Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 06. Dezember 2022
    Lang lebe der Bundesrechnungshof

    Reinste Fünfziger Jahre. Bundesrechnungshof bis 2000 in Frankfurt Foto wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Einer muss ja auf unsere Steuern achten

    Politiker geben sich gerne als Anwalt des Bürgers. Dann erfinden sie ein »Bürgergeld« (ehemals »Stütze«) oder versprechen eine »Bürgerversicherung« (ehemals »Krankenkasse«). Das soll signalisieren: Wir lassen euch nicht allein (Olaf Scholz).

    Der Bürger kriegt Wohngeld, Benzingeld, Heizgeld, Klimageld, Kindergeld. Das Bild, das hinter solchen Beglückungen steht, ist problematisch. Der Bürger erscheint als ein Wesen, das permanent staatlicher Entlastung und finanzieller Zuwendungen bedarf, weil er aus eigener Kraft nicht überlebensfähig sei. Der Bürger, der sich vom Lockruf der vielen Bürgerhilfen verführen lässt, begibt sich in Abhängigkeiten, aus denen er sich schwer wieder befreien kann. Er will es auch gar nicht, weil das süße Gift wirkt und süchtig macht. Sagen wir, wir werden »staatssüchtig« oder zumindest dauerhaft »staatsbedürftig«.

    Unterschlagen wird dabei gerne, dass der Bürger nur dann staatliche Zuwendungen erhalten kann, wenn es zugleich Bürger gibt, die dafür zahlen. Häufig ist das sogar ein und dieselbe Person, frei nach dem Motto »rechte Tasche, linke Tasche«, wobei die Regel gilt, dass mehr aus der rechten Tasche gezogen wird, als in die linke zurückkommt. Die Staatsbeamten, die mit den rechts-links Transaktionen befasst sind, wollen schließlich auch leben. Nicht selten müssen künftige Bürger das bezahlen, was heutigen Bürgern gegönnt wird, wofür es stets eine gute Begründung gibt: Wieder einmal leben wir in der größten Krise der Nachkriegszeit. Oder wir lassen uns einreden, dass mit dem Geld, das heute ausgegeben wir, gute Dinge für spätere Generationen passieren.

    Bei der Suche nach Anwälten des Steuerbürgers fiel mein Blick im vergangenen Jahr auf den Bundesrechnungshof. Den hielt ich bislang eher für eine Institution der Erbsenzähler, die nachrechnet, ob im Bundesamt für Güterverkehr fünf Bleistifte zu viel bestellt wurden. Und, wenn es hochkommt, alle Schaltjahre einen Skandal aufdeckt, wie im Jahr 2016 bei der Gorch Fock, dem Dreimaster der Bundeswehr, dessen Instandsetzung am Ende nicht 10, sondern 135 Millionen Euro gekostet hat. Mein Bild des Rechnungshofs, hat wenig mit der Realität zu tun, wie ich beschämt und erfreut feststellen durfte.

    Die Fallstricke des Bürgergelds

    Ein Beispiel. Am 13. Oktober 2022 verschickt der Rechnungshof einen Bericht an den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestag, unschuldig überschrieben mit »Empfehlungen zur Einführung eines Bürgergeldes«. Der Text hat es in sich. Es ist ein Verriss des geplanten Ampelgesetzes, welches schon im Jahr 2023 Mehrausgaben für Bund und Länder von knapp fünf Milliarden Euro nach sich ziehen wird. Dabei, so der Rechnungshof weiter, enthalte das Gesetz noch viele finanziellen Risiken. Dann wird es konkret. Eine zweijährige Karenzzeit, in der das Vermögen der Sozialhilfeempfänger berücksichtigungsfrei bleibe und alle tatsächlichen Aufwendungen für Heizen und Wohnen vom Staat übernommen würden, schieße weit über das Ziel hinaus. Dass eine schlichte Erklärung des Bürgergeldempfängers, er sei mittellos, als Anspruchsnachweis genügen solle, eröffne Missbrauchs- und Mitnahmemöglichkeiten. Und eine Vermögensfreigrenze von 150 000 für eine dreiköpfige Familie sei unverhältnismäßig und zu hoch.

    Der Bericht des Rechnungshofs fand seinen Weg in die Öffentlichkeit und wurde zum Paukenschlag. Das Bürgergeld, das bis dahin unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle segelte, kam in den Fokus der öffentlichen Debatte. Die Opposition, die das Gesetz nicht auf dem Schirm hatte, wachte auf und entdeckte ein Thema, mit dem sie sich gegen die Ampel profilieren konnte. Sogar die »Besser nicht, als schlecht Regieren«-FDP merkte nun, dass der Gesetzesentwurf vermeintliche Reformen enthielt, die in Geist und Buchstaben dem liberalen Programm widersprechen und vor allem dem Ziel diente, das Hartz-IV-Schröder-Trauma der SPD zu therapieren. Am Ende gab es auch in der Bevölkerung deutliche Vorbehalte gegen ein »Bürgergeld«, das den Hilfeempfänger finanziell gleichstellt mit einem wackeren Arbeiter. Die 150 000 Euro sogenannten Schonvermögens waren als Symbol nicht mehr aus der Welt zu kriegen.

    Schaut man an, was nach Verhandlungen in Vermittlungsausschuss und beiden Kammern am Ende zum Bürgergeld beschlossen wurde, dann sind es genau jene vom Rechnungshof monierten Fehlanreize, die deutlich entschärft wurden – zum Verdruss vieler Ampelmänner und -frauen. Die Union unter Friedrich Merz vereinnahmte das Ergebnis als Erfolg großer Geschlossenheit. Das geht in Ordnung, auch wenn der Rechnungshof als Gralshüter der fiskalischen Ordnungsgemäßheit insistiert, er sei dem Parlament verantwortlich und nicht dazu da, die Opposition zu munitionieren.

    Tatsächlich ist dieser Rechnungshof eine unabhängige Behörde, so frei in seinen Aktivitäten wie die Richter in unserem gewaltenteilenden Rechtsstaat. Der »Hof«, wie er genannt wird, prüft mit Grundgesetzauftrag »die Wirtschaftlichkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes.« Das macht er sogar vorausschauend, wie das Beispiel des Bürgergeldes zeigt. Kritik, damit überdehne sie ihr Mandat, lässt die Behörde an sich abperlen.

    Lauter Schattenhaushalte

    Mein Lob des Rechnungshofs birgt in sich eine beruhigende und eine unbehagliche Botschaft. Das Unbehagen kommt aus der Sorge, der Rechnungshof könnte zunehmend einsam und ohne Bundesgenossen bleiben auf weiter Flur. Der Sachverständigenrat der Fünf Weisen, der sich ehedem als ordnungspolitischer Wächter verstand, entdeckt nach diversen Neubesetzungen seine Liebe zur Umverteilung. Die FDP, die in der Opposition stets aufjaulte, wenn der Bürger finanziell über den Tisch gezogen wird, eiert auf schmalem Grat und verschleiert als Regierungspartei, wo und wie sie unerlaubte Schulden in Schattenhaushalte packt. Auch hier war es der Rechnungshof, der schon Anfang des Jahres monierte, dass 60 Milliarden Euro unverbrauchter Coronamittel nicht einfach dreist zu Klimainvestitionen umgewidmet werden können. Auch dies war eine Steilvorlage für die Union, aus der am Ende eine Klage beim Bundesverfassungsgericht hervorging. Am 200–Milliarden-Doppelwumms des Bundes in der Energiekrise kritisiert der Hof, dass eine Kreditaufnahme »auf Vorrat« eklatant gegen den Verfassungsgrundsatz der Jährlichkeit verstoße. Die Intransparenz solchen Finanzgebarens kann auf Dauer das Vertrauen des Bürgers in den Staat unterminieren.

    Gut, dass wir ihn haben, den Bundesrechnungshof: ein stolzes, sich selbst bestimmendes Bürgeramt mit 1100 Beschäftigten. Ein Bollwerk gegen teure politische Bürgerbeglückung. Einer muss ja aufpassen.

    Rainer Hank

  • 01. Dezember 2022
    Elon Musk, das Ekel

    Heroe, Egomane: Elon Musk Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Müssen große Unternehmer auch sympathisch sein?

    Ob ich noch bei Twitter sei, wollen die Leute von mir wissen. Achselzuckendes »Warum sollte ich nicht?« kommt nicht besonders gut, zwingt zu rechtfertigenden Erklärungen. Ich bin kein besonders aktiver Nutzer, meine Follower haben sich bei gut 5000 eingependelt. Das ist nicht überragend, aber okay. Ein paar Mal täglich schaue ich rein. Nicht immer, aber immer wieder komme ich mit ein paar Anregungen kluger Menschen wieder raus.

    Warum also sollte ich demissionieren? Klar, wegen Elon Musk, dem Bösewicht aus Texas, der den Laden nach einigem Hin und Her für 44 Milliarden Euro gekauft hat und sich dort jetzt als Elefant im Porzellanladen aufführt. Der Mann sei »unberechenbar«, werde von »negativen Emotionen« beherrscht, lese ich im »Manager Magazin«: Er agiere »durch und durch impulsiv und irrational«, knechte seine Mitarbeiter, die ihm jetzt in Scharen davonlaufen, sofern er sie nicht vorher selbst entlassen hat.

    Elon Musk, ein Egomane, ein Ekel, so das Bild, das von ihm gezeichnet wird, obwohl vermutlich die wenigsten, die ihn porträtieren, den Mann zu Gesicht bekommen haben. Ich war kurz davor zu fragen, warum bei Twitter überhaupt noch jemand aktiv ist, dort für Werbung bezahlt und nicht alle längst nach Mastodon emigriert sind, hätte nicht ein Blick in angelsächsische Zeitungen das Bild der deutschen Medien korrigiert: Nach dem Einstieg bei Twitter gingen die Zahlen nach oben auf inzwischen 245 Millionen, so viele Nutzer wie noch nie. Gut, mit den knapp drei Milliarden, die sich auf Facebook tummeln, kann Twitter nicht konkurrieren. Aber warum steigen die Nutzerzahlen, wenn Twitter ein Tohuwabohu ist und Musk ein Ekel? Die Neuzugänge können nicht ausschließlich verirrte Trumpisten sein, die dort die Stimme ihres Herrn hören wollen.

    Keine Sorge, ich will mich nicht mit Elon Musk anfreunden. Mich interessieren drei Dinge: Was hat der Mann geleistet? Warum zieht er so viel Hass auf sich? Müssen große Unternehmer nette Menschen sein?

    Schumpeter und die kreative Zerstörung

    Beginnen wir mit der unternehmerischen Leistung: Während hierzulande längst schon alle Welt die drohende Klimakatastrophe an die Wand malte, begann Musk in Kalifornien damit, unter der Marke Tesla Elektroautos zu bauen, die zudem noch irgendwie schön aussehen. Statt dass die Manager und Ingenieure im Stammland der Autobauer sich was abguckten, haben sie Musk bei Mercedes & Co. entweder ignoriert oder als Spinner verhöhnt: Diese verrückte Idee mit den Batterieautos sei nichts für den Massenmarkt – s o sprachen die Neunmalklugen noch Mitte der Nullerjahre.

    Inzwischen überzeugt Musk vom Gegenteil, die Batterien speichern mehr Strom, die Autos fahren bald von allein – und das sogar hierzulande: In Brandenburg stellte Musk gegen alle bürokratischen Widerstände eine Fabrik auf die Wiese, bei der in der Endstufe jährlich eine halbe Million Autos vom Band laufen werden. Und bis zu 40 000 Arbeiter ihr Einkommen haben werden (ist ja nicht gerade die strukturstärkste Gegend Deutschlands). Und was passiert? Statt dass ihm von der IG Metall bis zu Fridays for Future vierstimmig Willkommenschöre gesungen werden, hagelt es Kritik. Die Gewerkschaften kritisieren, dass er nicht längst einen Betriebsrat gründet und in den Arbeitgeberverband eintritt. Die Klimaretter sorgen sich um die Brandenburgische Biene (Biodiversität) und um den Grundwasserspiegel. Die AfD schließt sich den Protesten solidarisch an.
    Dabei hätten die Zukunftsfreunde Musk auf ihrer Seite. SpaceX, sein Weltallprojekt, ist quasi ein Alternativprojekt zum Globus wie wir ihn kennen, sollte das Anthropozän hienieden ein Auslaufmodell und die Erde unbewohnbar werden. Und mit »Neuralink« will der geniale Spinner verhindern, dass Roboter mit Künstlicher Intelligenz künftig die volle Macht über uns bekommen. Statt dass die Last-Generation ihm Lorbeerkränze flicht und die Blogger ihn feiern, bezichtigen Sascha Lobo und seine Freunde Musk als Mitglied einer Sekte (»Longtermism«) und beschimpfen ihn als faschistoiden Sozialdarwinisten.

    Selbst dafür, dass Musk sein Satelliten-Netzwerk »Starlink« samt Internet nach Ausbruch des Krieges der Ukraine kostenlos zur Verfügung stellte, hagelte es Kritik statt Dank, weil er Friedensverhandlungen und eine Abstimmung im Donbas ins Spiel brachte. So etwas haben deutsche Intellektuelle von Jürgen Habermas bis Richard David Precht auch vorgeschlagen. Aber die dürfen das, weil sie linke Pazifisten sind.

    Das führt zur Frage, warum der Hass auf Elon Musk so wuchtig und nachhaltig ist. Ich sehe vier Gründe. Erstens, Musk ist kein Linksliberaler, sondern ein Rechtsliberaler, ist sogar – besonders übel – von links nach rechts konvertiert. Zweitens: Musk ist mit geschätzt 200 Milliarden Dollar Vermögen der reichste Mann der Welt. Das mögen wir nicht. Die Kritik an der amerikanischen Plutokratie – der Herrschaft der Reichen – hat hierzulande eine lange Tradition. Drittens, wie gesagt, Musk ist ein Unsympath und Großkotz. Und viertens: Musk ist ein genialer Erfinder und Unternehmer. Das schürt Neid.

    Ich lese zurzeit viel von und über den österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter (1885 bis 1950). Das ist der mit der »kreativen Zerstörung«. Ich bin sicher, Schumpeter fände Elon Musk gut, träfe er ihn zufällig auf dem Mars. Schumpeter charakterisiert Unternehmer als dynamisch-elitäre Typen. Sie haben »Freude am Erfolghaben«, am »Siegen über andere«. Solche Unternehmer, schreibt der Schumpeter-Kenner Heinz D. Kurz, wollen Firmenimperien gründen und wirtschaftliche Dynastien, sie wollen anderen Unternehmen ihren Willen aufzwingen, sie untertan machen, wollen als Gestalter, als Mächtige in die Geschichte eingehen wie ehedem große Feldherren und bedeutende Könige. Leute wie Musk haben ihren Nietzsche und Schopenhauer gelesen. Solche Kerle setzen »neue Kombinationen« durch, haben ein Gespür für Innovation und den unbedingten Willen, diese erfolgreich auf den Markt zu bringen. Wenn es ihnen an Geld fehlt, suchen sie sich Aktionäre, die an ihren Erfolg glauben, und Bankiers, die ihnen Geld leihen. Das ist riskant: Scheitern ist nicht ausgeschlossen; mancher von ihnen ist in seinem Größenwahn der Sonne zu nahegekommen – wie Ikarus.

    Klingt nicht wirklich sympathisch. Aber die Rastlosigkeit solcher Unternehmertypen ist die Quelle der Rastlosigkeit des Kapitalismus, auf dem unser aller Wohlstand beruht, mit dem die Armen sich aus der Armut befreien. Soweit ich sehe, haben wir in Deutschland seit den Tagen von Gottfried Daimler, Robert Bosch oder Werner von Siemens niemanden dieses Zuschnitts hervorgebracht. Hier glauben wir viel lieber, dass der Staat der bessere Unternehmer sei.

    Rainer Hank

  • 22. November 2022
    Der Weg zur Schwulen-Ehe

    Federboa Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum sich gesellschaftliche Einstellungen ändern

    Heute, sechs Jahre nach dem Brexit-Referendum, sind 54 Prozent aller erwachsenen Briten der Meinung, der Austritt aus der Europäischen Union sei dem Land nicht gut bekommen. Dies ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Juni dieses Jahres. Fragt man die Briten, wie sie heute abstimmen würden, kommt dasselbe knappe Ergebnis für den Austritt heraus – nicht anders als vor sechs Jahren.

    Das Ergebnis ist verstörend. Warum ändern schlechte Erfahrungen unser Verhalten nicht? Sind gute Argumente nichts wert?

    Das wäre der falsche Schluss, wenn ich an meinen HNO-Arzt denke. Der berichtete von einem besonders klugen Patienten, der sich standhaft einer Corona-Impfung widersetze und sich zur Rückversicherung seiner Weigerung nächtelang in die Lektüre komplexer wissenschaftlicher Studien vergrabe.

    Unser Impfverweigerer kann einige Klischees über irrationales Verhalten korrigieren. Zum Beispiel die Annahme, solche Leute kümmerten sich nicht um »die Wissenschaft«, seien für Argumente unerreichbar und würden ständig irgendwelche kruden Behauptungen in die Welt setzen. Das Gegenteil ist richtig. Ich fürchte, dieser Impfgegner hat mehr Argumente (und entsprechende Studien) gegen das Impfen als ich dafür. Natürlich bleibe ich bei meiner Meinung, dass es gut und richtig ist, dass ich mich gerade das vierte Mal habe gegen Covid impfen lassen. Ich kann freilich nicht ausschließen, dass ich einfach nur der Mehrheit hinterherlaufe und mich besonders staats- und lauterbachtreu verhalte.

    Die Flat-Earth-Society zum Beispiel, 1958 gegründet, vertritt bis heute hartnäckig die Ansicht, die Erde sei eine Scheibe. In einem Schlagabtausch mit ihren Protagonisten würde ich wahrscheinlich eine böse Niederlage erleiden. Lange genug war immerhin die gesamte denkende Menschheit der Meinung, die Erde sei flach.

    Loyaltiät ist wichtiger als Wahrheit

    Noch einmal: Warum halten die Menschen hartnäckig an ihren Überzeugungen fest? Und was muss passieren, dass Ansichten sich ändern? In diesen Zeiten sich abschottender ideologischer Lagerbildung ist hier jeder Zoll Erkenntnisgewinn wertvoll.

    Vieles spricht dafür, dass uns Menschen (mutmaßlich stammesgeschichtlich vermittelt) Zugehörigkeit zu einer Gruppe wichtiger ist als die Wahrheit. Es sind eben gerade nicht die Eigenbrötler, die besonders radikale Ansichten vertreten, sondern es sind Gruppen, die ihre Mitglieder zu Loyalität verpflichten und sie dafür mit Wärme und Angstfreiheit belohnen. Im Kreise der Gleichgesinnten radikalisieren sich die einen, während die Zweifler ausgesondert werden – die AfD bietet dafür viel Anschauungsmaterial. Die Verhaltensökonomen haben dafür den Begriff »Confirmation Bias« erfunden, überspitzt übersetzt als Bestätigungssucht. In Befragungen, warum Menschen an Gott glauben, kommen die nicht mit feinsinnigen Gottesbeweisen aus der Theologiegeschichte, sondern sagen, der Glaube gebe ihnen Halt in einer Gemeinde, wo auch alle anderen an Gott glauben. Allemal ist die Vernunft dazu da, einen Glauben zu rechtfertigen.

    Das ist nicht sehr weit entfernt von unserem Impfgegner oder den Brexiteers, die kein Risiko eingehen wollen, durch Meinungsänderung den Rückhalt ihrer Gruppe zu verlieren. Sie müssten nicht nur befürchten, von ihren Freunden als Verräter geschmäht zu werden. Sie würden sich auch selbst untreu werden. Lieber denken wir darüber nach, warum andere Quatsch erzählen, als dass wir uns mit der Qualität unserer eigenen Überzeugungen kritisch beschäftigen. Debatten in Talkshows sehen wir uns an wie Boxkämpfe; wir befeuern unser Team und hoffen, dass der Gegner des »Bürgergelds«, »unser Mann«, seine Argumente besonders brillant rüberbringt; Carsten Linnemann (CDU) hat am vergangenen Sonntag bei Anne Will leider geschwächelt.

    Ändern sich Meinungen also gar nie? So ist es nicht. Ein prominentes Beispiel: Im Jahr 1996 sprachen sich 73 Prozent der Amerikaner gegen die Schwulen-Ehe aus – heute befürworten 70 Prozent der Bevölkerung die gleichgeschlechtliche Ehe. David McRaney, ein britischer Wissenschaftsjournalist, hat darüber gerade ein anregendes Buch geschrieben (»How Minds Change«).

    Street Epistemology

    McRaney macht für die Meinungsänderungen die klugen Kampagnen der LGBT-Aktivisten verantwortlich: Da geht es, USA-typisch, um aufwendiges Klinkenputzen (»canvassing«). Anstatt aber die konservativen Amerikaner mit ihren eigenen »fortschrittlichen« Ideen zu konfrontieren, kamen die Aktivisten einfach nur als Zuhörer ins Haus und ließen die Gegner der Schwulen-Ehe Geschichten erzählen: sie sollten nicht über die Meinungen der anderen, sondern über ihre eigenen Überzeugungen nachdenken. Dabei stellte sich heraus, dass man sich gar nicht so verschieden war, wie angenommen. Ein Interviewpartner etwa soll erzählen, was er gegen Schwule hat und ob er überhaupt homosexuelle Menschen kenne. »Klar« antwortet der, vor kurzen sei er per Zufall in eine Demo von Schwulen geraten; einer von denen habe sogar eine Federboa umgehabt. Der Interviewer fragt, ob er sich mit den Leuten auch unterhalten habe. »Warum sollte ich«, fragt der Interviewte. »Oh Mist, dass ich heute meine Federboa vergessen habe«, fährt der Interviewer ihm in die Parade. Beide lachen – und sprechen lange miteinander.

    Solche Erfahrungen plötzlicher Nähe machen möglich, dass Menschen miteinander reden, die noch nie miteinander reden. Die Methode nennt sich »Street Epistemology«, eine Gesprächstechnik, die hilft, sich mit jedem Menschen über seine Weltanschauung zu unterhalten, ohne mit ihm zu streiten. Zur Manipulation kann die Methode indes auch ge- oder missbraucht werden. Klar, die Schwulenehe ist ein großer Freiheitsgewinn für die Menschheit. Aber ungern wollte ich, dass ein Impfgegner mit mir solche Tiefeninterviews veranstaltet, um mich »umzudrehen«.

    Lieber wäre mir, Normen und Meinungen würden sich im Lauf der sozialen Evolution ändern und nicht durch methodisches Klinkenputzen sei es noch so fortschrittlicher Lobbygruppen gepusht werden. Ein gutes Beispiel für nicht intendierte soziale Evolution ist die Ehe. In Befragungen aus dem Jahr 1939 standen für Frauen und Männer »Verlässlichkeit« und »emotionale Stabilität« auf Platz Eins bei der Partnerwahl. 1977 waren Frauen und Männern die »Attraktivität des Partners und Liebe« am wichtigsten. Ist das nun ein Fortschritt? Seit dem Jahr 1977 steigen leider auch die Scheidungsraten. »Wenn eine Norm sich ändert, zerstört sie zuweilen eine Institution, noch bevor diese sich zu erneuern vermag«; kommentiert McRaney.

    Rainer Hank

  • 15. November 2022
    Der 49–Euro-Schwachsinn

    Pankow ist in den 49 Euro inbegriffen Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Es gibt bessere Lösungen als die Bahn-Flatrate

    »Bei der heißen Schlacht am kalten Buffet, da zählt der Mann noch als Mann
    Und Auge um Auge, Aspik um Gelee, hier zeigt sich, wer kämpfen kann, hurra.«

    Der Song von Reinhard Mey aus dem Jahr 1972 kommt mir in den Sinn, seit hierzulande über 9–, 29– oder 49–Euro-Tickets gestritten wird. Halb Deutschland war in diesem Sommer mit dem ÖPNV quer durchs Land unterwegs. Und so ist es dann auch zugegangen: Ein Gedränge und Gedrücke, falls man überhaupt noch einen Stehplatz bekam, weil der einzig freie Sitzplatz leider schon von den Pommes weiß-rot des Vorgängers besetzt war. Alles eben wie am Kalten Buffet Reinhard Meys, den ich deshalb gleich noch einmal zu Wort kommen lasse (Melodie gibt es auf Youtube): »Gemurmel dröhnt drohend wie Trommelklang, bald stürzt eine ganze Armee die Treppe hinauf und die Flure entlang. Dort steht das kalte Buffet. Zunächst regiert noch die Hinterlist, doch bald schon brutale Gewalt. Da spießt man, was aufzuspießen ist, die Faust um die Gabel geballt. Mit feurigem Blick und mit Schaum vor dem Mund kämpft jeder für sich allein. Und schiebt sich in seinen gefräßigen Schlund, was immer hineinpasst, hinein.«

    Der Kalte-Buffet-Effekt ist die Konsequenz aller Flatrates. Das Restaurant wird bei einem Pauschalpreis entweder an der Qualität des Buffets oder an der Menge oder gleich an beidem sparen. Hummer sollte man besser nicht erwarten. So hat mein journalistischer Lehrer Hans D. Barbier immer argumentiert, um die Schlaraffenland-Illusion der All-You-Can-Eat-Angebote zu entlarven. Trotzdem sind die Leute jetzt wieder ganz besoffen von den Billigtickets. Da geht es genauso zu wie am kalten Buffet: Die Fahrt in die Ferne dauert ewig (es heißt ja auch Nahverkehr), die Züge sind rappelvoll und niemand hat Lust, die Qualität des Angebots zu verbessern.

    Das glauben Sie nicht, weil die 49–Euro-Idee so toll klingt? Ich zitiere Oliver Wolff, den Chef des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen: »Die ersten Betriebe denken darüber nach, Linien auszudünnen und Strecken einzustellen.« Er sei in Sorge um das künftige Angebot im Nahverkehr, so Wolff. Der Präsident des Deutschen Städtetags legt zumindest metaphorisch noch einen drauf. Er habe die Befürchtung, die Verkehrswende drohe durch das 49–Euro-Ticket »auf dem Abstellgleich zu landen«.

    Wissing als Ehrenmitglied der Linken

    Nur einer jubelt. Der Verkehrsminister Volker Wissing. Seit Wochen schwadroniert er von der »größten ÖPNV-Tarifreform in Deutschland« und verkauft als seinen Erfolg, was ihm ursprünglich von den Grünen aufs Auge gedrückt wurde. Deutschland lasse damit »extreme Preisschwankungen im Angebot des Öffentlichen Nahverkehrs hinter sich« jubelt Wissing. Dass ich das noch erleben darf: Ein liberaler Politiker lobt den Einheitspreis und stört sich an »extremen Preisschwankungen«. Er glaubt nicht, dass in einer Marktwirtschaft Preise Signale sind für Anbieter und Nachfrager darüber, was wem wieviel wert ist. Er ignoriert den Kalte-Buffet-Effekt des Festpreises, der jeglichen Wettbewerb erstickt. Kein Zugbetreiber hat Anreize Pünktlichkeit, Zugqualität, Service für die Kunden zu verbessern, denn er darf Preise weder erhöhen noch senken. Er muss alles immer für 49 Euro liefern. Konsequent müsste Wissing auch einen Festpreis für Wohnungen (sagen wir 200 000 Euro), Laugenbrezeln (vielleicht 50 Cent) oder Fahrräder (150 Euro) fordern. Auch da stören sich viele Leute an den »extremen Preisschwankungen«, gerade jetzt in Zeiten der Inflation. Im Erfolgsfall winkt Wissing die Ehrenmitgliedschaft bei der »Linken«, überreicht am goldenen Band von Sarah Wagenknecht, falls die dann dort noch Mitglied ist.

    Es gibt noch ein paar weitere Einwände gegen das 49–Euro-Ticket. Der wahre Preis der Reise wird verschleiert, denn Bund und Länder schießen gepumpte drei Milliarden aus dem Doppel-Wumms zu. Die Zugbetreiber werden jetzt ihre Lobbyabteilungen aufrüsten, denn mehr Geld kommt künftig nicht vom Kunden, sondern vom Staat. Auch das klingt nicht wirklich nach Marktwirtschaft. Das Billigticket wird kofinanziert von heutigen oder künftigen Steuerzahlern, auch wenn sie kein 49–Euro-Ticket kaufen, sondern mit Fahrrad, E-Auto oder ICE unterwegs sind. Gerecht wäre es, Preise individuell streckenabhängig zu berechnen. So etwas hat die FDP früher – etwa in den Mautdebatten – immer gefordert. Wenn Arme sich das nicht leisten könne, kann der Staat sie direkt mit Geld unterstützen. 49 Euro sind für arme Menschen kein Pappenstiel, für den Zahnarzt schon, der braucht es aber nicht.

    Fairtiq kann alles besser

    Und was ist mit dem Klima? Bahnfahren reduziert die CO2–Emissionen prahlt Wissing. Das wollen wir erst einmal sehen. Für jene Bürger auf dem Land, bei denen kein Bus und keine Bahn vorbeikommt, stimmt das schon mal nicht: Die pendeln auch künftig mit dem alten Diesel. Und für die Strecken, die künftig vom Netz genommen werden (siehe oben), stimmt es auch nicht. Und woher kommt der Strom, mit dem die Züge fahren? Natürlich aus der Steckdose, also aus der Oberleitung. Erzeugt wird er zu nicht geringen Teilen aus Kohle und Gas, wie wir in den letzten Monaten teuer lernen mussten (»Merit Order«). Klingt nicht super-klimafreundlich.

    Bleibt das Argument der Vereinfachung. Die 49–Euro-App funktioniere immer, unabhängig von kaputten Fahrscheinautomaten und von Kleinstadt zu Kleinstadt undurchschaubaren Tarifsystemen. Das stimmt. Doch dieser Mega-Vorteil ist nicht an eine Flatrate gebunden, sondern geht auch bei streckenabhängigen Preissystemen. »Fairtiq« zum Beispiel, ein Startup ohne Staatssubventionen aus der Schweiz (da fahren bekanntlich die Züge pünktlich), bietet eine Check-in/Check-out-Lösung: Niemand muss vor der Fahrt ein Ticket kaufen und sich um Tarifzonen kümmern. Teure Automaten werden überflüssig. Beim Betreten des Zuges loggt man sich durch Wischen ein, beim Aussteigen checkt man genauso aus. Fairtiq garantiert, dass stets das günstigste verfügbare Ticket berechnet wird. Die gefahrene Strecke wird über GPS ermittelt und am Monatsende abgebucht, streng datenanonymisiert natürlich, verspricht das Unternehmen. Das funktioniert seit langem prima in der Schweiz, in Liechtenstein und Vorarlberg. Auch einzelne Regionen in Deutschland (neuerdings auch Nordrhein-Westfalen) haben Fairtiq gekauft.

    So kommt man zu einer einfachen und gerechten Lösung, die Wettbewerb und Anreize zu Qualitätsverbesserung zulässt und All-You-Can-Eat-Effekte vermeidet. Was waren das nochmal für Nachteile? Fragen wir Reinhard Mey: »Da braust es noch einmal wie ein Orkan, ein Recke mit Übergewicht wirft sich aufs Buffet im Größenwahn, worauf es donnernd zerbricht.«

    Rainer Hank

  • 08. November 2022
    Stapelkrisen

    Foto redbubble

    Dieser Artikel in der FAZ

    Was tun, wenn die Zeit aus den Fugen ist?

    Der achtjährige Gaylord hatte seine Augen und Ohren überall. Vor allem dort, wo sie nicht hingehören. Schon morgens früh hopst er von Bett zu Bett und will seine Familie mit selbstgebrühtem Kräutermatsch-Tee beglücken. Doch der Haussegen hängt gewaltig schief: Der Vater wurde aus dem elterlichen Schlafzimmer verbannt, Großtante Marigold steckt irgendwo in der Vorkriegszeit fest, und Tante Becky spannt der eigenen Schwester den Liebhaber aus.

    So geht der Plot eines Romans von Eric Malpass mit dem Titel »Morgens um Sieben ist die Welt noch in Ordnung«, der im Jahr 1968 in deutschen Kinos lief. Dass es sich um eine schnulzige Komödie handelte, ahnt man. Demensprechend hatte ich mich nicht getraut, Freunden zu erzählen, dass ich den Film anschauen würde. Schließlich befinden wir uns im Jahr 1968: Die revolutionären Studenten in Berlin und Frankfurt, unsere Helden als Schüler, hätten das mit Sicherheit nicht gut gefunden und als unpolitisch-seichte Ablenkung vom verwerflichen Zustand der kapitalistischen Welt getadelt.

    Die Erinnerung an den Film ist längst verblasst. Gehalten – nicht nur in meiner Erinnerung – hat sich der geniale Titel. Er spiegelt die nur allzu verständliche Sehnsucht nach Normalität. Früher war die Welt noch in Ordnung. Und Ordnung ist bekanntlich das halbe Leben (Marie Kondo).

    Heute ist die Zeit mal wieder aus den Fugen. Shakespeares Hamlet hat das schon vor ein paar Jahrhunderten diagnostiziert. Früher wussten wir wenigstens noch, in welcher Krise wir uns gerade befinden. Heute gibt es eine Krisenunübersichtlichkeit: Corona ist noch nicht vorbei. Inflation, Krieg und geopolitisch-atomare Bedrohung kommen hinzu. Eine neue Migrationskrise ist zurück, die wir doch eigentlich mit dem Jahr 2015 für erledigt hielten. Nicht zu reden von der Klimakrise, die als Krise gar nicht weichen will. Von Polykrise ist die Rede, sprachlich schöner noch von »Stapelkrise«.

    Am Rande des Nervenzusammmenbruchs?

    Was machen wir jetzt mit der aus den Fugen geratenen Zeit? Unter dem Titel »Nicht mehr normal« hat der Soziologe Stefan Lessenich gerade ein kleines Bändchen veröffentlicht, in dem er unsere Gesellschaft »am Rande des Nervenzusammenbruchs« wähnt. In Pedro Almodovars gleichnamigem Film von 1988 waren es lediglich die hysterischen Frauen, die nervlich am Ende waren, heute ist es schon die ganze Gesellschaft. Wie will man das künftig noch steigern? Lessenich, seit geraumer Zeit Direktor des durch Max Horkheimer und Theodor Adorno berühmt gewordenen Instituts für Sozialforschung in Frankfurt, braucht den Superlativ als Voraussetzung seiner spätmarxistischen Revolutionstheorie. Die geht ungefähr so: Alles geht den Bach runter. Und das ist gut so. Endlich werde die »Irrationalität des Ganzen« sichtbar: »Ganz gleich, ob im Feld der Finanz-, Klima- oder Zuwanderungspolitik, bei der Organisation des gesellschaftlichen Zusammenhalts oder der Geschlechterverhältnisse, im Umgang mit Pandemien oder mit Diktatoren: Wir sind aufgefordert, die Macht der Illusion zu brechen – der Illusion, dass wir mit alten Rezepten durchkommen könnten.« Völker hört die Signale: Die Apokalypse bringt uns ins Paradies, welches bei Stefan Lessenich selbstredend ein sozialistisches Paradies mit demokratischer Planwirtschaft ist, wo »die Bestimmung gesellschaftlicher Bedarfe nicht mehr den Märkten überlassen wird, sondern zum Gegenstand demokratischer Entscheidung« gemacht wird. Viel Spaß dabei! Ich bin raus.

    Der Denkfehler ist die Vorstellung, Krise sei die Ausnahme, Normalität hingegen der Normalfall, also das Übliche. Dabei war es doch gerade Karl Marx, der uns darüber belehrt hat, dass die Wirtschaft rhythmischen und zyklischen Schwankungen unterliegt, der stetigen Wiederkehr von Auf- und Abschwung, Boom und Bust, Globalisierung und Deglobalisierung. Sieben fetten Kühen folgen sieben magere Kühe, pflegte man in einer früheren Welt zu träumen, in der solche Bilder aus der Fleischwirtschaft noch keinen klimapolitischen oder ökotrophologischen Fauxpas bedeuteten.

    Während die Krise der Normalzustand ist, ist die Normalität wohl eher eine Fiktion und Projektion, die freilich als Gegenstand der Sehnsucht eine psychostabilisierende Funktion hat. Seit ich Wirtschaftsjournalist bin stolpern wir von einer Krise in die nächste. Bloß ist die Erinnerung daran verblasst, dass wir in den neunziger Jahren der Meinung waren, knapp fünf Millionen Arbeitslose würden bald politische Unruhen wie in den frühen dreißiger Jahren nach sich ziehen. Über die Beschäftigungskrise stapelte sich die sogenannte New-Economy-Krise, die das Vermögen vieler Kleinaktionäre mit einem Schlag vernichtete und den Deutschen die Lust an den Aktien auf lange Jahre vergällte.
    Krisen, wohin man blickt. Harold James, Wirtschaftshistoriker an der Princeton-Universität, fängt in seinem gerade erschienenen Buch »Schockmomente«, einer Weltgeschichte von Inflation und Globalisierung, bereits in den 1840er Jahren an. Hungersnöte, Mangelernährung, Krankheiten und Aufstände hatten Europa damals im Griff. Ähnlich wie die Marxisten, gewinnt auch Harold James den Krisen viel Gutes ab. Doch anders als die Marxisten sind für ihn Krisen nicht notwendige Umschlagpunkte zum Sozialismus, sondern Bedingung des kapitalistischen Fortschritts und der Globalisierung. So brachten die Hungersnöte des 19. Jahrhunderts international einen wirtschaftlichen Integrationsschub, der den Lebensmittelbedarf Europas durch Getreideimporte aus dem Ausland zu stillen vermochte. Knappheit ist nichts Neues, das muss Robert Habeck noch lernen: Hohe Preise sind gut. Denn sie geben Verbrauchern und Unternehmern Signale einer Notwendigkeit zur Veränderung. Die Globalisierung wird damit zu einer Geschichte von Zusammenbrüchen und Schöpfungen. Am Ende kann sich das Ergebnis sehen lassen, finde ich. Wir sind alle reicher geworden. Unser Smartphone, unsere Waschmaschinen und Butterpäckchen wurden über die Zeit viel billiger, was man in Inflationszeiten nicht sehen mag.

    Folgt man der Idee der kapitalistischen Fortschrittsgeschichte, dann ist es grundfalsch, Preise politisch niedrig zu halten und – wie es jetzt geschieht – den Status quo dadurch zu zementieren, dass Subventionen für Firmen an Beschäftigungsgarantien gebunden werden. Geholfen werden muss den wirklich Armen. Die üppigen Entlastungspakete verhindern dagegen, dass Krisen ihr Kreativitätspotential freisetzen können. Das mag zynisch klingen, aber so geht der Fortschritt. Für Politiker ist das schwer auszuhalten. Man sollte sie an das Diktum einer früheren Bundeskanzlerin erinnern: »Chaos ist in Politik immer.«

    Rainer Hank