Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 27. August 2019
    Von Schulden und anderem Schweinkram

    Haut das Geld raus

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum Politiker plötzlich wieder Lust auf neue Schulden haben

    Zeit macht vergesslich. Gerade einmal zehn Jahre ist es her, dass Bundestag und Bundesrat in Deutschland die Aufnahme einer »Schuldenbremse« in das Grundgesetz beschlossen haben. Seither heißt es in Artikel 109, Absatz 3: »Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen.« Der Satz ist dankenswerterweise auch für Nichtjuristen verständlich. Selbst die dann folgende Einschränkung, unter Umständen sei eine Neuverschuldung von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) vertretbar und Ausnahmen seien zudem bei Naturkatastrophen und Wirtschaftskrisen erlaubt, ist einfach und klar.

    Zur Erinnerung: 2009, das war die Zeit von Finanz- und Eurokrise, die im Kern eine Krise zu hoher Staatsschulden war. Die Aufnahme einer – der Schweiz abgeguckten – Schuldenbremse war von der Überzeugung getragen, dass man Politiker durch ein Gebot der Verfassung davor schützen müsse, auf Pump zu leben. Diszipliniert, wie die Deutschen sind, haben sie sich daran gehalten: Seit 2014 verzichtet der Bund auf neue Schulden (35 Jahre lang zuvor war das anders). Angesichts niedriger Zinsen schrumpfte auch die Gesamtverschuldung binnen zehn Jahren von über 80 auf inzwischen nur noch knapp 60 Prozent des BIP. Wir sind jetzt wieder Musterknaben der Maastricht-Verträge.

    Ein Hoch auf die Schuldenbremse

    Das wäre Grund genug für eine große Party, wenn CDU und CSU an diesem Sonntag zu einer Klausurtagung in Dresden zusammenkommen. Doch i wo: Seit Wochen wächst die Lust bei Politikern jeglicher Couleur, künftig wieder höhere Schulden zu machen. Immer mehr Ökonomen geben ihnen Schützenhilfe. Sie sind sich allerdings nicht einig, was denn nun als Begründung für den Paradigmenwechsel gelten soll. Klar ist nur: Es sind ausschließlich hehre Ziele, denn Politiker haben stets gute Zwecke im Sinn. Die Vermutung, es gehe auch um fiskalische Signale für die AfD-bedrohten Wahlen im Osten am 1. September gelten als böse Unterstellung. Unter den guten Zwecken rangieren (1) Investitionen für marode Schulen, fehlende Digitalisierung (»schnelles Internet«) und – klar doch – Maßnahmen gegen den Klimawandel. Wem das nicht reicht, dem bieten die neuen Pump-Politiker (2) die schwache Konjunktur an, die rhetorisch zu einer dramatischen Rezession aufgeblasen werden muss. Für makroökonomische Feinschmecker gibt es schließlich noch (3) die globalen Ungleichgewichte, wonach es zum Abbau der deutschen Exportüberschüsse nötig sei, die Binnennachfrage mit öffentlichen Investitionen zu stimulieren. Schulden seien in Niedrig- oder Negativzinsphasen ungefährlich, so lange das Wirtschaftswachstum den Zinssatz übertrifft. Denn dann sinkt das Verhältnis von Staatsschulden von allein, ohne dass später neue Steuern fällig werden. »Haut das Geld raus!« heißt die Devise dieser polit-ökonomischen großen Koalition. »Ordnungspolitischer Schweinkram« – eine hübsche Formel des IW-Chefs Michael Hüther – macht wieder Freude.

    Angesichts solcher Gelüste sollte man daran erinnern, was eigentlich die Aufgabe des Staates in der Wirtschaft ist. Die Vordenker der politischen Ökonomie der Aufklärung (John Locke, Adam Smith, David Hume) waren der Auffassung, der Staat müsse die Polizei, eine gute Verwaltung, den König – und von Zeit zu Zeit einen Krieg finanzieren. Dafür gibt es Steuern und, wenn das nicht reicht (Krieg!), macht man eben Schulden. Noch um das Jahr 1870 lag der Anteil öffentlicher Ausgaben in den damals entwickelten Ländern (finanziert aus Steuern, Abgaben und Krediten) bei rund zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das änderte sich im Sozialstaat mit der Überzeugung, eine Regierung sei für Infrastruktur (Straßen/Schienen, Post, Bildung, Kultur) zuständig und müsse die großen Lebensrisiken (Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit) ihrer Bürger abfedern. Im Jahr 1960, als diese Lehre allgemein geteilt wurde, lag die Staatsquote noch zwischen 25 und 30 Prozent. Erst die danach einsetzende Keynesianische Revolution blähte die Ausgaben auf heute durchschnittlich 40 Prozent des BIP auf. Deutschland liegt mit 44 Prozent darüber (es gibt auch Länder mit deutlich über 50 Prozent). Der mit Abstand größte und immer weiter wachsende Posten sind die sozialen Ausgaben. Ludger Schuknecht, stellvertretender Generalsekretär der OECD in Paris und einer der besten Kenner der Geschichte und Eigenlogik der Staatsausgaben, spricht von »sozialer Dominanz«: Ein Viertel des BIP der OECD-Staaten wird inzwischen von den Sozialausgaben absorbiert.

    Viel Staatsgeld macht noch lange keinen besseren Staat

    Nun argumentieren viele Politiker und Wissenschaftler, dass das Wachstum der Staatsausgaben gut sei, weil es Wohlfahrtsstaaten schafft, in denen die Bürger im sozialen Frieden, ohne große Ungleichheit und risikoversichert miteinander zusammen leben. Dort umsorge sie eine vom Staat unterhaltende öffentliche Daseinsvorsorge von der Wiege bis zur Bahre. Ein Staatsanteil von 40 Prozent und mehr wäre kein Drama, sondern ein Erfolg der zivilisatorischen Evolution und des sozialen Fortschritts.

    Um diese Behauptung zu prüfen, müsste man zeigen, dass hohe Staatsausgaben auch besonders effizient sind. Das aber ist ein Irrtum. Denn immerhin gibt es auch heute eine große Spanne zwischen relativ schlanken Staaten (Schweiz, Irland, Australien), die mit rund 30 Prozent auskommen, und sehr üppig finanzierten Staaten (Schweden, Norwegen), die über 50 Prozent liegen. Glaubt man den Analysen von Ludger Schuknecht, so lässt sich nicht der geringste Kausalzusammenhang zwischen der Höhe der Staatsausgaben und der Qualität der staatlichen Leistungen nachweisen. Die schlanke Schweiz etwa hat eine hervorragende Infrastruktur (pünktliche Züge), ein straffes Rechtssystem, exzellente Bildung (ETH Zürich, Hochschule St. Gallen) und eine gute Alters- und Gesundheitsvorsorge. Das Prokopfeinkommen der Eigenossen liegt deutlich über dem unseren. Kurzum: Regierungen müssten nicht mehr als 30 bis 35 Prozent ihres Sozialprodukts ausgeben, um ihren Bürgern einen guten und sozialen Staat zur Verfügung zu stellen.

    Was folgt daraus für die Debatte um die Schuldenbremse? Der Staat braucht keinesfalls noch mehr Geld, er würde seine Bürger weder glücklicher noch reicher machen. Es könnte aber sein, dass höhere Staatsausgaben etwa für saubere Schulen, schnelles Internet – Klammer auf: muss das wirklich der Staat machen? – oder die Dekarbonisierung nötig sind. Dann aber wäre es der naheliegende Weg, im Gegenzug die Sozialausgaben zu begrenzen. Man könnte, wie es der in Cottbus lehrende Ökonom Jan Schnellenbach im Blog Wirtschaftlichefreiheit vorschlägt, die Subventionen des Bundes durchforsten (darin sind auch Sozialausgaben), die inzwischen auf einen Rekordbetrag von 55,3 Milliarden Euro angewachsen sind, von denen aber mindestens 36 Milliarden laut Kieler Institut für Weltwirtschaft mehr als fragwürdig sind. Das wäre längst noch kein »Sozialabbau«. Dass die höchsten Präferenzen der Bürger an den Staat bei den Sozialausgaben lägen, ist ohnehin ein Mythos.

    Kurzum: Hände weg von der Schuldenbremse. Wer neue Staatsausgaben für nötig erachtet, soll an anderer Stelle sparen. Masse dafür ist vorhanden.

    Rainer Hank

  • 19. August 2019
    Asketen an der Macht

    Verzichten für eine bessere Welt?

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum glauben wir nicht mehr an den Fortschritt?

    »Archaischer Torso Apollos« ist ein 1908 in Paris entstandenes Sonett Rainer Maria Rilkes überschrieben, das mit dem berühmten Vers endet: »Du musst Dein Leben ändern«. Vermutlich hatte der Dichter anderes im Sinn, doch gilt die Zeile seither als Imperativ der Konversion, welche der Einsicht folgt, dass es so nicht weitergehen könne.

    Was genau »so« nicht weitergehen kann und »wie« das Leben zu ändern sei, dass ist offen für persönliche Interpretation, was dem Erfolg des Rilke-Gedichts nicht geschadet, sondern eher noch genützt haben dürfte. Rilkes Gedichtzeile steht ganz offenkundig hinter dem Imperativ des Verzichts, der angesichts der drohenden Klimakatastrophe seit Monaten immer lauter zu vernehmen ist. Der Verzicht umfasst inzwischen immer mehr Bereiche des Lebens, in denen jeder einzelne beweisen könne, dass er den Auftrag ernst nimmt, sein Leben konkret zu ändern. Flüge oder Schiffsreisen sind mit Blick auf den ökologischen Fußabdruck zu meiden, Autofahrten selbstredend auch, es sei denn es handle sich um ein E-Mobil, dessen Strom seinerseits korrekt erzeugt wurde. Gleichermaßen ist auch der Verzehr von Fleisch zu unterlassen, wofür eine ganze Reihe von Gründen ins Feld geführt werden: Das arme Tier leidet, weil es zu unserer Bedürfnisbefriedigung getötet wurde. Tierisches Eiweiß schadet der Gesundheit der Menschen. Und am Ende ist vor allem die CO2–Bilanz von Fleisch viel verheerender als wenn wir uns von Salat, Gemüse und Körnern ernähren.

    Der Imperativ des Verzichts macht auch vor Größerem nicht Halt. Die Bewegung »Birth Strike« fordert die Menschen dazu auf, keine Kinder mehr in die Welt zu setzen. Denn eine vom Klimawandel verwüstete Welt sei keiner künftigen Generation zuzumuten. Mehr noch: Aus Neugeborenen würden zwangsläufig erwachsene Menschen, die ihrerseits einen tiefen ökologischen Fußabdruck hinterlassen. Radikal gedacht folgt daraus: Eine Welt ohne Menschen (oder mit immer weniger Menschen) wäre klimapolitisch gesehen eine sinnvolle Sache. Die unbeabsichtigte Folge des Klimawandels – die Zerstörung des Planeten und der Menschheit – wäre quasi mit voller Absicht vom massenhaften Geburtenstreik schon vorweggenommen. Kurzum: der Glaube an Mobilität, Freiheit, ja an Zukunft überhaupt scheint uns abhandenzukommen. Es dominiert die Angst.
    Was mich interessiert, ist nicht der Klimawandel als Faktum. An dessen von Menschen verursachter global-planetarischer Wucht ist nicht zu zweifeln. Was mich beschäftigt ist die Frage, warum scheinbar plötzlich der Imperativ des Verzichts weltweit, aber vor allem auch deutschlandweit, so viel Zustimmung bekommt, so dass es fast so scheint, als sei radikale Askese nicht nur alternativlos, sondern auch das einzige wirkungsvolle Mittel, den Klimawandel aufzuhalten oder zumindest zu verzögern.

    Die Ethik des Verzicht hat religiöse Wurzeln

    Ganz offensichtlich hat die Ethik des Verzichts ihren Ursprung in einer religiösen Praxis, aus deren Kontext sie sich emanzipiert und säkularisiert hat. Religiöse Muster können unbewusst lange haften. Naherwartung des Weltendes, Bekehrung der Menschheit zum wahren Glauben und Askese gehören im Christentum von Anfang an eng zusammen. Wer daran glaubt, dass das Reich Gottes nahe ist, dem bedeuten die Freuden des Alltags nichts mehr. Sie oder er verlässt Familie und Heimat, folgt einen religiösen Führer nach und übt Verzicht. Wer es ernst meint, fasse sich an die eigene Nase und mache ernst damit, sein Leben zu ändern. Die Ethik des Verzicht versteht zu überzeugen als Gegengift zur Politik des Geschwätzes.

    Einschränkung der Ernährung, Fasten genannt, war immer schon eine zentrale Übung in allen Religionen, nicht nur im Christentum, sondern auch im Islam und im Buddhismus, wo die Entsagung gegenüber der Welt zur Läuterung der Menschen beiträgt. Der Frankfurter Althistoriker Hartmut Leppin hat jüngst in der FAZ darauf hingewiesen, dass zur religiösen Askese immer auch sexuelle Enthaltsamkeit, Keuschheit genannt, zählten, was in der heutigen Zeit merkwürdigerweise aus der Mode gekommen ist. Allenfalls könnte man die Birth-Strike-Bewegung als eine säkulare Variante der religiös begründeten Entsagung deuten, welche die Fortpflanzung ablehnt, aber gleichwohl angesichts der heutigen Möglichkeiten zur Empfängnisverhütung auf Sex nicht verzichten muss.

    »Ökologischer Calvinismus«

    Lässt man die Ziele – Klimawandel aufhalten! – einen Moment lang außer Acht, so bleibt nicht verborgen, dass die Fluchtlinie der neuen Klima-Askese eine Welt ist, in welcher Freude, Fortschritt und Wohlstand kaum mehr einen Platz haben. Der wachsende Wohlstand, dem wir so viel Freiheit, Mobilität und Annehmlichkeiten verdanken, gilt selbst ja als Hauptursache für den Klimawandel. Deshalb sind jetzt auch alle Wachstums- und Kapitalismuskritiker zu Klimapolitikern mutiert: Galt bislang der Kapitalismus als verantwortlich für Armut, Ausbeutung der Arbeiter und Ungleichheit, so ist ihm nun vor allem die Klimaveränderung anzulasten. Die heutige wachstumsskeptische Kapitalismuskritik wäre – zumindest unausgesprochen – bereit, um der Rettung des Klimas willen eine Verarmung der Menschheit in Kauf zu nehmen.

    Was an diesem »ökologischen Calvinismus« (Peter Sloterdijk) erschreckt, ist der Umstand, dass alternative Strategien zur Linderung des Klimawandels kaum mehr in den Blick kommen oder als Ablenkungsmanöver diskreditiert werden. Das ist auch deshalb merkwürdig, weil gerade Sozialisten und Sozialdemokraten traditionell seit dem 19. Jahrhundert darauf insistiert haben, die ungewünschten Folgen des zivilisatorischen Fortschritt müssten mit Fortschritt und nicht mit Rückschritt bekämpft werden. Doch der »Homo Faber«, der Mensch, der die Zukunft mit Technik in Griff zu bekommen sucht, hat abgedankt. Die Asketen übernehmen die Macht. Radikale Askese mag religiös oder ethisch gesehen als Strategie der Reinigung, Konzentration und Achtsamkeit positiv gewertet werden – doch sie bleibt ein Weg des Rückschritts, nicht des Fortschritts. Fortschrittsverträglichere Maßnahmen gegen den Klimawandel wären dagegen institutionelle Änderungen (die CO2–Steuer oder die Ausweitung des Handels mit Verschmutzungsrechten), die über Anreize funktionieren, aber nicht über Verzichte und Verbote.

    Fortschrittsverträglichere Maßnahmen wären erst recht all jene sehr sinnvollen technischen Ideen zur Dekarbonisierung, etwa jene, Strom in großen Stil aus erneuerbaren Energien in Gas oder flüssigen Brennstoff umzuwandeln und damit transportabel zu machen. Mit solchen unter dem Namen Power-to-X diskutierten technischen Verfahren könnten Fahrzeuge zur Erde, zu Wasser und in der Luft klimaneutral betrieben werden.

    Der Einwand, solche ökonomisch-institutionellen und technisch-innovativen Konzepte dauerten viel zu lange, bis sie wirken, verfängt nicht wirklich: Er muss sich die Gegenfrage gefallen lassen, wie viel es wirklich bringt, wenn wir Deutschen alle am Ende nur noch Kartoffeln aus dem Garten essen und nie wieder von Frankfurt nach Berlin fliegen. Mag sein, dass es nötig ist, unser Leben zu ändern. Es hat den Menschen aber auch noch nie geschadet, sich etwas Neues einfallen zu lassen.

    Rainer Hank

  • 12. August 2019
    Monika Grütters' teures Kino

    Monika Grütters Foto: Elke Jung-Wolff

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum kriegt die Kultur immer mehr Geld?

    Kürzlich waren wir mal wieder im Kino. »Yesterday« heißt der wunderschöne Sommerfilm, in dem ein ziemlich erfolgloser Musiker Kapital daraus schlägt, dass der Rest der Menschheit vergessen hatte, dass es einmal die Beatles gab, was dem Sänger die einmalige Gelegenheit gibt, Yesterday, Eleanor Rigby oder Let it be als eigene Songs auszugeben. Yesterday ist nicht nur lustig für Nostalgiker der sechziger Jahre. Auch Pop-Star Ed Sheeran hat dort einen selbstironischen Aufritt. Das Onlineportal Kinofenster.de empfiehlt den Streifen für Schulkinder in den Fächern Musik, Englisch, Deutsch und Geschichte und bietet Materialien für den Unterricht. Prädikat »Pädagogisch wertvoll« gewissermaßen. Und das alles ohne staatliche Subventionen.

    An »Yesterday« musste ich denken bei der Lektüre eines Interviews mit der Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) in der SZ. Dort wird festgestellt, dass die Besucherzahlen in den deutschen Kinos zurück gehen. Nur noch 37 Prozent der Deutschen gehen mindestens einmal pro Jahr ins Kino. Vor zehn Jahren waren es noch 45 Prozent. Da kann man nichts machen, denke ich. Es ist ja nicht so, dass die Leute aufhören, Filme zu gucken: Dazu muss man sich nur die Abonnementzahlen von Amazon, Netflix & Co anschauen. Zum Filmgucken braucht es kein Kino, was Vor- und Nachteile hat: Es fehlt das Großleinwanderlebnis, dafür ist es womöglich auf der heimischen Couch bequemer und der Film zu jeder Tages- und Nachtzeit verfügbar.

    Doch Frau Grütters ist alarmiert und zieht einen sehr merkwürdigen Schluss: Wenn weniger Leute in die Kinos gehen, müssen die Subventionen für den Film erhöht werden, findet sie. Allgemeiner formuliert hieße ihre Regel: Wenn ein Produkt weniger nachgefragt wird, müssen wir es umso mehr mit staatlichen Mitteln am Leben halten. Allgemein gilt die Regel freilich für Frau Grütters gerade nicht: Die Leute gehen auch weniger zu Pop-Konzerten und lesen seltener Zeitung als früher. Doch Pop-Gruppen und Zeitungsverlage werden von Frau Grütters nicht alimentiert. Netflix hält Frau Grütters aber ganz offensichtlich für einen Feind, den der Staat mit Geld bekämpfen muss: »Verführerisch« sei es, sich einen brandneuen Film auf dem Sofa anzusehen. »Wahrscheinlich macht das jeder gelegentlich«, räumt die Ministerin ein. Igitt! Dem unanständigen häuslichen Treiben will sie Einhalt gebieten. Denn am Ende verkümmere der »Kulturort Kino«.

    »Other Peoples Money«

    Misst man die Politiker einer Regierung am Geldausgeben, so ist Monika Grütters mit Abstand die erfolgreichste Ministerin im Kabinett Merkel. Seit Amtsantritt im Jahr 2013 hat sie ihren Etat um fünfzig Prozent auf 1,9 Milliarden Euro gesteigert. Das kriegen selbst die Sozialminister nicht hin, die freilich – um die Kulturkirche im Dorf zu lassen – mit größeren absoluten Beträgen – eine Billion Euro im Jahr – hantieren dürfen. Frau Grütters indessen sitzt auf Geldtöpfen, die es vor zwanzig Jahren noch gar nicht gab, weil hierzulande eigentlich der gute Grundsatz galt, dass Kultur, wenn man sie schon staatlich päppeln müsse, Ländersache sei. Doch dann kam Kanzler Gerade Schröder (SPD) und sein erster Kulturmann Michael Naumann. Seither mischt der Bund kulturell kräftig mit, erhöht den eigenen Finanzanteil und verdrängt mehr und mehr die Länder und Kommunen aus dem Kulturbusiness. Kultur schmückt die Mächtigen. Das wissen sie auch in Berlin.

    Nun muss man gar nicht so weit gehen, staatliche Kulturförderung als Ganzes zu verdammen. Die 265 Millionen Euro für die »Stiftung Preußischer Kulturbesitz«, die 15 Millionen für die »Klassikstiftung Weimar«, die 64 Millionen für das Bundesarchiv Koblenz oder die 55 Millionen für die – übrigens wunderschöne – Nationalbibliothek Frankfurt scheinen uns gut ausgegebenes Geld zu sein. Abseits solch subjektiver Präferenzen lassen sich auch ökonomische Gründe anführen: Der Staat soll subsidiär dort einspringen, wo ein privates Angebot fehlt, gleichwohl aber Einvernehmen herrscht, dass es sich um eine gesellschaftlich wichtige Aufgaben handelt. Die Pflege des kulturellen Erbes (Archive, Bibliotheken) nicht nur in Zeiten, in denen der gesellschaftliche Zusammenhalt brüchig geworden ist, zählt zweifellos dazu. Natürlich gibt es auch private Bibliotheken. Doch es dürfte schwer sein, einen privaten Stifter zu finden, der den Auftrag der Deutschen Nationalbibliothek finanziert, ausnahmslos alle deutschen Publikationen zu sammeln und der Allgemeinheit zugänglich zu machen.

    Können die Reichen ihre Bayreuth-Karten nicht selbst bezahlen?

    Doch warum muss der Staat in Bayreuth mit jährlich knapp drei Millionen Euro wohlhabende Bürger bespaßen? Haben die Reichen kein Geld mehr, um ihre Tristan-Karten selbst zu bezahlen? Und warum kriegt der Film allein von Frau Grütters knapp 200 Millionen Euro im Jahr; nimmt man alle anderen öffentlichen Töpfe hinzu, sind es 450 Millionen Euro. Frau Grütters bemüht sich noch nicht einmal um eine vernünftige Begründung. Den Erfolg der Kulturförderung liest sie daran ab, dass der Staat immer mehr Geld ausgibt. Was der Begründung bedürfte, gilt bereits als Grund. Und dann wird es auch noch widersprüchlich: Einerseits sollen kulturell hochstehende Nischenfilme, die kaum Zuschauer haben, eine Chance erhalten. Andererseits rechtfertigt Grütters Staatsmillionen für kommerziell erfolgreiche Nonsensfilme (»Fuck You Göhte 3«) als »Standortförderung«. Marktversagen liegt hier offenkundig nicht vor (allenfalls Geschmacksversagen, aber darüber lässt sich bekanntlich streiten). »Standortförderung« soll heißen: ein öffentlicher Euro zieht sechs privat investierte Euros (für Popcorn etc.) nach sich. Selbst wenn diese bei Politikern beliebte »Hebel-Theorie der Subvention« (eine Art kulturpolitischer Vulgär-Keynesianismus) sich bewahrheiten würde, bleibt doch auch wahr, dass ein Euro nur einmal ausgegeben werden kann: Wer Popcorn im Kino kauft, kann davon keine Möhre im Bioladen erstehen.
    Noch einmal: Es geht nicht um eine Kahlschlagplädoyer. Sondern um das Recht des Steuerbürgers, die Politiker mögen ihm Rechenschaft geben über die Verwendung seines Geldes. Es kann nicht Aufgabe der Politik sein, Branchen, die schrumpfen zu fördern, nur weil es deren Lobbys gelingt, ihr Geschäftsmodell als kulturell hochstehend auszugeben. Wenn die Menschen weniger ins Kino oder in die Buchhandlung gehen, die Filme aber zuhause streamen und sich die Bücher sich von Amazon besorgen, liegt kein Kulturversagen oder –verfall vor. Noch nicht einmal die (problematische) ökonomische Theorie meritorischer Güter greift, wonach der Staat einspringen soll, wenn der Markt im Vergleich mit dem gesellschaftlich erwünschten Umfang ein zu geringes Angebot bestimmter Güter zur Verfügung stellt. Aber an (guten oder weniger guten) Hollywood-Filmen ist meines Wissens kein Mangel. Mein aktueller Netflix-Tipp: »Stadtgeschichten«, queeres Leben in San Francisco mit der wunderbaren, fast neunzigjährigen Olympia Dukakis.

    Schlimmer als die Verführung, die von Netflix ausgeht, ist die Verführung, die das Ausgeben des Geldes anderer Leute auf Politiker ausübt. Doch die ästhetische Erziehung der Bürger ist nicht Aufgabe des Staates. »Grütters› Staatskino« braucht keiner.

    Rainer Hank

  • 05. August 2019
    Das Trauma der deutschen Einheit

    Die Berliner Mauer als Kunstwerk

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum die Marktwirtschaft keine objektiven Werte hat

    Bald ist es dreißig Jahre her, ein Zeitraum von mehr als einer Generation: 30 Jahre Mauerfall am 9. November 1989. Es folgte ein knappes Jahr kreativer Ost-Anarchie, bis am 3. Oktober 1990 der erste Tag der deutschen Einheit gefeiert wurde. Welche ein Aufbruch! Ich erinnere mich an eine Recherche-Reise als Wirtschaftsjournalist im kalten Januar 1990 nach Leipzig, Halle und Ost-Berlin (damals noch »Hauptstadt der DDR«), die mir erschien wie die Entdeckung eines unbekannten Kontinents. Den Grenzübertritt in Herleshausen muss man sich vorstellen wie den Wechsel von Farbe zu Schwarzweiß mitten in einem Film. Hinter der Grenze waren die Häuser überall grau. Ich sollte die für das »Leseland DDR« legendären Verlage des Ostens besuchen. Bei Reclam Leipzig hatten sie gerade den verschlafenen Direktor gefeuert (»friedliche Revolution«) und setzten nun auf einen von den Mitarbeitern verwalteten Betrieb, eine Art jugoslawische Arbeiter-Kommune als Modell für die neue Zeit. Lauter sympathische Träumer waren das, »gärig« könnte man die Stimmung nennen, wäre das Wort nicht durch Alexander Gauland kontaminiert.

    Und heute? Katzenjammer, Ignoranz und viele böse Worte. Die Helden von damals streiten wie die Kesselflicker, wem das revolutionäre Vorrecht der welthistorischen Zäsur zusteht – den träumenden Protagonisten der DDR-Opposition oder dem Volk der Realisten, das endlich leben und konsumieren wollte wie die Brüder und Schwestern im westlichen Kapitalismus. Irgendwie sind sich alle einig, dass die Sache der Wiedervereinigung nicht richtig gelungen ist – vor allem nicht in den inzwischen in die Jahre gekommenen »neuen Bundesländern«, die immer mehr einer Art Nationalpark gleichen mit viel blühenden Landschaften und immer weniger, dafür aber immer lauter werdenden Enttäuschten, Abgehängten und Traumatisierten. Die erzählen sich und uns im Westen eine Geschichte der Entwürdigung und Entwertung. Vorige Woche lief auf ZDF-Info ein sehenswerter Film »Sachsen zwischen Mauerfall und Rechtspopulismus«, in dem das derzeit vorherrschende Ost-Narrativ zu Wort kam: Die westlichen Kapitalisten haben nach 1990 den Osten platt gemacht, um ihn als Absatzmarkt für ihre Westprodukte und als verlängerte Werkbank für billige Arbeitskräfte zu missbrauchen. Als Instrument dieser perfiden Politik gilt die brutal alles privatisierende Treuhand-Anstalt, auf die sich AfD, Linke und Teile der SPD (etwa die sächsische Integrations-Ministerin Petra Köpping) seit geraumer Zeit eingeschossen haben. Es sieht gerade so aus, als hätte es vor 1990 zwischen Ostsee und Elbsandsteingebirge blühende Landschaften gegeben, welche aus eigennützigen Gründen vom Westen zerstört wurden – eine Geschichtskonstruktion, die zwingend vom DDR-Sozialismus über den Neoliberalismus (Treuhand) in den AfD-Nationalismus führt.

    Ein kurzer Weg von Magedburg nach Wolfsburg

    Dass diese Deutung eine Pervertierung der Wahrheit ist, hat die ehemalige Treuhand-Chefin Birgit Breuel vor zwei Wochen im FAS-Interview klargemacht. Die Chemie-Region Bitterfeld-Leuna sei ihr vorgekommen, »wie eine Welt, die vergessen hatte unterzugehen«. Weit und breit nichts von blühenden Landschaften. Wo aber lagen dann die Fehler, dass Helmut Kohls Versprechen von damals vielen heute wie Hohn erscheint? In den neunziger Jahren gab es bei uns eine vorherrschende Deutung, wonach die Währungsunion (eine Ostmark gegen eine D-Mark) und die von Gewerkschaften und Arbeitgebern im Kartell beschleunigt vollzogene Lohnerhöhung ostdeutsche Arbeit und Produkte derart verteuert habe, dass diese am Markt nicht mehr absetzbar gewesen seien. Das Argument ist auch heute nicht falsch, klingt aber doch sehr theoretisch. Was hätte ein solcher Wettbewerbsvorteil gebracht? Der Treck nach Westen wäre nicht aufzuhalten gewesen, der Braindrain noch viel dramatischer ausgefallen. Seit der Flüchtlingskrise kennen wir Push- und Pullfaktoren: Zwischen Magdeburg und Wolfsburg gibt es noch nicht einmal ein Mittelmeer.

    Wenn die Mauer erst am 9. Novemer 2019 fiele

    Man stelle sich für einen Moment vor, die DDR existiere heute immer noch und die Maueröffnung stehe am 9. November 2019 erst noch bevor. Alle (auch die klügsten Ökonomen) wären vorbereitet und könnten alles besser machen. Ich wage die Vermutung, die Geschichte würde nicht viel anders verlaufen: Schock und Trauma des Systemwechsels wären nicht zu vermeiden, so fatalistisch es klingen mag. Woran das liegt? Es könnte damit zusammenhängen, dass es in einer Marktwirtschaft keine »objektiven« Werte gibt. Das ist schwer zu ertragen, weil es in Revolutionszeiten eine Erfahrung von Entwertung und Entwürdigung nach sich ziehen muss. Plötzlich waren die Fabriken und die in ihnen herstellten DDR-Produkte nichts mehr wert. Niemand, auch niemand in Osteuropa und selbst in den neuen Bundesländern, wollte noch einen Trabant kaufen, den zugeteilt zu bekommen kurz vorher noch ein großer Wert gewesen wäre. An der objektiven Beschaffenheit des Trabant hatte sich vor und nach 1989 nichts geändert. Trotzdem war er wertlos geworden: dabei hatten die Arbeiter ihn immer noch so gewissenhaft gefertigt wie früher. Aber ihre Arbeit wurde plötzlich nicht mehr gebraucht. Solch eine Entwertung vergisst man nie. Womöglich kommt die Wut erst Jahre später.

    Man kann sich diese »subjektive« Wertlehre der Marktwirtschaft an einem ganz anderen historischen Beispiel klarmachen: Als am 11. November 1918 genau um elf Uhr zwischen den kriegführenden Parteien des Ersten Weltkriegs ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde, waren die modernsten britischen Panzer, die auf Befehl von Rüstungsminister Winston Churchill gerade fertig geworden waren, auf einen Schlag nichts mehr wert. An den Panzern selbst hatte sich nichts geändert – bloß der Preis verfiel. Der aber ist entscheidend, weil einzig er den Wert einer Sache definiert. Er hängt bekanntlich von Angebot und Nachfrage ab. In den neunziger Jahren haben offenkundig noch nicht einmal die Marktwirtschaftler aus dem Westen ihrer subjektiven Werttheorie geglaubt. Anders wäre es nicht erklärbar, dass Detlev Rohwedder, der erste Präsident der Treuhand, den »Wert« der ostdeutschen Wirtschaft anfangs auf 700 Milliarden DM taxierte; am Ende stand da ein Defizit von über 200 Milliarden DM, das vom (west)deutschen Steuerzahler beglichen werden musste. Selbst wenn die Fabriken im Osten weniger verrottet gewesen wären, als sie es faktisch waren: sie wären wertlos geworden, nachdem keiner die Produkte mehr haben wollte.

    Karlheinz Paqué, ein Ökonomieprofessor aus Magdeburg, der viel über die deutsche Vereinigung geforscht hat, vermutet, dass uns das Verständnis für die Irrelevanz des Sachkapitals heute, im digitalen Zeitalter, vertrauter geworden sei. »Flixbus« ist nicht erfolgreich, weil der Firma viele grüne Busse gehören. Die standen früher wertlos auf den Fuhrparks der Provinz herum. Der »Wert« von Flixbus beruht auf einer simplen Idee, nämlich einer Plattform, welche die Wünsche der Kunden koordiniert. Vielleicht wüssten wir eines heute besser: Es kommt nicht auf Kapital und Transfers an, es kommt auf Ideen an. Aber wer hätte für diese Erkenntnis weitere 30 Jahre Sozialismus in Kauf nehmen wollen?

    Rainer Hank

  • 29. Juli 2019
    Geht uns die Arbeit aus?

    Vita activa, konkret

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum ein Grundeinkommen so viele Freunde hat

    Maria und Martha sind Schwestern. In der Bibel wird von ihnen erzählt. Jesus ist zu Besuch bei den Frauen. Während Maria sich sogleich zu Jesu Füßen setzt und seinen Reden lauscht, macht Martha – wie Luther übersetzt – »sich viel zu schaffen, ihm zu dienen«. Offensichtlich werben beide Frauen um die Gunst des charismatischen Mannes. Martha provoziert: Ob der Meister es nicht merkwürdig finde, dass sie alleine die ganze Arbeit mache, während die Schwester immer bloß dasitze und lausche? Doch Jesus erteilt ihr eine Abfuhr: »Was werkelst Du und kümmerst Dich um alle möglichen Dinge?« Maria hat es besser angestellt: Sie konzentriert sich auf das, was wesentlich ist – sie ist ganz Ohr für das Wort des Herrn.

    Die Geschichte von Maria und Martha ist ein Schlüsseltext zum Stellenwert der Arbeit. Er erinnert, was heute vergessen ist: dass über lange Jahrhunderte die Arbeit einen schlechten Leumund hatte. Wer es sich leisten konnte, machte sich von Arbeit frei. Die »vita contemplativa«, die betrachtende Muße, rangierte weit über der »vita activa«, dem tätigen Leben. Erst seit der Neuzeit gilt die Arbeit als die Quelle des Reichtums. Und zwar nicht einfach jede Arbeit, sondern eine Arbeit, die produktiv ist und die gegebenen Ressourcen effektiv nutzt. Das Ansehen der Arbeit wurde ungleich aufgewertet; sie bringt Sinn und Geld in das Leben. Die Reihenfolge ist wichtig: Erst kommt die Arbeit, dann das Geld und nicht umgekehrt. Ohne Fleiß kein Preis.

    Die Tyrannei der Arbeitsgesellschaft

    »Die Neuzeit hat im siebzehnten Jahrhundert damit begonnen, die Arbeit zu verherrlichen«, schreibst Hannah Arendt: »Und sie hat zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts damit geendet, die Gesellschaft im Ganzen in eine Arbeitsgesellschaft zu verwandeln.« Das macht die Welt egalitär; jeder ist ein Arbeiter, der Hausmeister im Berliner Kanzleramt genauso wie Angela Merkel, die Kanzlerin: Auch sie hat einen Job, macht ihn sogar ganz ordentlich, wie viele sagen.

    Kein Wunder, dass die Ahnung, der Arbeitsgesellschaft könne die Arbeit ausgehen, seither eine Horrorvorstellung ist. Einer Welt, die sich ausschließlich auf die Arbeit versteht, muss die Androhung einer Welt ohne Arbeit als der Absturz in das Nichts erscheinen. Wovon sollen wir dann noch leben? Was gibt uns dann noch Sinn? Gewiss, sporadisch machen Utopien eines »Rechts auf Faulheit« die Runde. Der große Ökonom John Maynard Keynes träumte in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts davon, dass für seine Enkel und Urenkel – also für uns – der wirtschaftliche Fortschritt die wichtigsten Bedürfnisse erfüllt habe. Arbeit werde eine Sache für Spezialisten, so ähnlich wie die Zahnheilkunde. Der Rest der Menschheit kann sich schöneren Dingen zuwenden und sich erfreuen an den Lilien auf dem Feld.

    Es ist dann bekanntlich anders genkommen. Weder haben sich die Menschen von der Arbeit befreit, noch wollten sie es. Immer noch ist die Arbeit Quelle unseres Reichtums; wir sind inzwischen alle ungleich reicher (zumindest in den Industrieländern) als Keynes und seine Zeitgenossen. Abermals ist deshalb die Angst immens, eine neue, technologisch verursachte Arbeitslosigkeit werde uns in den Abgrund reißen.

    Lasst euch was Neues einfallen

    Die beste Antwort auf die Drohung, uns werde von den Maschinen die Arbeit abgenommen, heißt immer noch: Dann erfinden wir eben eine andere, neue Arbeit, für die es (noch) keine Maschine gibt. Wir werden Personaltrainer im Fitnessstudio (die vermehren sich derzeit ungemein) oder programmieren die Roboter (die vermehren sich derzeit auch: die KI-Programmierer wie die Roboter). Der Verweis auf den Arbeit schaffenden menschlichen Erfindergeist ist schlagend. Allerdings sollte man die Zeit nicht unterschlagen, die vergeht zwischen der Vernichtung der alten Arbeit und der Entstehung neuer Arbeit, wie der Wirtschaftshistoriker Carl Benedikt Frey in seinem neuen Buch »The Technology Trap« schreibt (Patrick Bernau hat das Buch in der F.A.S. vom 19. Juni vorgestellt).

    Nach Freys Forschungen gibt es zwei sehr unterschiedliche Verläufe einer technologischen Revolution: Im frühen 19. Jahrhundert, als die Industrialisierung in England los ging, haben Spinn- und Webmaschinen ein Heer von Arbeitslosen produziert: Maschinen ersetzen Menschen. Die Produktivität verbesserte sich, Produkte wurden billiger, was wiederum vielen Menschen Arbeit gab. Kurzfristig ein Verlust, langfristig ein Gewinn: Diejenigen, die später Arbeit bekamen, waren leider nicht die diejenigen, die sie früher verloren haben. »Kurzfristig« kann für manche eben das ganze Leben gewesen sein. Dagegen hat die technologisch verursachte Automatisierung des 20. Jahrhundert Arbeitsplätze nicht vernichtet, sondern gleichzeitig neue Beschäftigung kreiert: An den Fließbändern der Automobilindustrie oder in den Fabriken, die Kühlschränke, Waschmaschinen oder Backöfen für jeden Mittelschichtshaushalt produzieren.

    Bloß kein Grundeinkommen

    Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Algorithmen sind die Treiber unserer heutigen technologischen Revolution. Noch wissen wir nicht, nach welchem Muster sie verläuft. Carl Benedikt Frey, der Wirtschaftshistoriker, befürchtet, es könnten – kurzfristig – viele Jobs verschwinden, wie damals im frühen 19. Jahrhundert. Die Furcht vor Jobverlust erklärt den Erfolg populistischer Politiker.

    Ist es ein Wunder, dass gerade jetzt die Idee eines »bedingungslosen Grundeinkommens« wieder in Mode kommt? Jeder zweite Deutsche findet es prima. Der Grundansatz ist von »provozierender Schlichtheit«, wie die Ökonomen Philip Kovce und Birger Priddat in einem gerade bei Suhrkamp erschienenen verdienstvollen Reader schreiben: Jeder Bürger eines Gemeinwesens soll lebenslang ein existenzsicherndes Einkommen beziehen, das ihm als individueller Rechtsanspruch ohne etwaige Arbeitspflicht oder Bedürftigkeitsprüfung gewährt wird. Alter, Bildung, Beruf, Vermögen – all das soll keine Rolle spielen.

    Konzentrieren wir uns auf den philosophischen Kern des Grundeinkommens, so bestätigt sich Hannah Arendts Analyse, wonach wir die Automation stets als Fluch und nicht als Segen zu erleben pflegen. Das »bedingungslose Grundeinkommen« verspricht Befreiung vom Zwang der Arbeit und will aus der Not (Automatisierung) eine Tugend (Geld auch ohne Arbeit) machen. Doch die Bedingung des bedingungslosen Grundeinkommens heißt: Wenige müssen mehr oder produktiver arbeiten, um das bedingungslose Grundeinkommen der vielen zu finanzieren. Falsche Anreize sind der bleibende Widerspruch dieser Utopie. Es geht ihr nicht darum, die »vita activa« durch eine neue Form der »vita contemplativa« zu ersetzen. Es geht ihr »lediglich« um Kompensation.

    Der Arbeitsgesellschaft können und wollen wir nicht entrinnen. Sollten diejenigen Recht behalten, die einen kurzfristigen Verlust vieler Arbeitsplätze befürchten, wäre wohl tatsächlich eine kompensatorische Politik nötig – nicht nur aus Furcht vor einer weiteren Radikalisierung der Populisten. Doch es gibt gute und weniger gute Kompensation. Vom Grundeinkommens halte ich nichts. Aber was dann? Dazu mehr in einer der nächsten Folgen von »Hanks Welt«.

    Rainer Hank