Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 14. April 2025
    Lauter Opportunisten

    Donald Trump kassiert Diversity, Equity, Identity Foto Archiv

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum die Konzern sich an Trump ankuscheln

    Nehmen wir an, eine Investmentgesellschaft bietet ihren Kunden einen Fonds als »grünes Impact-Investment« an und einen anderen als »langfristig risikooptimiert«. Was ist der Unterschied zwischen den beiden Finanzprodukten? Antwort: Es gibt keinen. Hinter den beiden Überschriften verbirgt sich jeweils der gleiche Fonds. Die Anschlussfrage: Warum machen die das dann? Antwort: Weil das eine Produkt in Deutschland verkauft wird, das andere in den USA. In Deutschland müssen die Manager die ESG-Regeln einhalten, in Amerika sind die vergleichbaren DEI-Regeln unter Trump verboten. Das ist beide Male jeweils rechtlich bindend und muss im »reporting« nachgewiesen werden.

    Zum Hintergrund: DEI bedeutet »Diversity, Equity, Inclusion« – grob übersetzt als »Vielfalt, Gleichheit, Einbeziehung«. Diese Vorschriften fordern, in Organisationen ein Umfeld zu schaffen, in dem alle Mitarbeiter unabhängig von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit und sexueller Orientierung gleiche Chancen und respektvolle Behandlung erfahren. Ziel von DEI war es, eine Kultur der Zugehörigkeit zu etablieren. Präsident Trump hat DEI kassiert, weil er es für den Ausbund des Woke-Kapitalismus hält, der seinerseits massiv diskriminierend sei: Leistungsbereite Männer zum Beispiel haben Nachteile gegenüber Frauen oder Queer-Personen mit dunkler Hautfarbe, sofern diese »nur« wegen Geschlecht und Hautfarbe bevorzugt werden. Die Nichteinhaltung der Anti-Woke-Gesetze kann zu Strafen und zu möglichen Einschränkungen des Geschäftsbetriebs in den USA führen. Die amerikanische Anwältin Rachel Cohen hat gerade berichtet, wie rabiat die Trump-Administration vorgeht – und sich selbst mutig dem Oktroy verweigert (FAZ vom 25. März). Die meisten Firmen sind nicht mutig und fügen sich.

    ESG steht für Enviromental, Social und Governance. Auf deutsch »Umwelt, Soziales und gute Unternehmensführung«. ESG ist in der EU vorgeschrieben mit dem Ziel, die Unternehmen zu Nachhaltigkeit und zur Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu verpflichten. Darunter fallen Vorschriften für gute Arbeitsbedingungen, die Einhaltung von Menschenrechten, von Diversität und vor allem von klimafreundlichem Zielen. Ähnlich wie in den USA nur mit umgekehrten Vorzeichen führen Zuwiderhandlungen zu Strafen und der Drohung langfristigen Marktausschlusses. Und die Firmen fügen sich.

    »Reframing« heißt die Devise

    Global tätige Konzerne, die in der EU und in den USA Geld verdienen wollen, geraten durch die sich widersprechenden Vorschriften in die Bredouille. Sie müssen sich etwas einfallen lassen. Das ist die Stunde der Juristen und Unternehmensberater. »Re-Framing« heißt das Zauberwort. Es geht darum, DEI sprachlich zu entschärfen. Denn natürlich sind »grüne« Finanzprodukte, die in klimafreundliche Firmen investieren, automatisch »langfristig risikooptimiert«; langfristig werden nur solche Firmen überleben. Tunlichst vermeiden sollte man, von »nachhaltig risikooptimiert« zu sprechen, denn das Wort »nachhaltig« wäre woke kontaminiert. Angepasste Unternehmen reden jetzt auch nicht mehr über Inklusion und Diversität, sondern über Innovation, Performance durch Vielfalt und Talentförderung.

    Wer würde bestreiten, dass die Förderung vieler Frauen der innovativen Talentförderung dient? Man muss das Kind jetzt nur einfach anders nennen. Hatte es bislang geheißen, man strebe nach »Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion«, so wird diese Formel heute ersetzt durch das Bekenntnis zur Förderung eines »integrativen Umfeldes, das Mitarbeiter zu Höchstleistungen anspornt«. Okay, die neue Formulierung klingt einen Tick mehr meritokratisch und weniger nach Work-Life-Balance-Bequemlichkeit. Ob die Rechnung aufgeht, ist unsicher. Die Leute in der Trump-Administration sind nicht doof und ziemlich unberechenbar, heißt es: Regelmäßig werden die neuen Vorschriften verschärft.

    Vorher ging es andersrum zu. Die Firmen haben alle Aktivitäten so lange gebogen, bis sie grün und klimafreundlich wurden, was man dann als »greenwashing« bezeichnete. Und sie haben sich tunlichst gehütet, ihr Geld in die Rüstungsindustrie zu investieren. Denn Produkte, die Menschen töten, widersprechen den ESG-Regeln. Ohne ESG wäre Europa heute auf den neuen kalten Krieg besser vorbereitet.

    Firmen verhalten sich opportunistisch. Nachdem zunächst in Amerika ein Unternehmen nach dem anderen umgefallen ist – angeführt von den Tech-Giganten im Silicon Valley -, zieht jetzt der Rest der Welt nach. Sie entfernen die vollmundigen DEI-Angebereien von ihrer Homepage, kassieren die Stabsstelle des »Chief Diversity Officers«, und übertrumpfen sich in Ergebenheitsadressen gegenüber der Trump-Administration. Man könnten von Herden-Verhalten sprechen.

    Schlag nach bei Milton Friedman

    Soll man den Unternehmen diesen Opportunismus vorwerfen? Ich fände das bigott. Ziel eines Unternehmens ist es nicht, Oppositionspolitik zu betreiben. Ziel ist, hart kapitalistisch formuliert, Geld zu verdienen, Profite zu machen zum Wohle der Aktionäre. Oder humanistischer formuliert: Ziel eines Unternehmens ist es, die Bedürfnisse seiner Kunden zu befriedigen. Es sei wichtig, »dass die Patienten uneingeschränkten Zugang zu unseren innovativen Medikamenten und Diagnostika haben«, verlautet aus dem Schweizer Pharma-Konzern Roche. Wollen wir lieber keine gute Medizin bekommen, weil der entsprechende Pharmakonzern ein Signal gegen Trump setzen wollte? Eher sollte man darüber nachdenken, ob es eine gute Idee ist, dass Staaten DIE- oder ESG-Regeln erlassen.

    Sollen die Firmen lieber moralisch-politisch korrekt bleiben und sich vom amerikanischen Markt zurückziehen? Sollen sie nicht. Sie sollen dann aber auch keine Kampagnen gegen die AfD unterstützen. Und sich als moralische Saubermänner und Sauberfrauen gerieren im Auftrag der Rettung der Demokratie. Vieles spricht in der Tat dafür, dass die liberale Demokratie derzeit enorm gefährdet ist. Sie zu retten ist Sache der Zivilgesellschaft. Wollen wir wetten: Käme die AfD an die Macht, eine Vorstellung, bei der es einen schüttelt, die deutschen und internationalen Unternehmen wären die ersten, die sich in Ergebenheitsadressen an Alice Weidel übertreffen würden.

    Am Ende läuft es auf die viel gescholtene Friedman-Doktrin hinaus: The Social Responsibility of Business Is to Increase Its Profits. Es ist das Ziel eines Geschäfts, Geschäfte zu machen. Konzerne sind keine politischen oder moralischen Anstalten. Sie sollen nicht die Welt verbessern – oder anders gesagt: Sie sollen die Welt verbessern, indem sie den Menschen zu besseren Produkten und Dienstleistungen verhelfen. Das ist dem Kapitalismus nachweisbar brillant gelungen seit dem Boom der industriellen Revolution Anfang des 19. Jahrhunderts: Wir alle leben länger, leben gesünder, leben reicher.

    Rainer Hank

  • 07. April 2025
    Die Ordnung der Liebe

    Erfinder des »Ordo Amoris«: Augustinus von Hippo (354 bis 430) Foto Deutsches Buch- und Schriftmuseum

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum nicht alle Menschen zu Brüdern und Schwestern werden können

    Dass alle Menschen Brüder werden, ist bekanntlich die große Hoffnung Friedrich Schillers. In einer frühen Fassung der »Ode an die Freude« von 1785 wird die Idee allseitiger Verbrüderung sogar als Hoffnung auf eine klassenlose Gleichheit konkretisiert: »Bettler werden Fürstenbrüder.« Die Zeile durchweht der Geist der französischen Revolution, die von »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« träumt: Seid umschlungen Millionen.

    Dass alle Menschen Brüder werden, ist ein schöner Gedanke (auch wenn Brüder nicht immer in friedlicher Harmonie miteinander leben). Doch es ist eben auch ein illusorischer Gedanke. Schon Beethoven hatte Zweifel, ob die universale Verbrüderung möglich wäre, wie er im September 1795 in einem Brief an einen Freund schreibt, auf den mich der Kölner Staatsrechtler Otto Depenheuer aufmerksam macht: »Wann wird der Zeitpunkt kommen, wo es nur Menschen geben wird? Das werden wir nicht sehen, da werden wohl noch Jahrhunderte vorübergehen.«

    JD Vance, der vorlaute amerikanische Vizepräsident, wird den Brief Beethovens mutmaßlich nicht kennen. Aber auch er bezweifelt, dass die Utopie einer allseitigen Brüderlichkeit zur konkreten Maxime für die Flüchtlingspolitik werden könne. Seid umschlungen Millionen, davon haben sich die meisten Einwanderungsländer inzwischen verabschiedet. Doch nach welchen Kriterien sollen wir entscheiden, um wen wir uns vorrangig kümmern sollen?

    Als Gewährsmann nimmt JD Vance den Kirchenlehrer Augustinus (354 bis 430) in Anspruch, der sich für eine klare Rangordnung der Nächstenliebe ausgesprochen habe. »Du liebst deine Familie, dann liebst du deinen Nachbarn, dann liebst du deine Gemeinschaft, und dann liebst du deine Mitbürger in deinem eigenen Land.« Und erst dann könne man sich um den Rest der Welt kümmern. Das, so Vance, sei die augustinische Lehre einer »Ordnung der Liebe« (»ordo amoris«), die eben priorisiere, wer von den Nächsten einem näher und wer ferner sein solle. Der Heilige Augustinus, das muss man wissen, ist für Vance nicht irgendein Heiliger. Ihm verdankt er nach eigener Aussage die Motivation zur Konversion: von einer lockeren Zugehörigkeit zu einer evangelikalen Pfingstkirche zu einem strengen Katholizismus, den er allein deshalb bevorzugt, weil er »alt« ist und die ewigen Werte der Familie, der Moral und Tugendhaftigkeit hochhält. Es wird kein Zufall sein, dass auch Augustinus ein Konvertit war.

    Priorisierung bei knappen Ressourcen

    Die Idee des Ordo Amoris formuliert das Gebot der Nächstenliebe als ökonomische Theorie: Wenn die Ressourcen begrenzt sind – und Ressourcen sind immer knapp! – muss man priorisieren. Das ist im Gesundheitswesen nicht anders als in der Flüchtlingspolitik. Wir können nicht die ganze Welt retten. Und schon gar nicht gleichzeitig.

    Erwartbar fiel der Rest der Welt sogleich über JD Vance her. Nach dem Motto, alles was im Umkreis von Trump gesagt wird, kann nur Blödsinn sein. Doch JD Vance ist nicht blöd. Sieht man allerdings genauer hin, dann plädiert Augustinus zwar für eine Bevorzugung der Nahen in der Liebe. Aber für die enge Ideologie der Familie, wie sie im rechten amerikanischen Katholizismus vertreten wird, kann der Ordo Amoris nur mit Biegen und Kneten in Anspruch genommen werden. Deshalb noch einmal Augustinus wörtlich: »Alle Menschen sind in gleicher Weise zu lieben. Da man aber nicht für jedermann sorgen kann, so muss man vornehmlich für jene sorgen, die einem durch die Verhältnisse des Ortes, der Zeit oder irgendwelcher anderer Umstände gleichsam durch das Schicksal näher verbunden sind.«

    Gewiss ist man mit seiner Herkunftsfamilie durch das Schicksal besonders verbunden, was eine besondere Verpflichtung zur Sorge impliziert. Aber eben nicht nur. Andererseits verbietet es sich aus dieser Perspektive, Millionen Hilfsbedürftiger aus der Ferne in unsere Nähe einzuladen (»Pullfaktor«), um sie mit unserer Liebe zu umschlingen. Thomas von Aquin (1225 bis 1274), ein Kirchenlehrer des Mittelalters, hat den Ordo Amoris als Ordo Caritatis präzisiert (den Unterschied zwischen Amor und Caritas vernachlässigen wir hier). Natürlich müssten wir uns als Erstes um jene kümmern, die uns räumlich am nächsten seien. Das aber könne je nach den verschiedenen Erfordernissen der Zeit, des Ortes und der jeweiligen Angelegenheit variieren. »Denn«, so Thomas, »in bestimmten Fällen sollte man beispielsweise einem Fremden in äußerster Not eher helfen als dem eigenen Vater, wenn dieser nicht in einer so dringenden Not ist.«

    Auf diese Weise wird auch das Missverständnis korrigiert, der Auftrag, den Nächsten zu lieben, bedeute, alle Menschen zu lieben. Nicht jeder ist mein Nächster, würde Thomas sagen: Aber jeder kann mein Nächster werden. Oder noch einmal anders: Zwar gilt das Liebesgebot universal, was einen aber zugleich nicht von der Aufgabe entbindet, nach Präferenzregeln zu fragen, wer wem gegenüber primär beizustehen habe.

    Charity begins at home

    Der Ordo Amoris und die katholische Lehre der Subsidiarität weisen eine verblüffende Ähnlichkeit auf mit der Schule der sozialen Marktwirtschaft, die gerne auch Ordo-Liberalismus genannt wird. Insbesondere Wilhelm Röpke, ein viele Jahre in Genf lehrender protestantischer Wirtschaftswissenschaftler, vertrat die Auffassung, Nächstenliebe müsse zuhause beginnen: »Charity begins at home«. Kümmere Dich zuerst um die Dir Nahestehenden, bevor Du gleich die ganze Welt zu retten Dich anschickst. Oder in einem anderen Bild Röpkes: Wenn wir ein Haus bauen, beginnen wir auch nicht mit dem Dachstuhl, sondern mit den Fundamenten. Mit dieser Richtschnur offenbart der Ordoliberalismus zweifellos seine konservativen Wurzeln, gehört doch das Denken in Ordnungen in die aus christlicher Tradition sich speisende ständisch-konservative Tradition der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, in der die Gründer der Sozialen Marktwirtschaft ihre formative Phase hatten. Es geht ihnen um den Respekt vor der von Gott gesetzten Ordnung im Unterschied zu den von Menschen gemachten Normen. Hier angekommen sind die Unterschiede zwischen JD Vance und Wilhelm Röpke auf einmal gar nicht mehr so groß.

    Dafür, diese Nähe offenbart zu haben, müsste man JD Vance eigentlich dankbar sein, den es gewiss schütteln würde, würde man ihn einen Liberalen nennen. Macht man freilich Halt vor dem reaktionären Naturrecht, dann bleibt als positiver Ertrag des Denkens über den »Ordo Amoris« eine Präferenzethik der Nähe, die das fraglos vorhandene schlechte Gewissen entlasten kann, das uns angesichts des vielen Elends in der Welt regelmäßig befällt. Dieses schlechte Gewissen wird aber nur oberflächlich ruhig gestellt durch eine Gesinnungsethik des »Seid umschlungen Millionen«.

    Rainer Hank

  • 29. März 2025
    Streicht das Elterngeld

    Elternzeit für alle Foto planet-fox/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Der Sozialstaat ist nur gut, wenn er effizient ist

    Wie kommt es bloß, dass mir in diesen Tagen immer wieder Vorschläge von Ökonomen in den Sinn kommen, bei Wahlen der Volksvertreter (auch) das Los entscheiden zu lassen. Auf diese Weise könne korrigiert werden, dass Politiker vor der Wahl Versprechungen machen, die sie hinterher wieder kassieren – und die Falschen an die Macht kommen. Sowohl im alten Athen wie auch in Venedig bei der Wahl der Dogen hat man mit dem Zufallsentscheid als demokratischem Prinzip gute Erfahrungen gemacht.

    Okay, das wird sich jetzt nicht so schnell ändern lassen. Dass aber seit dem 23. Februar die Grünen für eine disziplinierte Haushaltspolitik kämpfen und damit fast wörtlich so argumentieren, wie die Union vor der Wahl, ist schon gewöhnungsbedürftig. Hätten die Bürger das geahnt, das Ergebnis für die Grünen wäre signifikant anders ausgefallen. An der Macht hätten freilich auch die Grünen das Füllhorn in die Hand genommen, während die Union in der Opposition so getönt hätte wie vor der Wahl.

    Egal ist es nicht, womit man anfängt bei der Reform des Staates: Ausgabenorgien oder harte Einschränkungen. Wer als Erstes 500 Milliarden Euro für Infrastruktur locker macht, hat sich damit eine Lizenz erteilt, den Sozialstaat weiter auszubauen, anstatt ihn effizienter zu gestalten. Merz I (vor der Wahl) hatte versprochen, erst zu reformieren, Einsparpotentiale zu identifizieren und erst danach – wenn nötig – Schulden zu erhöhen. Merz II (nach der Wahl) macht es exakt umgekehrt – mit dem Verweis auf das Erpressungspotential der SPD und mit dem sturen Ziel, auf alle Fälle Kanzler zu werden – whatever it takes. »Zeitenwende« wird übersetzt als Erlaubnis, fiskalpolitisch in die Vollen zu gehen. »Zeitenwende« soll keinem Bürger etwas abverlangen. Wehtun ist verboten.

    Kriterium für Einsparungen müsste sein: Wie zielführend und wie effizient ist die derzeitige Regelung? Effizienz vor Geld. Ich hätte da einen besonders unbeliebten Reformvorschlag: Schafft das Elterngeld ab! Die Idee kam vor ein paar Wochen vom Ifo-Chef Clemens Fuest, der das Elterngeld als »nice to have« bezeichnete, will sagen: kann wegfallen. Nachdem die Empörung überkochte, hat Fuest seinen Vorschlag nicht mehr oder nur noch schmallippig wiederholt – und sich merkwürdigerweise für die 500 Milliarden Infrastrukturschulden ausgesprochen, obwohl er die gar nicht gut findet.

    Nice to have

    Das Elterngeld ist nice to have. Mehr nicht. Es ist unverhältnismäßig teuer, erreicht die selbstgesetzten Ziele nicht, oder nur sehr unzureichend und privilegiert die Besserverdiener.

    Elterngeld gibt es seit 2007. Es ist eine Hinterlassenschaft von Ausgabenweltmeisterin Ursula von der Leyen, die einmal als Bundesfamilienministerin angefangen hat. Der Staat zahlt Müttern und Vätern zwischen 65 und 67 Prozent des Nettoeinkommens, mindestens 300 höchstens 1800 Euro für längstens 14 Monate. Das sind im besten Fall 25.200 Euro für die reicheren Familien – und summiert sich auf inzwischen acht Milliarden Euro jährlich im Bundeshaushalt (vor drei Jahren waren es noch sechs Milliarden). Das ist mit Abstand der größte Posten im Familienhaushalt, der sich insgesamt auf 12 Milliarden Euro beläuft.

    Für so viel Geld müsste die Gesellschaft eigentlich viel rausbekommen. Doch gefehlt. Völlig versagt die Leistung beim Ziel, die Geburtenrate zu erhöhen. Die lag 2007 bei 1,37 stieg dann tatsächlich bis auf 1,59 im Jahr 2017, ist aber inzwischen auf 1,35 zurückgefallen – somit 27 Jahre nach Einführung des Elterngelds »schlechter« als am Anfang. Über die Gründe der enttäuschenden Fertilität praktisch überall auf der Welt gibt es haufenweise Studien. Eines steht fest: Staatsgeld zeugt keine Kinder.

    Wenn das Elterngeld schon keine zusätzlichen Kinder gebracht hat, hat es dann zumindest mehr Frauen in Arbeit gebracht? Da ist das Ergebnis durchwachsen. 2003 lag der Anteil der Frauen an allen Erwerbstätigen bei 44,9 Prozent, inzwischen sind es 46,5 Prozent. Den größten Sprung machten allerdings Frauen zwischen 55 und 64 Jahren. Und es bleibt dabei: Frauen arbeiten mit oder ohne Elterngeld immer noch sehr häufig Teilzeit. Der Anteil der Vollzeitbeschäftigten hat sich seit es Elterngeld gibt gerade einmal um 0,3 Prozent verbessert. Nun kann man auch geringe Beschäftigungsverbesserungen dem Elterngeld zugute schreiben. Doch gäbe es haushaltsschonender viel effizientere Wege,
    dass mehr Frauen sich entscheiden zu arbeiten: Zum Beispiel die Abschaffung des Ehegattensplittings. Wetten wir, das Schwarz-Rot das Thema schweigend meidet?

    Dass das Elterngeld trotz fehlender »kausaler Evidenz« (Lars Feld) außerordentlich beliebt ist, wundert nicht, wird es doch inzwischen vielfach als eine Art staatliches Grundgehalt für geleistete Care-Arbeit angesehen. Eine Art Lohn für gut ausgebildete Mütter und Väter, die bereit sind, ihren Beitrag zur Steigerung gesellschaftlicher Produktivität zu leisten. Lässt man sich auf diese Logik ein, muss man zwingend für eine Erhöhung der Leistungen optieren. 1800 Euro auf 18 Stunden Kinderbetreuung an 30 Tagen gibt einen Stundenlohn von 3 Euro 33. »Viel zu wenig«, tönt es aus der von Jutta Allmendinger angeführten IG Väter und Mütter. Das zeigt: Die Einführung und Verstetigung neuer familienpolitischer Leistungen führt einen Kulturwandel herbei, der die Staatsbedürftigkeit von Besserverdienern als völlig natürlich und legitim erachtet.

    Vom Aufstieg und Niedergang der Nationen

    Wenn – leider Gottes – die Verteidigungsausgaben dauerhaft dramatisch erhöht werden müssen und wenn zugleich ein bleibend großer Bedarf an Investitionen in die Infrastruktur gegeben ist, führt kein Weg an sozial- und familienpolitischen Einschränkungen vorbei, um den Weg in den Pleitestaat zu stoppen. Das Reizthema Elterngeld ist nur ein Beispiel. Ich habe in einer vorigen Kolumne in Anlehnung an Vorschläge des Sachverständigenrats dafür plädiert, die Renten von der Lohnentwicklung zu entkoppeln und lediglich die Inflation auszugleichen. Das ergäbe in allen Jahren mit Reallohnverbesserungen deutliche Einsparmöglichkeiten bei den Staatszuschüssen zur Rentenkasse. Es gibt erst recht angesichts demographischer Kalamitäten kein gutes Argument dafür, den sich in Lohnerhöhungen spiegelnden Produktivitätsfortschritt an die nicht mehr Arbeitenden umzuverteilen – wohl wissend, dass dies eine Rücknahme der Dynamisierung der Renten wäre, dem Wirtschaftswunderstolz der Adenauerjahre.

    Politiker aller Parteien versprechen vor der Wahl mit markigen Worten deutliche Reformen. Dass die Versprechen eingelöst werden, verhindern die Lobbys der Rentner- und der Elterngewerkschaften. Den Rest der Blockade übernehmen der vielen anderen Subventionsempfänger. »Vom Aufstieg und Niedergang der Nationen« heißt ein 1982 erschienenes Buch des Ökonomen Mancur Olson. Darin steht, wie es weitergeht.

    Zum Elterngeld (»Luxus oder unverzichtbar?«) gibt eine kontroverse Diskussion zwischen der FAZ-Redakteurin Johanna Dürrholz und mir beim FAZ-Podcast für Deutschland.

    Rainer Hank

  • 17. März 2025
    Der Kündigungsagent

    Genug gearbeitet Foto National Archief

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum man nicht immer authentisch sein braucht

    In Japan gibt es spezielle Agenturen, die Angestellten die Kündigung bei ihrem Arbeitgeber abnehmen. Darüber habe ich kürzlich in der Financial Times gelesen. Japaner gehen nicht zu ihrem Boss und sagen: »Hiermit kündige ich« oder verfassen ein Schreiben an die Personalabteilung, in dem sie mitteilen, zum nächstmöglichen Zeitpunkt das Unternehmen verlassen zu wollen. Sondern sie mandatieren einen Dienstleister, der für sie den gesamten Prozess abwickelt: Ausschließlich die vertretende Agentur kommuniziert mit dem Arbeitgeber, regelt die arbeitsrechtlichen Dinge, den Zeitpunkt des Ausscheidens und klärt, wann das Diensthandy und der Dienstwagen zurückgegeben wird. Das machen die natürlich nicht umsonst. Der Service kostet im günstigen Fall umgerechnet 150 Euro pro Kündigung.

    Nun könnte man sagen: Andere Länder, andere Sitten. Oder man könnte mit der Theorie der Arbeitsteilung argumentieren: Wenn es Headhunter gibt, die einem einen Job vermitteln, darf es auch Spezialisten geben, die einem dabei helfen, den Job wieder loszuwerden. Doch das Verhalten bleibt – aus dem fernen Westen betrachtet – kurios und irrational. Warum geben Leute in Japan Geld für eine Dienstleistung aus, eine Formalie, die sie ohne zusätzliche Kosten selbst übernehmen könnten? In Europa oder USA kommt, soviel ich weiß, niemand auf die Idee, sich einen Kündigungsagenten zu nehmen.

    Tatsächlich ist eine Kündigung eben nicht »kostenlos«. Jedenfalls ist das in Japan so, wo andere kulturelle Normen gelten. Erwartet wird – oder wurde jedenfalls lange Zeit -, dass man möglichst ein Leben lang treu beim selben Arbeitgeber bleibt, diesem dafür dankbar ist und klaglos bis in die Nacht hinein schuftet. Wer kündigt, fühlt sich schuldig. Und fürchtet, er könnte den Konflikt der Trennung allein nicht durchhalten. Sein Boss könnte ihn womöglich überreden, zumindest noch bis zum Ende des laufenden Projekts zu bleiben, um die Kollegen nicht im Stich zu lassen. Oder, schlimmer noch, der Vorgesetzte könnte die Gründe für die Kündigung erfragen – und dann müsste der Untergebene ihm ehrlich ins Gesicht sagen, dass er sich nicht gut behandelt fühlt. So eine Blöße will niemand sich geben, die dem Höhergestellten einen Gesichtsverlust zumutet.

    Die Kosten der Kommunikation

    »Zu kommunizieren hat für Japaner hohe Kosten«, erklärt Daisuke Kanama, ein Ökonomieprofessor, der ein Buch über die »leise kündigende Jugend« Japans geschrieben hat. Im Vergleich mit den Kommunikationskosten der Kündigung sind 150 Euro Delegationsgebühren zur Vermeidung dieser Gewissensqual günstig. Man zahlt für die Vermeidung von Kommunikation und Konfrontation. Und entledigt sich des Risikos, mit moralischen Appellen oder persönlich bedrängender Kritik zur Revision seiner Absicht genötigt zu werden. Im Lichte dieser Gewissensüberlegungen wird die Entstehung eines Marktes von Kündigungsagenturen plötzlich eine rationale Angelegenheit. Auch wenn diese Agenturen sich derzeit noch in einer rechtlichen Grauzone bewegen, wie die Financial Times schreibt.

    Unter der Perspektive rationaler Kosten-Nutzen-Erwägungen scheint mir das Verhalten der Japaner plötzlich gar nicht mehr so fernöstlich kurios zu sein, wie es auf den ersten Blick daherkommt. Im Westen profitieren Unternehmensberatungen wie McKinsey & Co. seit vielen Jahrzehnten vom menschlich verständlichen Wunsch der Vermeidung direkter Kommunikations- und Konfrontationskosten. Ist es nicht einfacher, der Belegschaft und den Gewerkschaften zu sagen, der Berater habe dringend empfohlen, die Zahl der Mitarbeiter um zehn Prozent zu reduzieren, um international konkurrenzfähig zu bleiben? Der Vorstand ist fein raus, nach dem Motto: Da kann man nichts machen.

    Im Preis der Dienstleister ist quasi ein Aufschlag für die Rolle des »Bad Guy« oder wahlweise des »Sündenbocks« enthalten. Unpopuläre Entscheidungen werden externalisiert. In der betriebswirtschaftlichen Literatur ist der Mechanismus längst untersucht. »Moral Licencing« heißt der Prozess, durch den sich Vorstände reinwaschen können, wenn sie externe Berater hinzuziehen. Von den Externen gibt es nicht nur nüchterne Analysen, sondern auch Narrative, die die Rationalisierung als »alternativlos« darstellen.

    Das Problem ist nur, dass »Moral Licencing« kein Zaubermittel ist. Die Mitarbeiter merken die Absicht und reagieren verstimmt. Da geben die Chefs viel Geld aus für das Ziel, Geld zu sparen. Das sieht zumindest vordergründig paradox aus, weil es nicht leicht fällt nachzuweisen, dass sich die für Beratung ausgegebene Summe in künftigen Bilanzen rechnen wird.

    Institutionen entlasten

    Externalisierer leben mit dem moralischen Makel der Verlogenheit, zumindest der absichtsvollen Unaufrichtigkeit. Dahinter verbirgt sich ein philosophischer Grundsatzstreit. Das Pathos der Aufklärung verlangt Ehrlichkeit und Direktheit der Kommunikation. »Sei authentisch!«, so geht der moralische Imperativ. Gegen diese Authentizitätszumutung gibt es eine lange Tradition in der sogenannten philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts, die mit den Namen Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen verbunden ist. Diese Denker vertreten die Auffassung, der Mensch sei ein »Mängelwesen«, weil ihm die angeborenen Instinkte abgehen, mit denen sich die Tiere durch das Leben bewegen. Doch gerade diese Schwäche haben die Menschen zu einer Stärke umgewidmet. Sie können den Mangel kompensieren, indem sie sich Institutionen zimmern, die das scheinbar instinktreduzierte Unvermögen ausgleichen. Kultur, Technik – und vor allem die Institutionen des Marktes wären so gesehen hilfreiche Krücken, eine Errungenschaft menschlicher Fortschrittsgeschichte.

    Scheler, Plessner, Gehlen gelten als »konservativ«. So habe ich es in den siebziger Jahren an der Universität gelernt. »Progressiv« dagegen waren die Helden der kritischen Theorie Adorno, Horkheimer und deren Nachfolger. Doch was heißt schon konservativ und progressiv? Die Klischees verschwimmen rasch, so kann man es in einem gerade bei Klett-Cotta erschienenen Buch von Thomas Wagner über »Die großen Jahre der Soziologie« nach 1945 nachlesen, in dem Gehlen und Adorno als Protagonisten auftreten. Der Vorwurf der Unaufrichtigkeit allemal billig.

    Zurück nach Japan. Es scheint mir nicht nur mehr als verständlich zu sein, dass die Japaner sich die Gewissensbisse verursachenden Qualen einer Kündigung ersparen wollen und dafür Geld zu zahlen bereit sind. Es ist zudem eine wunderbare Leistung des Marktes, dass für dieses Bedürfnis auch ein Angebot entsteht und Dienstleister diese Arbeit übernehmen. Und am Ende kann man dabei zugucken, wie gesellschaftliche Evolution funktioniert: Die starre Kultur lebenslanger Beschäftigung in einem Unternehmen mit unzumutbar aufopfernden Loyalitätszumutungen wird sich lockern. Ein Gewinn an Freiheit für die Menschen.

    Rainer Hank

  • 17. März 2025
    Hart arbeiten, früh aufstehen

    Gold im Mund? Foto Christoph Schütz/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum eigentlich haben Morgenstunden Gold im Mund?

    In einem der vielen Quadrelle vor der Wahl traf die BSW-Vorsitzende Sahra Wagenknecht auf Dorothee Bär, stellevertretende Vorsitzende der CSU. Es ging um das Bürgergeld. Einig waren sich die beiden Politikerinnen, dass sich für Menschen, »die hart arbeiten und früh aufstehen«, ihr Einsatz finanziell lohnen müsse. Und dass es die hart arbeitenden und früh aufstehenden Menschen empöre, wenn andere sich im Bürgergeld einrichten – ohne zu arbeiten.

    Das Argument ist geläufig und einleuchtend. Werden Anreize zu arbeiten durch üppige Angebote staatlicher Unterstützung (Bürgergeld, garantiertes Grundeinkommen) unterlaufen, bekommen wir ein Gerechtigkeitsproblem. Und ein ökonomisches obendrein, weil die Deutschen derzeit zu wenige Wochenstunden und Lebensjahre arbeiten – ein Grund für die anhaltende Wachstumsschwäche des Standorts.

    Aber müssen wir dafür unbedingt früh aufstehen? Ist etwa die Arbeit eines Spätaufstehers weniger wert als der Einsatz des Frühaufstehers? Sind Arbeitsethos und Produktivität ans Frühaufstehen gebunden? Arbeiten die Südeuropäer, die bekanntlich später anfangen, weniger hart als wir Mitteleuropäer? Ihre Wirtschaft wächst derzeit schneller als die unsrige. Haben die Menschen in der DDR, die häufig schon um 6 oder 7 Uhr auf der Arbeit waren, mehr Wohlstand geschaffen als ihre bundesrepublikanischen Nachbarn, die später anfingen? Dann müssten wir etwas verpasst haben.

    Klar, der Frühaufsteher ist eine feste Redewendung. Morgenstund› hat Gold im Mund und der frühe Vogel frisst den Wurm. Aber warum eigentlich? Der Langschläfer gilt als faul, wenig produktiv, wenig leistungsmotiviert. Wer rastet, der rostet.

    Gräbt man nach den historischen Wurzeln stößt man auf Preußens Tugenden der Disziplin, Ordnung und Pünktlichkeit. Soldaten, Beamte und Arbeiter wurden getrimmt, früh aufzustehen und den Tag strukturiert zu beginnen. Die Industriearbeiter des 19. Jahrhunderts mussten lernen, sich dem Takt der Maschine anzupassen. Das Fließband im Dreischichtbetrieb schläft nie. Nur die Aristokratie kam spät zum Frühstück; wie das ausging wissen wir seit der Französischen Revolution.

    Zeit ist Geld

    Der prominenteste Frühaufsteher-Versteher ist Max Weber. In seiner »Protestantischen Ethik« kommt er auf den Rat eines alten Geschäftsmannes an einen jungen Kollegen zu sprechen. Der beginnt mit dem Urwort des Kapitalismus »Zeit ist Geld«. Der Langschläfer bringt es zu nichts, soll das heißen. Vernimmt der Gläubiger morgens um Fünf nicht den Hammerschlag des Handwerkers, wird er nervös: Denn er muss muss befürchten, der Schuldner werde seinen Kredit nicht bedienen können.

    Fleiß, Disziplin und Askese, all das, was uns nach Max Weber reich werden ließ, hat offenbar einen Zeitindex. Richard Baxter (1615 bis 1691), ein protestantischer Pfarrer und puritanischer Erbauungsschriftsteller aus England, hatte eine theologische Begründung parat, warum Zeitverschwendung die erste und schwerste aller Sünden sei. Die Zeitspanne des Lebens sei unendlich kurz und kostbar, um die eigene Berufung zu entfalten. Zeitverlust durch Geselligkeit, faules Gerede, Luxus, selbst länger als für die Gesundheit nötig zu schlafen (6 bis 8 Stunden immerhin waren erlaubt) seien »sittlich absolut verwerflich«, so der Pfarrer.

    Das mündet bei Baxter in das Bonmot, man müsse früh aufstehen und früh zu Bett gehen: »Early to bed and early to rise makes a man healthy and wise«. In einer Zeit, der das christliche Sündenbewusstsein verloren gegangen ist, stellt die Verführbarkeit von üppiger staatlicher Alimentierung eine große Gefahr dar. Das ist es, was Bär und Wagenknecht eint. Eingeräumt wird unausgesprochen, dass die Motivation, früh am Morgen schon Leistung erbringen zu müssen, nicht selbstverständlich ist und deshalb nicht durch negative Anreize gefährdet werden darf. Anfällig dafür ist nicht nur der Morgenmuffel.

    Ich vermute – ohne besondere Empirie vorweisen zu können -, dass die Anzahl der Menschen, die Mühe haben, morgens aus dem Bett zu kommen, größer ist als die Zahl jener, die morgens munter auf der Matte stehen. Es wundert nicht, dass gegen den asketischen Imperativ der frühen und harten Arbeit, früh schon sich Widerstand regte. Da sind zunächst jene Leistungstotalverweigerer, die gar nicht aufstehen. Ihr Held ist der Grieche Diogenes in seiner Tonne, dem der großen Alexander – mit Sicherheit ein Frühaufsteher – einen Gefallen tun möchte: »Geh mir aus der Sonne«, so die subversive Antwort des Diogenes. Dies begründete eine Ethik der Faulheit (vornehm Muße genannt), die sich von theologischen Verdammungsurteilen, eine Todsünde zu begehen, nicht einschüchtern ließ. In diese Tradition gehören Figuren wie der lebensuntüchtige Oblomow, Gontscharows Held, der lieber seine Tagträume pflegte als früh zur Arbeit aufzubrechen.

    Tags schlafen, nachts arbeiten

    Die weniger radikale Spezies der Morgenverächter will ich Partialverweigerer nennen. Sie arbeiten zwar, bestreiten aber, dass Morgenstund Gold im Mund habe. So eine Haltung muss man sich leisten können, weswegen sie – abermals ohne Empirie behauptet – unter Intellektuellen und Universitätsprofessoren verbreiteter ist als bei den Facharbeitern am Band von Mercedes. Zu Meisterschaft brachte es der Philosoph Hans Blumenberg, der prinzipiell nur des Nachts schrieb mit der plausiblen Begründung, da werde er nicht von lästigen Telefonanrufen gestört. Der Historiker Heinrich August Winkler, so erzählt man sich, macht nie Termine vor 12 Uhr mittags, weil er die Nacht durcharbeitet. Hat es seinem Output geschadet? Eher nicht, wenn ich auf die dicken Bände über »Deutschlands Gang in den Westen« schaue, die in meinem Bücherregal stehen.

    So wurde dann auch der puritanische Spruch, man solle früh zu Bett zu gehen und früh aufstehen, früh als mörderisch verballhornt: Early to rise and early to bed makes a man healthy, wealthy and dead. Als ich jüngst an einem Werktag mitten in einer Sitzungswoche in Berlins Politpromicafé Einstein um acht Uhr morgens zum Frühstück kam, blieb ich mehr als eine halbe Stunde lang der einzige Gast.

    Soll man daraus schließen, Politiker seien faul? Keinesfalls. Sie beherzigen lediglich eine andere Verballhornung des puritanischen Imperativs, die sich zwar nicht reimt, aber ebenfalls wahr ist: »Early to bed and early to rise and you never meet any prominent people«. Diese Abwandlung stammt von dem amerikanischen Schriftsteller Carl Sandburg und macht aufmerksam, dass es für erfolgreiche Networker der Politik keinen Feierabend geben kann. Die Politiker müssen dann eben morgens ihren Schlaf nachholen, was ein Fehler sein mag: Denn die Lobbyisten Berlins schlafen nicht und spinnen auch schon morgens ihre Intrigen.

    Rainer Hank