Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 18. Mai 2019
    Volksrepublik Deutschland

    Ich sage nur: China, China, China (Kurt Georg Kiesinger).

    Dieser Artikel in der FAZ

    China zu imitieren ist kein Zeichen von Stärke, Herr Altmaier!

    »Ist die DDR noch zu retten« war die Titelgeschichte des »Spiegel« am 6. November 1989 überschrieben. Die Frage hatte sich drei Tage später von selbst erledigt: Am 9. November brach die DDR zusammen.

    Im gleichen Spiegel-Heft vom 6. November 1989, mit gelber Banderole auf der Titelseite beworben, findet sich der Auftakt zu einer dreiteiligen Angstmacher-Serie mit der Überschrift »Japan gegen den Rest der Welt«. Auch diese Geschichte sollte ein historischer Rohrkrepierer werden: Wenige Monate danach erlebte Japan den Kollaps der Aktien- und Immobilienpreise, gefolgt von den »verlorenen zwei Dekaden« aus Depression und Deflation. Schlagartig war die »japanische Bedrohung« aus den Titelgeschichten westlicher Magazine verschwunden. Weil das alles lange her ist, lässt sich aber mit Asien-Geschichten immer noch den Leuten Angst machen: Man muss heute bloß Japan durch China ersetzen. Politiker, die selbst keine Erinnerung haben, schaffen es, ihr industriepolitisches Süppchen aus diesen Ängsten zu kochen. Nennen wir das Phänomen die »Altmaier-Amnesie«, eine schwere Form wirtschaftshistorischer Gedächtnisstörung.

    Alles schon mal dagewesen

    Werfen wir einen kurzen Blick auf den Spiegel-Dreiteiler über die japanische Gefahr. Er spiegelt die damalige Stimmung präzise. Die westliche Welt werde durch eine »wahre Flut japanischer Exportprodukte« überschwemmt, heißt es da, illustriert mit der Zeichnung einer von Japanern gefütterten Kanone, aus deren Lauf der wehrlose Westen mit billigen Computern, Kassettenrekordern und Autos beschossen wird. Mit Milliarden Dollar kaufe Japan die ganze Welt auf. Als Symbol dafür galt die Übernahme des Tiffany-Buildings an der New Yorker Fifth Avenue oder des Rockefeller Centers durch Mitsubishi. Ziel Nippons sei die »Deindustrialisierung« des Westens. Diesen »Herrschaftsdrang, der die fernöstlichen Geschäftsleute in aller Welt zu gefürchteten Eindringlingen werden« lasse, müsse den Westen ängstigen: »Leichen pflastern den Weg zum Sieg, niederkonkurrierte Unternehmen und ruinierte Branchen in den industrialisierten Altländern, Hundertausende, die sich nach neuen Jobs umgucken müssen, am Ende werden wir alle für die Japaner arbeiten«. Die bellizistische Metaphorik lässt keine Wünsche offen. Am Ende heißt es über den Wirtschaftskonflikt zwischen Japan und dem Rest der industrialisierten Welt: »Der Krieg findet längst statt!«

    Welchen Rat hatten die Krieger des Westens damals parat? »Von Japan lernen, heißt siegen lernen!«, hieß die Devise, deren deutscher Promotor der CDU-Politiker Lothar (»Cleverle«) Späth war. Am Band von Daimler, Opel & Co. wurde nun hektisch Gruppenarbeit eingeführt. Die Fertigungsmethoden bekamen japanische Überschriften: »Kaizen« bedeutete das Streben nach kontinuierlicher Verbesserung der industriellen Fertigung. Wichtigstes Ziel des »Kaizen« war die »Nullfehlerstrategie«, mit der die deutschen Arbeiter am Band gehörig eingeschüchtert wurden. Vorbild für alle Politiker wurde das japanische »Ministry of International Trade and Industry«, kurz Miti, ein bürokratisches Monstrum mit 12000 Beamten, das dem Westen als erfolgreicher »Dirigent des japanischen Konzernorchesters« erschien. Den wirtschaftlichen Erfolg der »Japan AG« erklärte man nicht einfach als normalen Aufholprozess nach den Zerstörungen des Krieges, sondern als politisch gesteuerte, welterobernde Strategie einer »neuen Industriepolitik«, in der die Märkte politisch gelenkt werden müssten: »Die japanische Wirtschaft versteht sich als Teil der vom Kaiser geführten japanischen Großfamilie.«

    Mit Marktwirtschaft hat Altmaier nichts am Hut

    Es reicht, in den Texten von damals »Japan« durch »China« zu ersetzten und aus dem »Kaiser« die kommunistische »Partei« zu machen, um die Wiederholungsfalle sinnfällig werden zu lassen. Peter Altmaier fungiert als Inkarnation von Lothar Späth: Ein technokratischer Wirtschaftskrieger. Dem Programm »Made in China 2025«, das mit 20 Milliarden Euro Förderung 40 Innovationszentren in den 23 Provinzen Chinas eröffnet, will Altmaier eine »Nationale Industriestrategie 2030« entgegenstellen. Als eine Art neues »Mini-Miti« installiert Altmaier sein Ministerium, das »nationale Champions« in Deutschland ausspäht, »um schwere Nachteile für die deutsche Volkswirtschaft und das gesamtstaatliche Wohl zu vermeiden«. Das einzelne Unternehmen habe lediglich sein eigenes Fortkommen im Blick, nicht das des gesamten Landes, sagt Altmaier. Für letzteres – die globalen Kräfte- und Wohlstandsverschiebungen auszugleichen – ist Minister Altmaier selbst zuständig, gleichsam der menschgewordene objektive Geist nationaler Wirtschaftspflege.

    Altmaiers neue Industriepolitik gibt sich kämpferisch, ist in Wirklichkeit aber ein Zeugnis des Kleinmuts. Es ist das Gegenteil von Marktwirtschaft, nämlich staatlich gelenkte Politik, die meint, China imitieren zu sollen: Maoismus light. Altmaier gibt den deutschen Industrieunternehmen eine Bestandsgarantie. Siemens & Co. dürfen es sich bequem machen. Zugleich lässt er aus Deutscher Bank und Commerzbank einen »nationalen Champion« klonen. Hätte nicht schon aus Commerzbank und Dresdner Bank vor Jahre mit Staatsgeld ein nationaler Champion werden sollen? Selbst vor Verstaatlichung schreckt der Wirtschaftsminister nicht zurück. Eine »nationale Beteiligungsfazilität«, also ein deutscher Staatsfonds, soll den »Ausverkauf« nationaler Wirtschaft verhindern. Willkommen in der Volksrepublik Deutschland!

    Hidden Champions sind besser als National Champions

    »China imitieren zu wollen, zeugt nicht von Stärke«, sagt der China-Experte Horst Löchel, ein deutscher Volkswirtschaftsprofessor: Was Altmaier vorhat bezeichnet er als Rückfall in eine nationalzentrierte Abschottungspolitik, die unserem Wohlstand schadet und nicht nützt. Kaum ein anderes Land hat in den letzten Jahrzehnten wirtschaftlich so sehr von China profitiert wie Deutschland. Verantwortlich dafür sind nicht politisch geklonte »national Champions«, sondern die vielen »hidden Champions« etwa im Maschinenbau, deren Stärke aus technologischer Kreativität und Wettbewerbsbiss resultiert. Wenn chinesische Unternehmen in Deutschland investieren, dann stärken sie den Standort. Altmaier sollte sie nicht in die Flucht jagen, sondern persönlich begrüßen (»Willkommenskultur«). Alles andere ist Protektionismus am Rande des Imperialismus.
    Am 10. Juni 1985 gab es in der FAZ ein Leitartikel zur »neuen Industriepolitik« verfasst von Gerhard Fels, dem damaligen Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft und langjährigen Mitglied des Sachverständigenrats. Staatliche Instanzen seien überfordert, wenn sie künftige Gewinner im Wettbewerb herauspicken wollten, schreibt Fels. Das konserviere bloß alte Strukturen und verhindere Innovation und den Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft. Fels schließt: »Die Marktwirtschaft ist deshalb so robust, weil sie die Fähigkeit zur Selbstkorrektur besitzt. Krisen hat es immer gegeben. Früher oder später folgt daraus regelmäßig ein neuer Aufschwung.« Solche Sätze eignen sich prima als Arznei gegen die Altmaier-Aphasie. Nicht vor Chinas Stärke müssen wir Angst haben, sondern vor seiner Schwäche. Angst haben müssen wir auch vor der neuen deutschen Industriepolitik: Sie ist die eigentliche Gefahr für unseren Wohlstand.

    Rainer Hank

  • 18. Mai 2019
    Nichts gegen die schwäbische Hausfrau!

    Die Schwäbische Hausfrau, immer sparsam und arbeitsfreudig

    Dieser Artikel in der FAZ

    Sie weiß: Schulden machen ist eine gefährliche Sache

    Jetzt geht es der schwäbischen Hausfrau an den Kragen. Sie wenigsten hatte – obzwar längst nicht mehr real existierend – in der Fiskalpolitik als Inbegriff der Tugendhaftigkeit bis zuletzt ihren Stammplatz verteidigt. Berühmt wurde der Satz einer Pflaumenkuchen backenden Uckermärkerin: »Man muss einfach die schwäbische Hausfrau fragen. Sie kennt die Lebensweisheit: Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben.«
    Also sprach die deutsche Kanzlerin und ihr Wort sollte grundgesetzlich wahr werden: Als sogenannte Schuldenbremse. Seit einigen Jahren gibt der Staat nur aus, was er vorher über die Steuern seiner Bürger eingenommen hat. Gleichzeitig schrumpfte die Schuldenquote von einstmals über 80 auf inzwischen nur noch knapp 60 Prozent der Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt), ein Wert, der bekanntlich die Maastricht-Obergrenze bildet, aber von kaum einem Euroland eingehalten wird. Absolut gesehen sind das immer noch 1,9 Billionen Euro, mit denen die Deutschen bei ihren Gläubigern in der Kreide stehen. Getrost darf sich der Respekt vor der Tugendhaftigkeit deutscher Politiker in Grenzen halten: Angesichts staatlicher Rekordeinnahmen, die auf dem wirtschaftlichen Erfolg deutscher Steuerbürger fußen, ist Sparsamkeit keine große Kunst. Und angesichts niedriger Zinsen bei ordentlichem Wachstum schrumpft die Schuldenquote auch ohne Tugendanstrengung ganz von alleine.

    Solch komfortable Situationen machen übermütig. Und drohende Konjunkturschwächen machen zugleich erfinderisch. Kein Wunder, dass seit einigen Wochen durchaus vernünftige Ökonomen uns weismachen wollen, Schulden seien besser als ihr Ruf. Mehr noch: Sie sagen, in Wirklichkeit seien nicht die Schulden gefährlich, sondern die Schuldenbremse. Die Zwangsdisziplin der öffentlichen Finanzen verhindere nämlich, dass der Staat ordentlich investiere – in Schulen, Brücken und den flächendeckenden Ausbau des 5G-Netzes bis an jede Milchkanne. Wenn die Angst vor den Funklöchern nicht hilft, dann fruchtet am Ende garantiert die Drohung mit China: Dort gebe es einen zentral planenden Staat, der mit Milliardenausgaben nicht kleckert, sondern klotzt, während hierzulande die schwäbischen Hausfrauen in den Finanzministerien keinen Cent rausrücken. Politiker hören so etwas gerne: Ein Leben auf Pump als Kompensation schrumpfender Steuereinnahmen macht ihnen gute Laune – das Ganze abgesegnet von gut beleumundeten Makroökonomen einer jungen Generation, denen Staatsskepsis als altmodisch gilt. Lange haben sich Politiker über nörgelnde Volkswirte geärgert; die neue Generation der Makros unterstellt ihnen nur Gutes.

    Gefährlich neue ökonomische Theorien

    Und die schwäbische Hausfrau? Die habe ausgedient, sagen die neuen Ökonomen. Denn wir sehen ja: die Schulden verschwinden fast von alleine, ohne dass den Bürgern eine Rechnung des Finanzministers ins Haus geflattert wäre. Das soll heißen: Das alte fiskalpolitische Dogma, wonach die Schulden von heute die Steuern von morgen sind, hat seine Gültigkeit verloren. Werft das Geld mit Freude raus, um die Rückzahlung kümmert sich das Wirtschaftswachstum und die Geldpolitik, die die Zinsen niedrig hält. Hilfsweise wurde dazu eine schicke Theorie erfunden, die sich »Moderne Geldtheorie« nennt (»Modern Monetary Theorie« oder kurz MMT), deren Lehre – leicht überspitzt – heißt: Wozu braucht der Staat Steuern, wenn er ihm gewogene Notenbanken hat, die ihn finanzieren, indem sie seine Staatsanleihen kaufen und Schuldenkrisen von vornherein verhindern. Was zur Rettung des Euro funktioniert hat (genannt »Quantitative Easing«, kurz QE) soll zum Normalfall werden. Früher hätte man gesagt, eine expansive Geldpolitik im Dienste der Fiskalpolitik führe zur Inflation der Güter-, Aktien- oder Immobilienpreise. Solche Einwände dienen heute allenfalls noch pflichtschuldig als Zitat, um sich dann wieder in der schönen neuen Welt des staatlichen Geldausgebens zu vergnügen.

    Also alles prima im neuen Schuldenland? Ich bleibe skeptisch und altmodisch. Gewiss, Schulden sind nicht per se von Übel. Wenn die schwäbische Hausfrau nebenbei als Unternehmerin arbeitet, dann wird sie ihre Investitionen mit Krediten finanzieren: das spornt sie an, Gewinne zu machen, mit denen sie die Schulden tilgen kann und trotzdem am Ende noch etwas übrig hat. Der Staat aber hat keinen Ansporn zur Schuldentilgung – es sei denn, die Verfassung verpflichtet ihn dazu. So sympathisch die Rebellion der neuen Ökonomen daherkommt – das Plädoyer für den staatlichen Pumpkapitalismus ist politisch, psychologisch und historisch naiv. Und auch ein bisschen gefährlich.
    Beginnen wir mit dem politökonomischen Einwand: Misstraut den Politikern, wenn sie mit Verweis auf das Gemeinwohl oder für spätere Generationen sich lohnende Investitionen Geld ausgeben, das ihnen nicht gehört! Staatsskepsis bleibt auch heute ein guter Rat. Der Staat ist nicht willensschwach, er handelt sogar rational – und genau das ist gefährlich: Wenn er vorgibt, Gutes zu tun, will er dafür mit Wählerstimmen belohnt werden. Ob die Zinsen immer so niedrig bleiben wie heute, das ist weder gewiss, noch wünschenswert: Die Sparer jedenfalls sind alles andere als angetan, wenn der Staat sie weiterhin kurz hält, um sich selbst schmerzfrei zu entschulden und seine Ausgabenwünsche zu befriedigen. Lieber als mit den neuen Makroökonomen halte ich es mit dem Aufklärungsphilosophen David Hume, in dessen Essay »Über Staatskredit« zu lesen ist: »Für einen Minister ist es verführerisch, die Staatsschulden zu nutzen, um den großen Mann zu spielen, ohne das Volk mit Steuern zu überladen oder eine sofortige Unzufriedenheit gegen sich zu erregen. Die Praxis des Schuldenmachens wird fast unfehlbar von jeder Regierung missbraucht.« Daran hat sich bis heute nichts geändert.

    Schulden beschädigen Schuldner und Gläubiger

    Der psychologische Einwand gibt zu bedenken, dass Schuldner-Gläubiger-Verhältnisse in schlechte Abhängigkeit führen und den Charakter beider beschädigen. Der Schuldner entledigt sich der Verantwortung für seine Ausgabenwünsche und begibt sich in die Hände des Gläubigers. Geber und Nehmer begegnen sich nicht mehr auf Augenhöhe. Der Max-Planck-Ökonom Kai Konrad forscht seit langem über solche destruktiven Schuldverhältnisse und verweist als Beispiel auf den Konflikt zwischen West und Ost in Deutschland: Der Schuldner (Ost) sieht sich als »Opfer« der Gläubiger (West), die ihrerseits ihn bloß als »Nutznießer« seiner Kredite wahrnehmen. Langfristig tut das niemand gut, nährt Ressentiment und linken wie rechten Populismus. Das schließlich führt zum historischen Einwand: Wer sich als Staat zu hoch verschuldet und die Zahllast auf andere abwälzt, kann es sich in der Schuldenfalle bequem machen und sich am Ende von den Gläubigern »retten« lassen. Das nennen die Gläubiger »Erpressung«, die Schuldner schimpfen über »Austerität«. Allemal sind die Beziehungen auf lange Zeit zerrüttet. Austeritätsregime gehen in der Geschichte stets Hand in Hand mit politischer Instabilität. Zum Beweis genügt ein Blick nach Italien.

    Was soll ich sagen: Nicht nur aus Heimatliebe bleibe ich ein Freund der schwäbischen Hausfrau. Wir sollten ihre Tugendhaftigkeit bewundern und sie nicht aus einer makroökonomischen Laune heraus aufs Altenteil schicken.

    Rainer Hank

  • 16. Mai 2019
    Wir Opfer

    Auch schon alter weißer Mann?

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ohnmacht macht das Leben leicht

    Demnächst beginnen die Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Mauerfalls. Als eine Art Auftakt hat Alt-Bundespräsident Joachim Gauck jetzt die neuen Bundesländer bereist (darf man sie wirklich heute noch »neu« nennen?). Darüber gibt es einen sehenswerten Film von Stephan Lamby, der am kommenden Dienstag, 9. April, im ZDF läuft. Erschütternd ist eine Unterhaltung Gaucks mit Frauke Petry, jener Frau, die es mit Durchsetzungswillen und Skrupellosigkeit an die Spitze der AfD geschafft hat. Petry versteigt sich zu der Behauptung, wie damals in der DDR sei auch heute das Volk der politischen Elite ohnmächtig ausgeliefert. Gauck widerspricht, will Petry zumindest zu der Einschränkung überreden, es sei das »Gefühl« der Ohnmacht, das im Osten grassiere. Doch gereizt insistiert Petry, es gehe nicht nur um Einbildung (»Gefühl«), sondern um eine ganz reale Angelegenheit.

    Die Szene Ost im Jahr 2019 ist nicht zuletzt deshalb pikant, weil Pfarrer Gauck, bekanntlich selbst ein Mann mit ostdeutscher Biographie, vor sieben Jahren, am 4. Oktober 2012, der Chemikerin und Pfarrersfrau Frauke Petry im Schloss Bellevue das Bundesverdienstkreuz verliehen hat, freilich nicht für ihre Verdienste in der AfD (die es damals noch gar nicht gab), sondern für ihren Berufsweg als (damals) erfolgreiche Gründerin und Unternehmerin. Gauck lobte Petrys »besondere Courage und Tatkraft im Bereich Forschung und Entwicklung«, Eigenschaften, die so ziemlich das Gegenteil einer gefühlten oder realen Ohnmacht im Kapitalismus darstellen. Umso unfassbarer erscheint es Gauck, dass eine Frau mit dieser Nachwende-Erfolgsgeschichte sich und ihre Landsleute als wehrlose »Opfer« machtvoller Eliten darstellen kann anstatt zu loben, dass der 9. November 1989 für alle Ostdeutschen Freiheit und die Chance zu einem selbstbestimmten Leben gebracht hat.

    Auch alte weiße Männer sind Opfer

    »Du Opfer« lautet ein unter Jugendlichen beliebtes Schimpfwort. Daraus ist inzwischen ein Plural victimologischer Selbstbeschreibung einer ganzen Gesellschaft geworden, die sich in unterschiedliche Opfergruppen auffächert und einen Wettbewerb darüber abhält, wer von ihnen am ohnmächtigsten sei. Die Hierarchie der Opfer wird aktuell angeführt vom Ostbürger, dicht gefolgt von den Frauen als Gattung (unterdrückt, schlecht bezahlt, zum Kinderkriegen verurteilt, an der Karriere gehindert, unablässig männlichen Übergriffen ausgesetzt). Aber natürlich sind wir alle, Frauen wie Männer, Opfer der Globalisierung, die uns die Arbeit weg nimmt, dem Diktat von Amazon, Facebook & Co. unterwirft und an der Ungleichheit der Vermögen und Einkommen schuld ist. Ganz Afrika ist bis heute Opfer des Kolonialismus, das lindern auch Milliarden an Entwicklungshilfe nichts. Flüchtlinge sind Opfer der Gewalt in ihren Heimatländern und wir sind Opfer der Massenmigration von Flüchtlingen in den Westen. Bald werden wahrscheinlich auch die »alten weißen Männer« ihre Chance im Opferdiskurs ergreifen (Sophie Passmann wird das schon noch hinkriegen). Opfer allerorten. Manche von uns sind Mehrfachopfer. Die jeweiligen Erfolgsgeschichten unterschlägt man lieber.
    Was macht es so attraktiv, Opfer zu sein? Das Opfer kann die Schuld für ihr Schicksal anderen Menschen oder anonymen Mächten zuschreiben. Schicksal wird ausschließlich im Modus der Schuld verhandelt, freilich um den Preis des Eingeständnisses der eigenen Machtlosigkeit. Wer die Ostdeutschen, die Frauen etc. dazu auffordert, sich nicht als »Opfer zu definieren« (ein regelmäßiger Gesprächszug im Opferdiskurs) wird auf aggressive Zurückweisung stoßen und dem Verdacht ausgesetzt, anderen die Schuld für (gefühltes oder wirkliches) Unglück in die Schuhe schieben zu wollen. Dass das Schicksal stets eine Melange aus Zufall, Leistung, Strukturen und dem Willen zur Veränderung derselben ist, ist im fatalistisch enggeführten Opferdiskurs nicht vorgesehen. Es geht einzig um die binäre Schuldfrage: ich oder die anderen!

    Indessen erwächst dem Opfer eine abgeleitete Macht, eine Art sekundärer Krankheitsgewinn, der sich vor allem moralisch zu Gehör bringt. In der ökonomischen Spieltheorie rangiert dies unter dem Label »Samariterdilemma«. Das Opfer, der unter die Räuber Gefallene aus dem Neuen Testament, hat »theoretisch« zwei Wahlmöglichkeiten: Er kann sich bemühen, auf eigene Beine zu kommen. Oder er kann sich auf fortwährende Hilfe des Samariters verlassen und dessen »Barmherzigkeit« dauerhaft in Anspruch nehmen, um seine Schwäche in eine Form von Stärke zu pervertieren. Spieltheoretisch besteht das Dilemma darin, dass der Nutzen für das Opfer – anders als für die Gesellschaft als Ganzer – in beiden Fällen gleich groß ist, was bedeutet, dass es für das Opfer keinen Anreiz gibt, sich aus der Ohnmacht zu befreien. Er (oder sie) kann die Macht seiner Ohnmacht genießen und darauf setzen, dass die Göttin der Gerechtigkeit sich auf die Seite der Unschuldigen schlägt.

    Victim oder Sacrifice

    Die Opferforschung belehrt uns darüber, dass das passive Opferverständnis historisch relativ jung ist. Bis ins späte 19. Jahrhundert, schreibt die Züricher Historikerin Svenja Goltermann, dominierte der aktive Opferbegriff: »sich für jemanden aufopfern«, »ein Opfer für jemanden oder etwas bringen«. Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts verlor das »Opfer für etwas« an Bedeutung. Andere Sprachen teilen das Janusgesicht des Opfers auf zwei verschiedene Begriffe auf. »Sacrifice« beschreibt die »verzichtende Hingabe« (heute als Tugend praktisch komplett außer Mode), während »victim« die »geschädigte Person«, das »unschuldige Opfer« bezeichnet. Wer passives Opfer ist hat eine Entschuldigung dafür, nicht selbst für sein Leben verantwortlich sein zu müssen, hat freilich auch lediglich seine sekundäre, moralisch aufgeladene Macht der Machtlosigkeit als Waffe zur Verfügung.

    Das war nicht immer so, wie wir beim griechischen Historiker Thukydides lesen. Vor die Wahl gestellt, von den überlegenen Athenern sofort unterjocht oder später militärisch besiegt zu werden, entscheiden sich die Melier – stolze Bewohner einer kleinen Insel in der Ägäis – für die militärische Option. Sie wollen keine Opfer der Großmacht Athen sein, sondern lieber Verlierer im Kampf. Hier kommt der entscheidende Gegenbegriff ins Spiel: Niemand will heute Verlierer sein, alle wollen lieber Opfer sein. Dabei wäre die Haltung des Verlierers die sportlich überlegene Haltung, die sich nicht auf die passive Opferzuschreibung zurückziehen müsste. Der Verlierer ist ein Risiko eingegangen, hat sich womöglich verzockt, vielleicht hat er auch einen Fehler gemacht oder eine Schwäche gezeigt, woraus ihm aber keine moralische Schuld erwächst. Vor allem aber hat der Verlierer die Chance zur Wiederholung im Wettbewerb: Neues Spiel, neues Glück. Dem Opfer hin gegen bleibt nur der Hilferuf an die Politik.

    Damit sind wir wieder bei Joachim Gauck. Den Ostdeutschen fehle der Durchsetzungswille. Sie hätten sich eine Wettbewerbsmentalität wie ihre Landsleute im Westen nicht auf natürlichem Wege antrainieren können, vermutet der Alt-Bundespräsident. Damit kann er kaum sich selbst oder Frauke Petry gemeint haben. Er beschreibt jene, die sich selbst nur als Opfer sehen können. Und vom Wettbewerb nichts wissen wollen.

    Rainer Hank

  • 16. Mai 2019
    Musik und Kapitalismus

    Die Marienkirche in Lübeck – die Börse ist gleich daneben

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über Geschäfte bei Tage und solche in der Nacht

    Die sogenannten Abendmusiken in Lübeck gelten als älteste Konzertreihe der Welt. Sie gehen zurück auf Franz Tunder (1614 bis 1667), einen pausbäckigen Mann mit barocker Perücke, der seit 1641 als Organist an St. Marien wirkte, der Mutterkirche norddeutscher Backsteingotik – ein Gotteshaus, das jedem Vergleich mit den Kathedralen Frankreichs standhält. Tunder, so heißt es, habe die Chance erkannt, durch Konzerte eigens für die Kaufleute der Stadt sein Budget aufzubessern. Jeden Donnerstag spielte er vor Öffnung der Börse zum Vergnügen der Bürger auf seiner Orgel. Kirche und Börse grenzen aneinander. Da es damals noch keine öffentlichen Konzertsäle gab, war St. Marien in der Stadt der repräsentativste Raum zum Musizieren. Der Lübecker Kantor Caspar Ruetz hat ein Jahrhundert später folgendes berichtet: »Es soll die Bürgerschaft, ehe sie zur Börse gegangen, den löblichen Gebrauch gehabt haben, sich in St. Marien zu versammeln. Dort hat der Organist ihnen zur Zeit-Kürzung etwas auf der Orgel vorgespielet, um sich bei der Bürgerschaft beliebt zu machen. Von einigen reichen Leuten, die Liebhaber der Musik gewesen, ist der Organist beschenket worden. Dadurch ist er angetrieben worden, zunächst einige Violinen, und dann auch Sänger dazu zu nehmen, bis endlich eine starke Musik daraus geworden ist.«

    Die Entdeckung der Geschichte der »Abendmusiken« aus dem Geist des norddeutschen Börsenhandels – anlässlich einer kleinen Reise in die Hansestadt Lübeck – soll österlicher Anlass sein, über den Zusammenhang von Musik, Marktwirtschaft und Moral nachzudenken. Auffallend ist zunächst: Die in Marien aufgeführte Musik begann offenbar bereits im 17. Jahrhundert sich aus dem religiösen Kontext als Dienerin des Glaubens zu lösen. Die von Franz Tunder angebotenen Konzerte fanden zwar in der Kirche, aber nicht im Gottesdienst statt. Konsequent scheint denn auch ihr Zweck zum Zeitvertreib der Kaufleute und Börsenhändler im Vordergrund gestanden zu haben und die gläubige Erbauung eher zweitrangig gewesen zu sein. Man kann getrost von Unterhaltungsmusik sprechen.

    Bachs H-Moll-Messe spengt jede Messe

    Das bestätigt die Vermutung, dass die Säkularisierung ein Prozess der Verweltlichung ist, der bereits lange vor der eigentlichen Aufklärung als Autonomiebewegung musikalischer Ästhetik sich entwickelte. Die Musik bleibt in der Kirche, löst sich aber aus dem religiösen Kontext – und entwickelt sich fort: die offenbar beachtliche Einnahmen generierende Konzertreihe in St. Marien macht Schritt für Schritt aus dem Soloauftritt der Orgel ein ganzes Orchester nebst Chor, was vermutlich positive Rückwirkung auf die Einnahmen hatte. Es waren wirtschaftlich erfolgreiche Bürger, großzügige Sponsoren, denen wir »starke Musik« verdanken. Ein Jahrhundert später begannen die Komponisten, listig möchte man sagen, religiöse Werke zu schreiben, die für den gottesdienstlichen Einsatz gar nicht mehr geeignet waren. Die kompositorische Anlage von Johann Sebastian Bachs H-Moll-Messe überschritt die Gegebenheiten der regulären lutherischen wie katholischen Liturgie bei weitem – allein schon angesichts ihrer Aufführungsdauer von fast zwei Stunden.

    Die Stadt zu einem permanenten Marktplatz zu machen war die Idee der Hanse: ein Verbund von stolzen und selbstverwalteten Bürgerstädten, in dem Lübeck (»civitas Lubeke«) die zentrale Rolle spielte. Markt, Messe und Musik waren auf Tuchfühlung. Kirche und Börse sind in Lübeck einen Katzensprung voneinander entfernt. Als zentral für die Hanse gelten jene städtische Freiheiten (»libertates«), mit denen die Bürger Recht selbst setzten und sich autonom regierten. Lübecks Bedeutung stieg bereits als in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts nicht nur das Salz, sondern auch der Ostsee-Hering zu einem Exportschlager wurde, der wegen des Bevölkerungswachstums und des strengen christlichen Fastengebots (Fisch war erlaubt!) eine ständig wachsende Nachfrage befriedigen musste. Die Musik war quasi hörbarer Ausweis dieses wirtschaftlichen Erfolgs mit Salz und Heringen.

    Von der Kirche an die Börse

    Der Hanseforscher Rolf Hammel-Kiesow sieht in der Hanse nicht nur eine erste Phase der Globalisierung, sondern auch eine Frühform ökonomischer Netzwerke: das Geheimnis der Hansischen Kaufleute beruhte auf dem wechselseitigen Vertrauen, welches die Kosten ihrer Geschäfte beträchtlich reduzierte. Der Kaufmann in Lübeck konnte sich auf die Ehrlichkeit einer in Danzig, Novgorod, Bergen oder Brügge durchgeführten Warenkontrolle verlassen, die ihm Zeit und Kosten sparte. Man schickte einander Waren und jeder verkaufte an seinem Ort die Güter für den Partner. Für diese Arbeit berechneten sie einander nichts, der Lohn bestand in der Gegenseitigkeit. Besondere Bedeutung besaß das Hansekontor im flandrischen Brügge, wo seit dem 14. Jahrhundert am Marktplatz regelmäßiges Treffen für Handels- und Geldgeschäfte, aber auch Klatsch und Tratsch als »Börse« bezeichnet wurden: ein Tauschplatz für alles Mögliche, immer mehr aber auch für Kredit- und Wechselgeschäfte. Nach diesem Vorbild hatte bald auch Lübeck seine eigene Börse, gegenüber der Kaufmannskirche St. Marien eben. Auf die Idee, dass Geldgeschäfte und religiöse Geschäfte einander in die Quere kommen könnten, wäre in all diesen Zeiten niemand gekommen. Im Gegenteil.

    Autonomie der Städte und Globalisierung von West-, Nord- und Zentraleuropa bis nach Russland, die »universitas mercatorum«, mutet einerseits enorm modern an, wie andererseits die Nähe zwischen christlichem Glauben, Vertrauensethik und marktwirtschaftlichem Geschäftssinn ganz und gar einer Welt von gestern zu entstammen scheint. »Arbeite, bete und spare« hieß der gute Rat, den der Kaufmann und Konsul Buddenbrook seinem Sohn Thomas am Ende eines langen Briefes »in sorgender Liebe« mit auf den Weg gibt. Vom alten Buddenbrook stammt jener viel zitierte Grundsatz der Firmenethik: »Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bei Nacht ruhig schlafen können.« In Krisenzeiten erließ der Hansetag bisweilen zeitlich begrenzte Kreditverbote, um hansische Kaufleute, die die komplizierten geldpolitischen Zusammenhänge nicht kannten, zu schützen: Eine weise Vorsorge, gehen doch die meisten Finanzkrisen der Geschichte auf riskante Kreditgeschäfte zurück.

    Musik und Ökonomie mögen sich

    Was sagt uns das heute? Offenkundig bedurfte es eines fein austarierten Gleichgewichts von Nähe und Distanz, welche seit der frühen Neuzeit für den Erfolg des Kapitalismus verantwortlich wurde. Ethik, Ästhetik, Ökonomie und Religion genossen jeweils relative Autonomie: Die Musik entfernte sich vom Kult, um den Kaufleuten nicht nur Erbauung, sondern auch Zerstreuung zu bieten. Überschaubare Risiken konnte diese globale Kaufmannschaft eingehen, weil sie Vertrauen zueinander aufgebaut hatte, das im gemeinsamen christlichen Glauben gründete. Vieles davon, so dünkt mich, ist heute nicht mehr rückholbar. Dass aber Offenheit, Risikofreude und Vertrauen bei Wahrung urbaner Souveränität für den wirtschaftlichen Erfolg wichtiger sind als die protzige Blockbildung nationaler Champions, soviel Aktualisierung sei doch gestattet. Und dass Musik und Ökonomie einander gut tun, wird man darüber hinaus ebenfalls vermuten dürfen.

    Rainer Hank

  • 16. Mai 2019
    Macht der Kapitalismus depressiv?

    Burnout: Krankheit oder Diagnose?

    Dieser Artikel in der FAZ

    Die Zunahme psychischer Erkrankungen taugt nicht als Beleg

    Neulich wurden wir von einer dramatischen Meldung aufgeschreckt: Die Zahl der Krankentage wegen psychischer Probleme hat sich hierzulande innerhalb von zehn Jahren verdoppelt – von rund 48 Millionen im Jahr 2007 auf 107 Millionen im Jahr 2017. So steht es in einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine parlamentarische Anfrage. Das Ministerium hat den alarmierenden Befund auch gleich in »wirtschaftliche Ausfallkosten« umgerechnet: die nämlich sollen sich sogar fast verdreifacht haben – von 12,4 Milliarden auf 33,9 Milliarden Euro.

    Derartige Zahlen sorgen für Unruhe. Als ob wir es nicht immer schon geahnt hätten: Der Kapitalismus produziert nicht nur Armut, Ungleichheit und materialistische Einstellungen. Er macht die Menschen darüber hinaus auch noch schwer krank. Und zwar heute mehr als früher. »Stress hat in den letzten zehn Jahren in unserer Gesellschaft erheblich zugenommen« ist eine Aussage, die 56 Prozent der Manager und mehr als 60 Prozent der deutschen Angestellten eindeutig mit »Ja« beantworten. Und für den Fall, dass wir das lediglich unserer subjektiven Wahrnehmung zuschreiben sollten, wird uns versichert: »Unstrittig ist, dass psychische Belastungen mit dem Wandel der Arbeitswelt zunehmen«. Das seht in einem Bericht der Bundesregierung über den »Stand von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit«. Wie schön: Die Krankschreibungen wegen Stress, Burnout, Depression haben endlich eine Ursache gefunden.

    Erschöpfung als Dauerzustand?

    Bloß die Art der Ausbeutung habe sich geändert, machen uns die Schwarzmaler weis: Im 19. Jahrhundert ging es in den Fabriken auf unsere Knochen. Heute nimmt die Seele schaden. Erschöpfung sei ein Dauerzustand geworden. Depression, so sagt man uns, sei das Volksleiden des 21. Jahrhundert. Schuld hat wieder einmal der Kapitalismus.

    Es reicht schon, das Stichwort Digitalisierung in die Runde zu werfen, um zustimmendes Nicken zu ernten. Wer gewahr sein muss, dass sein Chef oder sein Kunde auch noch um Mitternacht per Mail, SMS, oder Whatsapp Wünsche und Anweisungen erteilt, wird leicht in Stress versetzt. Loslassen ist offenbar in unserem Alltag nicht mehr vorgesehen. Arbeitsverdichtung ist angesagt. Immer »agil« zu sein und der nächsten »Disruption« stand zu halten, dass bringt einen psychisch gehörig aus dem Gleichgewicht. Getreu dem alten Grundsatz, früher war alles besser, denken wir jetzt: Wie schön muss die deutsche Angestelltenwelt im 20. Jahrhundert gewesen sein, als Vater um 17 Uhr das Büro verließ; wenn er zuhause vom Telefon gestört wurde, dann war nicht der Chef in der Leitung, sondern Tante Lina.

    Es könnte allerdings alles auch ganz anders sein. Martin Dornes, ein Frankfurter Psychoanalytiker und Soziologe, hat vor drei Jahren ein Buch geschrieben mit dem Titel »Macht der Kapitalismus depressiv?«. Dornes beantwortet die Frage mit einem klaren »Nein«. Zugenommen, so Dornes, habe nicht die Krankheit, sondern ihre Diagnose, ein kleiner, aber alles entscheidender Unterscheid. Allein die öffentliche Aufmerksamkeit für einzelne Krankheitsbilder kann ihr tatsächliches oder vermeintliches Auftreten beeinflussen, sagt der Psychoanalytiker. Es kann auch mit einer Schamschwelle zusammenhängen: Psychisch krank zu sein, wurde lange Zeit stigmatisiert. Besser man gibt es nicht zu, weil damit Ächtung in der Gesellschaft, im Freundeskreise, am Arbeitsplatz verbunden ist. Nennt man die Krankheit aber nicht Depression, sondern – viel weniger dramatisch – »Stress« oder »Aufmerksamkeitssyndrom«, dann ist die Angelegenheit weniger peinlich, womöglich lässt sich damit sogar etwas hermachen. An der Depression könnte die genetische Veranlagung schuld sein, an der Antriebslosigkeit ist der Arbeitgeber schuld, was die Sache für einen selber erträglicher macht. Exemplarisch dafür steht die Diagnose Burnout. Einige Jahre lang war das Thema in den Schlagzeilen, parallel dazu stieg die Zahl der entsprechenden Krankschreibungen rapide an. Wer die Diagnose Burnout bekam, der fühlte sich auch gleich erschöpft. Wenn viele Leute um mich herum Burnout haben, dann nimmt es nicht Wunder, dass auch ich davon erfasst sein würde. Der Burnout-Höhepunkt war laut Zahlen der deutschen Betriebskrankenkassen um das Jahr 2011 herum erreicht. Inzwischen gehen die Fallzahlen, die von den Krankenkassen gemeldet werden, genauso rasant wieder zurück. Burn-out scheint also schon wieder aus der Mode zu kommen. Haben wir die Krankheit besiegt oder lediglich die Inflation ihrer Diagnose?

    Warum gibt es heute keinen Nervenzusammenbruch mehr?

    In meiner Schulzeit in den siebziger Jahren hatte es einmal geheißen, unsere Klassenlehrerin habe einen »Nervenzusammenbruch« erlitten. Das hörte sich ziemlich dramatisch an und sollte wohl auch heißen, unsere Klasse, die Saubande, trage daran eine Mitschuld. Damals war oft davon die Rede, jemand habe einen Nervenzusammenbruch gehabt. Heute hört man das nur noch selten. Sind unsere Nerven inzwischen robuster geworden oder hat die ärztlich gelenkte Öffentlichkeit sich anderen Diagnosen zugewandt?

    Eines freilich ist gewiss: Mit dem Kapitalismus hat die Konjunktur diagnostizierter Psycho-Moden herzlich wenig zu tun. Im schwedischen Sozialstaat der Nachkriegszeit (»Folksheim«), einer milden Form des Sozialismus, war laut Martin Dornes schon in den sechziger Jahren eine schwere ADHS-Epidemie ausgebrochen. Dass der Sozialismus in der DDR oder in der Sowjetunion einen herausragenden Beitrag zur Volksgesundheit geleistet habe, behaupten noch nicht einmal die schärfsten Kritiker des Kapitalismus.

    Vieles spricht dafür, dass wachsender Wohlstand positive epidemiologische Folgen hat: Es geht uns heute physisch und psychisch besser als vor hundert Jahren. Das Leben war früher viel anstrengender. Der Wirtschaftsnobelpreisträger William Fogel spricht von »physiologischem Kapital«, das der Kapitalismus seit der industriellen Revolution in breiten Schichten aufgebaut habe. In heutiger Sprache könnte man das als Resilienz bezeichnen, eine Art Widerstandsfähigkeit, die uns weniger schicksalsanfällig sein lässt, weil der Fortschritt die Welt beherrschbarer gemacht hat.
    Keine zufriedenstellende Antwort haben wir bislang auf die Frage, warum die Menschen mehrheitlich glauben, früher sei alles besser gewesen und heute das meiste schlechter. Der Fortschritt hat, anders als sein Name suggeriert, einen schweren Stand und einen schlechten Leumund. Nur noch 32 Prozent der Deutschen glauben nach Ausweis der Allensbacher Meinungsforscher an die Zukunft: Da ist der niedrigste Wert seit fünf Jahrzehnten. Dass Gegenwart und Zukunft einem unheimlich vorkommen, ist freilich nicht ganz neu: »Nervosität« oder »Neurasthenie« lautete im späten 19. Jahrhundert die verbreitete Diagnose, die das Bürgertum kollektiv krank werden ließ. Schwindel, Unwohlsein, Impotenz galten als untrügliche Symptome für den Fluch des Fortschritts – verantwortlich dafür war nach Ansicht der Zeitgenossen unter anderem die Eisenbahn, die, dreimal schneller als die Kutsche, die Sinne der Menschen dauerhaft in Verwirrung versetze.

    Wenn schon kein Lob des Fortschritts, so wenigstens ein bisschen Gelassenheit lässt sich daraus ableiten, wenn wir das nächste Mal wieder hören, dass der Kapitalismus uns heutzutage besonders krank macht.

    Rainer Hank