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  • 19. März 2024
    Lob des Streits

    Sieht so der Fortschritt aus? Fotomontage: Die WELT

    Dieser Artikel in der FAZ

    Zu viel Harmonie in der Ampel ist schädlich

    Die Ampelregierung ist in keiner guten Verfassung. Dem will ich nicht widersprechen. Widersprechen will ich der gängigen Einschätzung, das liege daran, dass die Koalitionäre ständig streiten. Ohne Streit, finde ich, wäre alles schlimmer. Das beweist die sogenannte Rentenreform, die in dieser Woche von der Ampel präsentiert wurde. Doch dazu später.

    Viele meinen, eine Koalitionsregierung gleiche einem Sandkasten, wo Kinder spielen und sich ihre Förmchen auf den Kopf hauen. Da ruft der kleine Robert: »Der Christian ist böse und ärgert mich.« Dann muss die Mutter (oder Vater Olaf) kommen, die Streithähne auseinanderbringen und mit strenger Miene anhalten, sich fürderhin gut zu vertragen. Bekanntlich geht das nur eine Weile gut, und schon kurz danach gibt es wieder Tränen. Vom Sandkastenmodell geprägt sind nicht nur viele Kommentatoren in den Medien. Auch die Bevölkerung straft streitende Parteien regelmäßig ab, was Umfragen belegen. Selbst die Regierungsakteure unterwerfen sich diesem Schema: »Die FDP nervt«, heißt es dann. Wahlweise kann Nerverei als ideologische Verbohrtheit oder Prinzipienreiterei der jeweils anderen Partei denunziert werden.

    Streit ist schlecht, Harmonie ist gut. Wirklich? Eine Ampelkoalition ist eben kein Kindergarten, finde ich. Gerade deshalb muss nicht nur am Kabinettstisch, sondern öffentlich gestritten werden.

    Das Kindergartenmodell verkennt die Logik politischer Koalitionen. Erst recht, wenn diese von Parteien gestellt werden, die auf konträren normativen Überzeugungen gründen und auch aus diesem Grund von ihren Anhängern gewählt werden. Die normative Landkarte sieht ungefähr so aus: Aus der SPD, die früher einmal für die Emanzipation der arbeitenden Klasse gekämpft hat, ist inzwischen eine Partei der Besitzstandswahrung und Sozialstaatsausweitung geworden – koste es, was es wolle: Mindestlohn, Bürgergeld, Kindergrundsicherung, Rentnerbeglückung. Intellektuell eher dürftig, finanziell dagegen üppig.

    Skeptizismus vs Paternalismus

    Den Grünen und Liberalen geht es um Prinzipielles. Daraus kann man natürlich den Schluss ziehen, dass sich Parteien mit allzu unterschiedlichen Positionen nicht zu einer Regierung paaren sollen. Dass die Programme zwischen Grünen und Liberalen keine gemeinsame Schnittmenge böten, war zum Beispiel eine Auffassung, die der ehemalige FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle regelmäßig vertreten hat und deshalb riet, die Hände von einer Ampel zu lassen. Christian Lindners Satz, es sei besser, nicht zu regieren, als schlecht zu regieren, war von der Überzeugung gespeist, Jamaika werde scheitern, wenn sich Christdemokraten mit Grünen verbünden und die FDP über den Tisch ziehen..
    Doch nun regiert eine Ampel im Wissen um die Unterschiede und mit der Erfahrung, dass diese Unterschiede durch Formelkompromisse (»Wir sind die Fortschrittskoalition«) nicht verschwinden. Auch die zynische Idee, dann eben die Anhänger aller regierenden Parteien zu alimentieren – für die einen gibt es den Tankrabatt (FDP), für die anderen das 9–Euro-Ticket (Grüne) und für die Dritten einen Zuschuss zu Hartz IV (SPD) – ist auf Dauer, weil zu teuer, keine Lösung. Dann bleibt nur der Streit. Und das ist gut so; denn Streit ist bekanntlich seit Heraklit der Vater aller Dinge und Quelle des Fortschritts.

    Machen wir es konkret an drei aktuellen wirtschaftspolitischen Streitfällen: der Schuldenbremse, dem Klimawandel und dem Lieferkettengesetz. Die normativen Grundlagen einer liberalen Partei gehen zurück auf »optimistischen Skeptizismus« der europäischen Aufklärer. Die waren nicht generell gegen Staatsschulden, wussten aber, dass die Praxis des Schuldenmachens noch von jeder Regierung missbraucht werde. Eine Schuldenbremse ist somit eine Art Selbstbindung gegen die Verführbarkeit, den starken Maxe zu markieren. Die normativen Grundlagen der Grünen möchte ich »avantgardistischen Paternalismus« nennen. Eine Regierung hat demnach in gewisser Hinsicht Vorbildfunktion für die Bürger, die sie zwar nicht zu ihrem Glück zwingen kann, denen sie aber den Weg zum Besseren weisen möchte. Schulden brauche es, um Investitionen in eine bessere Zukunft zu finanzieren. Nachfolgende Generationen würden sich über die ihnen überwälzte Schuldenlast nicht beschweren, sondern dankbar sein dafür, dass ihre Eltern ihnen eine bessere Welt hinterlassen haben.

    Dieser Gegensatz begründet nicht nur unterschiedliche Haltungen zur Staatsverschuldung, sondern auch zum industriepolitischen Interventionismus etwa in der Klima- und Transformationspolitik. Die FDP findet die Annahme anmaßend, Politiker verfügten über privilegiertes Wissen, und setzen lieber auf Preisanreize durch den Markt. Grüne und SPD glauben, dass der Staat unternehmerisch tätig sein müsse, weil der Markt blind sei für soziale oder klimapolitische Ziele. Solch unterschiedliches Apriori führt dazu, dass die FDP auf Emissionshandel und den CO2–Preis setzt, während die Grünen gerne mit Geboten und Verboten (Heizungsgesetz) hantieren.

    Harmonie kommt teuer

    Avantgardistischer Paternalismus der Grünen und ein soziales Herz der SPP sind auch eine Motivation für das Lieferkettengesetz. Danach gebietet es die Moral, dass Unternehmen die sozialen und ökologischen Fertigungsbedingungen ihrer Waren bis an den Ursprung in den Textilfabriken Bangladeschs verantworten müssen. Aufklärerischer Skeptizismus dagegen ist getragen von Erfahrungswissen, wonach moralische Überforderung häufig unbeabsichtigte Konsequenzen hat: Wenn Unternehmen ihre Fertigung in Bangladesch einstellen, weil sie die Auflagen des Lieferkettengesetzes nicht erfüllen können, dann führt das womöglich zur Abschaffung von Kinderarbeit, aber zugleich zur Zunahme von Kinderarmut.

    Man kann sagen, die normativen Überzeugungen innerhalb der Ampel sind so viele Meilen voneinander entfernt, dass dies nur zur Blockade führt. So sieht es immer wieder aus, wobei die FDP die Rolle des Dauerblockierers einnimmt, die Grünen als weltfremden Utopisten daherkommen und die SPP mal hü mal hott sagt. Alle Rollen kosten Stimmen, wie wir sehen.

    Aber war wäre die Alternative? Das zeigt die sogenannte Rentenreform. Die SPD setzt eine systemsprengende »Reform« durch, welche die künftigen Beitragszahler schröpft und die berenteten Babyboomer finanziell privilegiert. Die FDP, die gerade noch ein Moratorium für die Sozialausgaben gefordert hat, schweigt. Die Grünen, die sich gerne als Anwälte der Jungen im Generationenvertrag geben, schweigen ebenfalls. Offenbar wollte man nicht schon wieder über Prinzipien streiten – und der SPD einen Gefallen tun.
    Daraus folgt: Wenn die Ampel nicht streitet, dann lügen die Akteure sich und den Bürgern etwas in die Taschen. Vor allem wird es für die Bürger teuer. Mit Streit wäre das nicht passiert.

    Rainer Hank