Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
10. September 2024Das Ende der Ampel
27. August 2024Streit ist das Wesen der Demokratie
27. August 2024Lauter Vizepräsidentinnen
14. August 2024Wie umgehen mit Populisten?
14. August 2024Pro und Contra Wehrpflicht
02. August 2024Nicht tot zu kriegen
02. August 2024Computer sagt Nein
25. Juli 2024De-Radikalisierung
25. Juli 2024Königsmord
01. Juli 2024Lob der Kleinstaaterei
12. August 2019
Monika Grütters' teures KinoWarum kriegt die Kultur immer mehr Geld?
Kürzlich waren wir mal wieder im Kino. »Yesterday« heißt der wunderschöne Sommerfilm, in dem ein ziemlich erfolgloser Musiker Kapital daraus schlägt, dass der Rest der Menschheit vergessen hatte, dass es einmal die Beatles gab, was dem Sänger die einmalige Gelegenheit gibt, Yesterday, Eleanor Rigby oder Let it be als eigene Songs auszugeben. Yesterday ist nicht nur lustig für Nostalgiker der sechziger Jahre. Auch Pop-Star Ed Sheeran hat dort einen selbstironischen Aufritt. Das Onlineportal Kinofenster.de empfiehlt den Streifen für Schulkinder in den Fächern Musik, Englisch, Deutsch und Geschichte und bietet Materialien für den Unterricht. Prädikat »Pädagogisch wertvoll« gewissermaßen. Und das alles ohne staatliche Subventionen.
An »Yesterday« musste ich denken bei der Lektüre eines Interviews mit der Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) in der SZ. Dort wird festgestellt, dass die Besucherzahlen in den deutschen Kinos zurück gehen. Nur noch 37 Prozent der Deutschen gehen mindestens einmal pro Jahr ins Kino. Vor zehn Jahren waren es noch 45 Prozent. Da kann man nichts machen, denke ich. Es ist ja nicht so, dass die Leute aufhören, Filme zu gucken: Dazu muss man sich nur die Abonnementzahlen von Amazon, Netflix & Co anschauen. Zum Filmgucken braucht es kein Kino, was Vor- und Nachteile hat: Es fehlt das Großleinwanderlebnis, dafür ist es womöglich auf der heimischen Couch bequemer und der Film zu jeder Tages- und Nachtzeit verfügbar.
Doch Frau Grütters ist alarmiert und zieht einen sehr merkwürdigen Schluss: Wenn weniger Leute in die Kinos gehen, müssen die Subventionen für den Film erhöht werden, findet sie. Allgemeiner formuliert hieße ihre Regel: Wenn ein Produkt weniger nachgefragt wird, müssen wir es umso mehr mit staatlichen Mitteln am Leben halten. Allgemein gilt die Regel freilich für Frau Grütters gerade nicht: Die Leute gehen auch weniger zu Pop-Konzerten und lesen seltener Zeitung als früher. Doch Pop-Gruppen und Zeitungsverlage werden von Frau Grütters nicht alimentiert. Netflix hält Frau Grütters aber ganz offensichtlich für einen Feind, den der Staat mit Geld bekämpfen muss: »Verführerisch« sei es, sich einen brandneuen Film auf dem Sofa anzusehen. »Wahrscheinlich macht das jeder gelegentlich«, räumt die Ministerin ein. Igitt! Dem unanständigen häuslichen Treiben will sie Einhalt gebieten. Denn am Ende verkümmere der »Kulturort Kino«.
»Other Peoples Money«
Misst man die Politiker einer Regierung am Geldausgeben, so ist Monika Grütters mit Abstand die erfolgreichste Ministerin im Kabinett Merkel. Seit Amtsantritt im Jahr 2013 hat sie ihren Etat um fünfzig Prozent auf 1,9 Milliarden Euro gesteigert. Das kriegen selbst die Sozialminister nicht hin, die freilich – um die Kulturkirche im Dorf zu lassen – mit größeren absoluten Beträgen – eine Billion Euro im Jahr – hantieren dürfen. Frau Grütters indessen sitzt auf Geldtöpfen, die es vor zwanzig Jahren noch gar nicht gab, weil hierzulande eigentlich der gute Grundsatz galt, dass Kultur, wenn man sie schon staatlich päppeln müsse, Ländersache sei. Doch dann kam Kanzler Gerade Schröder (SPD) und sein erster Kulturmann Michael Naumann. Seither mischt der Bund kulturell kräftig mit, erhöht den eigenen Finanzanteil und verdrängt mehr und mehr die Länder und Kommunen aus dem Kulturbusiness. Kultur schmückt die Mächtigen. Das wissen sie auch in Berlin.
Nun muss man gar nicht so weit gehen, staatliche Kulturförderung als Ganzes zu verdammen. Die 265 Millionen Euro für die »Stiftung Preußischer Kulturbesitz«, die 15 Millionen für die »Klassikstiftung Weimar«, die 64 Millionen für das Bundesarchiv Koblenz oder die 55 Millionen für die – übrigens wunderschöne – Nationalbibliothek Frankfurt scheinen uns gut ausgegebenes Geld zu sein. Abseits solch subjektiver Präferenzen lassen sich auch ökonomische Gründe anführen: Der Staat soll subsidiär dort einspringen, wo ein privates Angebot fehlt, gleichwohl aber Einvernehmen herrscht, dass es sich um eine gesellschaftlich wichtige Aufgaben handelt. Die Pflege des kulturellen Erbes (Archive, Bibliotheken) nicht nur in Zeiten, in denen der gesellschaftliche Zusammenhalt brüchig geworden ist, zählt zweifellos dazu. Natürlich gibt es auch private Bibliotheken. Doch es dürfte schwer sein, einen privaten Stifter zu finden, der den Auftrag der Deutschen Nationalbibliothek finanziert, ausnahmslos alle deutschen Publikationen zu sammeln und der Allgemeinheit zugänglich zu machen.
Können die Reichen ihre Bayreuth-Karten nicht selbst bezahlen?
Doch warum muss der Staat in Bayreuth mit jährlich knapp drei Millionen Euro wohlhabende Bürger bespaßen? Haben die Reichen kein Geld mehr, um ihre Tristan-Karten selbst zu bezahlen? Und warum kriegt der Film allein von Frau Grütters knapp 200 Millionen Euro im Jahr; nimmt man alle anderen öffentlichen Töpfe hinzu, sind es 450 Millionen Euro. Frau Grütters bemüht sich noch nicht einmal um eine vernünftige Begründung. Den Erfolg der Kulturförderung liest sie daran ab, dass der Staat immer mehr Geld ausgibt. Was der Begründung bedürfte, gilt bereits als Grund. Und dann wird es auch noch widersprüchlich: Einerseits sollen kulturell hochstehende Nischenfilme, die kaum Zuschauer haben, eine Chance erhalten. Andererseits rechtfertigt Grütters Staatsmillionen für kommerziell erfolgreiche Nonsensfilme (»Fuck You Göhte 3«) als »Standortförderung«. Marktversagen liegt hier offenkundig nicht vor (allenfalls Geschmacksversagen, aber darüber lässt sich bekanntlich streiten). »Standortförderung« soll heißen: ein öffentlicher Euro zieht sechs privat investierte Euros (für Popcorn etc.) nach sich. Selbst wenn diese bei Politikern beliebte »Hebel-Theorie der Subvention« (eine Art kulturpolitischer Vulgär-Keynesianismus) sich bewahrheiten würde, bleibt doch auch wahr, dass ein Euro nur einmal ausgegeben werden kann: Wer Popcorn im Kino kauft, kann davon keine Möhre im Bioladen erstehen.
Noch einmal: Es geht nicht um eine Kahlschlagplädoyer. Sondern um das Recht des Steuerbürgers, die Politiker mögen ihm Rechenschaft geben über die Verwendung seines Geldes. Es kann nicht Aufgabe der Politik sein, Branchen, die schrumpfen zu fördern, nur weil es deren Lobbys gelingt, ihr Geschäftsmodell als kulturell hochstehend auszugeben. Wenn die Menschen weniger ins Kino oder in die Buchhandlung gehen, die Filme aber zuhause streamen und sich die Bücher sich von Amazon besorgen, liegt kein Kulturversagen oder –verfall vor. Noch nicht einmal die (problematische) ökonomische Theorie meritorischer Güter greift, wonach der Staat einspringen soll, wenn der Markt im Vergleich mit dem gesellschaftlich erwünschten Umfang ein zu geringes Angebot bestimmter Güter zur Verfügung stellt. Aber an (guten oder weniger guten) Hollywood-Filmen ist meines Wissens kein Mangel. Mein aktueller Netflix-Tipp: »Stadtgeschichten«, queeres Leben in San Francisco mit der wunderbaren, fast neunzigjährigen Olympia Dukakis.Schlimmer als die Verführung, die von Netflix ausgeht, ist die Verführung, die das Ausgeben des Geldes anderer Leute auf Politiker ausübt. Doch die ästhetische Erziehung der Bürger ist nicht Aufgabe des Staates. »Grütters› Staatskino« braucht keiner.
Rainer Hank
05. August 2019
Das Trauma der deutschen EinheitWarum die Marktwirtschaft keine objektiven Werte hat
Bald ist es dreißig Jahre her, ein Zeitraum von mehr als einer Generation: 30 Jahre Mauerfall am 9. November 1989. Es folgte ein knappes Jahr kreativer Ost-Anarchie, bis am 3. Oktober 1990 der erste Tag der deutschen Einheit gefeiert wurde. Welche ein Aufbruch! Ich erinnere mich an eine Recherche-Reise als Wirtschaftsjournalist im kalten Januar 1990 nach Leipzig, Halle und Ost-Berlin (damals noch »Hauptstadt der DDR«), die mir erschien wie die Entdeckung eines unbekannten Kontinents. Den Grenzübertritt in Herleshausen muss man sich vorstellen wie den Wechsel von Farbe zu Schwarzweiß mitten in einem Film. Hinter der Grenze waren die Häuser überall grau. Ich sollte die für das »Leseland DDR« legendären Verlage des Ostens besuchen. Bei Reclam Leipzig hatten sie gerade den verschlafenen Direktor gefeuert (»friedliche Revolution«) und setzten nun auf einen von den Mitarbeitern verwalteten Betrieb, eine Art jugoslawische Arbeiter-Kommune als Modell für die neue Zeit. Lauter sympathische Träumer waren das, »gärig« könnte man die Stimmung nennen, wäre das Wort nicht durch Alexander Gauland kontaminiert.
Und heute? Katzenjammer, Ignoranz und viele böse Worte. Die Helden von damals streiten wie die Kesselflicker, wem das revolutionäre Vorrecht der welthistorischen Zäsur zusteht – den träumenden Protagonisten der DDR-Opposition oder dem Volk der Realisten, das endlich leben und konsumieren wollte wie die Brüder und Schwestern im westlichen Kapitalismus. Irgendwie sind sich alle einig, dass die Sache der Wiedervereinigung nicht richtig gelungen ist – vor allem nicht in den inzwischen in die Jahre gekommenen »neuen Bundesländern«, die immer mehr einer Art Nationalpark gleichen mit viel blühenden Landschaften und immer weniger, dafür aber immer lauter werdenden Enttäuschten, Abgehängten und Traumatisierten. Die erzählen sich und uns im Westen eine Geschichte der Entwürdigung und Entwertung. Vorige Woche lief auf ZDF-Info ein sehenswerter Film »Sachsen zwischen Mauerfall und Rechtspopulismus«, in dem das derzeit vorherrschende Ost-Narrativ zu Wort kam: Die westlichen Kapitalisten haben nach 1990 den Osten platt gemacht, um ihn als Absatzmarkt für ihre Westprodukte und als verlängerte Werkbank für billige Arbeitskräfte zu missbrauchen. Als Instrument dieser perfiden Politik gilt die brutal alles privatisierende Treuhand-Anstalt, auf die sich AfD, Linke und Teile der SPD (etwa die sächsische Integrations-Ministerin Petra Köpping) seit geraumer Zeit eingeschossen haben. Es sieht gerade so aus, als hätte es vor 1990 zwischen Ostsee und Elbsandsteingebirge blühende Landschaften gegeben, welche aus eigennützigen Gründen vom Westen zerstört wurden – eine Geschichtskonstruktion, die zwingend vom DDR-Sozialismus über den Neoliberalismus (Treuhand) in den AfD-Nationalismus führt.
Ein kurzer Weg von Magedburg nach Wolfsburg
Dass diese Deutung eine Pervertierung der Wahrheit ist, hat die ehemalige Treuhand-Chefin Birgit Breuel vor zwei Wochen im FAS-Interview klargemacht. Die Chemie-Region Bitterfeld-Leuna sei ihr vorgekommen, »wie eine Welt, die vergessen hatte unterzugehen«. Weit und breit nichts von blühenden Landschaften. Wo aber lagen dann die Fehler, dass Helmut Kohls Versprechen von damals vielen heute wie Hohn erscheint? In den neunziger Jahren gab es bei uns eine vorherrschende Deutung, wonach die Währungsunion (eine Ostmark gegen eine D-Mark) und die von Gewerkschaften und Arbeitgebern im Kartell beschleunigt vollzogene Lohnerhöhung ostdeutsche Arbeit und Produkte derart verteuert habe, dass diese am Markt nicht mehr absetzbar gewesen seien. Das Argument ist auch heute nicht falsch, klingt aber doch sehr theoretisch. Was hätte ein solcher Wettbewerbsvorteil gebracht? Der Treck nach Westen wäre nicht aufzuhalten gewesen, der Braindrain noch viel dramatischer ausgefallen. Seit der Flüchtlingskrise kennen wir Push- und Pullfaktoren: Zwischen Magdeburg und Wolfsburg gibt es noch nicht einmal ein Mittelmeer.
Wenn die Mauer erst am 9. Novemer 2019 fiele
Man stelle sich für einen Moment vor, die DDR existiere heute immer noch und die Maueröffnung stehe am 9. November 2019 erst noch bevor. Alle (auch die klügsten Ökonomen) wären vorbereitet und könnten alles besser machen. Ich wage die Vermutung, die Geschichte würde nicht viel anders verlaufen: Schock und Trauma des Systemwechsels wären nicht zu vermeiden, so fatalistisch es klingen mag. Woran das liegt? Es könnte damit zusammenhängen, dass es in einer Marktwirtschaft keine »objektiven« Werte gibt. Das ist schwer zu ertragen, weil es in Revolutionszeiten eine Erfahrung von Entwertung und Entwürdigung nach sich ziehen muss. Plötzlich waren die Fabriken und die in ihnen herstellten DDR-Produkte nichts mehr wert. Niemand, auch niemand in Osteuropa und selbst in den neuen Bundesländern, wollte noch einen Trabant kaufen, den zugeteilt zu bekommen kurz vorher noch ein großer Wert gewesen wäre. An der objektiven Beschaffenheit des Trabant hatte sich vor und nach 1989 nichts geändert. Trotzdem war er wertlos geworden: dabei hatten die Arbeiter ihn immer noch so gewissenhaft gefertigt wie früher. Aber ihre Arbeit wurde plötzlich nicht mehr gebraucht. Solch eine Entwertung vergisst man nie. Womöglich kommt die Wut erst Jahre später.
Man kann sich diese »subjektive« Wertlehre der Marktwirtschaft an einem ganz anderen historischen Beispiel klarmachen: Als am 11. November 1918 genau um elf Uhr zwischen den kriegführenden Parteien des Ersten Weltkriegs ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde, waren die modernsten britischen Panzer, die auf Befehl von Rüstungsminister Winston Churchill gerade fertig geworden waren, auf einen Schlag nichts mehr wert. An den Panzern selbst hatte sich nichts geändert – bloß der Preis verfiel. Der aber ist entscheidend, weil einzig er den Wert einer Sache definiert. Er hängt bekanntlich von Angebot und Nachfrage ab. In den neunziger Jahren haben offenkundig noch nicht einmal die Marktwirtschaftler aus dem Westen ihrer subjektiven Werttheorie geglaubt. Anders wäre es nicht erklärbar, dass Detlev Rohwedder, der erste Präsident der Treuhand, den »Wert« der ostdeutschen Wirtschaft anfangs auf 700 Milliarden DM taxierte; am Ende stand da ein Defizit von über 200 Milliarden DM, das vom (west)deutschen Steuerzahler beglichen werden musste. Selbst wenn die Fabriken im Osten weniger verrottet gewesen wären, als sie es faktisch waren: sie wären wertlos geworden, nachdem keiner die Produkte mehr haben wollte.
Karlheinz Paqué, ein Ökonomieprofessor aus Magdeburg, der viel über die deutsche Vereinigung geforscht hat, vermutet, dass uns das Verständnis für die Irrelevanz des Sachkapitals heute, im digitalen Zeitalter, vertrauter geworden sei. »Flixbus« ist nicht erfolgreich, weil der Firma viele grüne Busse gehören. Die standen früher wertlos auf den Fuhrparks der Provinz herum. Der »Wert« von Flixbus beruht auf einer simplen Idee, nämlich einer Plattform, welche die Wünsche der Kunden koordiniert. Vielleicht wüssten wir eines heute besser: Es kommt nicht auf Kapital und Transfers an, es kommt auf Ideen an. Aber wer hätte für diese Erkenntnis weitere 30 Jahre Sozialismus in Kauf nehmen wollen?
Rainer Hank
29. Juli 2019
Geht uns die Arbeit aus?Warum ein Grundeinkommen so viele Freunde hat
Maria und Martha sind Schwestern. In der Bibel wird von ihnen erzählt. Jesus ist zu Besuch bei den Frauen. Während Maria sich sogleich zu Jesu Füßen setzt und seinen Reden lauscht, macht Martha – wie Luther übersetzt – »sich viel zu schaffen, ihm zu dienen«. Offensichtlich werben beide Frauen um die Gunst des charismatischen Mannes. Martha provoziert: Ob der Meister es nicht merkwürdig finde, dass sie alleine die ganze Arbeit mache, während die Schwester immer bloß dasitze und lausche? Doch Jesus erteilt ihr eine Abfuhr: »Was werkelst Du und kümmerst Dich um alle möglichen Dinge?« Maria hat es besser angestellt: Sie konzentriert sich auf das, was wesentlich ist – sie ist ganz Ohr für das Wort des Herrn.
Die Geschichte von Maria und Martha ist ein Schlüsseltext zum Stellenwert der Arbeit. Er erinnert, was heute vergessen ist: dass über lange Jahrhunderte die Arbeit einen schlechten Leumund hatte. Wer es sich leisten konnte, machte sich von Arbeit frei. Die »vita contemplativa«, die betrachtende Muße, rangierte weit über der »vita activa«, dem tätigen Leben. Erst seit der Neuzeit gilt die Arbeit als die Quelle des Reichtums. Und zwar nicht einfach jede Arbeit, sondern eine Arbeit, die produktiv ist und die gegebenen Ressourcen effektiv nutzt. Das Ansehen der Arbeit wurde ungleich aufgewertet; sie bringt Sinn und Geld in das Leben. Die Reihenfolge ist wichtig: Erst kommt die Arbeit, dann das Geld und nicht umgekehrt. Ohne Fleiß kein Preis.
Die Tyrannei der Arbeitsgesellschaft
»Die Neuzeit hat im siebzehnten Jahrhundert damit begonnen, die Arbeit zu verherrlichen«, schreibst Hannah Arendt: »Und sie hat zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts damit geendet, die Gesellschaft im Ganzen in eine Arbeitsgesellschaft zu verwandeln.« Das macht die Welt egalitär; jeder ist ein Arbeiter, der Hausmeister im Berliner Kanzleramt genauso wie Angela Merkel, die Kanzlerin: Auch sie hat einen Job, macht ihn sogar ganz ordentlich, wie viele sagen.
Kein Wunder, dass die Ahnung, der Arbeitsgesellschaft könne die Arbeit ausgehen, seither eine Horrorvorstellung ist. Einer Welt, die sich ausschließlich auf die Arbeit versteht, muss die Androhung einer Welt ohne Arbeit als der Absturz in das Nichts erscheinen. Wovon sollen wir dann noch leben? Was gibt uns dann noch Sinn? Gewiss, sporadisch machen Utopien eines »Rechts auf Faulheit« die Runde. Der große Ökonom John Maynard Keynes träumte in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts davon, dass für seine Enkel und Urenkel – also für uns – der wirtschaftliche Fortschritt die wichtigsten Bedürfnisse erfüllt habe. Arbeit werde eine Sache für Spezialisten, so ähnlich wie die Zahnheilkunde. Der Rest der Menschheit kann sich schöneren Dingen zuwenden und sich erfreuen an den Lilien auf dem Feld.
Es ist dann bekanntlich anders genkommen. Weder haben sich die Menschen von der Arbeit befreit, noch wollten sie es. Immer noch ist die Arbeit Quelle unseres Reichtums; wir sind inzwischen alle ungleich reicher (zumindest in den Industrieländern) als Keynes und seine Zeitgenossen. Abermals ist deshalb die Angst immens, eine neue, technologisch verursachte Arbeitslosigkeit werde uns in den Abgrund reißen.
Lasst euch was Neues einfallen
Die beste Antwort auf die Drohung, uns werde von den Maschinen die Arbeit abgenommen, heißt immer noch: Dann erfinden wir eben eine andere, neue Arbeit, für die es (noch) keine Maschine gibt. Wir werden Personaltrainer im Fitnessstudio (die vermehren sich derzeit ungemein) oder programmieren die Roboter (die vermehren sich derzeit auch: die KI-Programmierer wie die Roboter). Der Verweis auf den Arbeit schaffenden menschlichen Erfindergeist ist schlagend. Allerdings sollte man die Zeit nicht unterschlagen, die vergeht zwischen der Vernichtung der alten Arbeit und der Entstehung neuer Arbeit, wie der Wirtschaftshistoriker Carl Benedikt Frey in seinem neuen Buch »The Technology Trap« schreibt (Patrick Bernau hat das Buch in der F.A.S. vom 19. Juni vorgestellt).
Nach Freys Forschungen gibt es zwei sehr unterschiedliche Verläufe einer technologischen Revolution: Im frühen 19. Jahrhundert, als die Industrialisierung in England los ging, haben Spinn- und Webmaschinen ein Heer von Arbeitslosen produziert: Maschinen ersetzen Menschen. Die Produktivität verbesserte sich, Produkte wurden billiger, was wiederum vielen Menschen Arbeit gab. Kurzfristig ein Verlust, langfristig ein Gewinn: Diejenigen, die später Arbeit bekamen, waren leider nicht die diejenigen, die sie früher verloren haben. »Kurzfristig« kann für manche eben das ganze Leben gewesen sein. Dagegen hat die technologisch verursachte Automatisierung des 20. Jahrhundert Arbeitsplätze nicht vernichtet, sondern gleichzeitig neue Beschäftigung kreiert: An den Fließbändern der Automobilindustrie oder in den Fabriken, die Kühlschränke, Waschmaschinen oder Backöfen für jeden Mittelschichtshaushalt produzieren.
Bloß kein Grundeinkommen
Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Algorithmen sind die Treiber unserer heutigen technologischen Revolution. Noch wissen wir nicht, nach welchem Muster sie verläuft. Carl Benedikt Frey, der Wirtschaftshistoriker, befürchtet, es könnten – kurzfristig – viele Jobs verschwinden, wie damals im frühen 19. Jahrhundert. Die Furcht vor Jobverlust erklärt den Erfolg populistischer Politiker.
Ist es ein Wunder, dass gerade jetzt die Idee eines »bedingungslosen Grundeinkommens« wieder in Mode kommt? Jeder zweite Deutsche findet es prima. Der Grundansatz ist von »provozierender Schlichtheit«, wie die Ökonomen Philip Kovce und Birger Priddat in einem gerade bei Suhrkamp erschienenen verdienstvollen Reader schreiben: Jeder Bürger eines Gemeinwesens soll lebenslang ein existenzsicherndes Einkommen beziehen, das ihm als individueller Rechtsanspruch ohne etwaige Arbeitspflicht oder Bedürftigkeitsprüfung gewährt wird. Alter, Bildung, Beruf, Vermögen – all das soll keine Rolle spielen.
Konzentrieren wir uns auf den philosophischen Kern des Grundeinkommens, so bestätigt sich Hannah Arendts Analyse, wonach wir die Automation stets als Fluch und nicht als Segen zu erleben pflegen. Das »bedingungslose Grundeinkommen« verspricht Befreiung vom Zwang der Arbeit und will aus der Not (Automatisierung) eine Tugend (Geld auch ohne Arbeit) machen. Doch die Bedingung des bedingungslosen Grundeinkommens heißt: Wenige müssen mehr oder produktiver arbeiten, um das bedingungslose Grundeinkommen der vielen zu finanzieren. Falsche Anreize sind der bleibende Widerspruch dieser Utopie. Es geht ihr nicht darum, die »vita activa« durch eine neue Form der »vita contemplativa« zu ersetzen. Es geht ihr »lediglich« um Kompensation.
Der Arbeitsgesellschaft können und wollen wir nicht entrinnen. Sollten diejenigen Recht behalten, die einen kurzfristigen Verlust vieler Arbeitsplätze befürchten, wäre wohl tatsächlich eine kompensatorische Politik nötig – nicht nur aus Furcht vor einer weiteren Radikalisierung der Populisten. Doch es gibt gute und weniger gute Kompensation. Vom Grundeinkommens halte ich nichts. Aber was dann? Dazu mehr in einer der nächsten Folgen von »Hanks Welt«.
Rainer Hank
22. Juli 2019
Kommen wirklich die Richtigen?Einige Ideen zur Einwanderung in den Sozialstaat
Dr. Lee hatte eine geniale Idee. Der südkoreanische Mediziner war vor gut fünfzig Jahren als Kinderarzt an einer Klinik in Mainz tätig. Aber es fehlten Säuglingsschwestern. Lee schaltete Anzeigen in Zeitungen seines Heimatlandes, und bald kamen die ersten Koreanerinnen nach Deutschland, wo sie für 600 DM netto im Monat in Dr. Lees Klinik arbeiteten. Korea war in den sechziger Jahren noch ein sehr armes Land.
Rund zehntausend junge Frauen aus Korea sollten sich bis in die mittleren siebziger Jahre entscheiden, in deutschen Kliniken als Schwestern zu arbeiten. Einfach waren die Bedingungen nicht. Ein Drittel der Koreanerinnen ist für immer hier geblieben; viele sind inzwischen wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Meine Kollegin Lena Schipper, die inzwischen als Korrespondentin des britischen »Economist« in Seoul arbeitet, hat kürzlich einige dieser Re-Migrantinnen besucht. Viele leben in Seoul. Andere haben sich auf dem Land ein »deutsches Dorf« gebaut, wo es im Biergarten Wurst und Schnitzel und im Herbst ein Oktoberfest gibt.Dr. Lees Migrations-Experiment war ganz offensichtlich eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten. Der Arzt ist mir in den Sinn gekommen als in der vergangenen Woche unser Gesundheits- und Beinahe-Verteidigungsminister Jens Spahn (CDU) in den Kosovo fuhr, um dort Pflegekräfte anzuwerben. In Deutschland gibt es immer mehr ältere Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, aber viel zu wenig Altenpfleger. Im Kosovo, einem jungen Land, gibt es viel zu viele arbeitslose Jugendliche ohne Zukunftsaussichten. Sie investieren eigenes Geld für eine Pflegeausbildung in ihrer Heimat, lernen deutsch und hoffen darauf, in Deutschland eine Arbeit zu bekommen. Bis zu tausend ausgebildeter Pflegekräfte im Jahr sollen künftig nach Deutschland kommen, sofern es gelingt, die bürokratischen Hürden (Anerkennung der Abschlüsse) abzubauen. Man kann auch das als eine Win-Win-Situation beschreiben.
Deutschland braucht dringend Migranten
Südkoreanische Kinderkrankenschwestern, kosovarische Altenpfleger: Beide Male handelt es sich um Beispiele, bei denen die Bilanz von Kosten und Nutzen für Herkunfts- und Zielland zu stimmen scheint. Aber sie bleiben begrenzt. Tatsächlich ist im lauten Getöse der Jahre nach dem Flüchtlingsschock 2015 in Vergessenheit geraten, dass Deutschland auf Zuwanderung dringend angewiesen ist, wird doch die Bevölkerung hierzulande binnen fünfzehn Jahren um sechs Millionen Bürger schrumpfen. Vieles spricht dafür, dass es in unserem Land weiterhin gute Arbeit geben wird, aller Ängste vor der Automatisierung durch Roboter und Algorithmen zum Trotz, und dass die Alten nicht nur auf junge Pfleger angewiesen sind, sondern auch auf junge Menschen, die im Umlageverfahren ihre Rente finanzieren.
Offene Grenzen sind ein hohes Freiheitsgut. Entscheidend ist freilich, dass die Richtigen kommen. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre wäre es naiv zu glauben, alle Einwanderer seien vom Typus der engagierten Koreanerinnen und Kosovaren. Es gibt eben auch jene Zehntausende Armutsmigranten aus Bulgarien und Rumänien ohne Schulabschluss und Deutschkenntnisse, die von kriminellen Schlepperbanden hierher gebracht werden, wo sie Kindergeld und Hartz IV kassieren – um am Ende häufig selbst in der Kriminalität zu landen (F.A.Z. vom 19. Juli). Mit umfangreichen Sozialleistungen übt unser Land hohe Attraktivität aus auf Migranten mit geringer Qualifikation, die aus ärmeren Ländern kommen. Verführerisch sind vor allem Sozialleistungen im Arbeitslosen-, Gesundheits- und Bildungssystem, weniger dagegen ein ausgebauter Arbeitnehmerschutz und ein hohes Rentenniveau. Denn Arbeitslosen-, Gesundheits- und Bildungsleistungen (auch für die nachziehende Familie) sind sofort wirkende Wohltaten, während Arbeitnehmerrechte meist die im Land lebenden Insider vor Newcomern schützen und Renten erst einmal von den Migranten finanziert werden müssen. Da es auch innerhalb der EU, aller Transfers zum Trotz, alles andere als gleiche Lebensverhältnisse gibt, verstärken Push-Faktoren im armen Land und Pull-Faktoren aus dem reichen Land sich wechselseitig.
Die Fiskalbilanz muss positiv sein
Migranten belasten den Staat und seine Steuerbürger, wenn sie Sozialleistungen und Infrastruktur in Anspruch nehmen. Sie entlasten ihn, wenn sie selbst Steuern und Abgaben zahlen. Alles hängt davon ab, dass die »Fiskalbilanz« am Ende positiv wird. Denn dann profitieren nicht nur die Migranten, sondern auch die ansässige Bevölkerung. Das trägt zugleich zur Akzeptanz der Migranten bei und verdirbt mittelfristig sowohl den Populisten wie den kriminellen Schleusern ihr schmutziges Geschäft.
Vor zwei Wochen hatte ich an dieser Stelle versprochen, Ideen vorzustellen, wie das Dilemma von offenen Grenzen im üppigen Sozialstaat gelöst werden kann: Im Kern laufen alle Vorschläge darauf hinaus, dem Markt das richtige »Matching« zu überlassen, will sagen, Zuwanderung über Preise zu regeln und Übereinkünfte zu treffen, wer zahlen muss. Es zeigt sich, dass der Markt das gerechtere und humanere Arrangement hat als Bürokraten oder korrupte Schlepperbanden.
Generell (und analog zu Korea und Kosovo) sollte jeder Ausländer eine befristete Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung bei uns bekommen, der von einem deutschen Unternehmen verbindlich einen Arbeitsplatz angeboten bekommt: Das Gehalt muss dabei eine festgelegte Mindestgrenze erreichen, die hoch genug ist, um ihn zu einem Nettobeitragszahler an den öffentlichen Finanzen (Steuern und Sozialbeiträge) zu machen. Alle bürokratischen Prüfungen und absurden Nachweise, dass sich kein heimischer Arbeitnehmer für diese Arbeit findet, kann man sich dann sparen. Panu Poutvaara, Leiter des Ifo-Zentrums für Migrationsforschung, nimmt an, dass derzeit eine Bruttolohnschwelle von 34000 Euro Jahresgehalt nötig ist, die sicherstellt, dass alle von der Immigration profitieren.
Sinnvoll wäre es, dass auch Migranten ohne feste Jobzusage befristet eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Allerdings sollten sie dann nicht sofort alle Sozialleistungen bekommen, um nicht wie die verschleppten bulgarischen Armutsflüchtlinge dauerhaft zu Hartz-IV-Fällen mit allen negativen ökonomischen und sozialen Folgen zu werden. Hans Werner Sinn, der ehemalige Ifo-Chef, unterscheidet zwischen ererbten und erarbeiteten Ansprüchen. Erarbeitete Ansprüche sind solche, die man selbst durch Steuern und Abgaben finanziert hat, also Leistungen aus der Renten-, Unfall-, Arbeitslosen- oder Krankenversicherung. Ererbte Ansprüche stammen aus der Grundsicherung, die jeder genießen darf, wenn er nicht oder noch nicht arbeiten kann. Dazu zählen Sozialhilfe, Kindergeld oder Hartz-IV-Leistungen und wohl auch Bildung.
Der Clou an der Unterscheidung: Erarbeitete Leistungen können sofort vom Gastland gewährt werden, für ererbte Ansprüche muss das Heimatland aufkommen. Der Vorschlag hat einen doppelten Vorteil: Die Freizügigkeit, auswandern zu dürfen, wird nicht eingeschränkt; ob innerhalb der EU oder von außen spielt dabei eine eher nebensächliche Rolle. Aber auch der Sozialstaat wird durch Migration nicht gesprengt. Warum bloß machen sie die demokratischen Parteien diesen Vorschlag nicht zu eigen?
Rainer Hank
15. Juli 2019
Die Bahn – chronisch unpünktlichWarum kriegen andere Länder das besser hin?
Neulich sind wir mit der Bahn von Samarkand nach Taschkent gefahren. Und waren verzaubert. Keine Angst: Das wird jetzt kein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, sondern der Bericht einer knallharten Recherche in Usbekistan. »Afrosiyob« nennt sich der Hochgeschwindigkeitszug der »Uzbekian Railways«, die diese gut dreihundert Kilometer lange Strecke seit geraumer Zeit bedienen. Die Züge bringen es in der Spitze auf eine Geschwindigkeit von 250 Kilometer, sind hell und sauber und der Reisende fühlt sich umsorgt von freundlichem Personal. In gut zwei Stunden schafft man die Strecke locker; mit Bus oder Sammelaxi wären wir deutlich länger unterwegs. Das Ganze, nur nebenbei, kostet in der zweiten Klasse knapp elf Euro.
Nun aber die märchenhafte, aber wahre Nachricht: Fahrplanmäßige Abfahrt des Zuges in Samarkand war 17 Uhr 28. Und wann fuhr der Zug ab? Pünktlich um 17 Uhr 28. Fahrplanmäßige Ankunft in Taschkent: 19 Uhr 44. Und wann kam der Zug an? Pünktlich um 19 Uhr 44. Zugegeben, meine Verwunderung verrät ein Vorurteil, hätte ich so viel Pflichterfüllung der Staatsbahn des zentralasiatisch-postkommunistischen Landes an der Seidenstraße gar nicht zugetraut. Aber eben: Wir sind hier nicht in Preußen, sondern in einem armen und heißen Schwellenland, wo die Leute erst einmal anderes zu tun haben, als sich um sekundengenaue Pünktlichkeit ihrer Züge zu scheren. Apropos heiß: Die Klimaanlage im Zug funktionierte prächtig. Es kommt noch besser: Einem Informationsblatt in der Rückentasche der Sitze kann jeder Reisende auf Usbekisch, Russisch oder Englisch entnehmen, dass ihm bei einer Verspätung der Bahn zwischen 15 und 30 Minuten bereits fünfzehn Prozent des Fahrpreises erstattet werden. Die weitere Staffelung: Bis 60 Minuten gibt es 25 Prozent, bis 120 Minuten 75 Prozent und von der 121 Minute an gar 90 Prozent Rückzahlung.
Gestrandet in Stuttgart
Wissen Sie was es in Deutschland in solchen Fällen gibt? Bei einer Verspätung bis 60 Minuten zahlt die Bahn gar nichts. Danach 25 Prozent und von der 121 Minute an gerade mal 50 Prozent. Zugegeben, der Vergleich zwischen Deutschland und Usbekistan ist ein bisschen unfair: Das Land ist weniger dicht besiedelt, die Schnellzüge fahren nicht im Stundentakt. Und ehrlich gesagt konnte ich die Typen noch nie leiden, die ständig an der Bahn herum nörgeln. Ich habe Twitter-Freunde, die drohen, jeden zu entfolgen, der Bahn-Geschichten ins Netz stellt. Aber was kann ich dafür, dass bei dieser sanften Fahrt durch Usbekistan in mir die Erinnerung an die letzte Bahnreise in Deutschland an einem brüllend heißen Juni-Sonntag von Lindau nach Frankfurt wach wurde. Um es nüchtern zusammenzufassen: In Ulm konnte wegen Verspätung der Anschluss-ICE nicht warten, der Zutritt zum folgenden Euro-City war uns verwehrt, weil in einigen Wagen die Klimaanlage ausgefallen war, und der danach folgende Zug strandete in Stuttgart, gut 200 Kilometer vor meinem Ziel Frankfurt. Kurzum: Am Ende war ich – müde, verschwitzt und verärgert – nach sieben, anstatt geplanten fünfeinhalb Stunden endlich zuhause. Um dann das »Fahrgastrechte-Formular« – nicht nur sprachlich eine bürokratische Meisterleistung – auszufüllen, benötigt man mindestens weitere fünfzehn Minuten.
Anekdotische Evidenz kann trügerisch sein. Kommt es mir nur so vor, als gehe es mit der Bahn bergab, verspätungsmäßig gesehen? Oder habe ich auf den letzten drei Reisen (ich spare mir weitere Details) nur Pech gehabt? Man kann das nachlesen; alles wird objektiv erfasst. Demnach war das Jahr 2018 besonders desaströs. Nach Pünktlichkeitsquoten von gut 78 Prozent in den Vorjahren verzeichnet die Statistik für 2018 einen Rückfall auf 74,9 Prozent. Der Jahresauftakt 2019 soll dann wieder besser gewesen sein. Als unpünktlich gilt bei uns ein Zug dann, wenn er sechs Minuten später als geplant an seinem Ziel ist. Mit einer solchen Definition kann ich wenig anfangen: Ich will nicht wissen, ob der Zug pünktlich ist, sondern ob ich pünktlich an meinem Ziel ankomme und meine Anschlüsse nicht verpasse. So misst die Schweiz die Pünktlichkeit – neben Japan und für mich neuerdings Usbekistan (!) das große Vorbild für alle Eisenbahngesellschaften der Welt: Ein leerer Zug, der fahrplanmäßig am Ziel ankommt, zählt für die Eidgenossen nicht. Es zählt lediglich, wieviel Fahrgäste verspätet sind. Und außerdem gilt dort ein Zug schon als unpünktlich, wenn er über drei Minuten Verspätung hat. Gemessen an den deutschen Kriterien weist die Schweiz nach eigenen Angaben eine Pünktlichkeitsquote von 98 Prozent aus. Da ist für die Deutsche Bahn noch Luft nach oben, zumal die Strecken- und Besiedlungsdichte in der Alpenrepublik der unseren um nichts nachsteht.
Kennen Sie Fairtiq, die ideale Bahnbezahl-App?
Nun könnte man aus Gründen der Deeskalation zu mehr Gelassenheit aufrufen. Aber es ist nun einmal so, dass Verspätung Stress macht, Unglücksgefühle auslöst und ökonomische und psychische Kosten verursacht angesichts ausgefallener Geschäftstermine oder verpasster privater Dates. Bei der derzeitigen Klimarettungseuphorie wäre tatsächlich einiges gewonnen, wenn mehr Menschen vom Diesel auf den Zug umsteigen würden. Vollmundig kündigt die Bahn an, in absehbarer Zeit ausschließlich mit regenerativ erzeugtem Strom zu fahren und hofft auf eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen auf jährlich 260 Millionen. Aber eben nicht pünktlich.
Warum aber hat die Deutsche Bahn ihr chronisches Verspätungsproblem? Mit der Beantwortung dieser Frage haben viele Beratungsgesellschaften schon viel Geld verdient. Der Volksmund ist der Ansicht, Bahnchef Mehdorn und der verkorkste Börsengang der Bahn seien schuld. Eine bessere Erklärung kam jüngst vom Chef der Schweizer Bahn (F.A.Z. vom 29. Juni). Der Mann heißt Meyer und hat, wie gesagt, bewiesen, dass er es besser kann: Deutschland sei ordnungspolitisch unentschieden, was es von seiner Bahn wolle, sagt Herr Meyer. Will man eine Bahn als »Service public«, als öffentliche Dienstleistung? Oder will man ein Wirtschaftsunternehmen, das Dividende an den Staat abführt? Für die Schweiz gelte: »Unsere Dividende ist ein Beitrag an die Lebensqualität in der Schweiz und die Wettbewerbsfähigkeit des Landes und seiner Regionen, ein System, das komplett anders ist als in Deutschland.« In Deutschland erwartet die Politik einerseits Dividende für die Staatskasse, aber trotzdem eine sehr gut funktionierende Bahn. Der Mix von verkehrs- und industriepolitischen Zielen ist ordnungspolitisch verkorkst.
Wo wir schon beim Vorbild Schweiz sind. Haben Sie schon von »Fairtiq« (sprich: fertig) gehört? Das ist eine App (www.fairtiq.com), mit der die Schweizer ihre Bahn bezahlen und die ganz simpel über GPS funktioniert. Man muss kein Ticket mehr kaufen, die App wird beim Einsteigen in den Zug aktiviert (wischen von links nach rechts) und beim Aussteigen deaktiviert. Der Betreiber berechnet automatisch den jeweils günstigsten Tarif für genau die gefahrene Strecke. Fertig! Welch eine Erholung im Vergleich zu all den Super- und Sonstwiesondertarifen mit oder ohne Zugbindung, mit oder ohne City-Ticket. Kürzlich hat Fairtiq im Wettbewerb den Zuschlag für London erhalten. Mal sehen, ob demnächst Frankfurt folgt – oder eher Samarkand?
Rainer Hank