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‹ alle Artikel anzeigen28. September 2024
Von der Freiheit träumenWarum wir Timothy Snyder lesen sollten
Posad-Pokrovske, ein Dorf im Süden der Ukraine, wurde beim russischen Vormarsch komplett zerstört. Ende des Jahres 2022 hat die ukrainische Armee die Russen so weit zurückgedrängt, dass deren Artillerie nicht mehr bis nach Posad-Pokrovske reichte und einige Bewohner wieder zurückkehrten.
Mariia, 85 Jahre alt, ist eine von ihnen. Sie fand Unterschlupf in einer kleinen Hütte, die ihr als provisorische Behausung von einer internationalen Organisation zur Verfügung gestellt wurde. Ihr eigenes Haus war nach dem Beschuss mit Bomben und Granaten nur noch eine Ruine; lediglich ein paar persönliche Gegenstände konnte sie retten.
Mariias Dorf wurde befreit. Aber sind die Bewohner, die jetzt wieder zurückgekommen sind, frei? Freiheit sei nicht nur die Abwesenheit von Bösem, sondern auch die Anwesenheit von Gutem, meint der Historiker Timothy Snyder: »Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Mariia wirklich frei war, ohne ein richtiges Haus mit einem Stuhl und einen freigeräumten Weg zur Straße für ihren Rollator.«Mit der Geschichte von Mariia und der Reflexion über die Freiheit beginnt das in dieser Woche erschienene neue Buch von Timothy Snyder: »Über Freiheit« (»On Freedom«). Die Geschichte Mariias zeigt die Stärke des Buches in nuce: Freiheit, ein Wort, das durch allzu viele Keynotes und Kongresse hohl und leer geworden ist, kommt hier konkret, fast möchte man sagen frisch daher. Denken wir noch einmal nach, so als ob es die vielen liberalen Denkfabriken und Parteien nicht gäbe!
Snyder, auf Osteuropa spezialisierter Historiker und Professor an der amerikanischen Yale Universität, ist alles andere als naiv. Schon der Titel zitiert die große Referenzschrift des englischen Philosophen John Stuart Mill »On Liberty«, mit dem der Autor sich dann merkwürdigerweise nirgends näher auseinandersetzt. Dass für die greise Mariia Freiheit nicht nur Abwesenheit des Bösen ist, sondern, um wirklich frei zu sein, es auch der Anwesenheit des Guten bedürfe, nimmt Bezug auf die ebenfalls von Mill vorausgedachte und von Isaiah Berlin weiterentwickelte Unterscheidung zwischen »negativer« und »positiver« Freiheit. Demnach hat Freiheit zwei Seiten: Sie lässt mich – »negativ« – tun und lassen, was ich will, solange dies die Freiheit der anderen nicht verletzt. Und sie macht es mir – »positiv« – zur Aufgabe, mir meine Bestimmung (meine Regeln, mein Gesetz) zu geben und danach zu handeln. Das ist vermutlich gemeint, wenn es jetzt häufig heißt, in der Ukraine werde die Freiheit des ukrainischen Volkes verteidigt – und auch die »westlichen Werte«, die es zu retten gelte.
Die zynische Freiheit der Sklavenhalter
Snyder schlägt sich auf die Seite der positiven Freiheit. »Wenn wir frei sein wollen, werden wir bejahen, nicht nur verneinen müssen.« Darin wird man ihm gerne zustimmen. Er übertreibt freilich, wenn er die negative Freiheit als vulgär-libertär denunziert, der es ausschließlich darum gehe, den kapitalistischen Markt von den Einflüssen des Staates zu befreien und sie als zynische Freiheit der Sklavenhalter schmäht, die sich für frei halten, weil sie über andere Menschen als ihr Eigentum bestimmen. Snyders Ressentiment wird dem emphatischen Begriff der negativen Freiheit nicht gerecht, scheint mir eher dem postkolonialen Zeitgeist und der linksliberalen Tradition amerikanischer Ostküstenintellektueller geschuldet.
Bedenkenswerter sind die fünf Formen der Freiheit, die für Snyder dazu taugen sollen, eine Verbindung zwischen Freiheit als Prinzip und Freiheit als Praxis herzustellen. Damit kann das Unbehagen behoben werden, dass die Verteidiger der Freiheit gerne beim Prinzipiellen stehenbleiben und sich drücken, wenn es konkret wird. Die fünf Formen heißen: »Solidarität« oder die erlernte Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. »Unberechenbarkeit« oder die Fähigkeit, physikalische Gesetzmäßigkeiten den persönlichen Zwecken anzupassen. »Mobilität« oder die Fähigkeit, sich wertegeleitet durch Raum und Zeit zu bewegen. »Faktizität« oder die Anerkennung der Welt, die es uns erlaubt, sie zu verändern. Schließlich »Solidarität« oder die Erkenntnis, dass Freiheit für alle da ist.
Greifen wir »Souveränität« und »Mobilität« heraus. Unter »Souveränität« thematisiert Snyder den menschlichen »Leib« (als deutsches Wort), den er vom unpersönlichen »Körper« unterscheidet. Im Englischen existiert nur ein einziger Begriff: »body«. Der Leib ist nicht nur ein physikalischer Körper, sondern er kann sich bewegen, fühlen und sich im Raum verorten. Freiheit als leibliche Souveränität gefasst, ist davor gefeit, »vergeistigt« gedacht zu werden.
Snyder berichtet anrührend von der Erfahrung einer Krankheit, die ihn als Fünfzigjährigen an die Grenze des Todes gebracht hat. Ein durchbrochener Blinddarm fand nicht nur deshalb keine Beachtung, weil er an die falschen Ärzte geraten war, sondern auch, weil er seinen Leib nicht ernst zu nehmen pflegte. »Ich war dazu erzogen worden, den Leib als ein äußeres Hindernis zu betrachten, dem man sich widersetzen musste.« Den eigenen Leib nicht als Begrenzung, sondern als Ermöglichung der Freiheit zu deuten, ist eine Idee, die Snyder sich von zwei in den USA nahezu unbekannten europäischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts sagen lässt: der zum Katholizismus konvertierten Jüdin Edith Stein und der (fast) zum Katholizismus konvertierten Jüdin Simone Weil: Starke Frauen, die für die Freiheit mit ihrem Leib einstanden – bis zum Tod.
Dass »Mobilität« eine Bedingung der Freiheit ist, wird ebenfalls gerne übersehen. Mariia, die Alte im Dorf Posad-Pokrovske, braucht einen freien Weg zur Straße für ihren Rollator. Es geht um ein »Wegerecht« für alle: die Bewegungsfähigkeit in Raum und Zeit und zwischen Werten. Immobilisierung ist eine gravierende Einschränkung der Freiheit. In Deutschland haben die Nazis 1933 die Juden bewegungsunfähig gemacht und schließlich vernichtet. Auch Stalin wollte sich die Welt unterwerfen um den Preis, dass Millionen Menschen verhungerten oder in Konzentrationslagern starben. Wenn Snyder folgert, dass sowohl Hitler wie auch Stalin den kapitalistischen Imperialismus der USA (»Go West«) imitierten sei, dann wird er abermals Opfer einer maßlosen Übertreibung und Ungerechtigkeit im Blick auf sein Heimatland.
Dass Märkte Orte sind, an denen wir durch Tausch – einen Akt der Freiheit und Mobilität – unsere Lebensmöglichkeiten erweitern, würde Snyder wohl als ideologische Propaganda des Kapitalismus abtun. Dabei stammt der Gedanke von Adam Smith, einem großen Denker der Freiheit. Sei’s drum: Ich halte Timothy Snyders »On Freedom« für eine der wichtigen Neuerscheinungen dieses Bücherherbstes, nicht zuletzt FDP-Politikern zur Erbauung empfohlen, wenn sie wieder einmal in ihren Kämmerlein ihr trauriges Schicksal beweinen.
Rainer Hank