Rainer Hank als Illustration

Hanks Welt

‹ alle Artikel anzeigen
  • 23. November 2020
    Apollos Pfeil

    Römischer Apollo Foto Stuart Yeates/wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Es gibt Hoffnung für die Zeit nach der Pandemie

    In diesen unsicheren Zeiten, in denen wir auf den wöchentlichen Corona-Verhaltens-Ukas aus der Berliner Regierungszentrale warten, wüsste man schon gerne, wie lange dieser Ausnahmezustand noch dauert. Dass die Kanzlerin und die Virologen ihres Vertrauens uns das nicht sagen können, werfen wir ihnen nicht vor. Aber was weiß die Wissenschaft?

    Unter der kaum noch unüberschaubaren Corona-Literatur dieses Jahres fiel uns jetzt »Apollos Pfeil« in die Hände, das neue Buch des Yale-Soziologen Nicholas Christakis über die bleibenden Folgen der Corona-Krise und die Frage, wie wir danach leben werden. Der Titel spielt auf eine Episode am Anfang der Ilias an: Um den Priester Chryses zu rächen, dem Agamemnon die Tochter vorenthielt, sendet Apollon den Achäern mit seinem Pfeil die Pest. »Rastlos brannten die Totenfeuer in der Menge«, heißt es bei Homer. Am zehnten Tag gelang es den Achäern, Apollo zu besänftigen. Man sei bereit, alle Forderungen der Götter erfüllen. Schließlich sei es besser, »dass das Volk gesund ist, als dass es sterbe«, befand Agamemnon.

    Da war man bei Homer mit zehn Tagen Seuche noch einigermaßen davongekommen, wenngleich zu befürchten ist, dass Pandemien damals deutlich schlimmer wüteten als heute, wo wir nun alle zu Verhaltensexperten im Abflachen von Infektionskurven geworden sind. Die Seuchen der Moderne dauern dafür bekanntlich deutlich länger. Die Spanische Grippe zog sich vom Ende des ersten Weltkriegs 1918 in drei Wellen bis 1920. Die sogenannte Hongkong-Grippe, von der geschätzt weltweit zwei Millionen Menschen hingerafft wurden, datiert von 1969 bis 1970, ohne dass öffentlich darum viel Aufhebens darum gemacht wurde.

    Vor dem Kipppunkt

    Woher wissen die Bürger, wann Schluss ist? Wird es eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages ein Gipfeltreffen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten geben, gefolgt von einem Auftritt bei der Bundespressekonferenz, bei dem sie verkünden, am darauffolgenden Montag sei Corona vorbei, weil entweder ausreichend Bürger geimpft oder das Volk hinreichend durchseucht sei? Nein, so muss man sich das nicht vorstellen. Hier endet die ansonsten naheliegende Analogie zwischen Pandemien und Kriegen, bei denen es am Ende einen Waffenstillstand oder Friedensvertrag gibt. Nicholas Christakis – der Forscher ist nicht nur Soziologe, sondern auch Arzt – hat sich das Ende früherer Pandemien angesehen. Da zeigt sich: »Pandemien enden, wenn alle glauben, sie sind vorüber.« Seuchen haben eben nicht nur ein biologisches, sondern auch ein soziales Ende. Das muss man sich vorstellen als Ergebnis eines gesellschaftlichen Diskurses über Nutzen und Kosten der Einschränkungen des Lebens. Irgendwann kommt es zu einem Kipppunkt, an dem die Bevölkerung bereit ist, weitere Infektions- und Todesrisiken in Kauf zu nehmen, um auf der anderen Seite sich wieder ein »normales« soziales Leben mit funktionierenden Theatern, Schulen, Universitäten, Ferien und Familienfeiern gönnen zu können. Der Sozialwissenschaftler sieht, was der naturwissenschaftliche Virologe nicht in den Blick bekommt: Pandemien sind (auch) sozial konstruierte Realitäten, bei denen es um den Umgang mit dem Tod geht. Historisch und geographisch gibt es große Unterschiede, in welchem Ausmaß wir Autounfälle, Suizidraten oder Drogenmissbrauch zu tolerieren bereit sind.

    Und dann? Wird die Welt danach ganz anders sein als vor Corona? Das nicht. Aber ein bisschen anders schon. Umfragen, die freilich unter Corona-Bedingungen gemacht wurden, zeigen, dass die Menschen bevölkerte Plätze oder S-Bahnen zur Rushhour künftig auch dann noch meiden wollen, wenn großflächig Impfungen zur Verfügung stehen. Heimarbeit, so viel scheint inzwischen ebenfalls festzustehen, nimmt deutlich zu. In den Städten könnte es etwas gemächlicher, womöglich auch langweiliger werden, die Suburbs werden aufgewertet. Dass wir uns zur Begrüßung die Hände geben, werde wohl dauerhaft aus der Mode kommen, prophezeit Nicholas Christakis. Vielleicht gewöhnen wir uns wie die Asiaten auch ans Masken-Tragen. Ich persönlich will mich daran nicht gewöhnen.

    Das klänge alles eher traurig, hätte der Soziologe Christakis am Ende nicht noch eine frivole Prognose im Angebot: Wenn die Menschen wieder Vertrauen fassen und glauben, dass das Virus seine bedrohliche Macht über uns verloren hat, werden sie wieder bereit sein, höhere Risiken einzugehen. Wir werden nach dieser Pandemie nicht noch Jahrzehnte als schüchterne Angsthasen durch die Welt hoppeln. Christakis äußert die Vermutung, dass die »Roaring Twenties« im 20. Jahrhundert auch eine Reaktion auf die – kollektiv verdrängte – Spanische Grippe sein könnten. Wer erlebt hat, welchen Verzicht kultureller Ausdrucksmöglichkeiten mehrere Lockdowns bedeuten, entwickelt danach vitale Kräfte, das Leben in vollen Zügen zu spüren.

    Kollektive Katastrophenignoranz

    Deutlicher werden inzwischen auch die Parallelen der Corona-Pandemie der Jahre 2020/2021 zur Finanzkrise 2008/2009. Beide Male liegt der Krise eine merkwürdige kollektive Amnesie und Katastrophenignoranz zugrunde. Vor der Finanzkrise hatten die Menschen munter in Aktien und Immobilien investiert und konnten sich gar nicht vorstellen, dass die Preise auch einmal fallen würden. Die ökonomische Wissenschaft bestärkte sie darin, dass das weltweite Finanzsystem vor größeren Schocks gefeit sei. Der Konjunkturzyklus mit seinen Aufs und Abs galt als weitgehend besiegt. Die Jahre 2008/2009 führten uns dann vor Augen, dass der Kapitalismus ohne Krisen und Katastrophen nicht zu haben ist.

    Ähnlich vertrauensselig hielten wir es mit der Gesundheit. »Krankheitsausbrüche werden im 21. Jahrhundert nicht mehr zu Pandemien führen«, befand der Harvard-Psychologe Steven Pinker in seinem Lob des Fortschritts (»Aufklärung jetzt«) aus dem Jahr 2018: »Fortschritte der Biologie machen es leichter, Krankheitserreger zu identifizieren, Antibiotika zu erfinden und im Nu Impfstoffe zu entwickeln«. Warnungen hat man nur zu gerne überhört: Der Glaube, Pandemien seien ein für alle Mal eliminiert, könnte sich als der größte Irrtum unserer Zeit erweisen, gab das amerikanische Verteidigungsministerium schon 1998 zu bedenken.

    Inzwischen wurden wir eines Besseren belehrt. Sowohl das Finanz- wie auch das Gesundheitssystem bleiben dauerhaft instabil. Das hätte man bei Marx und bei Homer vorher schon lesen können. Aber erst treffen wir auf »unbekannte Unbekannte« (»unknown unknowns«), dann finden wir die passenden Bücher, in denen sie uns erklärt werden.

    Ein großer Fehler wäre es indes, den Glauben an den Fortschritt auf die Müllhalde der Ideen zu verbannen. Langfristig sind die Kosten von Wirtschaftskrisen verdaubar. Nimmt man die aktuellen Kurse der maßgeblichen Börsenindizes oder das robuste Wirtschaftswachstum von 2010 bis 2019 als Indiz, ist daran kaum zu zweifeln.

    Niemand braucht eine Seuche. Doch ähnlich wie aus dem Konjunktur-Zyklus ließe sich auch aus dem Seuchen-Zyklus der Weltgeschichte am Ende eine Fortschrittsgeschichte destillieren: Wir können froh sein, dass das durch die Erfahrung von Pandemien ausgelöste medizinische Wissen uns jene gute Intensivmedizin und Pflege ermöglichen, die die gesundheitspolitischen Folgen von Seuchen heute deutlich milder ausfallen lassen als in Antike und Mittelalter.

    Rainer Hank