Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 23. März 2020
    Was heißt hier Solidarität?

    Wie den Virus integrieren?

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über den Altruismus in Zeiten von Corona

    Es war ein heißer Julitag des Jahres 1974 in Griechenland, als plötzlich und unerwartet die Militärdiktatur gestürzt wurde. Der frühere Ministerpräsident Konstantinos Karamanlis sollte aus dem Exil zurückkommen und wurde auf dem Syntagma-Platz von Athen erwartet. Vor dem Parlament kam eine riesige Menschenmenge zusammen. In den Stunden zuvor hatte die Militärjunta Dutzende Lastwagen mit Soldaten und Lautsprechern durch die Straßen fahren lassen. »Bürger von Athen!«, brüllten die Bewaffneten: »Bleibt zu Hause!« Doch die Demonstranten ließen sich nicht einschüchtern. Die Demokratie siegte, die Diktatur hatte verloren.

    Nicholas Christakis, der als kleiner Junge mit seiner Mutter auf dem Syntagma-Platz demonstriert hat, ist heute ein Professor für Evolutionsbiologie an der Universität Yale. Kürzlich ist sein neues Buch »Blueprint« erschienen, das davon handelt, was uns als Menschen eint. Es beginnt mit der Erinnerung an die Demo in Athen. Was Christakis sagen will: Menschen sind schon von ihrer genetischen Disposition her soziale Wesen. Sie existieren in der Gruppe. Wenn sie friedlich und solidarisch auftreten, vermögen sie es sogar, die Bösen vom Thron zu stürzen. Es hat gute Gründe, dass in vielen Verfassungen freiheitlich-demokratischer Gesellschaften die Versammlungsfreiheit ein Grundrecht ist.

    Es herrscht der Ausnahmezustand

    Man muss die positive Macht von Demonstrationen nicht romantisieren – Massen können bekanntlich auch viel Schlimmes anrichten. Doch die kleine Geschichte aus Athen verdeutlicht: Solidarität braucht den öffentlichen Raum und die Erfahrung menschlicher Nähe. Ihr pathetisches Emblem hierzulande ist die Lichterkette vieler Menschen mit Kerzen in den Händen. Im stillen Kämmerlein kann man nicht gut solidarisch sein. Das, so scheint es mir, ist ein Grundproblem dieser Corona-Wochen, wo wir aus guten Gründen aufgerufen werden, solidarisch zu sein, man uns aber nicht auf die Straßen und Plätze lässt, erst recht nicht in die Hospize und Hospitäler, um denen, die unsere Solidarität besonders nötig haben, unser Mitgefühl durch unsere Nähe zu zeigen. Der Aufruf, solidarisch sein, bleibt abstrakt in Zeiten des Ausnahmezustands, in denen das öffentliche Leben lahmgelegt und das Recht der freien Versammlung faktisch außer Kraft gesetzt ist. Fast scheint es, als ob sich diese Paradoxie in den Corona-Partys in den öffentlichen Parks zeigt, wo Menschen, die doch nur einander nah sein wollen, das Schlimmste anrichten: die Ausbreitung des Virus zu beschleunigen, anstatt den Prozess zu drosseln.

    Gewiss, man kann Leute, die kiloweise Mehl oder Konserven hamstern, unsolidarisch nennen, weil sie ihren Mitmenschen Lebensmittel entziehen. Aber vielleicht reicht es auch, solches Verhalten einfach nur als ungehörig oder meinetwegen egoistisch zu schelten. Kurzum: Ich bin skeptisch, ob uns die Beschwörung einer Ethik der Solidarität in diesen schweren Zeiten weiterhilft. Das merkt man nicht zuletzt daran, dass auch Politiker ihren Aufruf zur Solidarität stets mit einer Drohung verbinden: Wenn ihr euch nicht freiwillig sozial isoliert, dann verordnen wir eine Ausgangssperre. Wie man in Bayern seit gestern sieht, ist das ernst gemeint. Solidarität – wahrlich eine »große Idee« (Heinz Bude) – lebt davon, dass sie gerade nicht angeordnet werden kann. Staatlich befohlen ist sie noch nicht einmal halb so viel wert.

    Solidarität und soziale Distanz: ein Widerspruch

    Alena Buyx, eine an der TU München lehrende Medizinethikerin, die auch Mitglied des deutschen Ethikrates ist, kommt in ihrem 2016 zusammen mit einer Ko-Autorin verfassten Buch über das Solidaritätsprinzip in der Medizin (Campus Verlag) zu dem Schluss, dass die bei Pandemien nötigen Maßnahmen allenfalls teilweise als »solidarische Praktiken« eingeordnet werden können. Es gehe stattdessen schlicht um die Pflicht staatlicher Institutionen, ihre Bürger zu schützen. Das hat wenig mit Solidarität zu tun und schon gar nicht mit Kampf oder gar Krieg gegen ein Virus, das nicht zu besiegen ist, sondern – ganz im Gegenteil – integriert werden muss in das menschliche Immunsystem. Natürlich brauchen solche staatlichen Maßnahmen die Akzeptanz in der Bevölkerung. Dabei geht es dann um Einsicht der Vernunft in das Notwendige. Mag sein, dass die Opfer sozialer Distanzierung einigen leichter fallen, wenn sie sie Solidarität nennen, um ihnen eine altruistische Funktion zu geben.

    Dass Solidarität nicht zielführend ist, zeigt sich besonders bedrückend, wenn es um die Priorisierung knapper medizinischer Ressourcen geht. Gewiss hätten wir gerne, dass allen Kranken sofort jedwede medizinische Versorgung zuteil wird. Aber das geht schon unter normalen Bedingungen nicht. Priorisierung, im schlimmsten Fall Rationierung der medizinischen Leistungen könnten nötig werden; wir beobachten diese Katastrophe gerade mit großem Mitleid in Italien. Auch hierzulande gibt es heute schon Priorisierung, wenn die Krankenhäuser angewiesen sind, »normale« Operationen auf die Zeit nach der Pandemie zu verschieben. »Harte Rationierung« auf alle Fälle zu verhindern, also die Zuteilung intensivmedizinischer Leistungen unter Bedingungen absoluter Knappheit, das steckt ja gerade hinter der Pflicht, soziale Kontakte zu vermeiden. Zugleich wird das medizinische Angebot laufend ausgeweitet (auch mit Hilfe der Bundeswehr) und auf die Erfordernisse der Pandemie fokussiert.

    Doch auch wenn diese Anstrengungen hierzulande erfolgreich sind, führt kein Weg an der ökonomischen Einsicht vorbei, dass es bei medizinischen Ressourcen immer um Fragen der Verteilung und Prioritätensetzung gehe, sagte die Ethikprofessorin Alena Buyx dieser Tage in einem Interview. Das von Empathie gespeiste Solidaritätsprinzip würde verlangen, demjenigen zuerst zu helfen, der die Hilfe am nötigsten braucht. Doch viele Pandemiepläne und Leitfäden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall haben vernünftige Gründe dafür, nach dem »größtmöglichen Nutzen für viele« die Hilfe zu priorisieren. Im Klartext heißt das: Schwerstkranke mit den geringsten Überlebenschancen werden erst dann behandelt, wenn ausreichend Ärzte und Logistik für alle zur Verfügung stehen. Unserer solidarischen Intuition läuft das zutiefst zuwider: Menschenleben solle man nicht gegeneinander aufrechnen, heißt es. Aber der Realismus der Knappheit von Ressourcen und Zeit verlangt, die Augen nicht zu verschließen, sondern Kriterien einer Ethik der Priorisierung zu entwickeln. Dass Geld, also das Zuteilungsprinzip knapper Ressourcen auf Märkten, keine Rolle spielen darf, versteht sich von selbst. Auch abstrakte Altersregeln, wonach etwa Patienten über 60 Jahren nachrangig behandelt werden, hält Alena Buyx für problematisch. Ihr Kriterium lautet: Es kommt auf den klinischen Zustand der Kranken an und deren »ability to benefit«, also der Chance, von der Behandlung zu profitieren. Sie würden dann – geheilt – das Intensivbett rasch wieder für andere Kranke frei machen.
    Das alles sind ethisch äußerst sensible Überlegungen für Entscheidungen, die ein Höchstmaß an Verantwortungsgefühl verlangen, deren Kriterien aber nicht selten kontraintuitiv sind. Ich fürchte, dass gerade deshalb der Appell an die intuitive Solidarität nicht nur nicht weiter, sondern auch in die Irre führt.

    Rainer Hank

  • 23. März 2020
    Warum klappt der Bildung-Aufstieg nicht?

    Woher kommt die Motivation zum Lernen?

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über Scham und Verrat in der Familie

    Viele Vorbilder, insbesondere Sportler und Musiker, suggerieren, es sei das vollkommende irdische Glück, so zu werden wie Lukas Podolski, Mesut Özil oder Bushido – nach dem Motto »vom Gettokid zum Gangsta-Rappa«. Dieses Glücksmodell legt nahe, man könne reich und berühmt werden, aber gleichzeitig Sprache, Auftreten und Habitus beibehalten. Es ist die Hoffnung, alles schaffen zu können, ohne etwas ändern zu müssen.

    Kommt also daher der Ansporn zum sozialen Aufstieg? Kaum. Der Weg vom Gettokid zum Gangsta-Rappa ist ein Märchen, klingt schön, kommt selten vor und hat nichts zu tun mit dem typischen Klassenaufstieg von unten nach oben. Das ist die These des neuen Buches »Mythos Bildung« des Soziologen Aladin El-Mafaalani: Erfolgreiche Bildungsaufsteiger haben an irgendeinem Punkt ihrer Biographie das eigene Denken und Handeln problematisiert und aus sich selbst den Wunsch entwickelt, etwas in ihrem Leben zu verändern. Es geht ihnen in der Regel nicht um Geld und Macht, ja nicht einmal um sozialen Aufstieg. Halbwüchsige sind ja auch keine kleinen Soziologen, die über soziale Mobilität nachdenken, sondern, wenn es gut geht, Jugendliche, die Spaß und Neugier am Lernen entwickeln und erfahren haben, dass sich ihnen dadurch neue Welten eröffnen.

    Bildungsaufsteiger sind wie Migranten

    Wo es kein Aufstiegsmotiv gibt, da kann es auch keinen Aufstiegsplan geben. Aufsteiger erklimmen jeweils nur die nächste Sprosse der Leiter. Der Weg ist unsicher und wird von Ängsten begleitet. El-Mafaalanis eigene Biografie liest sich wie der Beweis für seine These: Als Kind syrischer Eltern in Deutschland geboren, hat er zunächst sechs Jahre lang als Lehrer im Schuldienst gearbeitet. Zudem war er Mitarbeiter im nordrhein-westfälischen Integrationsministerium. Heute ist El-Mafaalani Professor für »Erziehungswissenschaft und Bildung in der Migrationsgesellschaft« an der Universität Osnabrück. Sein Buch »Das Integrationsparadox – Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt« (2018) wurde rasch zum Bestseller: Konflikte entstehen nicht, weil die Integration von Migranten und Minderheiten fehlschlägt, sondern – ganz im Gegenteil – weil sie zunehmend gelingt. »Gesellschaftliches Zusammenwachsen erzeugt Kontroversen und populistische Abwehrreaktionen – in Deutschland und weltweit«, behauptet El Mafalaani.

    Dass Integration in ein neues soziales Milieu psychische Kosten verursacht, ist die Erfahrung aller Bildungsaufsteiger. Sie sind eben auch eine Art von Migranten. Bildungsmigration braucht den Willen zur Veränderung und hat ihren Preis: Aufsteiger machen die Erfahrung von Trennung, Entfremdung, Scham und Schuld aus dem Herkunftsmilieu und brauchen die Fähigkeit zu Flexibilität und Anpassung an neue Umgebungen, die ihnen gleichwohl die erhoffte Zugehörigkeit nicht leicht machen. Man sitzt zwischen allen Stühlen.

    Besser als Soziologen es können wird diese Erfahrung von der französischen Autorin Anni Ernaux beschrieben, deren Bücher gerade neu bei Suhrkamp ins Deutsche übersetzt werden. Ihre Erzählung: Der Vater stirbt, was der Erzählerin Anlass wird, dessen Leben aufzuschreiben. Geburt um die Jahrhundertwende, kurzer Schulbesuch, Bauer, dann bis zum Todesjahr 1967 Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens in der Normandie. Sein Leben ist die Geschichte von gesellschaftlichem Aufstieg und der Angst, wieder nach unten abzurutschen. Dass die Tochter eine höhere Schule besucht, macht den Vater stolz, aber zugleich entfernen sie sich voneinander. Für die Autorin wird die Erzählung zu einer Geschichte des Verrats: an ihren Eltern und dem Milieu, in dem sie aufgewachsen ist, gespalten zwischen Zuneigung und Scham, zwischen Zugehörigkeit und Entfremdung.

    Annie Ernaux berichtet von der stetigen Angst, fehl am Platz zu sein. Die Frage, die einen verfolgt, lautet: »Was werden die Leute dazu sagen?« Das Schlimme ist, dass genau diese Frage den Gebildeten und Erfahrenen als spießig und typisch kleinbürgerlich erscheint. Für alle Aufstiegskinder ist sie aber Kompass und zugleich Ausweis der Tatsache, nicht dazuzugehören. Denn dann wäre man ja souverän, bräuchte nach der Meinung der Leute gar nicht zu fragen. Für ein Fest der Schule weist die Direktorin an, zu diesem Anlass »sollte die Tochter Abendgarderobe tragen«. Mutter und Tochter hatten keine Ahnung, was sie wohl damit gemeint haben könnte. Das ist schrecklich, zugleich bringt es aber noch einmal eine Nähe zwischen den beiden Frauen. Schlimm sei, »die Scham, nicht zu wissen, was wir zwangsläufig gewusst hätten, was wir waren, nämlich unterlegen.«

    »Soziale Paten« können helfen

    Ich vermute, dass das Wissen um genau solche Scham-Kosten des Aufstiegs verantwortlich ist für die hartnäckig sich haltenden Bildungsungleichheiten. Zwar hat die Einkommensmobilität hierzulande zuletzt wieder Tempo gewonnen, wie Patrick Bernau vergangene Woche in der F.A.S. berichtete. Doch Einkommens- und Bildungsmobilität sind zwei Paar Stiefel: Von hundert Akademikerkindern nehmen in Deutschland 74 ein Hochschulstudium auf. Bei Kindern aus Nichtakademikerfamilien sind es gerade einmal 21. Bildungsexpansion einerseits – also die seit dem Bildungsreformer Georg Picht in den sechziger Jahren ausgerufene Massenbewegung zum Besuch von höheren Schulen und Universitäten – und verfestigte Bildungsungleicheit andererseits hört sich wie ein Widerspruch an, ist es aber nicht: Wenn ein Kind aus unteren Schichten eine Gymnasialempfehlung erhält, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass es die Eltern auch wirklich an einem Gymnasium anmelden, weniger als 40 Prozent, in den ärmsten Familien sogar gerade 20 Prozent. In den mittleren sozialen Milieus sind es 40 bis 80 Prozent, in den oberen Schichten gar 90 bis hundert Prozent. Bekommt ein Kind keine Gymnasialempfehlung, so ist die Reaktion darauf ebenfalls vom sozialen Milieu abhängig: Eltern aus unteren Schichten schicken das Kind nicht aufs Gymnasium, in den reichen und gebildeten Familien landen am Ende trotz der fehlenden Empfehlung rund 60 Prozent auf der höheren Schule.

    Eine liberale Gesellschaft ist auf Chancengleichheit gebaut. Dass über lange Jahrzehnte die Wahrscheinlichkeit des Bildungsaufstiegs für Kinder aus unteren Schichten deutlich schlechter ausfällt als in der Mittel- und Oberschicht, ist eine Ungleichheit, die einem nicht gerecht vorkommt. Was kann man tun? Am Geld kann es nicht liegen – seit Jahren werden immer mehr Finanzmittel in das Bildungssystem gepumpt. Viele Bildungsforscher plädieren für ein besser integriertes Schulsystem und für spätere Trennung zwischen Hauptschülern und Gymnasiasten. Über diese Frage wird seit Jahren ein erbitterter Glaubenskrieg geführt.
    Aladin-El Mafaalani bringt »soziale Paten« ins Spiel: Sie sind eine Art Mentoren, die unterstützend und korrigierend an die Stelle der Eltern treten. Früher übernahmen Pfarrer diese Aufgabe. Heute können es die Eltern oder Großeltern der Freundin sein, die einem anderen Milieu angehören. Solche Paten bringen konkrete Einblicke in die neue soziale Welt und senken die Kosten des Wechsels. Lehrer oder andere pädagogische Fachkräfte taugen als soziale Paten eher weniger, findet El-Mafaalani. Das ist ein bisschen enttäuschend.

    Rainer Hank

  • 11. März 2020
    Sind wir reif für die Demokratie?

    Schweizer Landsgemeinde (Glarus 2014) Foto wikipedia (Ludovic Peron)

    Dieser Artikel in der FAZ

    Nein! Schaut lieber auf die Schweiz!

    »Herrschaft des Pöbels« war das Thema meiner Kolumne in der vergangenen Woche. Ich habe darauf überdurchschnittlich viele Kommentare erhalten. Im Anschluss an das »Debakel von Thüringen« ging es mir um die Frage, ob die Demokratie vor ihrem Missbrauch, dem Aufstand des Pöbels mit demokratischen Mitteln, gefeit ist. Das ist sie nicht. Kein Wunder, dass im Lauf der Demokratiegeschichte darüber nachgedacht wurde, wie man das Volk vor dem Volk – also dem Rückfall in den Populismus – schützen könne. Denn das könnte am Ende dazu führen, dass auf demokratischem Wege die Freiheitsrechte des Volkes verletzt werden. Ein Blick nach Polen oder Ungarn lehrt, dass es nicht nur um Gedankenspiele politökonomischer Oberseminare geht.

    Entschließt man sich freilich dazu, dem Pöbel (lateinisch vornehm: die Plebs) die Repräsentanz in den Parlamenten zu versagen, verwickelt man sich in folgenschwere Widersprüche. Eine schöne Demokratie ist das, die dekretiert, welcher Teil des Volkes die Macht haben darf. Ehrlicher wäre schon, es mit der Sakralisierung der Demokratie nicht zu übertreiben und der Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit mit Gewaltenteilung zu begegnen: also durch rechtsstaatliche Institutionen (Verfassungsgericht, Notenbanken) oder zweite Kammern, die unabhängig sind und die Institutionen der repräsentativen Demokratie in ihre Schranken weisen.

    Die Angst vor dem Volk, so hat man uns im Gemeinschaftskundeunterricht beigebracht, sei in Deutschland eine Folge der Verbrechen der Nazis. Da habe man gesehen, was das Volk anrichten könne. Doch die Angst reicht weiter zurück. Gezielter Zufall lenkte dieser Tage mein Interesse auf eine Schrift aus dem Jahr 1926 mit dem Titel »Staat und Volk«. Verfasser ist ein gewisser Theodor Heuss, der 1949 zum ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde. Im Jahr 1926 war Heuss ein Journalist, freiberuflicher Publizist und engagierter liberaler Politiker im Schlepptau des Nationalliberalen Friedrich Naumann. Anders als man es von einem Liberalen erwarten sollte, sprach sich Heuss nicht nur vehement gegen den Föderalismus, sondern auch gegen die direkte Demokratie aus. Den deutschen Föderalismus sah er aus der Fürstenherrschaft hervorgegangen, einer höfischen Tradition, der nicht zu trauen sei. Stattdessen glaubte er zutiefst an den inneren Zusammenhang zwischen Parlamentarismus und Zentralismus (mehr dazu gibt es in der Heuss-Biografie des Historikers Joachim Radkau).

    Demokratie als Herrschaft gegen das Volk

    Der Blick auf den frühen Heuss ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Er dementiert die Überzeugung des Schulunterrichts, die Angst vor dem Volk habe sich hierzulande erst nach den Erfahrungen von demokratisch zustande gekommenen Totalitarismen ausgebildet. Und er dementiert zudem die Annahme, Liberale hätten immer ein Herz für Dezentralismus, Föderalismus und Direktdemokratie zu haben. Es war eher umgekehrt: Dass Heuss im parlamentarischen Rat und dann als erster Präsident vehement gegen Föderalismus und Direktdemokratie polemisierte, war seine feste Meinung schon seit den zwanziger Jahren. Diese Überzeugung ist im Übrigen ganz und gar keine Sondermeinung im liberalen Ideen-Spektrum, sondern liegt ganz auf der Linie von Leuten wie Friedrich Naumann, der als Gründerfigur der FDP gilt. Demokratie, so könnte man diese Haltung zuspitzen, ist gerade keine Volksherrschaft, sie könnte genauso eine Herrschaft gegen das Volk genannt werden.

    Eine kleine Einschränkung lässt Theodor Heuss allerdings schon 1926 gelten: Demokratie als Volksherrschaft sei am ehesten in kleinen Welten möglich, findet er. Dabei dachte er an die Schweiz, die er aber gerade deshalb nicht den Deutschen als Vorbild anpreise wollte: »Die Lehren der Schweizer Praxis, die Dutzende von Volksabstimmungen über Kantons- und Bundesgesetze kennt, weisen nach, dass das Verfahren eher die konservativen als die wandlungsbereiten Elemente eines Volkstums stärkt.«

    Was Heuss als Nachteil sieht – den Konservatismus der plebiszitären Demokratie – könnte freilich auch ein Vorteil sein. Da trifft es sich, dass mir Roger Köppel, Verleger der Schweizer »Weltwoche«, im Nachgang zu meiner »Pöbel-Kolumne« einen Aufsatz mit dem Titel »Die Demokratie als Hüterin der Menschenrechte« geschickt hat. Es handelt sich um die Festrede des Rektors der Universität Zürich, Zaccaria Giacometti, die dieser aus Anlass der 121. Stiftungsfeier der Universität Zürich am 29. April 1954 gehalten hat. Giacometti, ein angesehener Schweizer Rechtsgelehrter, stammt aus einer berühmten Familie im rätischen Bergell-Tal, aus der auch viele Künstler hervorgegangen sind. Man kann die Rede, gehalten in den Jahren, in denen in Deutschland Heuss Präsident war, als exakte Gegenposition zur deutschen, hegelianisch geprägten Demokratie-Angst lesen. Für Giacometti, der sich ebenfalls als Erz-Liberaler verstand, sichert die Demokratie die »umfassende Selbstbestimmung des Einzelnen im Staate«. Sie ist ein Bollwerk gegen den Kollektivismus – und kann gar nicht irren. Dagegen deutet Giacometti etwa das deutsche Verfassungsgericht als eine elitäre Anmaßung: Wer würde es wagen, sich als Richter über das Volk aufzuspielen? Bekanntlich gibt es in der Schweiz kein Verfassungsgericht.

    Direkte Demokratie als Gegengewicht gegen das Parlament

    Giacometti ist nicht so geschichtsvergessen, dass er die im Namen der Demokratie seit dem Jakobinismus verübten Verbrechen nicht zur Kenntnis nähme. Dass es dazu kommen konnte, liegt seiner Meinung daran, dass nicht jedes Volk für die Demokratie reif sei. Für diese Reifung nennt der Jurist drei Bedingungen: Erstens müsse die Freiheitsidee im Individuum und im Volke lebendig sein; es müssten »freiheitliche Wertvorstellungen« herrschen, aber nicht »als vom Augenblick geborene euphoristische Stimmungen oder opportunistische Eingebungen«. Zweitens müsse das Volk eine freiheitliche Tradition besitzen. Und drittens müsse sich die lebende Generation diesen ererbten Schatz an freiheitlichen politischen Einsichten und an freiheitlichen politischen Erfahrungen aneignen, ja erkämpfen. Wenn es funktioniere, dann übe das Volk selbst als Hüter der Freiheitsrechte eine »hemmende« Rolle aus gegen die Machtanmaßung des Parlaments. Im Modell der Schweiz, auf das bei Giacometti natürlich alles hinausläuft, wäre das Volk ein eigenständiger Akteur im gewaltenteilenden Wettbewerb.

    Dass der Erfolg Giacometti Recht gibt, hat die neuere Politökonomie (Bruno Frey, Gebhard Kirchgässner, Lars Feld) in vielen Studien auch empirisch gezeigt: Eine Referendumsdemokratie, die föderal organisiert ist und dezentral über die Staatsfinanzen entscheidet, wirkt sich positiv auf das Wachstum aus, macht die Menschen relativ glücklicher – und richtet politisch wenig Unsinn an. Wenn das nicht nur liberal, sondern – wie Heuss meint – auch konservativ ist, soll es recht sein.

    Wer in Deutschland die Schweiz als Vorbild preist, erntet häufig bissigen Widerspruch. Aber nicht nur praktisch-politisch, sondern auch philosophisch scheint mir das Schweizer dem deutschen Modell überlegen zu sein, wo aus fehlender Reife immer die Angst vor dem Pöbel umgeht. Wir müssen bloß noch ein wenig üben.

    Rainer Hank

  • 05. März 2020
    Herrschaft des Pöbels

    Masse und Macht

    Dieser Artikel in der FAZ

    Zu viel Demokratie kann schädlich sein

    Steht die Demokratie am Abgrund? Seit dem Debakel in Thüringen tönt es hierzulande so. Dabei war, man könnte einschränken »formal«, doch gar nichts Ungehöriges passiert. Zwei Parteien, die an den politischen Rändern siedeln, haben bei den Wahlen zum Landtag 2019 zusammen eine Mehrheit erhalten: Linke (31 Prozent), AfD (23,4 Prozent). Den Parteien der Mitte – CDU, SPD, FDP – reichte es, sollten sie koalieren, lediglich zu einer Minderheitsregierung. Dieser Sachverhalt zog verschiedene, letztlich gescheiterte Versuche nach sich, eine Regierung zu bilden. Man mag AfD und Linke nicht mögen, man mag die AfD für rassistisch und extremistisch halten, aber demokratisch ist am ganzen Verfahren nichts auszusetzen: Bei den Wahlen kam es, soweit man weiß, zu keinen Manipulationen. Das Ergebnis repräsentiert den Wählerwillen. Wer sagt, die Demokratie stehe am Abgrund, der sagt eigentlich nur, dass ihm das Ergebnis nicht passt.

    Könnten die Probleme in Thüringen womöglich etwas mit der Demokratie selbst zu tun haben? Diese Ansicht vertritt der Bremer Politikwissenschaftler Philip Manow in zwei mit »(Ent)Demokratisierung der Demokratie« überschriebenen klugen Essays in der Zeitschrift »Merkur« (März 2020/Dezember 2019) als Vorgeschmack auf ein im Frühjahr bei Suhrkamp erscheinendes Buch. »Demokratische Repräsentation war ursprünglich die Lösung für ein Problem, das Pöbel oder Menge hieß«, so Manows Ausgangspukt. Demokratie bedeutet nicht nur Herrschaft des Volkes, sondern auch Schutz vor dem Volk, dem viele Bürger nicht trauen. In einer repräsentativen Demokratie herrscht die Masse nicht direkt, sondern die von ihr gewählten Abgeordneten als ihre Repräsentanten. Nicht alle aber sollten repräsentiert werden: Der Plebs oder deutsch dem Pöbel wollte man lieber keine Repräsentanz in den Parlamenten übertragen. Nur das »gute« Volk sollte sich in den demokratischen Institutionen wiederfinden. »Volk heißt nicht der Pöbel in den Gassen, der singt und dichtet niemals, sondern schreyt und verstümmelt«, so zitiert Manow aus Herders Vorrede zu seinen »Volksliedern« von 1779. Die repräsentative Demokratie hat Angst vor Populismus. Dabei wurde unter dem Pöbel ursprünglich eine ökonomisch definierte Gruppe des Volkes verstanden: diejenigen, die keinem Stand angehören und »außerhalb der Ehren der Arbeit« leben.

    Die Demokratie schützt die Demokratie nicht

    Der Gedanke, ein Teil des Volkes sei eigentlich unrepräsentierbar, ist bei Lichte besehen kein demokratischer Gedanke, sondern eher dessen Gegenteil: Der Grundsatz »one man one vote« gibt jedermann Partizipation an der Macht unabhängig von seiner ökonomischen Stellung und seinen politischen Ansichten. Bezogen auf heute heißt das: Das Populistische ist eine Erscheinungsform des Demokratischen und nicht sein Dementi. Wenn 23,4 Prozent der Bürger in Thüringen AfD wählen, dann meldet sich ein »Pöbel« zu Wort, dem man – womöglich abermals mit Gründen – die politische Macht nich überantworten möchte. Aber eines kann man ihm nicht nachsagen: dass er nicht demokratisch legitimiert sei.
    Das Aufkommen des Populismus wäre dann die Wiederkehr des Verdrängten innerhalb der Demokratie. Darauf alarmistisch mit Demokratiegefährdungsdiagnosen zu reagieren, trägt selbst zur Gefährdung der Demokratie bei, so Manow. Diese folgen dem scheinheiligen Motto, erst den Rechtspopulismus als »Saatboden für einen neuen Faschismus« zu brandmarken, um dann aus demselben pseudoaufklärerischen Munde einen zurückhaltenden öffentlichen Sprachgebrauch anzumahnen und die Spaltung der Gesellschaft zu beklagen.

    Was also tun, wenn Demokratie die Demokratie nicht vor Populismus schützen kann? Die liberale Ökonomie zieht daraus den Schluss, der Demokratie selbst Schranken zu setzen. Das ist der Grundgedanke der während und nach dem zweiten Weltkrieg in Wien, Genf und Freiburg erdachten Ordnungsökonomik, die heutzutage als Neoliberalismus geschmäht wird. Es waren Jahre, in denen schon einmal die Demokratie populistisch in Gefahr war: Hitler kam demokratisch an die Macht. Der Grundgedanke der Ordnungsökonomik lautet: Nicht nur der Markt, sondern auch die Demokratie müssen eingebunden sein in Institutionen, die ihrerseits nicht zur demokratischen Disposition stehen. Für heutige Ohren etwas altmodisch sprach man von einem »Ordnungsrahmen«. Ihm kommt die Aufgabe zu, Markt und Demokratie zu »ummanteln« (Quinn Slobodian), also zu schützen gegen populistische Versuchungen der Demokratie selbst.

    Rechtsstaat ist wichtiger als Mehrheitsdemokratie

    Allemal geht es um eine Relativierung der Demokratie, eine Aufgabe, welche zuallererst der Rechtsstaat zu übernehmen hat. Die Justiz – insbesondere das Verfassungsgericht – ist unabhängig, genauso ist es auch die Notenbank. Beide Male handelt es sich um Institutionen, die den Begehrlichkeiten der Plebs besonders ausgesetzt sind, und die deshalb sakrosankt bleiben müssen. Die Idee der ummantelnden Ordnungspolitik ist ein elitäres Konzept, das auf Selbstbindung baut: Eine demokratische Mehrheit entscheidet, wichtige Politikbereiche dem demokratischen Zugriff zu entziehen. Heute wird gerne zwischen »liberaler« und »illiberaler« Demokratie unterschieden, um mutmaßlich denselben Sachverhalt zu umschreiben. Das klingt für mich nicht ganz redlich, bloß um ja nichts gegen die Demokratie sagen zu müssen. Warum soll man es nicht klar aussprechen: Der die Gewalten aufteilende Rechtsstaat ist für die menschliche Freiheit ein höherer Wert als die Demokratie.

    Wer die Ideen der deutschen Ordnungspolitik für altmodisch hält, sollte einen Blick in ein gerade bei der Stanford University Press erschienenes Buch werfen, das dem provokanten Titel trägt: »Zehn Prozent weniger Demokratie. Warum wir den Eliten ein bisschen mehr und den Massen ein bisschen weniger trauen sollten.« Der Autor Garett Jones, ein an der George Mason Universität in Virginia lehrender Makroökonom, erinnert daran, dass der Demokratie entzogene Institutionen zur Sicherung von Frieden und Wohlstand unabdingbar sind. Er plädiert sogar dafür, weitere konkurrierende Institutionen zu schaffen, die die Nachteile der »Tyrannei der Mehrheit« und der Monopolisierung der Macht in der repräsentativen Demokratie relativieren: So könnte man den Gläubigern eines Staates, also allen Inhabern von Staatsanleihen, ein besonderes Mitsprachrecht oder zumindest Vetorecht geben, wenn es um Fragen des Staatshaushalts geht. Der Gedanke mag utopisch klingen, ahistorisch ist er nicht: Die italienischen Stadtstaaten der Renaissance kannten vergleichbare Institutionen. Das ist ihnen nicht schlecht bekommen. Die Idee einer zweiten Kammer war stets ein liberaler Gedanke, der davor schützt, dass der Pöbel das Geld der Steuerzahler oder Gläubiger mit Mehrheitsbeschluss verschleudert.

    Kann man mit solchen Ideen die AfD klein kriegen? Natürlich nicht, zumal damit zu rechnen ist, dass populistische Parteien rechtsstaatlich unabhängige Institutionen beschädigen wollen (siehe Ungarn und Polen). Doch hier geht es darum, die Sakralisierung der Demokratie zu hinterfragen, gerade um die Demokratie zu schützen und dafür zu sorgen, dass Populisten so wenig wie möglich Böses anstellen können.

    Rainer Hank

  • 24. Februar 2020
    Zweiklassen-Medizin

    Sonderbehandlung für besser zahlende Patienten?

    Dieser Artikel in der FAZ

    Verhalten sich Privatversicherte unsolidarisch?

    Wer sich privat krankenversichert, entzieht dem Solidarsystem viel Geld: Insgesamt neun Milliarden Euro. Mit diesen Zahlen hat mich die Bertelsmann-Stiftung in der vergangenen Woche verschreckt. Denn ich bin Mitglied einer privaten Krankenversicherung – schon seit meiner Studentenzeit in Tübingen. Damals hat mich ein Vertreter der Finanzberatung MLP besucht und mir geraten, mich privat zu versichern. Das habe ich, alles in allem, bis heute nicht bereut, auch wenn zwischendurch die Beitragserhöhungen schon mal saftig ausfallen konnten.

    Statistisch, so entnehme ich es der Bertelsmann-Studie, bin ich ein ziemlich durchschnittlicher Privatversicherter: besserverdienend und gesünder als der Durchschnitt der Bevölkerung. Und gerade deshalb schädige ich die Gemeinschaft, weil ich meinen Mitbürgern Geld – und womöglich sogar bessere medizinische Versorgung – entziehe: das ist wirklich ziemlich starker Tobak. Niemand möchte den Grundsatz infrage stellen, dass es bei Krankheit keine ungleiche Behandlung geben dürfe. Es sind vor allem drei Vorwürfe der Stiftungsleute aus Gütersloh, die mich irritieren: (1) Die Gesundheitsvorsorge könnte insgesamt für die Deutschen um jährlich 145 Euro je Versicherten billiger werden, würde ich in die gesetzliche Versicherung einzahlen. (2) Es könnte sein, dass meine stabile Gesundheit nicht nur Folge einer guten genetischen Ausstattung und eines einigermaßen soliden Lebensstils ist, sondern auch auf eine bevorzugte ärztliche Behandlung als Privatpatient zurückgeht. (3) Es sieht so aus, als zögen Privatversicherte viele Ärzte an, weil sie an mir mehr verdienen als an den gesetzlichen Versicherten: Die Ärztedichte je Einwohner und also die medizinische Versorgung am Starnberger See ist signifikant höher als im nördlichen Bayerischen Wald.

    Indessen relativieren sich bei näherer Betrachtung die Vorwürfe der Bertelsmännner beträchtlich, und zwar nicht, weil das der Wunsch meines schlechten Gewissens ist, sondern weil die Autoren selbst ihre steilen Thesen im Text ihrer Studie korrigieren. So ist etwa die Behauptung, der Beitragssatz der Gesetzlichen könne um 0,6 Prozentpunkte reduziert werden (das ist das Äquivalent zu den erwähnten jährlichen 145 Euro) auch nach Auskunft der Verfasser unrealistisch: denn das würde voraussetzen, dass die Ärzte auf den zusätzlichen Umsatz verzichten, den wir Privatpatienten ihnen bringen. Eine deutliche Minderung ihres Einkommens würde der Marburger Bund – die Gewerkschaft der Ärzte – nie und nimmer zulassen, da bin ich ganz sicher. Stellt man dies in Rechnung – »realistischerweise«, heißt es in der Studie -, schrumpft der Vorteil der Eingemeindung der Privaten von 0,6 auf 0,2 Prozentpunkte, von denen bei den Arbeitnehmern die Hälfte ankommt, weil die andere Hälfte den Arbeitgebern zugutekommt.

    Erhalten Privatversicherte eine bessere Medizin?

    Nehmen wir als Beispiel einen gesetzlich Versicherten mit einem überdurchschnittlichen Monatseinkommen von 4000 Euro, der heute 7,8 Prozent für seine Gesundheit bezahlt, also 312 Euro monatlich. Werden alle Privatversicherten zwangsweise der Gesetzlichen einverleibt und glaubt man den Rechnungen der Bertelsmänner, reduziert sich sein Beitrag um 0,1 Prozentpunkt auf 308 Euro im Monat, mithin eine Ersparnis von vier Euro. Damit schrumpft meine Solidaritätssünde am Ende auf 48 Euro jährlich.

    Keinen Beleg findet die Stiftung zudem für ihren eigenen Verdacht, ich sei gesünder, weil mir eine bessere medizinische Behandlung verabreicht werde als den gesetzlich Versicherten. Gäbe es dafür Indizien, wäre das nicht nur ethisch, sondern auch strafrechtlich ein Skandal. Dass der Chefarzt besser operiert als der billigere, aber erfahrene Oberarzt, für den diese OP tägliche Routine ist, lässt sich ohnehin diskutieren. Das deutet darauf hin, dass es sich hier eher um einen Selektions- als um einen Verursachungseffekt handelt: Gesündere werden häufiger Mitglied einer privaten Krankenversicherung; dort finden sich dann mehr »gute Risiken«, wie die Gesundheitsökonomen sagen. Dass reichere Menschen gesünder sind und länger leben als Ärmere, kann man zwar auch ungerecht finden – doch dafür können die Privatversicherer nichts. Und dass sich Ärzte lieber am Starnberger See niederlassen als an der bayerisch-tschechischen Grenze, wer wollte ihnen das verübeln. Naiv wäre es anzunehmen, sie täten dies ausschließlich, weil dort ihre privatversicherte Kundschaft siedelt. Die Bertelsmänner geben selbst zu, dass ein zunehmender Anteil von Privatversicherten in einer bestimmten Region nicht zu einer proportionalen Zunahme der Ärzte führt.

    Richtiger Wettbewerb sieht anders aus

    Ist am Ende also alles in Ordnung? Leider nein. Zwar lässt sich bestreiten, dass es hierzulande eine Zweiklassen-Medizin gibt. Das ändert aber nichts daran, dass es eine Zweiklassen-Krankenversicherung gibt, für die es – folgt man dem Konstanzer Ökonomen Friedrich Breyer – zwar historisch-zufällige, aber keine normativ-systematischen Gründe gibt. Wer mehr bezahlt, bekommt zwar keine bessere Medizin, er kommt aber in vielen Fällen schneller einen Arzttermin. Eine derartige Diskriminierung mag in der Oper okay sein, wo auch alle den gleichen Don Giovanni sehen, man mit mehr Geld aber bessere Plätze bekommt. Aber ein Wartezimmer Erster Klasse bleibt anstößig.

    Hinzu kommt: Wettbewerb ist zwar nie falsch, doch einen wirklichen Systemwettbewerb zwischen Privaten und Gesetzlichen gibt es eben gerade nicht. Dazu sind die Systeme zu unterschiedlich: Bei den Gesetzlichen werden die Beiträge lohnbezogen, bei den Privaten werden sie nach dem Äquivalenzprinzip und nach individuellem Risiko berechnet. Und zu den Privaten wechseln kann man erst jenseits der Beitragsbemessungsgrenze – die man freilich senken könnte. Auch unter den Privaten gibt es kaum Wettbewerb, so lange ich die beträchtlichen Altersrückstellungen, die meine Versicherung für mich angespart hat, nicht zum Konkurrenten mitnehmen darf.

    Gibt es Alternativen? Wer die Gesundheitswelt neu erfinden will, um sie gerechter und effizienter zu machen, sollte keinesfalls eine Bürgerversicherung propagieren, wofür die SPD unter Führung von Karl Lauterbach seit Jahren trommelt. Die Reichen könnten sich auch aus einer Bürgerversicherung herauskaufen (wie das in Großbritannien der Fall ist) und für die Koppelung der Beiträge an das Einkommen gibt es lediglich historische, aber keine sachlichen Gründe. Besser als eine Bürgerversicherung wären einkommensunabhängige Kopfpauschalen für alle, für die der Ökonom Bert Rürup – auch er ein SPD-Mitglied – lange vergeblich geworben hat. Kopfpauschalen wären sozial, weil über das Steuersystem jene Ärmeren kompensiert würden, denen die volle Pauschale nicht zugemutet werden soll. Doch eine politische Chance hat die Kopfpauschale schon lange nicht mehr, seitdem auch die CDU sich davon verabschiedet hat. Das liegt auch an der Begrifflichkeit: Kopfpauschale klingt fürchterlich, Bürgerversicherung hört sich solidarisch an.

    Ohnehin hat die große Koalition derzeit erkennbar andere Sorgen als eine Reform des Gesundheitssystems, weshalb ich mit einer Restschuld persönlichen Solidaritätsversagens leben muss. Aber ich biete an: An mir soll es nicht liegen, wenn es darum geht, über gerechtere Alternativen zum Status quo nachzudenken.

    Rainer Hank