Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 17. September 2019
    Bankrott des Christentums

    Warum kommt keiner mehr?

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ökonomische Gedanken zum Massenexodus der Gläubigen

    Die Katholische und Evangelische Kirche in Deutschland verlieren massiv Mitglieder. Allein den Katholiken liefen im vergangenen Jahr über 200 000 Gläubige davon. Das ist die zweithöchste Austrittszahl seit Ende des II. Weltkriegs. Weil zudem mehr Katholiken sterben als Neuchristen getauft werden, beziffert sich der Verlust auf insgesamt 310 000 Ex-Gläubige. In der evangelischen Kirche sieht es nicht besser aus: Zwar gibt es weniger Austritte, dafür aber noch weniger Neueintritte als bei den Katholiken: Das führt zu einem Schwund von fast 400 000 Protestanten in nur einem Jahr 2018.

    Wenn es so weitergeht, werden die Mitgliederzahlen beider Kirchen bis zum Jahr 2060 noch einmal um die Hälfte zurückgehen, hat im Frühjahr der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen hochgerechnet. Dafür ist längst nicht nur der demographische Wandel verantwortlich – nach dem Motto: »Kannste nichts machen, wenn die Christgläubigen keine Kinder mehr kriegen.« Doch Zweidrittel des Schwunds haben nichts mit der Demographie zu tun. Da könnte man schon etwas machen, wenn man könnte.

    Alles begann mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil

    Es liegt nahe, die Dramatik der Austritte auf den Missbrauchsskandal zurückzuführen und, womöglich noch gravierender, das Versagen der Kirche bei der Aufarbeitung dieses Skandals. Doch die Wahrheit ist viel schlimmer: Die Abwendung vom Christentum dauert schon viel länger. Nach dem Krieg war die konfessionelle Welt in Deutschland noch in Ordnung: Man war entweder evangelisch (50 Prozent) oder katholisch (45 Prozent), der ungläubige Rest war vernachlässigbar. In konfessionsverschiedenen Orten wussten die Leute voneinander, wer welchem Glauben anhing: Katholiken kauften ihre Wurst beim katholischen Metzger, Protestanten beim evangelischen Fleischer. Auch 1970 stimmte diese konfessionelle Ordnung noch: Katholisch waren 44 Prozent, evangelisch 49 Prozent der Deutschen. Erst danach ging es los: Heute gehört nur noch jeder zweite Deutsche einer der beiden Konfessionen an. Während 1950 jeder zweite Katholik regelmäßig sonntags zur Messe geht, ist es heute nicht einmal mehr jeder Zehnte.

    Was ist passiert? Kirchenmänner und Theologen schwurbeln sich durch (Kardinal Reinhard Marx), verweisen auf die schwindende Gottesbindung und fordern den verbliebenen frommen Rest zum Gebet auf (Kardinal Walter Kasper). Das kann man versuchen. Ökonomen und Soziologen werden ein bisschen konkreter. Von »Massenexodus« spricht der in London lehrende Religionssoziologe Stephen Bullivant in seinem gerade bei Oxford University Press erschienenen Buch über Sezession und Glaubensabfall in der Katholischen Kirche. Der Clou: Ausgerechnet das II. Vatikanische Konzil (1962 bis 1965), welches Aufbruch und neue Kraft für die Kirche bringen sollte, war der Anfang vom Ende. Die Sache hatte auch damals schon viel mit Sex zu tun, kirchlich »Sexualmoral« genannt: In seiner Enzyklika »Humanae vitae« von 1969 verbot Papst Paul VI. den Katholiken jegliche Empfängnisverhütung außer der natürlichen. Doch die Katholikinnen nahmen lieber die damals neue Antibabypille und kehrten ihrer Kirche den Rücken – ein Akt massiver Gehorsamsverweigerung, wie es ihn früher nie gegeben hätte. Parallel dazu verwilderte der Kult: die Protestanten verliebten sich in den linken Moralismus, die Katholiken nahmen die Klampfe zur Hand und verkitschten ihre schöne Liturgie. Soziologe Bullivant spricht von »happy-clappy liturgy«. Das sind immer noch nicht alle Gründe: zur abnehmenden Glaubwürdigkeit des kirchlichen Personals, dem Kopfschütteln über die Haltung der Amtskirche zu Scheidung, Homosexualität oder vorehelichem Sex, kommen Zweifel der Christen daran, ob es ein Leben nach dem Tod (einerlei ob im Himmel oder in der Hölle) gibt und ob Gott wirklich existiert.

    Schadet die Entchristlichung dem Wohlstand?

    Religionssoziologen machen einen Unterschied zwischen »Glauben« und »Kirchenmitgliedschaft« (»believing« versus »belonging«). Man kann an Gott glauben, ohne je in die Kirche zu gehen. Man kann aber auch in den Gottesdienst gehen, etwa weil dort Johann Sebastian Bachs Kantaten zu hören sind, und an der Existenz Gottes zweifeln. Beides zählt als »religiöses« Verhalten. Beides hat dramatisch abgenommen – und zwar in allen reichen Ländern der Welt. In den Vereinigten Staaten, wo es viel mehr Kirchen-Wettbewerb gibt, gehen von hundert Getauften heute noch 15 Prozent zur Sonntagsmesse; 35 Prozent von ihnen haben den Glauben an die christliche Erlösungslehre verloren. In Großbritannien sieht es ähnlich aus. Zuwächse verzeichnen einzig die »Pfingstler«, jene kapitalismusfreundlichen sogenannten »Health- and Wealth-Christen«, die nicht nur in Amerika, sondern beispielsweise auch im kommunistischen China viel Zustrom verzeichnen.

    Angesichts dieses beispiellosen Massen-Exodus seit fünfzig Jahren bekommt die alte These Max Webers über die Entzauberung der Welt wieder neue Freunde. Robert Barro, ein Harvard-Ökonom, der mit Arbeiten über rationale Erwartungen und die Rolle der Geldpolitik berühmt geworden ist und als Kandidat für den Ökonomie-Nobelpreis gehandelt wird, hat zusammen mit seiner Frau Rachel McCleary, einer Religionswissenschaftlerin, immer schon viel über die Ökonomie des Religiösen geforscht. Jetzt haben die beiden in einem spannend zu lesenden Buch die Summe ihres Nachdenkens vorgelegt (»The Wealth of Religions«). Zwei Fragen stehen im Zentrum: Trägt religiöser Glaube zum Wohlstand der Nationen bei? Und: Führt wachsender Wohlstand zu einem Schwund religiöser Praxis und religiösen Glaubens? Letzteres ist die klassische, ebenfalls von Max Weber stammende Säkularisierungsthese, welche von Barro-McCleary rehabilitiert wird. Das bedeutet nicht, dass Religion am Ende ganz aus der Welt verschwände und durch atheistische Rationalität eScrsetzt würde. Doch seit der religionskritischen Aufklärung haben die Menschen mehr Optionen, wie und woher sie ihrem Leben Sinn geben können. Der Wettbewerb wurde schärfer. Das dezimiert die Gruppe der Christen sozusagen von alleine, wenn neue Akteure Marktanteile ergattern. Wenn dann – auf der Angebotsseite würden Ökonomen sagen – eine Verschlechterung des religiösen Produkts und eine massive Vertrauenskrise der Firma hinzu kommt, dann nimmt die Nachfrage nach Religion schlicht aus ökonomischen Gründen ab.

    Robert Barro, ein säkularer Jude, findet das übrigens gar nicht gut und zwar abermals aus ökonomischen Gründen. Denn es lässt sich empirisch zeigen, dass der christliche Glaube sehr hilfreich ist für Wachstum und Wohlstand eines Landes. Dabei spielt »Believing«, das aus dem Glauben heraus motivierte leistungsfreundliche Arbeitsethos, eine deutlich wichtigere Rolle als »Belonging«, die soziales Kapital generierende kirchliche Gemeinde. Überspitzt gesagt heißt das: Ein dramatischer Rückgang des christlichen Gottes- und Erlösungsglaubens ist schlecht für das Wirtschaftswachstum. Ob das die Kirchen motivieren wird, die Qualität ihres religiösen Angebotes zu bessern, wage ich zu bezweifeln. Denn sie müssten dafür ihren Antikapitalismus über Bord werfe. Doch den hat Papst Franziskus anlässlich einer Reise nach Madagaskar gerade vehement erneuert.

    Rainer Hank

  • 11. September 2019
    Tokio Hotel und meine Schallplatten

    Die Zwillinge Tom und Bill Kaulitz

    Dieser Artikel in der FAZ

    Als Flaneur fremdelnd in der neuen Streaming-Welt

    Ein glücklicher Zufall bescherte uns vor ein paar Monaten ein Gespräch mit Tom und Bill Kaulitz, den Gründern von Tokio Hotel. Nein, es soll hier nicht um Heidi Klum und die Hochzeit gehen, das haben die Kollegen aus dem »Leben« in der FAS längst auserzählt. Hier geht es um Wirtschaft, also die harten Sachen. Jedenfalls haben wir von den Kaulitz-Zwillingen zum ersten Mal davon Kunde erhalten, dass wir unsere iTunes-Sammlung künftig auf dem digitalen Friedhof beerdigen könnten. Apple verkauft schon bald keine iTunes-Lieder mehr, hatten uns die Musiker erzählt.
    Und so sollte es dann auch kommen. Anfang Juni war es offiziell: der digitale Plattenladen von Apple schließt. Die Zukunft des Musikhörens heißt »Streaming«. Seither bin ich etwas in Unruhe: Denn ich fürchte, dass meine schöne Sammlung (vor allem Jazz und Klassik) irgendwann ganz aufhören wird, Töne von sich zu geben, weil die zugehörige App keine Updates erhält. Dann kann ich am Ende auf meinem Computer nur noch eine digitale Sondermusikzone einrichten unter der Überschrift: »Hanks Musikgeschmack zwischen 2005 und 2019«.

    Das ist jetzt schon die dritte technologische Neuerung zum Musikhören, die ich mitmache. Erst Platten, dann CDs, schließlich iTunes (von den Tonbändern für den Cassetten-Rekorder, die sich ständig verhedderten, wollen wir hier absehen). Da merkt man doch, was man an physischen Tonträgern hat: Die stehen im Regal, auch wenn die Platten einigermaßen verkratzt sind. Aber meine iTunes-Sammlung: Wie real ist die eigentlich? Immerhin handelt es sich um mein Eigentum, denn ich habe dafür bezahlt. Davon habe ich nichts mehr, wenn meine Befürchtung wahr wird und die App bald vor sich hin modert.

    Auch Radio ist eine Art Streaming

    Die neue Welt, wie gesagt, heißt »Streaming«. Irgendwo in der dicken Cloud müssen wohl Tag und Nacht alle Musiktitel der Welt laufen, alle Filme, alle Podcasts, alle Spiele – quasi in einer Endlosschleife. Und ich kann, wann und wo immer ich will, mich ein- und ausklinken. »Individualisierung«, nicht Uniformierung, heißt der technische Fortschritts. Bei hr2 – eine Art Streaming von früher – muss ich warten, bis mein Lieblingssong gespielt wird. Nämlich nie, wenn ich Pech habe. Bei »Spotify«, was ich inzwischen nutze, ist Geduld ein Fremdwort, jeden Wunsch liest mir die grüne App von der Maus ab. Und wenn mir mal nichts einfällt, fällt Spotify garantiert etwas ein: Denn dort kennt man meine Präferenzen besser als ich sie selber kenne. Das alles für 9,99 Euro im Monat – das ist das »All you can eat«-Prinzip übertragen auf Hören und Sehen.

    Ist das nun ein Paradigmenwechsel in der Ökonomie, will ich von Justus Haucap wissen. Der Mann ist Wettbewerbsökonom an der Universität Düsseldorf und kennt sich in der neuen Plattform-Ökonomie aus. Der Ökonom relativiert: Auch die alte Welt sei eine Art Streaming-Ökonomie avant la lettre gewesen, gibt er zu bedenken. Einen Föhn kauft sich der Verbraucher ja auch nicht, weil er dieses dröhnende Plastikteil mit Elektromotor haben will, sondern weil das Heißluftgerät ihm einen möglichst lang anhaltendend »Nutzenstrom« (ein Begriff aus der Mikroökonomie) verspricht. Und Fernsehen und Radiohören, wie gesagt, ist auch eine Art streamen, auf öffentlich-rechtlichem UKW-Niveau. Mithin: Es gibt nichts wirklich Neues unter der Sonne des Ökonomen.

    Warum kostet alles immer 9 Euro 99?

    Könnte es sein, dass die digitale Streaming-Ökonomie nun endlich den von vielen ersehnten Übergang der Welt des Habens in eine neue Welt des Teilens möglich macht? Streaming ist zweifellos für die Plattformbetreiber attraktiv, was vor allem daran liegt, dass für jeden zusätzlichen Kunden, den Apple, Amazon oder Spotify gewinnen, die Grenzkosten Null sind. Davon träumt jedes Unternehmen. Ob Ed Sheeran von hundert oder von einer Million Fans gehört wird, verursacht bei Spotify keine weiteren Kosten. Hat man mich einmal für ein Spotify-Abonnement gewonnen, was einen gewissen Werbeaufwand erfordert, zahle ich von da an brav meine Monatsgebühr, ohne irgendwelche weiteren Kosten zu verursachen. Die Leute bei Netflix & Co. ahnen offenbar auch, dass ich träge bin und mein Abo nicht kündige, selbst wenn ich mir gerade zwei Monate lang keinen Film angesehen habe. Dass das so ist, liegt paradoxerweise daran, dass ich weiß, ich könnte jederzeit kündigen. Aber natürlich liegt es auch an der niedrigen Preisschwelle: 9,99 Euro machen den Eintritt in die Streamingwelt leicht und den Austritt angesichts des Bagatellbetrags zu aufwendig. Man zählt ja nicht ständig zusammen, wie viele vergleichbare Verträge man längst auch bei Amazon Prime und anderen inzwischen abgeschlossen hat.

    Wo wir gerade bei den Preisen sind. Hat man uns in der Schule nicht beigebracht, dass sich Preise nach Angebot und Nachfrage richten? Beim volatilen Benzinpreis an der Tankstelle scheint das heute noch der Fall zu sein, auch wenn viele Leute dies bestreiten würden. Doch Amazon Prime ändert die Monatsmiete nicht, wenn es gerade vier super teure Film-Produktionen eingekauft oder selbst hergestellt hat. Und es wird auch nicht billiger, wenn die Firma gerade eine nennenswerte Zahl von Kunden verloren hat. Diego Aparicio und Roberto Rigobon, zwei Ökonomen am MIT im amerikanischen Cambridge, forschen über dieses Phänomen schon geraume Zeit. Ihre These: Firmen verkaufen Tausende sehr unterschiedlicher Produkte, aber sie machen dafür nicht tausende unterschiedlicher Markt-Preise, sondern portionieren sie in wenige einfache Preiskategorien. Das gilt nicht nur für die 9,99–Schwelle der Internet-Ökonomie, sondern auch für ein traditionelles Bekleidungshaus wie H&M, deren Kategorien 9,99 (Hüte, Schals, Gürtel, Socken), 7,99 (T-Shirts) und 19,99 (Hemden, Hosen) lauten. Wenn sich nun die Herstellungs- und Lohnkosten oder die Bank-Zinsen ändern, heißt das noch lang nicht, dass sich an den fixen Preiskategorien etwas ändert. Die MIT-Ökonomen vermuten, das könnte auch ein Grund sein, warum in der Welt von heute keine Inflation mehr vorkommt. Preiserhöhungen werden offenbar viel seltener an die Kunden weitergegeben. Aber das ist ein anderes Thema.

    Ist also Streaming-Ökonomie die Wirtschaftswelt von morgen? Justus Haucap neigt dazu, die Frage zu bejahen. Und kann sich Ausgreifen auf andere Bereiche der Warenwelt vorstellen: Vielleicht hört Amazon irgendwann auf, Bücher zu verkaufen und streamt sie nur noch? Wie viele Bücher haben wir schon nachhause bestellt, nur um nach vierzehn Seiten festzustellen, dass wir das Buch nie zu Ende lesen werden! Mehr noch: Muss die Lufthansa ihre Flugzeuge bei Airbus wirklich kaufen? Sollte sie nicht besser einen Nutzungsvertrag abschließen, der Airbus verpflichtet, immer eine ausreichende Zahl von Fliegern bereit zu halten?

    Inzwischen kümmert sich Apple übrigens rührend um mich: Ich solle mir keine Sorgen machen, iTunes werde in Kürze lediglich ersetzt und über »macOS Catalina« – den Namen wird man sich merken müssen – auf drei neue Apps aufgespalten. Es gebe in Zukunft »gewiss auch jüngere Kunden, die nach wie vor gerne Alben kaufen statt zu streamen«. Hm? Im Klartext heißt das wohl, dass am Ende nicht iTunes, sondern ich das Auslaufmodell bin.

    Rainer Hank

  • 27. August 2019
    Von Schulden und anderem Schweinkram

    Haut das Geld raus

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum Politiker plötzlich wieder Lust auf neue Schulden haben

    Zeit macht vergesslich. Gerade einmal zehn Jahre ist es her, dass Bundestag und Bundesrat in Deutschland die Aufnahme einer »Schuldenbremse« in das Grundgesetz beschlossen haben. Seither heißt es in Artikel 109, Absatz 3: »Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen.« Der Satz ist dankenswerterweise auch für Nichtjuristen verständlich. Selbst die dann folgende Einschränkung, unter Umständen sei eine Neuverschuldung von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) vertretbar und Ausnahmen seien zudem bei Naturkatastrophen und Wirtschaftskrisen erlaubt, ist einfach und klar.

    Zur Erinnerung: 2009, das war die Zeit von Finanz- und Eurokrise, die im Kern eine Krise zu hoher Staatsschulden war. Die Aufnahme einer – der Schweiz abgeguckten – Schuldenbremse war von der Überzeugung getragen, dass man Politiker durch ein Gebot der Verfassung davor schützen müsse, auf Pump zu leben. Diszipliniert, wie die Deutschen sind, haben sie sich daran gehalten: Seit 2014 verzichtet der Bund auf neue Schulden (35 Jahre lang zuvor war das anders). Angesichts niedriger Zinsen schrumpfte auch die Gesamtverschuldung binnen zehn Jahren von über 80 auf inzwischen nur noch knapp 60 Prozent des BIP. Wir sind jetzt wieder Musterknaben der Maastricht-Verträge.

    Ein Hoch auf die Schuldenbremse

    Das wäre Grund genug für eine große Party, wenn CDU und CSU an diesem Sonntag zu einer Klausurtagung in Dresden zusammenkommen. Doch i wo: Seit Wochen wächst die Lust bei Politikern jeglicher Couleur, künftig wieder höhere Schulden zu machen. Immer mehr Ökonomen geben ihnen Schützenhilfe. Sie sind sich allerdings nicht einig, was denn nun als Begründung für den Paradigmenwechsel gelten soll. Klar ist nur: Es sind ausschließlich hehre Ziele, denn Politiker haben stets gute Zwecke im Sinn. Die Vermutung, es gehe auch um fiskalische Signale für die AfD-bedrohten Wahlen im Osten am 1. September gelten als böse Unterstellung. Unter den guten Zwecken rangieren (1) Investitionen für marode Schulen, fehlende Digitalisierung (»schnelles Internet«) und – klar doch – Maßnahmen gegen den Klimawandel. Wem das nicht reicht, dem bieten die neuen Pump-Politiker (2) die schwache Konjunktur an, die rhetorisch zu einer dramatischen Rezession aufgeblasen werden muss. Für makroökonomische Feinschmecker gibt es schließlich noch (3) die globalen Ungleichgewichte, wonach es zum Abbau der deutschen Exportüberschüsse nötig sei, die Binnennachfrage mit öffentlichen Investitionen zu stimulieren. Schulden seien in Niedrig- oder Negativzinsphasen ungefährlich, so lange das Wirtschaftswachstum den Zinssatz übertrifft. Denn dann sinkt das Verhältnis von Staatsschulden von allein, ohne dass später neue Steuern fällig werden. »Haut das Geld raus!« heißt die Devise dieser polit-ökonomischen großen Koalition. »Ordnungspolitischer Schweinkram« – eine hübsche Formel des IW-Chefs Michael Hüther – macht wieder Freude.

    Angesichts solcher Gelüste sollte man daran erinnern, was eigentlich die Aufgabe des Staates in der Wirtschaft ist. Die Vordenker der politischen Ökonomie der Aufklärung (John Locke, Adam Smith, David Hume) waren der Auffassung, der Staat müsse die Polizei, eine gute Verwaltung, den König – und von Zeit zu Zeit einen Krieg finanzieren. Dafür gibt es Steuern und, wenn das nicht reicht (Krieg!), macht man eben Schulden. Noch um das Jahr 1870 lag der Anteil öffentlicher Ausgaben in den damals entwickelten Ländern (finanziert aus Steuern, Abgaben und Krediten) bei rund zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das änderte sich im Sozialstaat mit der Überzeugung, eine Regierung sei für Infrastruktur (Straßen/Schienen, Post, Bildung, Kultur) zuständig und müsse die großen Lebensrisiken (Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit) ihrer Bürger abfedern. Im Jahr 1960, als diese Lehre allgemein geteilt wurde, lag die Staatsquote noch zwischen 25 und 30 Prozent. Erst die danach einsetzende Keynesianische Revolution blähte die Ausgaben auf heute durchschnittlich 40 Prozent des BIP auf. Deutschland liegt mit 44 Prozent darüber (es gibt auch Länder mit deutlich über 50 Prozent). Der mit Abstand größte und immer weiter wachsende Posten sind die sozialen Ausgaben. Ludger Schuknecht, stellvertretender Generalsekretär der OECD in Paris und einer der besten Kenner der Geschichte und Eigenlogik der Staatsausgaben, spricht von »sozialer Dominanz«: Ein Viertel des BIP der OECD-Staaten wird inzwischen von den Sozialausgaben absorbiert.

    Viel Staatsgeld macht noch lange keinen besseren Staat

    Nun argumentieren viele Politiker und Wissenschaftler, dass das Wachstum der Staatsausgaben gut sei, weil es Wohlfahrtsstaaten schafft, in denen die Bürger im sozialen Frieden, ohne große Ungleichheit und risikoversichert miteinander zusammen leben. Dort umsorge sie eine vom Staat unterhaltende öffentliche Daseinsvorsorge von der Wiege bis zur Bahre. Ein Staatsanteil von 40 Prozent und mehr wäre kein Drama, sondern ein Erfolg der zivilisatorischen Evolution und des sozialen Fortschritts.

    Um diese Behauptung zu prüfen, müsste man zeigen, dass hohe Staatsausgaben auch besonders effizient sind. Das aber ist ein Irrtum. Denn immerhin gibt es auch heute eine große Spanne zwischen relativ schlanken Staaten (Schweiz, Irland, Australien), die mit rund 30 Prozent auskommen, und sehr üppig finanzierten Staaten (Schweden, Norwegen), die über 50 Prozent liegen. Glaubt man den Analysen von Ludger Schuknecht, so lässt sich nicht der geringste Kausalzusammenhang zwischen der Höhe der Staatsausgaben und der Qualität der staatlichen Leistungen nachweisen. Die schlanke Schweiz etwa hat eine hervorragende Infrastruktur (pünktliche Züge), ein straffes Rechtssystem, exzellente Bildung (ETH Zürich, Hochschule St. Gallen) und eine gute Alters- und Gesundheitsvorsorge. Das Prokopfeinkommen der Eigenossen liegt deutlich über dem unseren. Kurzum: Regierungen müssten nicht mehr als 30 bis 35 Prozent ihres Sozialprodukts ausgeben, um ihren Bürgern einen guten und sozialen Staat zur Verfügung zu stellen.

    Was folgt daraus für die Debatte um die Schuldenbremse? Der Staat braucht keinesfalls noch mehr Geld, er würde seine Bürger weder glücklicher noch reicher machen. Es könnte aber sein, dass höhere Staatsausgaben etwa für saubere Schulen, schnelles Internet – Klammer auf: muss das wirklich der Staat machen? – oder die Dekarbonisierung nötig sind. Dann aber wäre es der naheliegende Weg, im Gegenzug die Sozialausgaben zu begrenzen. Man könnte, wie es der in Cottbus lehrende Ökonom Jan Schnellenbach im Blog Wirtschaftlichefreiheit vorschlägt, die Subventionen des Bundes durchforsten (darin sind auch Sozialausgaben), die inzwischen auf einen Rekordbetrag von 55,3 Milliarden Euro angewachsen sind, von denen aber mindestens 36 Milliarden laut Kieler Institut für Weltwirtschaft mehr als fragwürdig sind. Das wäre längst noch kein »Sozialabbau«. Dass die höchsten Präferenzen der Bürger an den Staat bei den Sozialausgaben lägen, ist ohnehin ein Mythos.

    Kurzum: Hände weg von der Schuldenbremse. Wer neue Staatsausgaben für nötig erachtet, soll an anderer Stelle sparen. Masse dafür ist vorhanden.

    Rainer Hank

  • 19. August 2019
    Asketen an der Macht

    Verzichten für eine bessere Welt?

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum glauben wir nicht mehr an den Fortschritt?

    »Archaischer Torso Apollos« ist ein 1908 in Paris entstandenes Sonett Rainer Maria Rilkes überschrieben, das mit dem berühmten Vers endet: »Du musst Dein Leben ändern«. Vermutlich hatte der Dichter anderes im Sinn, doch gilt die Zeile seither als Imperativ der Konversion, welche der Einsicht folgt, dass es so nicht weitergehen könne.

    Was genau »so« nicht weitergehen kann und »wie« das Leben zu ändern sei, dass ist offen für persönliche Interpretation, was dem Erfolg des Rilke-Gedichts nicht geschadet, sondern eher noch genützt haben dürfte. Rilkes Gedichtzeile steht ganz offenkundig hinter dem Imperativ des Verzichts, der angesichts der drohenden Klimakatastrophe seit Monaten immer lauter zu vernehmen ist. Der Verzicht umfasst inzwischen immer mehr Bereiche des Lebens, in denen jeder einzelne beweisen könne, dass er den Auftrag ernst nimmt, sein Leben konkret zu ändern. Flüge oder Schiffsreisen sind mit Blick auf den ökologischen Fußabdruck zu meiden, Autofahrten selbstredend auch, es sei denn es handle sich um ein E-Mobil, dessen Strom seinerseits korrekt erzeugt wurde. Gleichermaßen ist auch der Verzehr von Fleisch zu unterlassen, wofür eine ganze Reihe von Gründen ins Feld geführt werden: Das arme Tier leidet, weil es zu unserer Bedürfnisbefriedigung getötet wurde. Tierisches Eiweiß schadet der Gesundheit der Menschen. Und am Ende ist vor allem die CO2–Bilanz von Fleisch viel verheerender als wenn wir uns von Salat, Gemüse und Körnern ernähren.

    Der Imperativ des Verzichts macht auch vor Größerem nicht Halt. Die Bewegung »Birth Strike« fordert die Menschen dazu auf, keine Kinder mehr in die Welt zu setzen. Denn eine vom Klimawandel verwüstete Welt sei keiner künftigen Generation zuzumuten. Mehr noch: Aus Neugeborenen würden zwangsläufig erwachsene Menschen, die ihrerseits einen tiefen ökologischen Fußabdruck hinterlassen. Radikal gedacht folgt daraus: Eine Welt ohne Menschen (oder mit immer weniger Menschen) wäre klimapolitisch gesehen eine sinnvolle Sache. Die unbeabsichtigte Folge des Klimawandels – die Zerstörung des Planeten und der Menschheit – wäre quasi mit voller Absicht vom massenhaften Geburtenstreik schon vorweggenommen. Kurzum: der Glaube an Mobilität, Freiheit, ja an Zukunft überhaupt scheint uns abhandenzukommen. Es dominiert die Angst.
    Was mich interessiert, ist nicht der Klimawandel als Faktum. An dessen von Menschen verursachter global-planetarischer Wucht ist nicht zu zweifeln. Was mich beschäftigt ist die Frage, warum scheinbar plötzlich der Imperativ des Verzichts weltweit, aber vor allem auch deutschlandweit, so viel Zustimmung bekommt, so dass es fast so scheint, als sei radikale Askese nicht nur alternativlos, sondern auch das einzige wirkungsvolle Mittel, den Klimawandel aufzuhalten oder zumindest zu verzögern.

    Die Ethik des Verzicht hat religiöse Wurzeln

    Ganz offensichtlich hat die Ethik des Verzichts ihren Ursprung in einer religiösen Praxis, aus deren Kontext sie sich emanzipiert und säkularisiert hat. Religiöse Muster können unbewusst lange haften. Naherwartung des Weltendes, Bekehrung der Menschheit zum wahren Glauben und Askese gehören im Christentum von Anfang an eng zusammen. Wer daran glaubt, dass das Reich Gottes nahe ist, dem bedeuten die Freuden des Alltags nichts mehr. Sie oder er verlässt Familie und Heimat, folgt einen religiösen Führer nach und übt Verzicht. Wer es ernst meint, fasse sich an die eigene Nase und mache ernst damit, sein Leben zu ändern. Die Ethik des Verzicht versteht zu überzeugen als Gegengift zur Politik des Geschwätzes.

    Einschränkung der Ernährung, Fasten genannt, war immer schon eine zentrale Übung in allen Religionen, nicht nur im Christentum, sondern auch im Islam und im Buddhismus, wo die Entsagung gegenüber der Welt zur Läuterung der Menschen beiträgt. Der Frankfurter Althistoriker Hartmut Leppin hat jüngst in der FAZ darauf hingewiesen, dass zur religiösen Askese immer auch sexuelle Enthaltsamkeit, Keuschheit genannt, zählten, was in der heutigen Zeit merkwürdigerweise aus der Mode gekommen ist. Allenfalls könnte man die Birth-Strike-Bewegung als eine säkulare Variante der religiös begründeten Entsagung deuten, welche die Fortpflanzung ablehnt, aber gleichwohl angesichts der heutigen Möglichkeiten zur Empfängnisverhütung auf Sex nicht verzichten muss.

    »Ökologischer Calvinismus«

    Lässt man die Ziele – Klimawandel aufhalten! – einen Moment lang außer Acht, so bleibt nicht verborgen, dass die Fluchtlinie der neuen Klima-Askese eine Welt ist, in welcher Freude, Fortschritt und Wohlstand kaum mehr einen Platz haben. Der wachsende Wohlstand, dem wir so viel Freiheit, Mobilität und Annehmlichkeiten verdanken, gilt selbst ja als Hauptursache für den Klimawandel. Deshalb sind jetzt auch alle Wachstums- und Kapitalismuskritiker zu Klimapolitikern mutiert: Galt bislang der Kapitalismus als verantwortlich für Armut, Ausbeutung der Arbeiter und Ungleichheit, so ist ihm nun vor allem die Klimaveränderung anzulasten. Die heutige wachstumsskeptische Kapitalismuskritik wäre – zumindest unausgesprochen – bereit, um der Rettung des Klimas willen eine Verarmung der Menschheit in Kauf zu nehmen.

    Was an diesem »ökologischen Calvinismus« (Peter Sloterdijk) erschreckt, ist der Umstand, dass alternative Strategien zur Linderung des Klimawandels kaum mehr in den Blick kommen oder als Ablenkungsmanöver diskreditiert werden. Das ist auch deshalb merkwürdig, weil gerade Sozialisten und Sozialdemokraten traditionell seit dem 19. Jahrhundert darauf insistiert haben, die ungewünschten Folgen des zivilisatorischen Fortschritt müssten mit Fortschritt und nicht mit Rückschritt bekämpft werden. Doch der »Homo Faber«, der Mensch, der die Zukunft mit Technik in Griff zu bekommen sucht, hat abgedankt. Die Asketen übernehmen die Macht. Radikale Askese mag religiös oder ethisch gesehen als Strategie der Reinigung, Konzentration und Achtsamkeit positiv gewertet werden – doch sie bleibt ein Weg des Rückschritts, nicht des Fortschritts. Fortschrittsverträglichere Maßnahmen gegen den Klimawandel wären dagegen institutionelle Änderungen (die CO2–Steuer oder die Ausweitung des Handels mit Verschmutzungsrechten), die über Anreize funktionieren, aber nicht über Verzichte und Verbote.

    Fortschrittsverträglichere Maßnahmen wären erst recht all jene sehr sinnvollen technischen Ideen zur Dekarbonisierung, etwa jene, Strom in großen Stil aus erneuerbaren Energien in Gas oder flüssigen Brennstoff umzuwandeln und damit transportabel zu machen. Mit solchen unter dem Namen Power-to-X diskutierten technischen Verfahren könnten Fahrzeuge zur Erde, zu Wasser und in der Luft klimaneutral betrieben werden.

    Der Einwand, solche ökonomisch-institutionellen und technisch-innovativen Konzepte dauerten viel zu lange, bis sie wirken, verfängt nicht wirklich: Er muss sich die Gegenfrage gefallen lassen, wie viel es wirklich bringt, wenn wir Deutschen alle am Ende nur noch Kartoffeln aus dem Garten essen und nie wieder von Frankfurt nach Berlin fliegen. Mag sein, dass es nötig ist, unser Leben zu ändern. Es hat den Menschen aber auch noch nie geschadet, sich etwas Neues einfallen zu lassen.

    Rainer Hank

  • 12. August 2019
    Monika Grütters' teures Kino

    Monika Grütters Foto: Elke Jung-Wolff

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum kriegt die Kultur immer mehr Geld?

    Kürzlich waren wir mal wieder im Kino. »Yesterday« heißt der wunderschöne Sommerfilm, in dem ein ziemlich erfolgloser Musiker Kapital daraus schlägt, dass der Rest der Menschheit vergessen hatte, dass es einmal die Beatles gab, was dem Sänger die einmalige Gelegenheit gibt, Yesterday, Eleanor Rigby oder Let it be als eigene Songs auszugeben. Yesterday ist nicht nur lustig für Nostalgiker der sechziger Jahre. Auch Pop-Star Ed Sheeran hat dort einen selbstironischen Aufritt. Das Onlineportal Kinofenster.de empfiehlt den Streifen für Schulkinder in den Fächern Musik, Englisch, Deutsch und Geschichte und bietet Materialien für den Unterricht. Prädikat »Pädagogisch wertvoll« gewissermaßen. Und das alles ohne staatliche Subventionen.

    An »Yesterday« musste ich denken bei der Lektüre eines Interviews mit der Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) in der SZ. Dort wird festgestellt, dass die Besucherzahlen in den deutschen Kinos zurück gehen. Nur noch 37 Prozent der Deutschen gehen mindestens einmal pro Jahr ins Kino. Vor zehn Jahren waren es noch 45 Prozent. Da kann man nichts machen, denke ich. Es ist ja nicht so, dass die Leute aufhören, Filme zu gucken: Dazu muss man sich nur die Abonnementzahlen von Amazon, Netflix & Co anschauen. Zum Filmgucken braucht es kein Kino, was Vor- und Nachteile hat: Es fehlt das Großleinwanderlebnis, dafür ist es womöglich auf der heimischen Couch bequemer und der Film zu jeder Tages- und Nachtzeit verfügbar.

    Doch Frau Grütters ist alarmiert und zieht einen sehr merkwürdigen Schluss: Wenn weniger Leute in die Kinos gehen, müssen die Subventionen für den Film erhöht werden, findet sie. Allgemeiner formuliert hieße ihre Regel: Wenn ein Produkt weniger nachgefragt wird, müssen wir es umso mehr mit staatlichen Mitteln am Leben halten. Allgemein gilt die Regel freilich für Frau Grütters gerade nicht: Die Leute gehen auch weniger zu Pop-Konzerten und lesen seltener Zeitung als früher. Doch Pop-Gruppen und Zeitungsverlage werden von Frau Grütters nicht alimentiert. Netflix hält Frau Grütters aber ganz offensichtlich für einen Feind, den der Staat mit Geld bekämpfen muss: »Verführerisch« sei es, sich einen brandneuen Film auf dem Sofa anzusehen. »Wahrscheinlich macht das jeder gelegentlich«, räumt die Ministerin ein. Igitt! Dem unanständigen häuslichen Treiben will sie Einhalt gebieten. Denn am Ende verkümmere der »Kulturort Kino«.

    »Other Peoples Money«

    Misst man die Politiker einer Regierung am Geldausgeben, so ist Monika Grütters mit Abstand die erfolgreichste Ministerin im Kabinett Merkel. Seit Amtsantritt im Jahr 2013 hat sie ihren Etat um fünfzig Prozent auf 1,9 Milliarden Euro gesteigert. Das kriegen selbst die Sozialminister nicht hin, die freilich – um die Kulturkirche im Dorf zu lassen – mit größeren absoluten Beträgen – eine Billion Euro im Jahr – hantieren dürfen. Frau Grütters indessen sitzt auf Geldtöpfen, die es vor zwanzig Jahren noch gar nicht gab, weil hierzulande eigentlich der gute Grundsatz galt, dass Kultur, wenn man sie schon staatlich päppeln müsse, Ländersache sei. Doch dann kam Kanzler Gerade Schröder (SPD) und sein erster Kulturmann Michael Naumann. Seither mischt der Bund kulturell kräftig mit, erhöht den eigenen Finanzanteil und verdrängt mehr und mehr die Länder und Kommunen aus dem Kulturbusiness. Kultur schmückt die Mächtigen. Das wissen sie auch in Berlin.

    Nun muss man gar nicht so weit gehen, staatliche Kulturförderung als Ganzes zu verdammen. Die 265 Millionen Euro für die »Stiftung Preußischer Kulturbesitz«, die 15 Millionen für die »Klassikstiftung Weimar«, die 64 Millionen für das Bundesarchiv Koblenz oder die 55 Millionen für die – übrigens wunderschöne – Nationalbibliothek Frankfurt scheinen uns gut ausgegebenes Geld zu sein. Abseits solch subjektiver Präferenzen lassen sich auch ökonomische Gründe anführen: Der Staat soll subsidiär dort einspringen, wo ein privates Angebot fehlt, gleichwohl aber Einvernehmen herrscht, dass es sich um eine gesellschaftlich wichtige Aufgaben handelt. Die Pflege des kulturellen Erbes (Archive, Bibliotheken) nicht nur in Zeiten, in denen der gesellschaftliche Zusammenhalt brüchig geworden ist, zählt zweifellos dazu. Natürlich gibt es auch private Bibliotheken. Doch es dürfte schwer sein, einen privaten Stifter zu finden, der den Auftrag der Deutschen Nationalbibliothek finanziert, ausnahmslos alle deutschen Publikationen zu sammeln und der Allgemeinheit zugänglich zu machen.

    Können die Reichen ihre Bayreuth-Karten nicht selbst bezahlen?

    Doch warum muss der Staat in Bayreuth mit jährlich knapp drei Millionen Euro wohlhabende Bürger bespaßen? Haben die Reichen kein Geld mehr, um ihre Tristan-Karten selbst zu bezahlen? Und warum kriegt der Film allein von Frau Grütters knapp 200 Millionen Euro im Jahr; nimmt man alle anderen öffentlichen Töpfe hinzu, sind es 450 Millionen Euro. Frau Grütters bemüht sich noch nicht einmal um eine vernünftige Begründung. Den Erfolg der Kulturförderung liest sie daran ab, dass der Staat immer mehr Geld ausgibt. Was der Begründung bedürfte, gilt bereits als Grund. Und dann wird es auch noch widersprüchlich: Einerseits sollen kulturell hochstehende Nischenfilme, die kaum Zuschauer haben, eine Chance erhalten. Andererseits rechtfertigt Grütters Staatsmillionen für kommerziell erfolgreiche Nonsensfilme (»Fuck You Göhte 3«) als »Standortförderung«. Marktversagen liegt hier offenkundig nicht vor (allenfalls Geschmacksversagen, aber darüber lässt sich bekanntlich streiten). »Standortförderung« soll heißen: ein öffentlicher Euro zieht sechs privat investierte Euros (für Popcorn etc.) nach sich. Selbst wenn diese bei Politikern beliebte »Hebel-Theorie der Subvention« (eine Art kulturpolitischer Vulgär-Keynesianismus) sich bewahrheiten würde, bleibt doch auch wahr, dass ein Euro nur einmal ausgegeben werden kann: Wer Popcorn im Kino kauft, kann davon keine Möhre im Bioladen erstehen.
    Noch einmal: Es geht nicht um eine Kahlschlagplädoyer. Sondern um das Recht des Steuerbürgers, die Politiker mögen ihm Rechenschaft geben über die Verwendung seines Geldes. Es kann nicht Aufgabe der Politik sein, Branchen, die schrumpfen zu fördern, nur weil es deren Lobbys gelingt, ihr Geschäftsmodell als kulturell hochstehend auszugeben. Wenn die Menschen weniger ins Kino oder in die Buchhandlung gehen, die Filme aber zuhause streamen und sich die Bücher sich von Amazon besorgen, liegt kein Kulturversagen oder –verfall vor. Noch nicht einmal die (problematische) ökonomische Theorie meritorischer Güter greift, wonach der Staat einspringen soll, wenn der Markt im Vergleich mit dem gesellschaftlich erwünschten Umfang ein zu geringes Angebot bestimmter Güter zur Verfügung stellt. Aber an (guten oder weniger guten) Hollywood-Filmen ist meines Wissens kein Mangel. Mein aktueller Netflix-Tipp: »Stadtgeschichten«, queeres Leben in San Francisco mit der wunderbaren, fast neunzigjährigen Olympia Dukakis.

    Schlimmer als die Verführung, die von Netflix ausgeht, ist die Verführung, die das Ausgeben des Geldes anderer Leute auf Politiker ausübt. Doch die ästhetische Erziehung der Bürger ist nicht Aufgabe des Staates. »Grütters› Staatskino« braucht keiner.

    Rainer Hank