Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 28. Mai 2022
    Wenn Männer schwanger werden

    Können auch Männer schwanger werden? Foto: StockSnap/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie aus guten Einfällen große Ideen werden

    Wenn man 1000 Männer auf eine Schwangerschaft testet mit einem Test, der 99 Prozent Spezifizität hat (vergleichbar einem Corona-Antigentest), dann werden zehn Testergebnisse am Ende positiv sein. Wenn man eine Million Männer testet, sind es schon 10 000. Glaubt man den Testergebnissen, müssten wir eine unerwartete Schwangerschaftsepidemie unter Männern diagnostizieren – womöglich ein erster Schritt auf dem Weg zur wahren Gleichberechtigung unter den Geschlechtern.
    In Wirklichkeit – so viel Statistik haben wir seit Corona gelernt – handelt es sich hier um ein Phänomen, das wir »falsch positiv« nennen und das dadurch entsteht, dass es keinen Test vollkommener Güte (»Spezifizität«) gibt. Kurzum: wir werden uns an einen gewissen Prozentsatz schwangerer Männer gewöhnen müssen.

    Wie können wir uns dagegen wappnen, »falsch positiven« Effekten auf den Leim zu gehen? Auch das hat uns Corona gelehrt: durch Wiederholung (»Replikation«) des Tests. Am besten mit Tests anderer Hersteller. Unterbleiben solche von unabhängigen Instanzen replizierte Kontrollen, kann es ziemlich schnell teuer und schlimmstenfalls auch kriminell werden.

    Als Beispiel können wir Elisabeth Holmes nehmen. Holmes, geboren 1984, war Geschäftsführerin des Laborunternehmens »Theranos«. Nach der Unternehmensgründung brach sie 2003 ihr Studium an der Stanford Universität ab und hielt später einen Anteil von 50 Prozent an dem Unternehmen. Das Time-Magazin zählte Holmes 2015 zu den hundert einflussreichsten Personen der Welt. Klug und charismatisch, wie sie war, galt sie als eine Art weiblicher Steve Jobs. Im selben Jahr kam heraus, dass ihr Kernprodukt – ein Blutschnelltest, der angeblich 240 Krankheiten nachweisen konnte – weitgehend unwirksam ist. Holmes wusste dies, verschwieg es aber. Ihr Vermögen wurde 2015 auf 4,5 Milliarden Dollar geschätzt – und im Jahr darauf mit Null bewertet. Die amerikanische Börsenaufsicht sprach von Betrug in großem Stil; Theranos wurde dicht gemacht. Am 3. Januar 2022 wurde Holmes in vier von elf Anklagepunkten schuldig gesprochen. Das Strafmaß soll am 12. September verkündet werden; theoretisch sind vier Mal 20 Jahre möglich.

    Das Beispiel Theranos

    Was hat Elisabeth Holmes mit der Falsch-Positiv-Falle zu tun? Mehr als man auf den ersten Blick denkt. Tatsächlich scheint bei dem Blutschnelltest eine unabhängige wiederholende Kontrolle seiner Wirksamkeit unterblieben zu sein. Blindes Vertrauen in die charismatische Großaktionärin verbunden mit Geldgier hatten alle Skepsis außer Kraft gesetzt. Die Tests wurden in großen Stückzahlen auf den Markt gebracht. Elisabeth Holmes, die von Kursgewinnen und Aktien-Optionen profitierte, hatte keine Anreize den Betrug einzugestehen, die Investoren im Bündnis mit ihr ebenso wenig.

    Für John List, einen an der Universität Chicago lehrender Ökonomen, ist der Theranos-Krimi ein prominentes Beispiel dafür, wie gute Geschäftsideen scheitern können. Elisabeth Holmes wurde nicht als Kriminelle geboren. Sie verstrickte sich aber in lügnerischen Betrug, als sie zu spät erkennen musste, dann aber verbergen wollte, dass ihre Tests nicht taugen.

    Es gibt tausend Gründe, warum gute Ideen scheitern können und ihnen der Erfolg verwehrt ist, sagt der Ökonom John A. List. Es hat sich dafür der Begriff »Anna-Karenina-Prinzip« eingebürgert nach dem berühmten Anfang von Tolstois Roman: »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.« Das erklärt zugleich, warum wir uns für die unglücklichen Geschichten – der Anna Karenina oder der Elisabeth Holmes – mehr interessieren als für die glücklichen, aber einander gleichenden Geschichten. Aus den Einzelfällen wird am Ende Literatur; Elisabeth Holmes hat es inzwischen zu einer Miniserie auf einem Streamingdienst gebracht.
    Wann wird eine gute Idee erfolgreich? Lists Kriterium heißt »Skalierbarkeit«. Das hört sich kompliziert an, ist es aber nicht: »Skalieren« bedeutet, eine Erfindung hat auf eine große Gruppe von Menschen Einfluss – bringt ihnen Nutzen für ihr Leben und Profit für das Unternehmen, von dem sie stammt. Bei Theranos war der Nutzen frei erfunden. Erfolgreiche Skaleneffekte haben sowohl McDonalds oder Biontech wie auch die Bewegung »Friday for Future«. Der Klassiker ist Johannes Gutenbergs Erfindung des modernen Buchdrucks: Ein mit der Hand arbeitender Mönch benötigte für das Abschreiben einer Bibel ein ganzes Jahr; mit Gutenbergs Presse ließen sich in einem Jahr annähernd hundert Bibeln drucken. Ohne Gutenberg hätte Luthers Wiederentdeckung der biblischen Botschaft (»sola scriptura«) kaum Durchsetzungschancen gehabt.

    John Lill übrigens ist nicht nur Professor für Ökonomie an der Universität Chicago, sondern auch Chefökonom der Taxi-Plattform Lyft. Zuvor hatte er den gleichen Posten beim Konkurrenten Uber inne. In seinem neuen Buch »The Voltage Effekt« (»Der Spannungs-Effekt«) bringt er eine Fülle von Beispielen, warum eine Idee noch so phantastisch sein kann und sich trotzdem nicht durchsetzt – eben weil beim Versuch der Skalierung die Spannung abfällt vergleichbar der von Widerständen behinderten Elektrizität in einer Stromleitung. Lists Ideen gewinnen ihre Überzeugungskraft aus der Verbindung von Statistik, Big-Data-Analysen und Erkenntnissen der neuen Verhaltensökonomie. Es versteht sich, dass für den Lyft-Chefökonom Uber, Lyft & Co. Beispiele erfolgreicher Skalierbarkeit sind, die das Taxigewerbe weltweit revolutioniert haben.

    Warum der Arch-Burger floppt

    Am besten studiert man immer als erstes die Logik des Misslingens, um rechtzeitig zu erkennen, ob eine Idee das Potential der Skalierbarkeit in sich trägt. Mitte der neunziger Jahre ließ McDonalds von sorgfältig ausgewählten Testpersonen einen neuen Burger mit Namen »Arch Deluxe« entwickeln. Er enthielt raffinierte Zutaten und sollte etwas teurer werden als das normale Sortiment. Die Fokus-Gruppen im Test fanden Arch Deluxe großartig. Doch in den McDonalds-Filialen floppte der raffinierte Klops.

    Was war schiefgelaufen? Jene Versuchspersonen, die sich zu den Tests bereit erklärt haben – so stellte es sich im Nachhinein heraus – mochten McDonalds immer schon sehr – allzu sehr. Sie kannten das ganze Sortiment und wollten mal was Neues probieren. Dass der durchschnittliche Kunde seinen Hamburger oder Cheeseburger wie gewohnt haben will und keinen Sinn für neumodische Experimente hat, kam dem Unternehmen nicht in den Sinn. Merke: Die schönsten Innovationen taugen nichts, wenn sie den Kunden kalt lassen.

    Müssen alle guten Ideen skalierbar sein, um erfolgreich zu sein? Nein. Es gibt auch Ideen, die erfolgreich sind, weil sie nicht skalierbar sind. Wahre Stars sind einzigartig. Cecilia Bartoli, die Diva, kann man nicht skalieren. Bei einem Sterne-Koch ist es ähnlich. Da mag man nicht in einer Filiale sitzen, die seinen großen Namen trägt, aber vom Hilfskoch betrieben wird.

    Rainer Hank

  • 11. Mai 2022
    Muskel-Männer

    Muskeln spielen lassen Foto kremlin/ru

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie moderne Diktatoren ticken

    Es war am 2. Dezember 1805 gegen Abend, als Napoleon das Schlachtfeld auf dem Pratzberg bei Austerlitz abritt. Die französischen Truppen hatten den Kampf für sich entschieden. Napoleon durfte sich als strahlender Sieger fühlen.

    »Voilà une belle mort« (»Sieh da, ein schöner Tod«), rief Napoleon, als er Fürst Andrej sah, der auf dem Rücken lag. Andrej, ein Offizier im Dienst der russischen Armee, verstand, dass der Franzose ihn offenbar für tot hielt. In Wahrheit war er zwar schwer verwundet, aber am Leben. Der Kopf brannte ihm; er spürte, dass er Blut verlor und er sah über sich den hohen und ewigen Himmel. Andrej hatte realisiert, dass es Napoleon war, der vor ihm stand – der Held seiner Jugend. Aber in diesem Moment schien ihm Napoleon ein so kleiner unbedeutender Mann im Vergleich zu dem, was zwischen seiner Seele und diesem hohen und unendlichen Himmel mit den über ihn hineilenden Wolken vor sich ging.
    Die Begegnung zwischen Napoleon und dem russischen Fürst Andrej ist berühmt. Geschildert wird die Entzauberung des Kriegshelden im Moment seines größten Triumpfes. Sie steht im 19. Kapitel des 3. Buches von Lew Tolstois »Krieg und Frieden«. Der Sieger schrumpft in den Augen des Besiegten zur Bedeutungslosigkeit.

    In der Pandemie habe ich begonnen, Tolstoi zu lesen. Dass das Thema Krieg und Frieden bald real sein würde, konnte ich nicht ahnen. Napoleon, wie Tolstoi ihn beschreibt, ist ein typischer Fall des »Strongman«. Er hält sich für den allergrößten Feldherrn, die Siege bestätigen ihn – und führen dazu, dass er die Risiken seiner Weltbeherrschungsfantasie unterschätzt und am Ende scheitert.

    In seinen Größenfantasien hält sich auch Wladimir Putin für unbesiegbar. Er verklärt sich zum Retter des russischen Imperiums, das er vor den »faschistischen« Ukrainern und der Dekadenz des Westens schützen muss. Er umgibt sich mit Männern seines Vertrauens, die ihm sagen, was er hören mag. Die Welt, nicht zuletzt die Deutschen, haben Angst vor Putin. Aber seine Macht beginnt zu bröckeln und seine Größe schrumpft, nicht erst seit er diesen mörderischen Krieg losgetreten hat.

    Männer mit Adonis-Komplex

    »Strongman«-Syndrom« ist ein Begriff aus der Medizin. Grob gesagt handelt es sich um eine Störung des Selbstbildes bei Männern (»Muskeldysmorphie«), die von der fixen Idee gefangen sind, ihr Körper sei zu wenig muskulös (»Adonis-Komplex«). Sie dopen sich mit Muskelaufbaupräparaten und ernähren sich falsch, weil sie ständig ihrer Umgebung beweisen müssen, was für ein athletischer Mann sie sind. Den Vorwurf, es sei obszön, mit nacktem Oberkörper zu Pferde oder beim Fischfang zu posieren, parierte Putin 2011 in einem Interview mit dem US-Magazin »Outdoor Life«, indem er sich zu Ernest Hemingway als Vorbild exponierter Männlichkeit bekannte, der sein »inneres Selbst« geformt habe.

    Es geht mir hier weniger um eine Psychologie der Männlichkeit, sondern – wie schon vergangene Woche – um die Bedrohung des westlichen Liberalismus durch sich demokratisch gerierende Autokraten. Der zentrale Konflikt unserer Welt dreht sich nicht mehr um den Gegensatz zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Die neue Konfliktlinie scheidet »liberale Demokratien« von »illiberalen Demokratien«. Illiberale Demokratien missachten Rechtsstaatlichkeit und verschreiben sich dem Populismus und Nationalismus. An der Spitze illiberale Regime steht in auffallend vielen Fällen ein kraftstrotzender Führer.

    Diesen Typus des Autokraten nennt Gideon Rachmann, ein Journalist der Financial Times, in einem gerade erschienenen Buch »Strongman«. Man könnte es mit »Muskelmann« übersetzen. Darunter fallen neben Putin der Ungar Orban, der türkische Präsident Erdogan, der Inder Modi, der Brasilianer Bolsonaro, der Chinese Xi Jinping und der Venezolaner Hugo Chavez. Auffallend viele körperlich kleine Männer tummeln sich hier. Die Aufzählung zeigt, dass man mit der links-rechts-Unterscheidung nicht weiterkommt. Würde Marine Le Pen die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewinnen, bekäme der Club die erste »Strongwoman« als Mitglied. Es sieht so aus, als ob Deutschland keinen Kandidaten in diesen Kreis schicken kann; die AfD-Leute würden die Aufnahmeprüfung nicht bestehen.

    Der Strongman pflegt einen ausgeprägten Person- und Führerkult, gibt sich volksnah, vertritt die Überzeugung, dass er und nur er allein die Nation retten kann gegen seine Feinde von außen (Überfremdung). Es geht ihm um die dauerhafte Monopolisierung seiner Macht. Eng wird es für ihn erst am Ende: weil er sich für unersetzbar hält, verzichtet er darauf, seine Nachfolge zu klären. Das machtsensible Realitätsbewusstsein, das ihn auszeichnet, weicht nicht selten der Paranoia.

    Die Raffinesse der Spin-Diktatoren

    Sergei Guriev, ein liberaler russischer Ökonom, der im französischen Exil lebt, nennt die »Strongmen« von heute »Spin-Dikatoren«. Die Autokraten von früher heißen »Angst-Diktatoren«. Angst-Diktatoren (Stalin, Hitler, Mao) unterdrücken ihre Völker mit brutaler Gewalt. Spin-Diktatoren erzählen ihren Bürgern Stories. Ihr »spin«, ein »Dreh« der Wahrheit, ist ein Propagandatrick, mit dem sie den Menschen einreden, sie lebten in einem lupenrein demokratischen und freien Land. Pressefreiheit herrscht formal, aber nur die gewogenen Medien erhalten Zugang zu Informationen. Entscheidungen der Gerichte werden respektiert, aber erst nachdem der Diktator die Gerichte zuvor mit ihm willfährigen Juristen besetzt hat. Spin-Diktatoren sind raffinierter als die Angst-Diktatoren. Sie arbeiten nicht mit Repression, sondern mit Manipulation. Statt Rebellion zu unterdrücken sorgen sie dafür, dass der Wunsch nach Rebellion gar nicht erst erwacht. Ihre Popularität nutzen sie zur dauerhaften Stabilisierung ihrer Macht. Angst-Diktatoren bearbeiteten Dissidenten mit Gehirnwäsche und Folter, Spin-Diktatoren trachten danach, die öffentliche Meinung so zu beherrschen, dass Dissidenz gar nicht erst aufkommen kann.

    Die Wahlen in Ungarn bestätigen das Bild: Niemand bestreitet, dass mehr als fünfzig Prozent der Wähler Orban unterstützen. Sie wurden nicht gezwungen, ihr Wahlverhalten ist ein Erfolg großflächiger Propaganda und Marginalisierung der Opposition. Formal frei, aber rechtsstaatlich zutiefst unfair, könnte man sagen. Der Spin-Diktator Orban hätschelt die Demokratie und hebelt den Rechtsstaat aus.

    Auch Putins Spin funktioniert bis heute im eigenen Land nach diesem Muster. Die Mehrheit der Bürger glaubt ihm seine Lügen. Die Mehrheit in Russland scheint sogar zu glauben, die Nachrichten über den Völkermord in Butscha müssten Fälschungen sein.

    Putin hat sich – in der Terminologie von Sergei Guriev – inzwischen vom Spin-Diktator zum repressiven Angst-Diktator stalinistischer Schule zurück entwickelt. Es könnte langfristig sein größter Fehler sein. Tausende Ukrainer zahlen dafür einen blutigen Preis.

    Rainer Hank

  • 02. Mai 2022
    Was sind westliche Werte?

    Francis Fukuyama. Oder das Ende der Geschichte. Foto: wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Es lohnt sich stets, Francis Fukuyama zu lesen

    Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine sei ein Angriff auf den Westen. So hört man es oft. Deshalb gelte es jetzt, die »westlichen Werte« zu verteidigen – mit Hilfe von Wirtschaftssanktionen, wenn es sein muss auch mit Waffen.

    Was sind westliche Werte? »Die Demokratie«, sagen viele. Die Antwort ist mindestens ungenau, man könnte auch sagen, sie ist falsch. Demokratie kennt viele Spielarten; nicht alle passen uns. Demokratie ist nicht mehr als ein Verfahren zur Legitimation einer Regierung durch das Volk. Das Volk kann auch Schurken wählen. Das ist dann nicht schön, aber immer noch Demokratie. Victor Orbán, der ungarische Regierungschef, ist stolz auf seine »illiberale Demokratie«. Liberalismus hasst er, Demokratie mag er: die Stimmen der Wähler stabilisieren seine Macht. Mit demokratischen Mitteln und einem ihn begünstigenden Wahlrecht hat Orbán sich zum Autokraten gewandelt. Seine Fidesz-Partei könnte an diesem Sonntag abermals die absolute Mehrheit im ungarischen Parlament erringen.

    Liberalismus und Demokratie werden oft synonym verwendet. Das ist falsch. Wenn es um die Verteidigung westlicher Werte geht, dann sollte es um liberale Werte gehen. Die sind das Erbe der (west)europäischen Aufklärung. Den Liberalismus würde ich mit Zähnen und Klauen verteidigen. Ob ich die Demokratie stets verteidigen würde, kommt darauf an. China und Nord-Korea haben beide autokratische Regime, die sich »Volks«-Republiken nennen. Wenn Premierminister Narendra Modi einen hinduistischen Nationalismus in Indien installiert, hat er nicht die Demokratie verraten – aber den Liberalismus. Wenn Polens Regierung unliebsame Richter auswechselt und die staatsunabhängige Presse stumm schaltet, ist das kein Verstoß gegen die Demokratie, aber ein schwerer Schlag gegen die Rechtsstaatlichkeit.

    Liberalismus bezähmt die Mehrheitsdemokratie

    Man kann noch weiter gehen: Liberalismus hält demokratische Regierungen in Schach gegen deren Verführungsanfälligkeit für Populismus und Nationalismus. Gewaltenteilung relativiert die Macht der Exekutive, schützt Minderheiten gegen demokratische Mehrheiten. Für den amerikanischen Politikwissenschaftler und Stanford-Intellektuellen Francis Fukuyama ist »klassischer Liberalismus« ein Instrument, »in pluralistischen Gesellschaften Toleranz friedlich zu managen«. Die zentralen Ideen heißen Freiheit, Toleranz und Respekt vor der persönlichen Autonomie. Diese Werte muss eine Regierung garantieren, die ihrerseits durch das Recht diszipliniert wird und dieses auch respektiert. Der Rechtsstaat sichert das Privateigentum, die Vertragsfreiheit und freie Märkte: Nichts davon darf eine demokratisch gewählte Regierung über Bord werfen. Liberalismus ohne Marktwirtschaft geht nicht. Demokratie ohne Liberalismus geht. Ob Liberalismus ohne Demokratie geht, ist umstritten.

    Dass der Liberalismus allenthalben auf dem Rückzug ist, lässt sich nicht übersehen. »Freedom House«, ein Thinktank in Washington, subsumiert für das Jahr 2020 nur noch 20,3 Prozent der Regierungen der Welt unter »free« (etwa Deutschland, Frankreich, Großbritannien, USA, Südafrika). 41,3 Prozent sind »not free« (Russland, China, Venezuela); 38,4 Prozent sind »partly free« (Ukraine, Ungarn, Singapur, Indien). Verglichen mit dem Jahr 2005 sind die Veränderungen in Richtung Illiberalität dramatisch: Damals zählten 46 Prozent der Staaten als »frei« und 31,1 Prozent »teilweise frei«.

    Für Francis Fukuyama müssen diese Fakten eine tiefe Kränkung sein. Im Sommer 1989, noch vor dem Mauerfall, wurde er weltberühmt mit einem einzigen Zeitschriftenartikel, der die Überschrift »Das Ende der Geschichte?« trug. Drei Jahre später wurde daraus ein Buch, der Titel blieb stehen – bloß das Fragezeichen war verschwunden. Das war dann doch etwas voreilig, wie wir heute wissen. Fukuyamas damalige These: Totalitäre Systeme, Kommunismus und Faschismus zum Beispiel, stellen keine politischen Alternativen mehr dar. Vielmehr sei der Weg frei für eine liberale Demokratie, ein irdisches Paradies der Freiheit. Totalitäre Systeme seien zum Scheitern verurteilt, weil sie der liberalen Grundidee (Schutzrechte des Bürgers gegen den Staat, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft) widersprechen. Ein bisschen naiv war das schon damals – nach dem Motto: Das Gute setzt sich am Ende in der Geschichte durch.

    Wohlfeil ist indessen die Häme, die sich seither über Fukuyama ergossen hat. Nichts ist produktiver als ein Irrtum von Format. Fukuyama arbeitet sich bis heute an seinem Fehlurteil ab. Sein gerade erschienenes neuestes Buch trägt den Titel »Liberalism and its discontents« (»Liberalismus und seine Zumutungen«). Es wurde vor Ausbruch des Ukraine-Krieges abgeschlossen, hat aber an Brisanz noch einmal gewonnen. Die These, salopp gesprochen: Der Liberalismus ist auch nicht mehr das, was er zu seinen besten Zeiten einmal war. Fukuyama äußert den Verdacht, der Liberalismus Mitschuld trage an der schwindenden Zustimmung zu den Werten der Freiheit und dem Siegeszug der Populisten und Autokraten.

    Dogmatische Neoliberale gegen Linksliberale

    Wie das? Einerseits hätten »dogmatische Neoliberale« (Ökonomen wie Gary Becker oder Milton Friedman), für Fukuyama sind das »Rechte«, aus der Idee freier Märkte eine Art absoluter Religion gemacht, Krisen des Kapitalismus nicht verhindert und zugelassen, dass in vielen Ländern (namentlich in USA) die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen unanständig und unerträglich geworden sei. Zugleich sei von den »Linksliberalen« die Idee der Toleranz und freien Rede als Privileg zum Machterhalt weißer Männer ideologiekritisch dekonstruiert worden (»repressive Toleranz«). Aus dem liberalen Auftrag, Ambiguität zu auszuhalten, wurde eine dogmatische Identitätspolitik: Gruppenloyalität unterscheidet zwischen Freund und Feind. Kurzum: Wenn der Liberalismus selbst kein gutes Beispiel mehr gibt, braucht man sich nicht zu wundern, dass Machthaber allerorten sich dem populistischen Nationalismus oder religiösem Fundamentalismus verschreiben.

    Über Fukuyamas Thesen lässt sich streiten. Das macht sie wertvoll. Sie dienen erkennbar auch der Legitimation der Tatsache, dass die Weltgeschichte nicht auf Fukuyamas These gehört hat. Ich bezweifle, dass Putin, Orbán und Erdogan sich zum lupenreinen Liberalismus bekennen würden, wären die Vermögensungleichheit in Amerika geringer und die LGBTQ-Bewegung der westlichen Eliten weniger lautstark. Trotz seiner moralphilosophischen und ökonomischen Überlegenheit war der Liberalismus für seine Gegner immer schon dekadent, wurde der Kapitalismus von ihnen immer schon als plutokratisch verunglimpft.

    Denen, die sich den Werten der Aufklärung verpflichtet fühlen, bleibt wohl nur, künftig noch entschiedener für liberale Toleranz zu streiten – und die Aporie zu ertragen, dass es keine Toleranz denen gegenüber geben darf, die ihre Politik auf Intoleranz, Krieg und Vernichtung gründen.

    Rainer Hank

  • 21. April 2022
    Es braucht ein Gas-Embargo

    Dmitrij Medwedjew eröffnet Nordstream 2 am 9. April 2010 Foto: Wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Sonst wird das nichts mit dem Wirtschaftskrieg

    »Monday-Morning-Quarterback« nennen sie in Amerika die Kommentatoren der Sonntags-Footballspiele, die immer schon gewusst haben wollen, wie man das Spiel hätte gewinnen können. Dummerweise sagen sie das aber erst hinterher.

    Von solchen späten Besserwissern fühle ich mich gerade umzingelt, wenn es um die Globalisierung und deren vermeintliche Naivität geht. Heute räche sich der Fehler einer zu engen wechselseitigen Verflechtung der Weltwirtschaft, so hören wir. Die Angewiesenheit der Deutschen auf russisches Gas und Öl verhindere ein wirkungsvolles Embargo gegen den Diktator Putin. Die internationale Arbeitsteilung der Lieferketten habe sich schon in der Corona-Krise als äußerst fragil erwiesen. Erst fehlen die Chips, seit Kriegsausbruch fehlen der deutschen Autoindustrie die Kabelbäume, weil die in der Ukraine hergestellt werden. Ökonomische Abhängigkeit – ein Irrweg?

    Die Besserwisser sagen: Haben die Globalisierer gar nicht gemerkt, wie »vulnerabel« wir geworden sind? Schluss damit: Das neue Paradigma heißt »Slowbalization«, Verlangsamung des Welthandels. Die dazu passenden Modebegriffe lauten Resilienz und Autarkie. Der Preis dafür wäre hoch – ein Rückfall der Zivilisation und ein Verlust von Wohlstand. Einigeln im eigenen Heim – die Hafermilch liefert der Bauer um die Ecke. Vielleicht finden wir bald auch einen heimischen Bohnenkaffee-Ersatz: Kathreiners Malzkaffee mussten wir in den fünfziger Jahren trinken.

    Nein, so doof wie sie heute dastehen, waren die Freunde der Globalisierung nie. Sehenden Auges wurde die weltweite Verflechtung der Wirtschaft vorangetrieben. Dafür gibt es ein starkes ökonomisches und ein ebenso starkes politisches Argument. Die Theorie der komparativen Vorteile weiß, dass in der internationalen Arbeitsteilung jedes Land sich auf das konzentrieren soll, was es relativ am besten kann – und dass davon wirtschaftlich alle profitieren. Politisch galt diese arrangierte Interdependenz als Friedensprojekt (»Wandel durch Handel«): Staaten, die miteinander Handel treiben, würden nicht aufeinander schießen, Warum sollten sie einander die Voraussetzungen ihres Wohlstands zerbomben? Wirtschaftliche Freiheit würde politische Freiheit nach sich ziehen, eine Fortschrittsentwicklung zum Nutzen aller. Aus globalen Kapitalisten würden am Ende gute Demokraten.

    Die ökonomische Hoffnung hat sich empirisch bewahrheitet: Von der Globalisierung profitierten die deutschen und amerikanischen Automobilhersteller und die Armen in China und Indien. Die politische Hoffnung freilich ist gescheitert: Wachsender Wohlstand führte nicht zu mehr Demokratien, sondern hat die Autokraten und »illiberalen« Demokraten in aller Welt politisch stabilisiert und nicht geschwächt: das gilt für China, aber auch für Russland, wo freilich Korruption und schwache Institutionen das Wachstum immer schon bremsten. Putins imperialistischer Krieg nimmt den schlimmsten wirtschaftlichen Niedergang des Landes und die Verarmung der Bürger in Kauf: Dem Exodus der ausländischen Investoren und dem Abzug der zugehörigen Technologie folgt der Braindrain von Humankapital. Wir hatten dem Imperator mehr egoistische Rationalität unterstellt. Das war der Fehler des Westens.

    Solidarität, die nichts kostet

    Nun hat allerdings selbst heute die wirtschaftliche Abhängigkeit nicht nur negative Folgen: Der Westen kann auf die militärische Aggression und Barbarei Putins (auch) mit einem Wirtschaftskrieg reagieren und muss nicht die militärische Eskalation riskieren. Das wäre in Zeiten des kalten Krieges allein deshalb keine Option gewesen, weil die Sowjetunion kaum in die Weltwirtschaft eingebunden also auch nicht verwundbar war. Heute ist das anders: Sanktionen wirken, westliche Unternehmen ziehen sich zurück.
    Man muss den Wirtschaftskrieg aber auch wollen. Mehr und mehr drängt sich der Verdacht auf, dass das ganze Solidaritäts-Gesäusel, das wir gerade von deutschen Politikern hören, nicht aufrichtig ist, so lange wir mehr mit uns selbst mitfühlen als mit den vom Krieg gequälten und getöteten Ukrainern.

    Niemand kann im Vorhinein Nutzen und Risiken eines Öl- und Gas-Embargos fehlerfrei saldieren. Bei deutschen Politikern merkt man freilich die Absicht und ist verstimmt: Ganz weit vorne steht ihre Angst vor murrenden Autofahrern an der Tankstelle (und die Furcht vor der Quittung dafür bei den anstehenden Landtagswahlen). Liebevoll führen wir Debatten, ob wir den deutschen Porschefahrern oder nur der Rewe-Kassiererin mit einem Rabatt auf den Spritpreis unter die Arme greifen dürfen. Wenn es um Gerechtigkeit geht, biegen wir stets in die Verteilungsstraße ein. Für die Ukraine haben wir Solidaritätsbekenntnisse auf den Lippen, die nichts kosten – einmal abgesehen von der Spenden- und Hilfsbereitschaft bei der Aufnahme der Flüchtlinge.

    Hätte ein Öl- und Gas-Embargo Wirkung? Und würden wir so etwas verkraften? Dazu gibt es inzwischen von Ökonomen viel Kluges und verständlicherweise auch Widersprüchliches zu lesen. Zur Wirkung eines Embargos auf Putin halte ich mich an den russischen Ökonomen Sergei Guriev, einen in Paris lehrenden Wissenschaftler (man sollte das auf Youtube in den Webinaren von Markus Brunnermeier nachhören). Guriev lässt keinen Zweifel: Die Öl- und Gaserlöse (einerlei, ob in Dollar, Euro oder Rubel bezahlt) benötigt Putin, um Importe zu finanzieren, die russischen Staatsschulden zu bedienen und seinen Haushalt zu stabilisieren. Ein möglichst umfassender Öl- und Gas-Boykott triebe das Land in den Staatsbankrott. Es wäre der schnellste Weg, Putins Krieg zu stoppen, sagt Guriev.

    Und die Kosten des Embargos hierzulande? Die Ausgabe deutscher Privathaushalte für Öl und Sprit lagen in den vergangenen Jahren historisch niedrig. Als der Liter Diesel im Jahr 2020 weniger als einen Euro kostete, gab es keine Gerechtigkeitsdebatte – dafür einen neuen Höchststand der Sparquote: Ein Teil dieser Ersparnisse ließe sich jetzt in einen echten Solidaritätsbeitrag eines Ölembargos umwidmen. Und die deutsche Wirtschaft? Die hat schon andere Rezessionen verkraftet. Moritz Schularick, ein Bonner Ökonom, bemerkt bissig: Die gleichen Unternehmen, die uns in der Vergangenheit erzählt haben, die Energieabhängigkeit von Russland sei kein Problem, sagen jetzt, wir können uns so schnell nicht von russischen Energielieferungen lösen.

    Ich will es nicht kleinreden: Stagnation und Inflation wären nicht schön; keiner weiß, wie lange es dauert. Aber der Vergleich mit der Zeitenwende der Ölkrise 1973 ist Unfug: Damals war die Abhängigkeit von Öl und Gas viel größer. Und die Energiepreise waren relativ höher als heute. Der Weltuntergang findet nicht in Deutschland statt. Viel eher findet er derzeit in Mariupol oder Kiew statt. Das muss verhindert werden.

    Rainer Hank

  • 21. April 2022
    Über die Menschenfresser

    Barbarei: Ukraine 2022 Foto Mikhail Volkov/unsplash

    Gibt es einen Fortschritt im moralischen Bewusstsein?

    Dass es einen Fortschritt gibt in der Geschichte, dies würde ich (fast) immer vehement verteidigen. Wir leben nicht nur länger als unsere Vorfahren. Wir leben auch besser und gesünder. Früher waren die meisten Menschen arm und nur wenige waren reich. Inzwischen geht es den meisten Menschen der Welt ordentlich – gemessen am Armutsbegriff der Weltbank: Arm ist, wer weniger als 1,90 Dollar am Tag zur Verfügung hat (bezogen auf die Kaufkraft im jeweiligen Land). Seit 1999 hat sich weltweit die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, um eine Milliarde verringert.

    Geht der wirtschaftliche, mit großen Freiheitsgewinnen verbundene Fortschritt einher mit einem Fortschritt der zivilisatorischen Verbesserung der Menschheit und ihres moralischen Verhaltens? War die Weltgeschichte also zu etwas nütze? Drei Generationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland aufgewachsen sind, haben die Erfahrung gemacht, dass wir dauerhaft in einer friedlichen Welt leben und »klassische« Kriege, bei denen ein Land ein anderes Land überfällt, der Vergangenheit angehören. Gelänge es uns dann noch, den Terrorismus auszurotten, wären wir wirklich in der – subjektiv – besten aller Welten angekommen.

    Seit dem 24. Februar 2022 sind wir skeptisch geworden gegenüber der Behauptung eines Fortschritts des moralischen Bewusstseins.

    Dieser Tage bekam ich einen Essay des französischen Moralisten Michel de Montaigne (1533 bis 1592) zu Gesicht, der »Über die Menschenfresser« (1. Buch, Kapitel 33) überschrieben ist. Er ist unter Montaigne-Experten sehr berühmt. Ich muss allerdings eine Triggerwarnung voranschicken an meine Leser: Die Montaigne-Zitate, die gleich folgen, können ungute Vorstellungen und Gefühle auslösen.

    Montaigne lässt sich berichten

    Wie viele Menschen der damaligen Zeit interessierte sich auch Montaigne auf seinem Schloss in der südfranzösischen Dordogne für die Berichte aus der noch sehr neuen Neuen Welt. Als Kronzeugen bemüht er einen Forschungsreisenden, der ihm anschaulich und wahrheitsgetreu von den Sitten und Gebräuchen der Eingeborenen in (Süd)Amerika berichtet. Vermutlich handelt es sich um Brasilien, das damals eine französische Kolonie war. Montaigne vermutet, dass die abwertende Beschreibung der dortigen Einwohner als »Wilde« und »Barbaren« nicht aufrecht zu halten sei. Schon die alten Griechen nannten alle fremden Völker Barbaren, einfach nur deshalb, weil sie ihnen fremd waren, aber nicht, weil deren Sitten grausamer waren.

    Zum Beleg dieser Vermutung lässt Montaigne seinen Gewährsmann ausführlich berichten, wie die »Wilden« in Amerika Kriege führen (ich zitiere nach der viel gepriesenen Übersetzung von Hans Stilett): »Die Eingeborenen pflegen gegen die weiter landeinwärts jenseits der Berge lebenden Völkerschaften ihre Kriege zu führen, in die sie völlig nackt ziehen, ohne andere Waffen als ihre hölzernen Bögen und Schwerter. Die Härte ihrer Kämpfe, die niemals ohne mörderisches Blutvergießen enden, ist ungeheuer, denn von Furcht und Flucht wissen sie nichts. Jeder bringt als Trophäe den Kopf des von ihm getöteten Feindes mit und hängt ihn an den Eingang seiner Unterkunft.«

    Und dann kommt Montaigne darauf zu sprechen, wie die Eingeborenen mit einem Gefangenen umgehen, den sie vor den Augen einer großen Versammlung mit mehreren Schwertstreichen niedermachen: »Sodann braten sie ihn, essen gemeinsam von ihm und schicken einige Stücke auch ihren abwesenden Freunden. All dies tun sie keineswegs, um sich zu ernähren, sondern um ihren leidenschaftlichen Rachegefühlen Ausdruck zu geben.« Man könnte meinen, grausamer und barbarischer gehe es nicht mehr. Doch dann berichtet Montaigne übergangslos, wie die Portugiesen – kein wildes, sondern ein christliches Volk – die gefangenen Eingeborenen umbringen, »indem man sie bis zur Hüfte eingrub, auf den aus der Erde ragenden Oberkörper einen Pfeilhagel niedergehen ließ und sie dann aufhängte«.

    Ihn ärgere keineswegs, so kommentiert Montaigne, dass wir mit Fingern auf die barbarische Grausamkeit der »Wilden« zeigen. Empörend finde er indes, dass wir bei einem derartigen Scharfblick für die Fehler der Menschenfresser unseren eigenen Grausamkeiten gegenüber so blind seien: »Ich meine, es ist barbarischer, sich an den Todesqualen eines lebendigen Menschen zu weiden, als ihn tot aufzufressen.«

    Die Barbarei war nie weg

    Wir könnten die Menschenfresser also nach Maßgabe der Vernunftregeln durchaus Barbaren nennen, konzediert Montaigne, nicht aber nach Maßgabe unseres eigenen Verhaltens, da wir sie in jeder Art von Barbarei überträfen – nicht zuletzt darin, dass wir unserem barbarischen Verhalten auch noch einen Sinn unterlegten, um es zu rechtfertigen. Ent-Nazifizierung, Befreiung des russischen Volkes, so heißen die heutigen Rechtfertigungen, die aus westlicher Sicht absurd klingen, von den Aggressoren aber für bare Münzen genommen werden. Irgendeine Rechtfertigung lässt sich immer finden.

    Der große französische Ethnologe Claude Levy-Strauss hat Montaignes Menschenfressertext im Jahr 1992 einen großen Vortrag gewidmet: »Rückkehr zu Montaigne«. Wenn nach Maßgabe der Vernunft frühe und moderne Gesellschaften dazu neigen, der Barbarei zu verfallen, müsste ein »Gesellschaftsvertrag« zu Humanität und Moralität verpflichten. Gerade weil sich die Menschen im Lauf der Geschichte nicht etwa immer weniger barbarisch verhalten, sondern die Methoden ihrer Grausamkeit sogar noch verfeinern, hülfe eine Übereinkunft der Vernunft zu reziproker Friedlichkeit, so die Hoffnung von Rousseau oder auch Hobbes. Nicht aus Nächstenliebe oder aus pazifistischer Gesinnung, sondern weil es in allseitigem Interesse wäre, einander nicht mit Kriegen das Leben, die Freiheit, das Eigentum und die Chance, sein Glück zu verfolgen, mit Panzern und Raketen zu zerstören.

    Doch die Idee des Vertrages ist schön, aber brüchig, wie wir gerade sehen. »Entwickelte« Völker sind nicht besser als »primitive« Völker, die zu idealisieren (»edle Wilde«) ebenfalls in die Irre führt. Weder die Vernunft noch die Religion weisen einen Ausweg zum dauerhaften Frieden. Montaigne: »Unsere Religion ist gestiftet, die Laster auszurotten. Jedoch: Sie bahnt ihnen den Weg, unterhält und reizt sie noch.« Die religiöse Letztbegründung der barbarischen Aggression besorgt der Patriarch einer christlichen Kirche.
    Am Ende bleibt der Relativismus, die Einsicht, dass unsere Sitten nicht weniger eigentümlich oder gar »moralisch besser« sind als die der anderen. Bei Montaigne führt der Relativismus nie in einen zynischen Fatalismus. Zugleich hat er als Skeptiker Zweifel an der Idee einer Utopie, die meint, sie könne »nach Maßgabe der Vernunftregeln« unsere Welt pazifizieren. Weiter sind wir auch heute nicht. Die Barbarei war nie weg. Sie ist und bleibt immer präsent.

    Rainer Hank