Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 28. Januar 2020
    »Ein ganzes Volk bockt«

    Franz Böhm (1895 bis 1977) Foto: Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main

    Dieser Artikel in der FAZ

    Franz Böhm und der Antisemitismus der Deutschen

    Unter der Überschrift »Der Antisemitismus und die Deutschen« erschien im September 1950 in der von Dolf Sternberger herausgegebenen Zeitschrift »Die Gegenwart« ein Essay des Frankfurter Rechtsprofessors Franz Böhm. Nach Ablauf einer Schrecksekunde seien in Deutschland die Antisemiten längst wieder aus ihren Mauselöchern hervorgekrochen, diagnostiziert der Autor. Dass es sich bei den antisemitischen Exzessen, etwa den Schändungen von Gräbern auf jüdischen Friedhöfen, bloß um individuelle Hass- und Racheakte handle, bestreitet Böhm: allemal zeichne den Judenhass in Deutschland eine »eine terroristische, kollektivistische Note« aus.

    Zu Böhms Essay gab es zahlreichen Zuschriften, die alle das gleiche Schema aufwiesen: »Ich bin ein friedfertiger Mensch und habe nichts gegen Juden, aber…« Unter »aber« wird aufgezählt, wie viele Juden Ärzte oder Rechtsanwälte seien und dass sie sich jetzt mehr von ihren »arisierten« Gütern zurücknähmen als ihnen zustünde. Kurzum: Das »aber« der Zuschriften ist das Dementi der zuvor gemachten Behauptung und das Eingeständnis von blankem Antisemitismus. »Wie unvorsichtig von dem Mann, sich so zu zeigen«, beschreibt Franz Böhm seine Reaktion beim Anblick eines galizischen Juden in Kaftan und mit Schläfenlocken an der Frankfurter Konstablerwache. Und er kommentiert die ihn selbst erschreckende Reaktion: »So weit sind wir gekommen.«

    Der Antisemitismus war nie weg

    Vor 75 Jahren, am 27. Januar 1945, wurde das KZ Auschwitz von der Roten Armee befreit. Gelegentlich heißt es heute, der Antisemitismus nehme im Maß des zeitlichen Abstands vom Holocaust wieder zu, weil die Verbrechen der Nazis in Vergessenheit geraten seien. Liest man Franz Böhms Essay aus dem Jahr 1950, so wird man feststellen: Der Antisemitismus war nie weg, noch nicht einmal in den Jahren unmittelbar nach dem Ende der Naziherrschaft.

    Wer war Franz Böhm? Im Gedächtnis ist er heute, wenn überhaupt, als einer der Väter der »Freiburger Schule«, der wir die »soziale Marktwirtschaft« verdanken. Geboren 1895, studiert Böhm Jura in Freiburg und arbeitet zunächst als Staatsanwalt. Wichtig wird der Kontakt mit der Dichterin Ricarda Huch, deren Tochter er 1923 auf Schloss Elmau (eine Art Partnerschaftsplattform des Bildungsbürgertums) kennenlernt und 1926 heiratet. Mit einem Aufsatz über »Das Problem der privaten Macht« (1928), in dem es um die schädliche Wirkung der damals beliebten Kartelle ging, macht der junge Gelehrte von sich reden. Für Böhm folgt daraus: Der Staat muss für Wettbewerb sorgen, um die Vermachtung der Wirtschaft zu verhindern. Es sollte sein Lebensthema werden und zugleich der Grundgedanke des von den Freiburger Autoren selbst »Neoliberalismus« genannten Konzepts der Marktwirtschaft, das so gar nichts mit dem heute kursierenden Zerrbild des Turbokapitalismus gemein hat. In den fünfziger Jahren wird Böhm – jetzt als Juraprofessor an der Universität Frankfurt und zugleich Bundestagsabgeordneter für die CDU – maßgeblich beteiligt sein an der Erarbeitung des Kartellgesetzes der Bundesrepublik.

    Viel weniger bekannt ist Böhms historische Leistung als Leiter der Regierungsdelegation, die 1952 im holländischen Wassenaar die Wiedergutmachungsverhandlungen mit Israel führte und mit Erfolg zu Ende brachte. Aus heutiger Sicht wird man den Begriff »Wiedergutmachung« als verharmlosend kritisieren und den damit verbundenen Versuch einer »Umwandlung von Schuld in Schulden« (so der Historiker Constantin Goschler) zur Wiederherstellung der internationalen »Kreditwürdigkeit« Deutschlands problematisieren müssen. Doch damals gab es aus ganz anderen Gründen massive Widerstände gegen die Wiedergutmachung, nicht nur in der deutschen Bevölkerung (»muss das sein?«), sondern auch von Teilen der Eliten, etwa dem CSU-Finanzminister Fritz Schäffer oder dem FDP-Justizminister Thomas Dehler, der die Wiedergutmachung als quasi jüdisch inspirierte Politik zur Vernichtung der deutschen wirtschaftlichen Leistungskraft verdächtigte. Auch Hermann Josef Abs, Chef der Deutschen Bank, der zeitgleich in London mit den Alliierten über den Nachlass der deutschen Auslandsschulden verhandelte, zählte zu den Gegnern der Wiedergutmachung. Abs, ganz Bankier, hatte sich auf den Standpunkt gestellt, man könne nicht mit den internationalen Gläubigern der Bundesrepublik über einen Schuldenerlass verhandeln und zugleich gegenüber Israel eine neue Schuld eingehen. Franz Böhms Coup bestand darin zu verhindern, dass es am Ende so aussah, als wolle Deutschland aus der Tasche der anderen Gläubigernationen die israelischen Forderungen befriedigen.

    Die Deutschen fühlten sich als Opfer

    Merkwürdig: Die Deutschen verstanden sich nach 1945 nicht als Täter, sondern als Opfer, die in Bombenkrieg, nach Flucht und Vertreibung und in den Entbehrungen der Nachkriegszeit viel zu leiden hatten. »Insgesamt dominierte in den frühen fünfziger Jahren eine negative Haltung gegenüber der Wiedergutmachung«, konstatiert der Historiker Constantin Goschler. In einer Umfrage sprachen sich 96 Prozent der Befragten für Hilfen für die Kriegswitwen aus, 93 Prozent wollten die Luftkriegsopfer entschädigen, aber lediglich 68 Prozent waren für Hilfsleistungen an Juden. Und selbst unter dieser Gruppe der Befürworter stimmten knapp 60 Prozent der These zu, die Juden seien »teilweise selbst dafür verantwortlich, was ihnen im Dritten Reich widerfahren sei«. Lakonisch kommentierte Franz Böhm: »Was soll man tun, wenn ein ganzes Volk bockt?« Und bitter ironisch fügt er hinzhu: »Schuldige an der Verfolgung hat es nicht gegeben, und wo steht geschrieben, dass Unschuldige eine Tat wiedergutmachen sollen?«

    Vor diesem Hintergrund erstrahlt Franz Böhm, der in der Nazizeit Berufsverbot hatte, umso mehr als Ausnahmegestalt. In einem auch heute noch lesenswerten Vortrag über »Die politische und soziale Bedeutung der Wiedergutmachung«, gehalten 1956 bei den Hessischen Hochschulwochen und abgedruckt im Sammelband »Entmachtung durch Wettbewerb« (Lit-Verlag 2007), insistiert Böhm darauf, dass Wiedergutmachung der Verbrechen an den Juden auch nach dem unter den Nazis geltenden Recht (BGB) zwingend geboten war, mithin nicht erst eine Art freiwilliger Gnade der Wiedergutmachungsgesetze sei. Im Unterschied dazu seien die Kriegsopfer oder Flüchtlinge nicht wie die Juden durch ein Verbrechen, sondern »durch das Schicksal« geschädigt worden. Das ist ein himmelweiter Unterschied und das Gegenteil der damals volkstümlichen Meinung, die dem Lastenausgleich für Bomben- und Währungsgeschädigte Vorrang gibt vor der »unvolkstümlichen« Wiedergutmachung für Israel und die Juden.

    Die kühle Conclusio des Wirtschaftsjuristen Franz Böhm lautet: »Wir haben uns wie ein unsauber handelnder Verein benommen, der in Konkurs gerät und zunächst einmal Geldanteile von dem Vermögen an seine eigenen Mitglieder ausschüttet, bevor er seine Gläubiger und vor allen Dingen Gläubiger aus Unrechtshandlungen befriedigt.« Die Deutschen haben – keine zehn Jahre nach dem Krieg – zuerst an sich als »Opfer« der Nazizeit gedacht, bevor sie an die Opfer ihrer Verbrechen denken wollten. »Unsauber« ist das mindestes, was man dazu sagen kann.

    Rainer Hank

  • 20. Januar 2020
    Vom Charme der Trabantenstädte

    Wohnmaschine (hier: Warschau)

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ein paar Ideen, wie das Wohnen wieder billiger werden könnte

    Wohnen in Deutschland ist teuer geworden, zumindest für Leute, die in einer großen Stadt leben wollen. In München muss, wer eine Wohnung sucht, inzwischen mit einem Durchschnittspreis von 17, 50 Euro für den Quadratmeter rechnen. Gut 14 Euro kostet es in Frankfurt und Stuttgart. Kein Wunder, das die Politik aufgescheucht reagiert, von der »neuen sozialen Frage« redet, obwohl es lediglich um veränderte Präferenzen geht – und an den Symptomen herumkuriert: Mietpreisbremse, Mietendeckel, Bodensteuer oder Enteignungen sind Ideen, die eines gemeinsam haben: Sie lindern die Wohnungsnot nicht. Gleichwohl kann man erklären, warum Politiker auf staatliche Preisregulierung setzen: Das schafft bei den Bürgern das Gefühl, es werde entschlossen gehandelt. Neubauten dagegen müssen geplant und genehmigt werden. Das dauert, und die Politiker müssen befürchten, sie könnten längst abgewählt sein, bis sich die Segnungen eines vergrößerten Wohnangebots einstellen.

    Was also tun? Ein Blick in die deutsche Nachkriegsgeschichte könnte helfen. Damals war die Bevölkerung stark gewachsen: Die »Boomer«, die heute in Rente gehen, sind gerade auf die Welt gekommen. 14 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene suchten eine Unterkunft. Überall in Westdeutschland entstanden neue Stadtviertel. Vor den Toren der alten Städte breiteten sich Großsiedlungen aus, in denen Stadtplaner und Architekten das Heil sahen. Nicht ganz zu Unrecht. Denn spätestens Anfang der siebziger Jahre galt das Wohnungsproblem in Westdeutschland als gelöst.

    Viel Luft in den Ballungsräumen

    Merkwürdig: Vor fünfzehn Jahren waren die Zeitungen voll mit Artikeln über »schrumpfende Städte«. Familien mit Kindern zögen auf das Land, die Pensionäre ebenfalls. Und die Demographie bringe keinen Nachschub, hieß es. Die Städte, so die Befürchtung vor fünfzehn Jahren, wären am Ende leer und öde; ihre Infrastruktur, von den U-Bahnen bis zur Kanalisation, müsste marodieren. Ein typischer Fall einer Fehldiagnose, wissen wir heute.

    Sollen wir also heute wieder an die aktive Wohnungsbaupolitik anschließen? Moritz Schularick ist einer, der dafür plädiert: Der derzeit in New York forschende Bonner Ökonomieprofessor hält es für an der Zeit, in großem Stil neue Stadtviertel zu bauen. Man sage nicht, es gäbe keinen Platz. Dazu muss man nur in Frankfurt auf eines der Hochhäuser steigen, um mit bloßem Auge zu erkennen: Etwa Zweidrittel des Ballungsraums sind Wald oder Ackerfläche, wo, wenn man nur wollte, Wohnhäuser, Schulen, Restaurants und U-Bahn-Stationen entstehen könnten. Schularick empfiehlt einen Blick aus dem Flugzeug beim Landen in Berlin-Tegel: Lauter Rübenfelder. Gewiss, das Vieh braucht seine Rüben. Aber die können auch etwas weiter entfernt in Brandenburg angebaut werden, also dort, wo die Wohnattraktivität weniger hoch ist. Und natürlich ist auch nach oben noch viel Luft (Stichwort: Wohnraumverdichtung durch den Ausbau von Dächern und neuen Wohnhochhäusern).

    Neue Stadtviertel in Metropolennähe wären also möglich. Aber wollen wir sie? Schnell ist von Trabantenstädten die Rede, denen die soziale Kälte im Beton eingeschrieben ist. Ein Blick nach Osten – »die Platte« – wirkt ebenso abschreckend wie ein Blick nach Westen: Die »Banlieues« der französischen Städte, seelenlose Wohnmaschinen, sind eine Brutstätte von Gewalt und Radikalismus.

    Das Drama der »Neuen Heimat«

    In Westdeutschland kommt traumatisierend hinzu, dass viele der neuen Wohnungen in der Nachkriegszeit von einem einzigen gigantischen Unternehmen gebaut wurden: Dem »Neue Heimat« genannten gewerkschaftseigenen Immobilienkonzern. Zwischen 1950 und 1986 hat die »Neue Heimat« als »gemeinnütziges« Unternehmen 500000 Wohnungen errichtet. Nie zuvor habe es in Deutschland eine derart geballte Unternehmensmacht gegeben, die ihren beispiellosen Aufstieg nicht dem Profitstreben ihrer Eigentümer, sondern expliziten wirtschaftspolitischen und sozialreformerischen Zielsetzungen verdankte. Das schreibt der Architekturhistoriker Michael Mönninger in seiner sehr lesenswerten Geschichte der »Neuen Heimat«. »Wenn Sie wollen, können Sie bei uns eine komplette Stadt bestellen«, brüstete sich noch im Jahr 1970 der legendäre Chef der Neuen Heimat, Albert Vietor, der am Ende über ziemlich korrupte Machenschaften stürzte. Mönninger liefert zugleich die Erklärung des Scheiterns solch pharaonischer Gigantomanie: Es waren nicht nur die dunklen Geschäfte der Herren von der Gewerkschaft. Es war das Bauprinzip der Gemeinnützigkeit selbst. Wenn, wie damals, für Kredite Soll-Zinsen in Höhe von acht Prozent gezahlt werden mussten, der Neuen Heimat aber nur eine Rendite von maximal vier Prozent erlaubt war, dann drückte die Schuldenlast den Konzern zu Boden, als die Nachfrage zurückging. Ich erinnere mich noch gut – es war Ende der achtziger Jahre – an die Kapitulationserklärung des DGB-Vorsitzenden Ernst Breit, ein knorriger Mann aus Dithmarschen: »Gewerkschafter taugen nicht als Unternehmer.« Alle, die heute die Gemein- und Kommunalwirtschaft wiederbeleben wollen, um das Wohnungsproblem zu lösen, sollten sich Breits Lehrsatz zu Gemüte führen.

    Das spricht alles nicht gegen den Bau neuer Stadtviertel. Für Moritz Schularick sollte allerdings nicht das 20., sondern das 19. Jahrhundert Vorbild sein. »Damals haben wir auch ganze Stadtteile aus dem Boden gestampft und urbanisiert, komplett mit S-Bahn Anschluss«, sagt der Ökonom: »In den Altbau-Wohnmaschinen von damals wollen heute alle leben.« »Mietskasernen« der Industrialisierung waren früher das Hinterletzte. Heute firmieren sie unter »saniertem Altbau« und die Quadratmeterpreise gehen durch die Decke.
    Gibt es heute Vorbilder für gelungene neue Stadtviertel? Moritz Schularick schwärmt von Singapur oder Hongkong. Das freilich sind unternehmerisch aktive Stadtstaaten, in denen Planungsverfahren straff durchgezogen werden können. So war es auch bei deutschen Reißbrettstädten Karlsruhe, Mannheim: im Absolutismus konnte man eben noch durchregieren. Heute bleibt allein schon die Planung neuer Stadtviertel schnell im Interessenkonflikt der demokratischen Partizipation stecken: Die Anwohner der alten Siedlungen fürchten um die gute Luft und leiden schon im Vorhinein, dass ihnen das Feld abhandenkommen könnte, auf dem sie morgens ihren Hund ausführen. Das alles lässt sich in Frankfurt studieren an den zermürbenden Konflikten um die neu geplante »Josefstadt« (genannt nach dem Stadtplaner Mike Josef) im Nordwesten, die Platz für 30000 Menschen bieten soll. Und ob Berlin oder Stuttgart es wirklich hinkriegen würden, neue Stadtviertel aus dem Boden zu stampfen so wie Baron Hausmann in 19. Jahrhundert in Paris? Die kriegen noch nicht einmal BER oder »Stuttgart 21« gebacken. Vielleicht macht man es wie Donald Trump (horribile dictu): Der gibt die Stadtentwicklung in die Hände öffentlich-privater Entwickler und zwingt die Kommunen, ihr Planungsverfahren binnen zwei Jahren abzuschließen.

    Kurzum: Der Schlachtruf »Bauen, bauen, bauen« ist leichter ausgerufen als verwirklicht. Aber darüber sich den Kopf zu zerbrechen ist allemal zielführender, als an den Miet- und Grundstückspreisen herumzufingern und die Investoren zu vertreiben.

    Rainer Hank

  • 15. Januar 2020
    Gesellschaft der Scham

    »Schäm Dich!«

    Am Öko-Pranger wird selten jemand sein Verhalten ändern

    So viel Scham wie heute war selten. Flugscham muss empfinden, wer sich mit der Lufthansa von Frankfurt nach Berlin befördern lässt. SUV-Scham soll aufkommen bei der Fahrt zum Ökoladen mit dem Porsche-Cayenne. Fleischscham ist angesagt beim Verzehr eines Dry-Aged-T-Bone-Steaks. Und Klamotten-Scham soll jeden befallen, der sich ein neues Hemd (made in Bangladesch) leistet, anstatt das alte aufzutragen.

    Man kommt aus dem Schämen nicht mehr heraus. Aber was ist eigentlich Scham, was passiert beim Schämen – und, die zentrale Frage, führt Scham zur Veränderung von Verhalten?

    Scham kennt jeder. Es ist ein ziemlich unangenehmes Gefühl, das in peinlichen Situationen aufkommt und unmittelbar körperlich wirkt. Spätestens in der Pubertät geht es los. Man möchte im Boden versinken und hört sein eigenes Herz schlagen. Am schlimmsten ist, dabei rot zu werden: Dann können, was man ja gerade vermeiden will, alle anderen sehen, dass ich gerade in ein Fettnäpfchen getreten bin. Léon Wurmser, ein in Amerika lebender Schweizer Psychoanalytiker, unterscheidet in seinem Buch »Die Maske der Scham« drei Ebenen: Die Schamangst bei drohender Gefahr der Bloßstellung. Den Schamaffekt, all die spürbaren unangenehmen Emotionen. Und schließlich die Schamhaftigkeit, den Versuch, Situationen zu meiden, die eine Demütigungen mit sich bringen könnten. Scham, so Wurmser, bezieht sich auf eigenes Versagen, darauf, dass man schwach, fehlerhaft und mangelhaft ist. Sie unterscheidet sich von der Schuld, welche die Verletzung eines anderen zum Inhalt hat. Kurzum: Scham ist etwas, was jeder gerne vermeiden möchte, was sich aber ein Leben lang nicht vermeiden lässt. Allenfalls mit besonders unsensibler Naivität begabte Zeitgenossen schaffen das. Doch für sie hat der Schöpfer das sogenannte Fremdschämen erfunden: da übernehmen dann andere stellvertretend die unangenehmen Affekte.

    Öffentliche Demütigung als »Umweltsau«

    Im zwischenmenschlichen Kampf lässt sich Scham als Waffe einsetzen. »Schäm Dich!«, sagt die Mutter zum Kind. Früher musste man dann in der Ecke stehen. Pranger wurden jene Holzpfähle genannt, an die man seit dem 13. Jahrhundert verurteilte Straftäter fesselte, um sie öffentlich vorzuführen. Jemandem Schamgefühle zuzufügen ist ein Akt öffentlicher Demütigung zur Strafe und zur Abschreckung aller anderen, die vorüber gehen.

    Dass der Pranger nicht abgeschafft wurde, sieht man an den Klimaaktivisten. Die öffentliche Demütigung als »Umweltsau« ist die moderne Form des »an den Pranger Stellens«. Wie schon im Mittelalter soll der Zweck die Mittel heiligen. Scham, so die Hoffnung, führt zur Änderung von Verhalten, in diesem Fall also zu klimabewusstem und klimaneutralem Verhalten. Anderen demütigende Schamgefühlen zuzufügen rechtfertigt sich als Aktion im Dienste der Rettung des gefährdeten Planeten.

    Doch was wissen wir eigentlich über die Entstehung von altruistischer Verhaltensänderung? Das ist ein weites Feld, auf dem auch Ökonomen einiges zu melden haben. Der Münchner Wirtschaftswissenschaftler Friedrich Sell verweist auf die klassische Erklärung, warum wir Bettlern auf der Straße Geld geben, eine Mildtätigkeit, die dem egoistische Homo Oeconomicus eigentlich fremd sein müsste. Doch es könnte sein, dass das im eigenen Ethos verwurzelte Schamgefühl ihm verbietet, einem Bedürftigen keine Hilfe zukommen zu lassen. Dann ginge es ihm in Wahrheit um die Rettung der eigenen Identität. Auf diese Weise wäre der Altruismus auf rationalen Eigennutz zurückgeführt: wer will schon mit beschädigter Identität dastehen? Hinzu kommt die Angst, von Freunden dabei ertappt zu werden, achtlos an einem Bettler vorüberzugehen, was zumindest bei empfindsameren Menschen zu Scham führen würde, eine Peinlichkeit, die es zu vermeiden gilt.

    Ob freilich diese Vermutungen zutreffen, lässt sich nur empirisch überprüfen. Das versucht Matthias Sutter. Der Verhaltensökonom ist Direktor am Bonner »Max Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern« und macht Experimente, bei denen er die Probanden in Entscheidungssituationen bringt, ob und unter welchen Bedingungen sie bereit sind, ihnen angebotenes Geld für einen guten Zweck zu spenden, das sie aber auch in die eigene Tasche stecken könnten. Dabei kommt heraus: Die Tatsache, dass andere mich sozial kontrollieren, fördert den Altruismus keinesfalls. Im Gegenteil. Zwar könnte man denken, es aktiviere die vorweggenommene Scham, als unbarmherzig identifiziert werden zu können. Doch stärker ist offenbar ein Mechanismus, den man als Delegation von Verantwortung beschreiben könnte: Was bringt es, wenn ich allein spende? Wie man sieht, tun es die anderen doch auch nicht! Nennenswerte Effekte zugunsten altruistischer Regungen stellen sich in den Experimenten erst ein, wenn egoistisches Verhalten durch außenstehende Beobachter »bestraft« wird, mithin den Probanden Geld entzogen wird, es also wirklich weh tut.

    Jemanden öffentlich beschämen ist wie Blutvergießen

    Das hat weitreichende Konsequenzen für unsere Gesellschaft der Scham, die den auf Morallappelle setzenden Klimaaktivisten nicht gefallen dürften. Denn es ist sehr schwer, über Angst und Scham das Verhalten von Menschen zu ändern. Gewiss, der Pranger wirkt: wer nicht ganz abgebrüht ist, fliegt heute mit schlechtem Gewissen von Frankfurt nach Berlin. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er fliegt. Dass andere ihn dabei beobachten, hält ihn nicht davon ab zu fliegen: Die anderen fliegen ja auch. Seit ihren Anfängen in den siebziger Jahren spielt die Umwelt- und Klimabewegung auf der Klaviatur der Scham. Das hat die Menschen in Angst versetzt, ihr Verhalten aber nicht nennenswert verändert.

    Glaubt man den Verhaltensökonomen, dann würden sich nennenswerte verhaltensändernde Effekte des Anprangerns erst einstellen, wenn die Aktivisten den Druck auf das schlechte Gewissen, also die psychischen Kosten klimaschädlichen Verhaltens, deutlich erhöhen würden, mithin sie aktiv bestrafen könnten. Sogenannte »Name-and-shame«-Kampagnen bauen darauf: Es wäre das exemplarische oder gar flächendeckende Outen von Klimasündern durch öffentlich zugängliche, personalisierte Listen. Dort könnten alle, die es wollen, nachlesen, wie oft ich, Rainer Hank, von Frankfurt nach Berlin fliege, wie viele Steaks ich im Monat gegessen habe und welches spritfressende Auto ich wie oft nutze. In dieser Welt spielen die Umweltaktivisten die Rolle des Klima-Blockwarts, eine Horror-Welt, die umso mehr schreckt, als zu befürchten ist, dass sie inzwischen mehr und mehr Freunde findet.

    Anstatt den moralischen Preis zu erhöhen, also eine Art Gewissens-Folter fürs Klima einzuführen, wäre es besser, den finanziellen Preis für klimaschädliches Verhalten heraufzusetzen. Genau das ist der Sinn des Emissionshandels, den international durchzusetzen beim vergangenen Gipfel in Madrid leider nicht gelungen ist. Doch das ist kein Grund zu resignieren: Der Emissionshandel entmoralisiert die Klimapolitik. Der Pranger der Scham moralisiert sie. Denn die Scham, so der Frankfurter Dichter Wilhelm Genazino, »warnt ununterbrochen vor dem Leben, sie empfiehlt, das Leben sein zu lassen, und wer es dennoch riskiert, wird hinterher von ihr zur Rechenschaft gezogen«. Oder, wie es im Talmud heißt: »Jemanden öffentlich beschämen ist wie Blut vergießen.«

    Rainer Hank

  • 07. Januar 2020
    Kollege Roboter übernimmt

    Klaut der Kleine uns unsere Arbeit?

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über Maschinen, Künstliche Intelligenz und andere Jobkiller

    Seit Aristoteles galt die Überzeugung, Arbeit sei die von Gott gegebene Bestimmung der Menschen. Ihr Wert erschöpft sich längst nicht nur in der Erzielung von Einkommen. Noch die entfremdetste Tätigkeit enthält einen Rest von Sinngebung. Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er arbeitet. Einer geregelten, einigermaßen sinnvollen Arbeit nachzugehen bedeutet, einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten und dafür etwas Lebensnotwendiges zu erhalten, nämlich Anerkennung. So hat es der Frankfurter Philosoph Axel Honneth immer wieder beschrieben.

    Wenn das stimmt, ist allein die Möglichkeit einer Welt, der die Arbeit auszugehen droht, der »worst case«. Vor diesem Hintergrund bereiten Meldungen aus den ersten Tagen des neuen Jahres Sorgen, wonach die deutsche Industrie Beschäftigung reduzieren will. Gewiss, wir leben derzeit in der besten aller Welten: 45 Millionen Menschen haben hierzulande eine Arbeit, für die sie Geld bekommen. Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie schon lange nicht mehr. Fachkräftemangel, nicht Jobverlust, heißt das Angstwort der unmittelbaren Gegenwart.

    Autos kaufen keine Autos

    Doch die Gegenwart könnte falsche Sicherheit vorgaukeln. Und die Meldungen über den Jobabbau könnten ein Vorbote der Zukunft sein. Was passiert, wenn Autos künftig von Robotern und Automaten gebaut werden? »Maschinen bauen Maschinen«, so lautet die furchteinflößende Utopie des Tesla-Chefs Elon Musk (die der Querkopf zwischendurch auch gerne mal widerruft). Das ist das paradoxe Pendant zu Henry Fords berühmtem Satz »Autos kaufen keine Autos«, womit er zum Ausdruck bringen wollte, dass ohne Kaufkraft der Menschen kein Produkt absetzbar ist. Wenn also Roboter Autos bauen: Wer kauft dann die von Robotern produzierten Autos, wenn die Fabrikarbeiter keine Arbeit und kein Geld mehr haben? Und, schlimmer noch, was machen die arbeitslos gewordenen Arbeiter? Depressiv von einem zwar bedingungslosen, aber kargen Grundeinkommen der Sinnlosigkeit ins Auge schauen: das ist ein schwacher Trost, den Top-Manager und linke Utopisten derzeit anzubieten haben.

    Unversöhnt stehen sich zwei Gruppen gegenüber. Die Pessimisten sagen: Industrieroboter und künstliche Intelligenz automatisieren nach und nach alle notwendigen Aufgaben, was langfristig zu Massenarbeitslosigkeit führen muss. »Ganz falsch!«, kontern die Optimisten: Automatisierung wird die Produktivität verbessern. Aus solchen Produktivitätsgewinnen resultiert eine steigende Arbeitsnachfrage. Vollbeschäftigung, das Gegenteil von Massenarbeitslosigkeit, wird es auch im KI-Zeitalter geben.
    Wer hat Recht? Daron Acemoglu, ein renommierter Ökonom am Massachusetts Institute for Technology (MIT) hat für die an diesem Wochenende in San Diego stattfindende Jahrestagung der Vereinigung amerikanischer Ökonomen (AEA) eine Studie vorgelegt, welche paradoxerweise zeigt, dass Pessimisten und Optimisten Recht haben. Dazu hilft ein Blick in die Geschichte. Zunächst: Wenn Maschinen Aufgaben übernehmen, die zuvor von Menschen erledigt wurden, dann führt das zu Arbeitslosigkeit. Das haben im 19. Jahrhundert die Weber in Schlesien nicht anders erlebt als die Landarbeiter in den amerikanischen Südstaaten. Acemoglu nennt das den Verdrängungseffekt (»displacement effect«). Was das heute konkret heißt, lässt sich mit dem »Job-Futuromat« der Bundesagentur für Arbeit (job-futuromat.iab.de) spielerisch-verführerisch ausprobieren. Man gibt seinen Beruf ein, und der Futuromat spuckt dessen Automatisierungspotential aus. Drei von vier typischen Tätigkeiten eines Kraftfahrzeugmechatronikers zum Beispiel seien von Maschinen ersetzbar, heißt es dort: ein Automatisierungspotential von 75 Prozent. Ähnlich dramatisch sieht es etwa bei Steuerberatern aus. Journalisten kommen glimpflicher davon: Die Automatisierbarkeit meines Berufs liege lediglich bei 17 Prozent, sagt der Futuromat, eine merkwürdig präzise wirkende Zahl.

    Neue Jobs durch Vernichtung von Jobs

    Doch das ist nicht alles: Automatisierung hatte im Verlauf der Industriegeschichte stets einen Produktivitätseffekt zur Folge, der neue Technologien freisetzt, die ihrerseits neue Arbeitsaufgaben für Menschen bereitstellen. Acemoglu nennt das den »Wiedereistellungseffekt« (»reinstatement effect«). So führt der Ersatz von Arbeit durch Kapital paradoxerweise zur Entstehung neuer Arbeit, die häufig höhere Anforderungen und bessere Bezahlung mit sich bringen. Landarbeiter, die arbeitslos werden, weil der Traktor seine Sache besser macht, fanden ein besseres Einkommen – wenngleich nicht unbedingt ein besseres Leben – an den Fließbändern der Automobilindustrie in Detroit. Nicht nur Bandarbeiter, auch Ingenieure, Controller, Finanzexperten und Anwälte wurden plötzlich in großem Ausmaß gebraucht und gut entlohnt. Eine negative Folge davon ist freilich, dass die Einkommen (etwa zwischen Landarbeitern und Facharbeitern) ungleicher werden.

    Der Streit zwischen Optimisten und Pessimisten ist also müßig. In Wirklichkeit geht es darum, wie sich im Verlauf des Strukturwandels das Verhältnis zwischen Verdrängungs- und Wiedereinstellungseffekt einpendelt. Es geht um den Saldo. Der muss nicht unbedingt positiv sein. Der Blick auf die beeindruckende Industriegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts könnte uns womöglich eine zu rosige Zukunft vorgaukeln. Jedenfalls meint MIT-Ökonom Acemoglu, in den vergangenen dreißig Jahren seien die Verdrängungseffekte stark gewesen, die Wiedereinstellungseffekte indessen eher schwächer. Das wiederum dürfte damit zusammenhängen, dass es mit den Produktivitätseffekten der Digitalisierung nicht so weit her ist, sie jedenfalls viel saft- und kraftloser ausfallen als zu Beginn des Maschinen- und Automobilzeitalters. Sind wir heute weniger innovativ als früher? Einiges spricht dafür.

    Was tun? Ein guter Rat heißt immer noch »Bildung«. Bildung reduziert allemal das Risiko, arbeitslos zu werden, und erhöht zugleich die Chancen auf ein besseres Einkommen. Denn es gibt im Verlauf der Wirtschaftsgeschichte nicht nur einen Wettlauf zwischen Verdrängungs- und Wiedereinstellungseffekten, sondern auch einen Wettlauf zwischen Bildung und Technologie. Darauf hat auf der Ökonomen-Tagung dieses Wochenendes in San Diego Acemoglus MIT-Kollegen David Autor hingewiesen: Selbst in Zeiten massiver Bildungsexpansion nach dem zweiten Weltkrieg hat sich der Besuch einer höheren Schule oder einer Universität ausgezahlt. Der Grund liegt auf der Hand: Die Nachfrage nach gut ausgebildeten Arbeitnehmern ist stets noch stärker gewachsen als das Angebot. Das hat übrigens auch zu einer enormen Expansion der Bildungszeiten geführt: 1876 lag die durchschnittliche Schulzeit amerikanischer Jugendlicher bei 7,3 Jahren. Bis zum Jahr 1951 hat sie sich auf 13,2 Jahre fast verdoppelt. Inzwischen ist man bei fast 15 Jahren angekommen. Schule und Hochschule haben im Lauf der Geschichte enorm viel Lebenszeit gekapert. Das war kein Schaden für die Menschheit.

    Daraus folgt für die vor uns stehenden zwanziger Jahre eine vorsichtig-optimistische Prognose: Wie groß der Segen der Digitalisierung sein wird, wissen wir noch nicht genau. Wollen wir indes eine Arbeitsgesellschaft bleiben, dann hilft mehr Bildung nach wie vor ungemein.

    Rainer Hank

  • 03. Januar 2020
    Reich werden mit Sokrates

    Sokrates, der weise Philosoph Foto: wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Nichts zu wissen hilft: Aktientipps für Philosophen

    Vielleicht nehmen wir Deutschen den griechischen Philosophen Sokrates einfach zu ernst. Oder haben ihn gar nicht richtig verstanden? Gängiger Überlieferung zufolge stammt von Sokrates das Diktum »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« Der Satz ist schon deshalb rätselhaft, weil er mit der Paradoxie zurechtkommen muss, dass jemand, wenn er nichts weiß, logischerweise auch nicht wissen kann, dass er nichts weiß. Oder aber umgekehrt, dass, wenn er sein Nichtwissen für gewiss hält, er die generelle Aussage relativieren müsste, er wisse einfach gar nichts.

    Wir überlassen die Auflösung dieser Paradoxie getrost den Philosophenstammtischen am Silvesterabend. Und wenden wir uns der einfacheren, aber gleichwohl nicht trivialen Frage zu, ob Nichtwissen ein Defizit oder nicht vielmehr eine Stärke ist. Zu viel Wissen jedenfalls erdrückt. Aber die Angst, zu wenig zu wissen, macht arm. Dazu kommt uns eine gerade von der Deutschen Börse veröffentlichte Studie wie gerufen (leicht zu finden auf deutsche-boerse.com). Dort nämlich wird die These vertreten, dass Nichtwissen hilft, wenn es um Fragen der Geldanlage geht. Und dass die Befürchtung, nichts zu wissen, dummerweise viele Menschen davon abhält, am Aktienmarkt mitzumischen. Der Sokrates der Jahres 2019 ist für mich ein Finanzwissenschaftler der »Frankfurt School of Finance and Management« namens Michael Grote. Sein sokratischer Börsen-Lehrsatz lautet: »Viele wissen nicht, dass man nichts wissen muss.«

    Aber nun der Reihe nach. Seit Jahren rätseln die Gelehrten, warum in Deutschland, einer der reichsten Volkswirtschaften der Welt, nur 18 Prozent der Bürger Aktien und Aktienfonds besitzen. Im internationalen Vergleich ist das sehr wenig und es ist auch jammerschade: Denn wir Deutschen verschenken auf diese Weise – zumindest mittel- und langfristig – ziemlich viel Rendite. Stattdessen jammern wir lieber über die Mini- oder Negativzinsen auf unseren Sparbüchern und schimpfen auf die EZB. Wahrscheinlich würden viele Nicht-Aktionäre schon die Voraussetzung anzweifeln, dass, wer keine Aktien kauft, Geld verschenkt. Aber die Belege sind erdrückend: Allen Crashs zum Trotz war beispielsweise die durchschnittliche jährliche Wertsteigerung des Aktienindex Dax in der Vergangenheit beträchtlich: sie lag bei durchschnittlich sieben Prozent im Jahr – und das seit 1969. Wer monatlich 10 Euro in ein Sparschwein füllt, hat nach 30 Jahren 3600 Euro angesammelt. Wenn er Glück hat und bei seiner Bank über diesen Zeitraum im Schnitt zwei Prozent Zinsen bekommt, summiert sich sein Vermögen auf 4913 Euro. Die sieben Prozent einer durchschnittlichen Aktienrendite indessen brächten ihm nach 30 Jahren 11697 Euro ein. Dem Sparschweinbesitzer gehen folglich 8097 Euro durch die Lappen. Dumm für ihn, dass er keine Aktien gekauft hat.

    An der Börse braucht man kein Finanzwissen

    Dieses simple Wissen der Aktienrendite wollen viele Menschen offenbar nicht zur Kenntnis nehmen. Dabei könnten sie es wissen. Warum? Weil es – fast schon penetrant – regelmäßig etwa im Teil »Geld & Mehr« der FAS wiederholt und mit verständlichen Kurven veranschaulicht wird. Stattdessen meinen die Menschen, sie müssten noch viel, viel mehr wissen und sagen, fragt man sie danach, diese Wissenslücke sei Grund genug, sich von Aktien fern zu halten. Mehrheitlich schätzen selbst gebildete Bürger ihr Finanzwissen als zu gering ein für ein Investment in Aktien. Ein Grund hierfür scheint zu sein, dass die Mehrheit der Leute in Deutschland eine falsche Vorstellung davon hat, welches Wissen für eine Teilnahme am Aktienmarkt zwingend erforderlich ist. Das notwendige Wissen wird massiv überschätzt. Die Mehrheit der Nicht-Aktienbesitzer glaubt nämlich, über einzelne Aktien und die ihnen zugrundeliegenden Unternehmen in Breite und Tiefe Kenntnis haben zu müssen. Sie sagen, ihnen fehle das Wissen über den optimalen Kauf- und Verkaufszeitraum, sie denken, sie müssten sich zudem über die allgemeine Weltwirtschaftslage informieren und Bescheid wissen über Wohl und Wehe einzelner Branchen. Wäre das so, wie diese Menschen meinen, dürfte man in der Tat niemandem empfehlen, Aktien zu kaufen. Denn vor lauter Sammeln von Finanzwissen, würden sie das wahre Leben verpassen.

    Frauen, man muss es leider sagen, versagen bei Aktien noch mehr als die Männer: Im Vergleich zu den Männern, von denen 68 Prozent sich von der Börse fernhalten, scheuen 83 Prozent der Frauen den Kauf von Aktien. Sie schätzen – auch im Vergleich zu Männern – ihr Finanzwissen als zu gering ein und bleiben abstinent. Dass sie realistischer mit dem eigenen beschränkten Wissen umgehen im Vergleich zu den Aufschneidern und Hochstaplern unter den Männern, ist sicher ein sozialer Vorteil, renditemäßig gereicht es ihnen allerdings zum Nachteil.

    Der Grundsatz des Anlegers müsste lauten: Ich weiß, dass ich nichts weiß, und deshalb kaufe ich Aktien. Es war vielleicht nicht nur eine gute Idee, dass in den vergangenen Jahren von den Fachleuten geklagt wurde, mit der »financial literarcy«, dem Finanzwissen der Deutschen, stünde es fürchterlich schlecht. Daraus konnte man heraushören, ohne solide Kompetenzen in Zinseszinsrechnung habe man als Anleger an der Börse schon verloren und solle das Geld lieber seinem Bankberater anvertrauen, der freilich weniger an meinem Wohlergehen als an seinen Gebühren interessiert ist.

    In Aktien kann man langweilig investieren

    Nun sollte man der Ehrlichkeit halber sagen, dass, wer etwa all sein Geld auf die Aktie der Deutschen Bank oder Wirecard setzt, sich schon um diese beiden Firmen kümmern sollte, und sei es nur, um am Ende zu der Einsicht zu kommen, am besten die Finger von diesen Aktien zu lassen. Wer seine Risikoscheu ernst nimmt, seinen finanziellen Einsatz streut und auf einen Aktienfonds setzt, der alle 30 Dax-Aktien enthält, hat keinen Nachteil, wenn er nicht alle 30 Dax-Firmen auswendig runterrasseln kann. Darauf, dass ich damit automatisch zum Miteigentümer von Covestro würde, wäre ich zum Beispiel im Schlaf nicht gekommen, hätte ich nicht gerade gespickt: Covestro ist »ein führender Hersteller von Polymer-Werkstoffen«. Leider liegt mein Chemie-Unterricht schon eine ganze Weile zurück, dass mir das auch nicht weiterhilft. Aber wie gesagt, darob muss sich niemand grämen.

    Eines sollte man indessen wirklich wissen: Diejenige Aktienanlage, bei der man am allerwenigsten wissen muss, sind die »Exchange Traded Funds« (ETF), weil sie das Risiko denkbar breit streuen und auch für kleine Sparbeiträge kostengünstig attraktiv sind. Man muss dafür nicht wissen, dass die Theorie dazu von einem Ökonomie-Nobelpreisträger namens Eugene Fama stammt. Es gilt einfach der Satz von FAZ-Börsenguru Daniel Mohr: »In Aktien kann man langweilig investieren.« Dass nur acht Prozent der Deutschen dieses Basis-Wissen haben, sollte man ihnen nicht zum Vorwurf machen. Denn der technisch kompliziert klingende Name ETF für ein denkbar einfaches Finanzprodukt, das lediglich einen Börsenindex abbildet, ist irreführend und schreckt ab. Wenn die Deutsche Börse das nächste Mal Geld in die Hand nimmt, um aus uns Deutschen ein Volk von Aktionären zu machen, sollte sie einen Wettbewerb zur Neubenennung der ETF ausloben.

    Rainer Hank