauptsächlich vom Wohlwollen seiner Mitbürger abzuhängen«, heißt es bei Adam Smith.
    Adam Smith hat Recht. Das lehrt die theoretische Vernunft und der praktische Erfolg der Marktwirtschaft, die unseren Wohlstand sichert und mehrt. Viele Menschen in Deutschland (und anderswo) sehen das anders. Sie finden es nicht in Ordnung, dass Immobilienbesitzer mit dem Wohnraum anderer Menschen ihren Lebensunterhalt bestreiten und Fabrikbesitzer (Aktionäre) aus dem Verkauf von Autos für sich Profit ziehen. Adam Smith ist nämlich anstößig und entzieht sich bei vielen einer Prima-Facie-Plausibilität. Umfragen zeigen, dass die Menschen in Deutschland auch 70 Jahre nach dem genialen Ludwig Erhard bis heute mit der sozialen Marktwirtschaft stark fremdeln – im Osten mehr noch als im Westen, aller Freiheits- und Wohlstandsgewinne seit der Wiedervereinigung zum Trotz. Selbst die affirmativen Aussagen zur Sozialen Marktwirtschaft sind mit Vorsicht zu genießen: Die Leuten denken dabei nicht an das für alle Menschen segensreiche Profitinteresse des Kapitalisten, sondern an die sozialpolitische Umverteilungsmaschine des Staates. Kurzum, sie verwechseln die soziale Marktwirtschaft mit einer milden Form des Sozialismus – und finden das auch noch gut.

    Wie also soll man die Akzeptanz der Marktwirtschaft fördern, wo zwar ihre Erfolge evident und ihre Alternativen (DDR, Venezuela, Kuba, Nordkorea) kaum überzeugend sind, die Widerstände gegen den Markt aber gleichwohl sich hartnäckig halten? Unzählige Aktionsgemeinschaften, Initiativen etcetera machen es sich seit Jahren zur Aufgabe, mit Eselsgeduld für die Marktwirtschaft zu werben, nicht zuletzt in den Schulen, wo nach wir vor der Einfluss linker Sozialkundelehrer dominiert. FAZ und FAS tuten seit ihrer Gründung ebenfalls in das marktwirtschaftliche Horn. Aber die Sache bleibt mühsam.
    In der vergangenen Woche gab es nun eine von dem Münsteraner Ökonomieprofessor Ulrich van Suntum angeschobene Debatte, die Soziale Marktwirtschaft – passend zum siebzigjährigen Jubiläum – in das Grundgesetz (GG) zu schreiben. Van Suntum will den unseligen Artikel 15 der Bonner Verfassung streichen, der die Möglichkeit der Vergemeinschaftung von Grund, Boden und Produktionsmitteln vorsieht. Stattdessen soll dort eine positive Verpflichtung auf die Marktwirtschaft stehen: »Bund, Länder und Kommunen sind in ihren wirtschaftspolitisch relevanten Entscheidungen und Maßnahmen grundsätzlich den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft verpflichtet.« Dem Aufruf haben sich eine Reihe prominenter Ökonomen angeschlossen, darunter der neue Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft Gabriel Felbermayr und die früheren Chefs des Ifo-Instituts und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Hans-Werner Sinn und Klaus F. Zimmermann. Die Argumente: Gerade weil das Bewusstsein dafür zu verblassen droht, in welchem Maße Wohlstand und Freiheit von der Sozialen Marktwirtschaft geprägt wurden und jene Generation langsam ausstirbt, die diese Erfahrung selbst gemacht hat, gehöre die Soziale Marktwirtschaft in der Verfassung verankert. Auf der Internetplattform des Ökonomen Carl Christian von Weizsäcker wird darüber nun seit Tagen mit guten Pro- und Contra-Argumenten debattiert.

    Der Bart ist dran

    Die Debatte verdient breit und über den akademische Zirkel hinaus geführt zu werden. Tatsächlich verhält sich das Grundgesetz zur Frage der Wirtschaftsordnung neutral. Von Marktwirtschaft ist dort nirgends die Rede, wohl aber – dem antikapitalistischen Geist der späten vierziger Jahre entsprechend – von Gemeinwirtschaft. Implizit aber werden im GG die institutionellen Grundpfeiler einer Marktwirtschaft – Privateigentum und persönliche Freiheitsausübung – ausreichend gestärkt. Erst Artikel 3 des 2009 in Kraft getretenen Lissabon-Vertrags verpflichtet die Mitgliedsländer der Europäischen Union auf das Ziel der »sozialen Marktwirtschaft«. Ein entsprechender GG-Artikel würde hieran anschließen.
    So wichtig es ist, die himmelhohe moralische und ökonomische Überlegenheit des Profitstrebens zu verteidigen, so problematisch finde ich die Idee, die Verpflichtung auf eine bestimmte Wirtschaftsordnung in die Verfassung zu schreiben. Sollten die Deutschen ein Parlament wählen (vielleicht reicht dafür schon Rot-rot-grün?), das es den Unternehmen hierzulande verbietet, Profite zu machen, wäre das eine Dummheit sondergleichen, für die das Volk den Preis seiner Verelendung zahlen müsste. Aber Demokratien sind darin frei, mit Mehrheiten dummes Zeug zu beschließen. Das kann und sollte ihnen ihre Verfassung nicht untersagen. Die Älteren unter uns erinnern sich noch an Zeiten, in denen ein unguter Meinungsterror alle öffentlichen Aussagen darauf abgeklopft hat, ob sie der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (kurz: FDGO) widersprechen könnten. Eine marktwirtschaftliche Gesinnungsprüfung ist einer freien Gesellschaft unwürdig. Am Ende würden breite Bevölkerungskreise von Karlsruhe als antimarktwirtschaftliche Verfassungsfeinde geoutet – und Kevin Kühnert ginge als Märtyrer für den Sozialismus in die Geschichte ein. Das hilft der Marktwirtschaft nicht. Und liberal ist es obendrein auch nicht. Wenn die Marktwirtschaft im GG aber gar nicht so streng gemeint sein soll, wie Adam Smith sie gedacht hat, dann bleibt alles hübsch unverbindlich – und die Verfassungsänderung kann man sich schenken.

    Der Bart ist ab

    So wirkt der Einfall, die Marktwirtschaft in den Verfassungsrang zu hieven, am Ende eher hilflos: Eine nachvollziehbare Aktion von Intellektuellen in der Tradition von Platons Philosophenregierung, die kontraproduktiv ausgehen könnte. Müsste sie nicht das Vorurteil nähren, die deutschen Ordnungspolitiker seien habituell dogmatisch und wollten ihr Besserwissen (nichts anderes als eine Form »anmaßenden Wissens«) aus Schwachheit nun sogar in die Verfassung heben? Man kann nicht alles, was einem an linken und rechten Populismus missfällt, unter dem Label »Selbstbindung« von der Verfassung verbieten lassen. Verfassungen setzen der Willkür demokratischer Mehrheiten Grenzen der Unverfügbarkeit. Das ist gut. Man sollte sie nicht autoritär überfrachten.

    Rainer Hank