Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 05. März 2020
    Herrschaft des Pöbels

    Masse und Macht

    Dieser Artikel in der FAZ

    Zu viel Demokratie kann schädlich sein

    Steht die Demokratie am Abgrund? Seit dem Debakel in Thüringen tönt es hierzulande so. Dabei war, man könnte einschränken »formal«, doch gar nichts Ungehöriges passiert. Zwei Parteien, die an den politischen Rändern siedeln, haben bei den Wahlen zum Landtag 2019 zusammen eine Mehrheit erhalten: Linke (31 Prozent), AfD (23,4 Prozent). Den Parteien der Mitte – CDU, SPD, FDP – reichte es, sollten sie koalieren, lediglich zu einer Minderheitsregierung. Dieser Sachverhalt zog verschiedene, letztlich gescheiterte Versuche nach sich, eine Regierung zu bilden. Man mag AfD und Linke nicht mögen, man mag die AfD für rassistisch und extremistisch halten, aber demokratisch ist am ganzen Verfahren nichts auszusetzen: Bei den Wahlen kam es, soweit man weiß, zu keinen Manipulationen. Das Ergebnis repräsentiert den Wählerwillen. Wer sagt, die Demokratie stehe am Abgrund, der sagt eigentlich nur, dass ihm das Ergebnis nicht passt.

    Könnten die Probleme in Thüringen womöglich etwas mit der Demokratie selbst zu tun haben? Diese Ansicht vertritt der Bremer Politikwissenschaftler Philip Manow in zwei mit »(Ent)Demokratisierung der Demokratie« überschriebenen klugen Essays in der Zeitschrift »Merkur« (März 2020/Dezember 2019) als Vorgeschmack auf ein im Frühjahr bei Suhrkamp erscheinendes Buch. »Demokratische Repräsentation war ursprünglich die Lösung für ein Problem, das Pöbel oder Menge hieß«, so Manows Ausgangspukt. Demokratie bedeutet nicht nur Herrschaft des Volkes, sondern auch Schutz vor dem Volk, dem viele Bürger nicht trauen. In einer repräsentativen Demokratie herrscht die Masse nicht direkt, sondern die von ihr gewählten Abgeordneten als ihre Repräsentanten. Nicht alle aber sollten repräsentiert werden: Der Plebs oder deutsch dem Pöbel wollte man lieber keine Repräsentanz in den Parlamenten übertragen. Nur das »gute« Volk sollte sich in den demokratischen Institutionen wiederfinden. »Volk heißt nicht der Pöbel in den Gassen, der singt und dichtet niemals, sondern schreyt und verstümmelt«, so zitiert Manow aus Herders Vorrede zu seinen »Volksliedern« von 1779. Die repräsentative Demokratie hat Angst vor Populismus. Dabei wurde unter dem Pöbel ursprünglich eine ökonomisch definierte Gruppe des Volkes verstanden: diejenigen, die keinem Stand angehören und »außerhalb der Ehren der Arbeit« leben.

    Die Demokratie schützt die Demokratie nicht

    Der Gedanke, ein Teil des Volkes sei eigentlich unrepräsentierbar, ist bei Lichte besehen kein demokratischer Gedanke, sondern eher dessen Gegenteil: Der Grundsatz »one man one vote« gibt jedermann Partizipation an der Macht unabhängig von seiner ökonomischen Stellung und seinen politischen Ansichten. Bezogen auf heute heißt das: Das Populistische ist eine Erscheinungsform des Demokratischen und nicht sein Dementi. Wenn 23,4 Prozent der Bürger in Thüringen AfD wählen, dann meldet sich ein »Pöbel« zu Wort, dem man – womöglich abermals mit Gründen – die politische Macht nich überantworten möchte. Aber eines kann man ihm nicht nachsagen: dass er nicht demokratisch legitimiert sei.
    Das Aufkommen des Populismus wäre dann die Wiederkehr des Verdrängten innerhalb der Demokratie. Darauf alarmistisch mit Demokratiegefährdungsdiagnosen zu reagieren, trägt selbst zur Gefährdung der Demokratie bei, so Manow. Diese folgen dem scheinheiligen Motto, erst den Rechtspopulismus als »Saatboden für einen neuen Faschismus« zu brandmarken, um dann aus demselben pseudoaufklärerischen Munde einen zurückhaltenden öffentlichen Sprachgebrauch anzumahnen und die Spaltung der Gesellschaft zu beklagen.

    Was also tun, wenn Demokratie die Demokratie nicht vor Populismus schützen kann? Die liberale Ökonomie zieht daraus den Schluss, der Demokratie selbst Schranken zu setzen. Das ist der Grundgedanke der während und nach dem zweiten Weltkrieg in Wien, Genf und Freiburg erdachten Ordnungsökonomik, die heutzutage als Neoliberalismus geschmäht wird. Es waren Jahre, in denen schon einmal die Demokratie populistisch in Gefahr war: Hitler kam demokratisch an die Macht. Der Grundgedanke der Ordnungsökonomik lautet: Nicht nur der Markt, sondern auch die Demokratie müssen eingebunden sein in Institutionen, die ihrerseits nicht zur demokratischen Disposition stehen. Für heutige Ohren etwas altmodisch sprach man von einem »Ordnungsrahmen«. Ihm kommt die Aufgabe zu, Markt und Demokratie zu »ummanteln« (Quinn Slobodian), also zu schützen gegen populistische Versuchungen der Demokratie selbst.

    Rechtsstaat ist wichtiger als Mehrheitsdemokratie

    Allemal geht es um eine Relativierung der Demokratie, eine Aufgabe, welche zuallererst der Rechtsstaat zu übernehmen hat. Die Justiz – insbesondere das Verfassungsgericht – ist unabhängig, genauso ist es auch die Notenbank. Beide Male handelt es sich um Institutionen, die den Begehrlichkeiten der Plebs besonders ausgesetzt sind, und die deshalb sakrosankt bleiben müssen. Die Idee der ummantelnden Ordnungspolitik ist ein elitäres Konzept, das auf Selbstbindung baut: Eine demokratische Mehrheit entscheidet, wichtige Politikbereiche dem demokratischen Zugriff zu entziehen. Heute wird gerne zwischen »liberaler« und »illiberaler« Demokratie unterschieden, um mutmaßlich denselben Sachverhalt zu umschreiben. Das klingt für mich nicht ganz redlich, bloß um ja nichts gegen die Demokratie sagen zu müssen. Warum soll man es nicht klar aussprechen: Der die Gewalten aufteilende Rechtsstaat ist für die menschliche Freiheit ein höherer Wert als die Demokratie.

    Wer die Ideen der deutschen Ordnungspolitik für altmodisch hält, sollte einen Blick in ein gerade bei der Stanford University Press erschienenes Buch werfen, das dem provokanten Titel trägt: »Zehn Prozent weniger Demokratie. Warum wir den Eliten ein bisschen mehr und den Massen ein bisschen weniger trauen sollten.« Der Autor Garett Jones, ein an der George Mason Universität in Virginia lehrender Makroökonom, erinnert daran, dass der Demokratie entzogene Institutionen zur Sicherung von Frieden und Wohlstand unabdingbar sind. Er plädiert sogar dafür, weitere konkurrierende Institutionen zu schaffen, die die Nachteile der »Tyrannei der Mehrheit« und der Monopolisierung der Macht in der repräsentativen Demokratie relativieren: So könnte man den Gläubigern eines Staates, also allen Inhabern von Staatsanleihen, ein besonderes Mitsprachrecht oder zumindest Vetorecht geben, wenn es um Fragen des Staatshaushalts geht. Der Gedanke mag utopisch klingen, ahistorisch ist er nicht: Die italienischen Stadtstaaten der Renaissance kannten vergleichbare Institutionen. Das ist ihnen nicht schlecht bekommen. Die Idee einer zweiten Kammer war stets ein liberaler Gedanke, der davor schützt, dass der Pöbel das Geld der Steuerzahler oder Gläubiger mit Mehrheitsbeschluss verschleudert.

    Kann man mit solchen Ideen die AfD klein kriegen? Natürlich nicht, zumal damit zu rechnen ist, dass populistische Parteien rechtsstaatlich unabhängige Institutionen beschädigen wollen (siehe Ungarn und Polen). Doch hier geht es darum, die Sakralisierung der Demokratie zu hinterfragen, gerade um die Demokratie zu schützen und dafür zu sorgen, dass Populisten so wenig wie möglich Böses anstellen können.

    Rainer Hank

  • 24. Februar 2020
    Zweiklassen-Medizin

    Sonderbehandlung für besser zahlende Patienten?

    Dieser Artikel in der FAZ

    Verhalten sich Privatversicherte unsolidarisch?

    Wer sich privat krankenversichert, entzieht dem Solidarsystem viel Geld: Insgesamt neun Milliarden Euro. Mit diesen Zahlen hat mich die Bertelsmann-Stiftung in der vergangenen Woche verschreckt. Denn ich bin Mitglied einer privaten Krankenversicherung – schon seit meiner Studentenzeit in Tübingen. Damals hat mich ein Vertreter der Finanzberatung MLP besucht und mir geraten, mich privat zu versichern. Das habe ich, alles in allem, bis heute nicht bereut, auch wenn zwischendurch die Beitragserhöhungen schon mal saftig ausfallen konnten.

    Statistisch, so entnehme ich es der Bertelsmann-Studie, bin ich ein ziemlich durchschnittlicher Privatversicherter: besserverdienend und gesünder als der Durchschnitt der Bevölkerung. Und gerade deshalb schädige ich die Gemeinschaft, weil ich meinen Mitbürgern Geld – und womöglich sogar bessere medizinische Versorgung – entziehe: das ist wirklich ziemlich starker Tobak. Niemand möchte den Grundsatz infrage stellen, dass es bei Krankheit keine ungleiche Behandlung geben dürfe. Es sind vor allem drei Vorwürfe der Stiftungsleute aus Gütersloh, die mich irritieren: (1) Die Gesundheitsvorsorge könnte insgesamt für die Deutschen um jährlich 145 Euro je Versicherten billiger werden, würde ich in die gesetzliche Versicherung einzahlen. (2) Es könnte sein, dass meine stabile Gesundheit nicht nur Folge einer guten genetischen Ausstattung und eines einigermaßen soliden Lebensstils ist, sondern auch auf eine bevorzugte ärztliche Behandlung als Privatpatient zurückgeht. (3) Es sieht so aus, als zögen Privatversicherte viele Ärzte an, weil sie an mir mehr verdienen als an den gesetzlichen Versicherten: Die Ärztedichte je Einwohner und also die medizinische Versorgung am Starnberger See ist signifikant höher als im nördlichen Bayerischen Wald.

    Indessen relativieren sich bei näherer Betrachtung die Vorwürfe der Bertelsmännner beträchtlich, und zwar nicht, weil das der Wunsch meines schlechten Gewissens ist, sondern weil die Autoren selbst ihre steilen Thesen im Text ihrer Studie korrigieren. So ist etwa die Behauptung, der Beitragssatz der Gesetzlichen könne um 0,6 Prozentpunkte reduziert werden (das ist das Äquivalent zu den erwähnten jährlichen 145 Euro) auch nach Auskunft der Verfasser unrealistisch: denn das würde voraussetzen, dass die Ärzte auf den zusätzlichen Umsatz verzichten, den wir Privatpatienten ihnen bringen. Eine deutliche Minderung ihres Einkommens würde der Marburger Bund – die Gewerkschaft der Ärzte – nie und nimmer zulassen, da bin ich ganz sicher. Stellt man dies in Rechnung – »realistischerweise«, heißt es in der Studie -, schrumpft der Vorteil der Eingemeindung der Privaten von 0,6 auf 0,2 Prozentpunkte, von denen bei den Arbeitnehmern die Hälfte ankommt, weil die andere Hälfte den Arbeitgebern zugutekommt.

    Erhalten Privatversicherte eine bessere Medizin?

    Nehmen wir als Beispiel einen gesetzlich Versicherten mit einem überdurchschnittlichen Monatseinkommen von 4000 Euro, der heute 7,8 Prozent für seine Gesundheit bezahlt, also 312 Euro monatlich. Werden alle Privatversicherten zwangsweise der Gesetzlichen einverleibt und glaubt man den Rechnungen der Bertelsmänner, reduziert sich sein Beitrag um 0,1 Prozentpunkt auf 308 Euro im Monat, mithin eine Ersparnis von vier Euro. Damit schrumpft meine Solidaritätssünde am Ende auf 48 Euro jährlich.

    Keinen Beleg findet die Stiftung zudem für ihren eigenen Verdacht, ich sei gesünder, weil mir eine bessere medizinische Behandlung verabreicht werde als den gesetzlich Versicherten. Gäbe es dafür Indizien, wäre das nicht nur ethisch, sondern auch strafrechtlich ein Skandal. Dass der Chefarzt besser operiert als der billigere, aber erfahrene Oberarzt, für den diese OP tägliche Routine ist, lässt sich ohnehin diskutieren. Das deutet darauf hin, dass es sich hier eher um einen Selektions- als um einen Verursachungseffekt handelt: Gesündere werden häufiger Mitglied einer privaten Krankenversicherung; dort finden sich dann mehr »gute Risiken«, wie die Gesundheitsökonomen sagen. Dass reichere Menschen gesünder sind und länger leben als Ärmere, kann man zwar auch ungerecht finden – doch dafür können die Privatversicherer nichts. Und dass sich Ärzte lieber am Starnberger See niederlassen als an der bayerisch-tschechischen Grenze, wer wollte ihnen das verübeln. Naiv wäre es anzunehmen, sie täten dies ausschließlich, weil dort ihre privatversicherte Kundschaft siedelt. Die Bertelsmänner geben selbst zu, dass ein zunehmender Anteil von Privatversicherten in einer bestimmten Region nicht zu einer proportionalen Zunahme der Ärzte führt.

    Richtiger Wettbewerb sieht anders aus

    Ist am Ende also alles in Ordnung? Leider nein. Zwar lässt sich bestreiten, dass es hierzulande eine Zweiklassen-Medizin gibt. Das ändert aber nichts daran, dass es eine Zweiklassen-Krankenversicherung gibt, für die es – folgt man dem Konstanzer Ökonomen Friedrich Breyer – zwar historisch-zufällige, aber keine normativ-systematischen Gründe gibt. Wer mehr bezahlt, bekommt zwar keine bessere Medizin, er kommt aber in vielen Fällen schneller einen Arzttermin. Eine derartige Diskriminierung mag in der Oper okay sein, wo auch alle den gleichen Don Giovanni sehen, man mit mehr Geld aber bessere Plätze bekommt. Aber ein Wartezimmer Erster Klasse bleibt anstößig.

    Hinzu kommt: Wettbewerb ist zwar nie falsch, doch einen wirklichen Systemwettbewerb zwischen Privaten und Gesetzlichen gibt es eben gerade nicht. Dazu sind die Systeme zu unterschiedlich: Bei den Gesetzlichen werden die Beiträge lohnbezogen, bei den Privaten werden sie nach dem Äquivalenzprinzip und nach individuellem Risiko berechnet. Und zu den Privaten wechseln kann man erst jenseits der Beitragsbemessungsgrenze – die man freilich senken könnte. Auch unter den Privaten gibt es kaum Wettbewerb, so lange ich die beträchtlichen Altersrückstellungen, die meine Versicherung für mich angespart hat, nicht zum Konkurrenten mitnehmen darf.

    Gibt es Alternativen? Wer die Gesundheitswelt neu erfinden will, um sie gerechter und effizienter zu machen, sollte keinesfalls eine Bürgerversicherung propagieren, wofür die SPD unter Führung von Karl Lauterbach seit Jahren trommelt. Die Reichen könnten sich auch aus einer Bürgerversicherung herauskaufen (wie das in Großbritannien der Fall ist) und für die Koppelung der Beiträge an das Einkommen gibt es lediglich historische, aber keine sachlichen Gründe. Besser als eine Bürgerversicherung wären einkommensunabhängige Kopfpauschalen für alle, für die der Ökonom Bert Rürup – auch er ein SPD-Mitglied – lange vergeblich geworben hat. Kopfpauschalen wären sozial, weil über das Steuersystem jene Ärmeren kompensiert würden, denen die volle Pauschale nicht zugemutet werden soll. Doch eine politische Chance hat die Kopfpauschale schon lange nicht mehr, seitdem auch die CDU sich davon verabschiedet hat. Das liegt auch an der Begrifflichkeit: Kopfpauschale klingt fürchterlich, Bürgerversicherung hört sich solidarisch an.

    Ohnehin hat die große Koalition derzeit erkennbar andere Sorgen als eine Reform des Gesundheitssystems, weshalb ich mit einer Restschuld persönlichen Solidaritätsversagens leben muss. Aber ich biete an: An mir soll es nicht liegen, wenn es darum geht, über gerechtere Alternativen zum Status quo nachzudenken.

    Rainer Hank

  • 19. Februar 2020
    Antisemitismus und die Ökonomie der Verschwörung

    Alfred Dreyfus (1859 bis 1935) Quelle: wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Der Fluch der Loyalität

    Ende des Jahres 1894 wird in Frankreich der Generalstabsoffizier Alfred Dreyfus von einem militärischen Gerichtshof der Spionage zugunsten des Deutschen Reiches angeklagt und zu lebenslänglicher Deportation auf die Teufelsinseln verurteilt. Das Urteil wurde einstimmig gefällt, die Verhandlungen fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Dreyfus war ganz offenkundig unschuldig, aber ein aus dem Elsass stammender Jude war zu jener Zeit ein natürlicher Verdächtiger. Und der »Mob« (Hannah Arendt) war gerne bereit, die Unwahrheit zu glauben.

    Selbst nachdem Dreyfus› Unschuld vollkommen erwiesen war, fand sich kein Gericht bereit, ihn zu rehabilitieren. Das Militär meinte, der Einzelnen zähle weniger als die Ehre der Armee. Jeder, der Beweise für die Unschuld Dreyfus’s vorlegte, wurde gnadenlos verfolgt. Erst 1906, zwölf Jahre nach dem Fehlurteil, widerrief ein Berufungsgericht das Urteil gegen Dreyfus und begnadigte ihn.

    Warum wir an Lügen glauben

    Die sogenannten Dreyfus-Affäre wirft zwei fundamentale Fragen auf, die heute von höchster Aktualität sind: (1) Wie lässt es sich verstehen, dass große Gruppen von Menschen nicht zögern, offenkundige Lügen für wahr zu halten? (2) Warum verhalten sich die Opfer solcher niederträchtigen Verschwörungstheorien loyal gegenüber dem System, das sie verfolgt – trotz allen Unrechts, das ihnen angetan wurde?

    Die Antwort auf die erste Frage hängt mit dem Umstand zusammen, dass Menschen soziale Wesen sind, die gerne in Gruppen leben, welche ihrerseits einen unguten Druck zur Konformität erzeugen. Patrick Bernau hat in der vergangenen Woche in der F.A.S. an das sogenannte Asch-Experiment erinnert, das zeigt, dass Menschen sich ein X für ein U vormachen lassen, wenn viele in ihrer Peer-Gruppe, behaupten, das X sei ein U. Man nennt dies das »Gesetz der Zahl«. Es geht davon aus, dass die Mehrheit nicht irren kann. »Fifty million frenchmen can’t be wrong«, ist der Titel eines Musicals von Cole Porter: Die Schlagzeile bringt die Wahrheit in Abhängigkeit zur Anzahl der Menschen, die dasselbe glauben. Dabei müsste selbst bei flüchtigem Nachdenken auffallen, dass es keinen logischen Zusammenhang zwischen Wahrheit und Mehrheit gibt. Doch ganz im Gegenteil sind wir bereit, unsere eigenen Zweifel hintanzustellen, nur weil viele andere etwas anderes behaupten.

    Mehr noch: In der Gruppe neigen wir alle dazu, extremer zur werden als es jeder Einzelne ohne die Gruppe wäre. Gruppen polarisieren und radikalisieren ihre Mitglieder – in welche politische Richtung auch immer. Woran das liegt? Menschen suchen und brauchen Bestätigung. Wenn zwei einander in ihrer Ansicht bestätigen, fühlen beide sich sicherer. Kommt ein Dritter hinzu und schließt sich der Meinung an, fühlen sich alle noch sicherer. Man nennt das eine Bestätigungskaskade, die wiederum bei allen Gruppenmitgliedern zur Radikalisierung ihrer Meinung führt: Dann hauen wir auf den Putz. Das ist der fruchtbare Nährboden für Verschwörungstheorien und Filterblasen aller Art – vor allem aber für den Antisemitismus. Im Netz funktioniert alles bekanntlich noch viel perfekter und vor allem aber viel schneller. Gruppen sind gefährlich, man sollte der positiv-ideologischen Überhöhung von Teams aller Art (im Netz, in der Firma, in der Politik) misstrauen.

    Ein Whistleblower avant la lettre

    Doch Resignation ist nicht die einzig mögliche Reaktion auf die Tendenz von Gruppen, sich in der Unwahrheit einzurichten und abzuschotten. Es gibt auch Chancen auszuscheren; die Filterblase kann zum Platzen gebracht werden. Damit zurück zu Alfred Dreyfus: Am 13. Januar 1898 erscheint in der Tageszeitung »L’Aurore« unter dem Titel »J’accuse« (»Ich klage an«) ein offener Brief des französischen Schriftstellers Émile Zola an den Präsidenten der Französischen Republik, um diesen und die Öffentlichkeit über die wahren Hintergründe der Dreyfus-Affäre zu informieren. Der Brief verursachte einen großen politischen und gesellschaftlichen Skandal. Informationsquelle für Zola war Marie-Georges Picquart, ein Mann, der zuvor zum Leiter der militärischen Spionageabwehreinheit befördert wurde – jener Behörde, die Dreyfus »überführt« hat. Als Picquart feststellt, dass auch nach Dreyfus’ Festsetzung noch weiter Geheimnisse an die Deutschen verraten werden, wird er auf ein von Antisemitismus durchzogenes System aus Betrug und Korruption in der Armee aufmerksam. Er stellt sich gegen alle Befehle und sagt als Zeuge zugunsten von Dreyfus aus.

    Picquart ist ein früher Held des Whistleblowings, als es den Begriff noch gar nicht gab. Nach Zolas Brief wurde er der Verleumdung angeklagt und schuldig gesprochen. Er wird verhaftet und ins Pariser Militärgefängnis Cherche-Midi gebracht, wo er die nächsten elf Monate verbrachte. Am Ende wird Picquart, dem es stets um Rechtsstaatlichkeit gegangen war, aus der Armee entlassen. In seinem Film »J›accuse« der unter dem Titel »Intrige« derzeit in den deutschen Kinos zu sehen ist, hat der polnische Regisseur Roman Polanski dem »Whistleblower« Picquart ein Denkmal gesetzt. Am Ende hatte Piquart gesiegt: Das Urteil gegen Dreyfus wird widerrufen.

    Doch das ist zwar das Ende des Polanski-Films, aber nicht das Ende der Dreyfus-Geschichte. Als 1914 der Krieg ausbrach kehrte Dreyfus sofort in die französische Armee zurück, stand an der Front, wurde zum Oberstleutnant befördert und im Kampf ausgezeichnet. Das ist zutiefst verstörend. »Es scheint Dreyfus nie in den Sinn gekommen zu sein, dass er in einer korrupten Gesellschaft lebte und einem kriminellen Offizierscorps diente«, schreibt die Philosophin Judith Shklar in ihrem 1998 erschienenen Essay über »Verpflichtung, Loyalität und Exil«, der – von Hannes Bajohr herausgegeben und übersetzt – neuerdings auch auf Deutsch vorliegt.

    Der starke Wunsch nach Zugehörigkeit

    Ist der Mann verrückt? Das wäre zu einfach. »Dreyfus hörte nie auf, je etwas anderes zu sein als hyperpatriotischer, loyaler französischer Bürger«, schreibt Judith Shklar: Für Shklar ist Dreyfus ein Beispiel von Loyalität, die eine Treue-Verpflichtung aufrechterhält, die er dem ihn verstoßenden und verratenden Staat längst nicht mehr geschuldet hätte.
    Was treibt jemanden zu Loyalität gegenüber einem Regime, das derart schändlich mit einem umspringt? Woher rührt ein Patriotismus gegenüber einem Staat, der einen zuvor ausgestoßen hat? Will Dreyfus durch eine Art Überidentifikation noch nach seiner Begnadigung beweisen, dass nicht wahr sein kann, was man ihm intrigant vorgeworfen hatte? Will er zeigen, dass ein elsässischer Jude ein besonders guter Franzose sein kann?

    Sie glaube nicht, dass Dreyfus nur ein Opfer gewesen sei, das sich mit seiner Unterdrückung identifiziere, meint Judith Shklar – und fügt lakonisch hinzu: »er sah sich als einer der ihren.« Das würde auf den tieferen Sinn der Loyalität verweisen: den Wunsch nach Zugehörigkeit. Zugehörigkeit, die bereit ist, die abgrundtiefen Verletzungen hintanzustellen, Verletzungen durch jene, denen anzugehören ihm gleichwohl weiterhin wichtig ist. Dreyfus ignoriert das Unrecht, das ihm von seinem Land angetan wurde – und bleibt loyal Landsleuten gegenüber, die sich ihm gegenüber höchst illoyal verhalten hatten. Merkwürdig, was Nationalismus anrichten kann, selbst unter seinen Opfern.

    Rainer Hank

  • 10. Februar 2020
    Warteschlangen vor den Museen

    Viel Besucher für wenig Kunst

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum kann man Museen nicht wie Parkhäuser betreiben?

    Hätten wir nur auf unsere Freundin Sabine gehört! Sie kam nach Eröffnung der großen Leonardo-Ausstellung im Louvre im Oktober aus Paris zurück und empfahl uns, sofort Tickets zu kaufen. Jetzt ist es zu spät. Zwar geht die Schau noch bis zum 24. Februar. Aber das Online-Buchungssystem gab uns schon Mitte Januar unmissverständlich zu verstehen: Es gibt keinen einzigen freien Slot mehr. Auf gut Glück losfahren wird nichts nützen: In den Louvre kommt man nur mit vorab gekauften Eintrittskarten.

    Das Ganze hat Methode: Man wolle potenzielle Ausstellungsbesucher »aktiv entmutigen«, sagt der Direktor des Louvre. Super! Der Louvre ist mit seinen Besucherzahlen seit Jahren Marktführer im weltweiten Museums-Business. Im Jahr 2018 verzeichneten sie mit 10,2 Millionen einen Rekord. 2019 kamen dann über eine halbe Million weniger Kunstfreunde und statt zu jammern, feiert das Haus diesen Schwund als Erfolg seiner aktiven Entmutigungspolitik.

    Ökonomisch gesehen finden wir diese Strategie nicht so richtig überzeugend. Man stelle sich vor, Volkswagen würde stolz vermelden, man habe im vergangenen weniger als zehn Millionen Autos verkauft und die Chinesen erfolgreich davon überzeugt, lieber Rad zu fahren. Die große Nachfrage nach Kunst spricht doch offenbar für ein wachsendes Bedürfnis der Menschen, das erst geweckt zu haben und dann unbefriedigt zu lassen mir irgendwie fies vorkommt. Gottlob ist der Louvre bislang noch die Ausnahme. Im Frankfurter Städel, dessen gerühmte Van-Gogh-Ausstellung am 18. Februar zu Ende geht, sind jedenfalls noch Karten zu haben. Wer nicht online bucht, muss freilich lange Schlange stehen: Die ohnehin schon hohe Erwartung von 300 000 Besuchern wird am Ende wohl deutlich übertroffen werden.
    Wie erklärt sich der hohe Zuspruch zum Museum? Und wie lässt sich die Ticketfrage besser lösen als bisher, sofern wir »aktive Entmutigung«, also Kunden vertreiben, einmal ausschließen wollen? Richard Musgrave, ein deutsch-amerikanischer Ökonom des 20. Jahrhunderts, hatte die Museen noch unter die sogenannten »meritorischen Güter« subsumiert. Das sind Güter, bei denen die private Nachfrage hinter dem gesellschaftlich gewünschten Ausmaß zurückbleibt. Angesichts der Schlangen vor Louvre, Städel, vatikanischen Museen & Co. müsste man die Kunst-Nachfrage nicht mehr öffentlich subventionieren. »Allen lernbegierigen und neugierigen Menschen aus nah und fern« sei das Haus zugeeignet, so lautete der Gründungsauftrag des »British Museums« in London im Jahr 1759. Die Hoffnung ist aufgegangen: Die Statistiker stellen eine Korrelation zwischen Bildungsgrad und Häufigkeit des Museumsbesuch fest. Die Bildungsoffensive der vergangenen Jahrzehnte spiegelt sich in den vielen Menschen im Museum, die erfahren haben, dass man in der Begegnung mit Kunst auch sich selbst besser verstehen kann. Wachsender wirtschaftlicher Wohlstand, Bildung und museale Neugier gehen offenbar Hand in Hand: China baut seit geraumer Zeit wie wild Museen.

    Die Tickets sind zu billig

    Doch was tun, wenn das Angebot der Museen hinter der Nachfrage zurückbleibt? Mit solchen Knappheitsproblemen schlagen sich Ökonomen von Berufs wegen herum. Die schlechteste Lösung scheint mir die »Methode DDR« zu sein, den Zugang rationieren und die Menschen Schlange stehen lassen. Bei den meisten anderen Gütern des Marktes ist die Rationierung inzwischen außer Mode gekommen. Brötchen, Bücher oder Mobiltelefone gibt es sofort. Bei Autos müssen wir Wartezeiten in Kauf nehmen, weil sie nicht auf Halde, sondern »just in time« für uns gefertigt werden. Nun könnte man sagen, beim Museum gehört die Schlange einfach dazu, weil sie Nachfrage sichtbar macht und allen anderen signalisiert, dass das eine wichtige Ausstellung ist, die man gesehen haben muss. »Selbstvergewisserung der Elite« war immer schon eine Funktion des Museums. Warum diese Selbstvergewisserung allerdings ausgerechnet bei Null Grad und Schneeregen in der Schlange vor dem Frankfurter Städel-Museum passieren soll, will mir nicht recht einleuchten. Da müsste es komfortablere Möglichkeiten geben.

    Die Standardantwort von Ökonomen, wie man das Knappheitsproblem lösen soll, lautet: Über den Preis. Das halten viele für ungerecht, weil dann die Reichen bevorzugt würden. Dazu lässt sich sagen: Auch die Schlange ist ungerecht: sie privilegiert nämlich Leute, die viel Zeit haben (Rentner, Studenten) und benachteiligt jene, die keine Zeit haben, sich zwei Stunden anzustellen. In Amerika ist es in bestimmten Kreisen schick geworden, dass reiche Leute mit wenig Zeit sich ärmere Leute mit mehr Zeit »mieten«, die für sie Schlange stehen und dafür Geld bekommen. Ökonomisch ist das in Ordnung, aber ethisch wird man Zweifel anmelden dürfen.
    Inzwischen gibt es an vielen Museen Experimente mit positiver Preisdiskriminierung. Wer am Wochenende kommt, zahlt mehr als an Werktagen. Früh morgens ist es billiger als spät abends. Auch bei den Zeiten lässt sich einiges machen: es gibt Ausstellungen, die an bestimmten Tagen bis 23 Uhr öffnen (Van Eyck in Gent zum Beispiel). Und warum an Montagen die meisten Museen der Welt geschlossen haben, habe ich noch nie verstanden. Natürlich können die Wärter nicht an sieben Tagen auf ihren Bewachungsstühlen sitzen. Aber Öffnungszeiten für die Besucher und Arbeitszeiten für die Museumsbediensteten sind zwei Paar Stiefel. Und, ganz pauschal gesagt, ist das Museum wohl immer noch zu günstig. Der Direktor der Uffizien in Florenz hat seinen Eintrittspreis in der Spitze jetzt auf 20 Euro angehoben. Zu Recht kontert er den Einwand, das sei unsozial, mit der Tatsache, dass die Menschen für Pop-Konzerte oder Fußballspiele deutlich mehr Geld auszugeben bereit sind. Es ist jedenfalls auch nicht sehr sozial, wenn reiche Leute weit unter ihrer Zahlungsbereitschaft ins Museum kommen, subventioniert von Leuten, die nie ins Museum gehen.

    Beginnen Sie im letzten Raum des Museums!

    Der Schweizer Ökonom Bruno Frey, ein vor Ideen sprudelnder Tausendsassa, hat einmal den Vorschlag gemacht, den Eintritt ins Museum wie im Parkhaus zu berechnen. Der Preis richtet sich dann nach der Dauer des Aufenthalts und ist erst am Ende und nicht schon beim Betreten zu entrichten. Wer wirklich an der Kunst interessiert ist, bleibt länger, zahlt dafür mehr und hat freie Sicht auf die Exponate. Wer nur kommt, um gesehen zu werden, bekommt einen finanziellen Anreiz, bald ins Museums-Bistro zu entschwinden. Aber auch der wirklich Kunstinteressierte weiß vorher noch nicht, ob ihn Dora Maar (derzeit in Tate Modern in London) nun wirklich interessiert. Eine Bepreisung des Museumseintritts wie im Parkhaus würde es erlauben, bei enttäuschtem Nichtgefallen zügig den Weg zum Ausgang zu nehmen.

    Jetzt rasch noch ein Tipp meiner Künstlerfreundin Dorothée für überfüllte Ausstellungen, bei denen man die Kunst vor lauter Menschen nicht mehr sieht: Beginnen Sie im letzten Raum des Museums! Da ist es deutlich luftiger, weil viele erschöpft sind und nichts mehr sehen können. Dann arbeiten Sie sich langsam zurück in Richtung Eingang! Wir haben den Rat bei Van Gogh erfolgreich umgesetzt; es braucht allerdings ein bisschen Selbstbewusstsein.

    Rainer Hank

  • 03. Februar 2020
    Bischöfe als Geisterfahrer

    Bischof Stephan Ackermann, Trier Foto: www.bistum.trier.de

    Dieser Artikel in der FAZ

    Keine Kirchensteuer zur Entschädigung von Missbrauchsopfern

    Vor zehn Jahren wurde der Missbrauch von Jugendlichen am Berliner Canisiuskolleg öffentlich. Die Aufarbeitung des Skandals in den vergangenen zehn Jahren durch die deutsche Katholische Kirche ist selbst ein Skandal. Kein Verantwortlicher der kirchlichen Hierarchie hat Konsequenzen gezogen. Die systemischen Gründe des Machtmissbrauchs – der Klerikalismus der Männer und eine vorneuzeitliche Rechtsordnung ohne Gewaltenteilung – wurden offiziell nie klar benannt. Ob der als »Reformdialog« vermarktete »synodale Weg«, der in der vergangenen Woche in Frankfurt eröffnet wurde, daran etwas Fundamentales ändert oder am Ende als unverbindliche Veranstaltung zur Konkursverzögerung in die Geschichte eingeht, ist offen.

    Ins Stocken geraten – ein weiterer Skandal – ist auch die Frage der Entschädigung der Missbrauchsopfer. Da geht es ums Geld. Auch damit hat sich die Kirche immer schwergetan.

    Der Stand: 5000 Euro, in Einzelfällen auch mehr – das ist im Moment die gängige Entschädigungssumme für Missbrauchsopfer in der katholischen Kirche. Das Wort »Entschädigung« wurde dabei möglichst vermieden. Stattdessen ist von einer »materiellen Anerkennung erlittenen Leids« die Rede. Im vergangenen Herbst haben die Bischöfe dann die Vorschläge einer Arbeitsgruppe beraten. Dort wurde zwei Modelle diskutiert. So wäre für alle Betroffenen ein Pauschalbetrag von 300 000 Euro möglich. Damit würde keine »Leidenskonkurrenz« entstehen und die Entschädigung wäre recht schnell umzusetzen. Alternativ möglich wäre auch ein gestuftes Modell, bei dem je nach Schwere des erlittenen Unrechts zwischen 40 000 und 400 000 Euro gezahlt werden. Dieses Vorgehen hätte den Vorteil, dass Einzelfälle stärker berücksichtigt werden könnten.
    Die Beträge bleiben immer irgendwie willkürlich und wollen und können Leid nicht ungeschehen machen. Die Höhe der Beträge orientiert sich an der Bemessung von Schmerzensgeldzahlungen im staatlichen Bereich, das laut »Bürgerlichem Gesetzbuch« (BGB) eine »Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion« haben soll. Ausgegangen wird von einer monatlichen Entschädigung in Höhe von 500 Euro. Diese Summe stelle einen maßvollen Mittelwert verschiedener Leistungen dar, die im Bereich staatlicher Opferentschädigung als monatliche Rente gezahlt werden, heißt es. Jährlich wären das 6000 Euro. Nimmt man als Laufzeit 50 Jahre an, gerechnet vom Zeitpunkt des Missbrauchs, so kommt man am Ende auf die pauschale Summe von 300 000 Euro.

    Finanzbedarf von einer Milliarde Euro

    Dass sich seit vergangenem Herbst die Bischöfe in der Frage der Entschädigung nicht einigen wollten, liegt auch daran, dass unklar ist, woher die Mittel der Entschädigung kommen sollen. Wie gesagt, es geht um viel Geld: Die von den Bischöfen in Auftrag gegebene sogenannten MHG-Studie listet für den Zeitraum von 1946 bis 2014 insgesamt 3677 Opfer auf; 1670 Kleriker werden der Taten beschuldigt. Mutmaßungen über die Dunkelziffern sprechen von 100 000 Opfern. Würde allen »offiziell« anerkannten 3677 Opfer die pauschale Summe von 300 000 Euro gezahlt, summierte sich der Finanzbedarf auf gut eine Milliarde Euro. Als Schreckgespenst steht den Bischöfen die amerikanische Kirche vor Augen: Dort landeten etliche betroffene Diözesen in der Insolvenz.

    Angesichts der hohen Summe kam der Missbrauchsbeauftragte der katholischen Kirche, der Trierer Bischof Stephan Ackermann, auf die Idee, die Entschädigungsleistungen aus Kirchensteuermitteln zu finanzieren. Auch wenn es vielen Gläubigen widerstrebe, mit ihren Beiträgen für Verfehlungen einzelner Geistlicher einzustehen, seien die Kirchenmitglieder als »Solidargemeinschaft« in der Pflicht, meint Ackermann. Die Begründung: Die deutschen Steuerzahler müssten ja auch für die gescheiterte PKW-Maut aufkommen: »Wir zahlen für Andi Scheuers Autobahnen«, so der Bischof.

    Die Äußerungen Ackermanns gehen nicht nur in mehrfacher Hinsicht ziemlich daneben, um es vorsichtig zu formulieren. Sie sind zugleich ein deutliches Zeichen dafür, wie kirchliche Funktionäre mit »other peoples money« meinen umgehen zu dürfen. Dabei ist es allein schon geschmacklos, das Mautdesaster des Verkehrsministers und den Versuch, die Schadenersatzansprüche der Betreiberfirmen auf den Steuerzahler abzuwälzen, in Vergleich zu setzen zu den Entschädigungshoffnungen der kirchlichen Missbrauchsopfer. Zugleich bringt Ackermann den Begriff des »Solidarität« in erheblichen Misskredit, wenn er ihn derart dehnt, dass nun auch Laien – nur sie zahlen ja die Kirchensteuern – für Straftaten von Klerikern aufkommen sollen. Es ist die Perversion des Gedankens der Solidarität, wenn die Verantwortlichen sich der Haftung für die Folgen ihrer Taten entledigen, indem sie andere, die sich nicht wehren können, zwingen, den finanziellen Schaden zu übernehmen. Solidarität als Beschönigungsformel zur Verwischung von Verantwortlichkeiten: das war immer schon ein Verdacht, weswegen mir die – eigentlich schöne – Idee der Solidarität nie recht geheuer war. Der Trierer Bischof bestätigt den Verdacht schlimmer als befürchtet. Er bestätigt zugleich einen weiteren Verdacht: Dass nämlich die Finanzierung der Kirche über eine der Staatsfinanzierung vergleichbare Steuer genannte Zwangsabgabe den Vorteil hat, über die Verwendung der Einnahmen keine Rechenschaft geben zu müssen. Schlimmer noch: Gegen eine staatliche Regierung, die das Geld der Steuerzahler verschwendet, lassen sich parlamentarische Mehrheiten organisieren, die dafür sorgen, dass diese Regierung abgewählt wird. Bischöfe können nicht abgewählt werden; denn die Kirche ist nicht demokratisch verfasst.

    Es gibt Alternativen

    Aber die Laien in der Kirche haben eine andere Macht: Zwar haben sie keine demokratische Widerspruchsmacht. Aber, anders als im Staat, können sie sich der Steuerpflicht durch Austritt aus der institutionell verfassten Kirche legal entziehen (und dabei nach katholischer Lehre gleichwohl Mitglied der weltumspannenden Glaubensgemeinschaft bleiben). Dass die Bischöfe nicht längst offiziell beschlossen haben, eine Milliarde Euro des derzeit immer noch stark sprudelnden Kirchensteueraufkommens zur Opferentschädigung abzuzweigen, hängt gewiss auch damit zusammen, dass sie die Austrittsdrohung all jener Gläubigen spüren, die sich diesen Solidaritätszwang nicht bieten lassen werden. Schon ohne finanzielle Haftungsübernahme haben viele Katholiken in den vergangenen Jahren angesichts des Missbrauchsskandals ihre Kirche verlassen.

    Gibt es überhaupt Alternativen zur Finanzierung der hohen Entschädigungssummen? Ja, die gibt es. Darauf hat der Kollege Thomas Gutschker schon vor geraumer Zeit in der FAS hingewiesen: Wenn die katholische Kirche es ernst meint, muss sie die Entschädigungen aus dem Vermögen ihrer Bistümer aufbringen: Landbesitz, Immobilien, Wertpapiere. Da lässt sich einiges am Markt verkaufen. Die Bistümer Paderborn, Köln und München-Freising sind mehrfache Milliardäre. Gewiss, auch das kirchliche Vermögen speist sich zum Teil aus den Steuereinnahmen, aber eben nur zum Teil. Eine Entschädigung aus dem Vermögen wäre zumindest ein Signal dafür, dass die kirchlische Hierarchie selbst Verantwortung übernimmt. Dass das weh tut, gehört dazu.

    Rainer Hank