Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 04. April 2023
    Das Versagen des Oligopols

    Der offizielle Wahlspruch Foto EY

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum merken die Wirtschaftsprüfer nichts bei Credit Suisse & Co.?

    Der Bericht der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC (PricewaterhouseCoopers) ist auf den 14. März 2023 datiert: Er bestätigt, dass die Zahlen der Schweizer Credit Suisse (CS) im Einklang sind mit den Anforderungen der Amerikanischen und Schweizer Rechnungslegung. Zwei Tage später, am 16. März, erhält die CSB eine »Liquiditätsnothilfe« von 50 Milliarden Franken von der Schweizer Nationalbank. Weitere drei Tage später, am Sonntag, dem 19. März, wird die Bank in einer staatlichen Hauruckaktion zum Schleuderpreis von drei Milliarden Franken an die Konkurrentin UBS verkauft.

    Wie kann es sein, dass eine Bank nur wenige Tage nach einem positiven Prüferurteil wirtschaftlich am Ende ist? Wozu haben wir Prüfer, wenn sie sogar eine existenzbedrohende Krise verschlafen, fragt sich der Laie. »Frisch geprüft in den Abgrund« titelte die FAZ so frech wie nachvollziehbar.

    Die entschuldigenden Erklärungen folgten auf dem Fuße. Das Testat eines Wirtschaftsprüfers sei schließlich keine Existenzgarantie. Zumindest auf dem Papier habe die CS eine gesunde Kapitalquote und ganz ordentliche Liquiditätszahlen vorzuweisen gehabt, hieß es. Und einen »Bank-Run«, bei dem viele geängstigte Sparer gleichzeitig ihr Geld abziehen, könne auch der beste Prüfer nicht antizipieren. Immerhin habe PwC ihr Testat für die CS verschoben, nachdem man bei den internen Kontrollen der Bank auf »wesentliche Mängel« (»material weaknesses«) gestoßen sei. Aus Sicht der Prüfer mag es bitter erscheinen, dass das aufgeschobene PwC-Testat schließlich pünktlich zum Untergang der Bank kam.

    Die Frage »Wozu Prüfer?« bleibt und lässt sich nicht mit »Shit happens« abtun. Zumal einem rasch noch deutlich schlimmere Fälle in den Sinn kommen. Haben die Wirtschaftsprüfer nicht jahrelang die Bilanz des Unternehmens Wirecard gutgeheißen, obwohl der Zahlungsdienstleister in großem Ausmaß seine Geschäfte erfunden hat? Hier war es EY (vormals »Ernst & Young«), dem nicht aufgefallen sein will, dass 1,9 Milliarden Dollar auf Bankkonten in Asien reiner Bluff waren. Saldenbestätigung sei das Erste, was ein Prüfer zu tun habe, sagte mir ein altgedienter Banker damals: Bei der Bank nachfragen, ob das Geld wirklich auf dem Konto ist. Inzwischen läuft eine Klagewelle von Wirecard-Opfern, deren Schadenersatz-Forderungen sich auf circa 20 Milliarden Dollar summieren.

    Skandal: Arthur Andersen und Enron

    Der größte Skandal jüngerer Zeit heißt Arthur Andersen. Der Fall liegt eine Weile zurück, fällt einem als Wirtschaftsjournalist jedoch sofort ein. Der amerikanische Energiegigant Enron hatte seine Bilanz in großem Stil gefälscht. Das Prüfunternehmen Arthur Andersen hat den Schwindel gedeckt, nicht vorhandene Gewinne von 1,2 Milliarden Dollar testiert und anschließend dafür gesorgt, dass Beweise geschreddert wurden. Arthur Andersen bekam hohe Strafen und hat den Fall am Ende nicht überlebt. Nach dem Enron-Skandal kam es im Jahr 2002 in den USA zu einem eigenen Gesetz, dem Sarbanes-Oxley Act, mit welchem das Vertrauen der Anleger in die Richtigkeit und Verlässlichkeit der veröffentlichten Finanzdaten von Unternehmen wiederhergestellt werden sollte. Das Gesetz verlangt, dass die Unternehmen ein internes Kontrollsystem einrichten. Auch in Deutschland gab es nach Wirecard ein neues Gesetz mit dem schönen Namen Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz, das die Prüfer verpflichtet, ihre Mandate schneller wieder abzugeben (Rotation).

    Gleichwohl mutet aus ordnungspolitischer Sicht vieles an der Praxis der Prüfung merkürdig an. Wirtschaftsprüfungsgesellschaften haben einen öffentlichen Auftrag. Ihre gesetzliche Aufgabe ist es, »betriebswirtschaftliche Prüfungen, insbesondere von Jahresabschlüssen durchzuführen und Bestätigungsvermerke über das Ergebnis solcher Prüfungen zu erteilen«. Bezahlen muss dafür das geprüfte Unternehmen. Marktwirtschaftlich müsste eigentlich gelten: Wer bestellt, bezahlt. Wenn also die Öffentlichkeit (im Interesse von Aktionären und Gläubigern) eine Prüfpflicht für Unternehmen verhängt, müsste diese Öffentlichkeit – also der Staat – die Kosten übernehmen. Zahlt der Mandant, entsteht eine verführerische Nähe zwischen Prüfern und Geprüften, zumal die Wirtschaftsprüfer vielfältig Beratungsleistungen an ihre Kunden verkaufen wollen – gerade dieses Geschäft wächst seit Jahren.

    Man darf sich die Nähe zwischen Prüfer und Mandant nicht zu simpel vorstellen. Dass die Prüfer von EY einem Anfangsverdacht betrügerischen Verhaltens bei Wirecard nicht weiter nachgegangen sind, habe auch psychologische Gründe gehabt, heißt es in der Branche: Schließlich bringt es dem Prüfer keine Sympathiepunkte, Fehler in den Zahlen eines Unternehmens aufzudecken und ein Testat zu verweigern, erst recht, wo es sich bei Wirecard um einen damals von allen bewunderten Jung-Star im Dax handelte. Wer will schon seinen Kunden verärgern? Sollte sich hinterher herausstellen, dass doch alles in Ordnung ist, ist der Reputationsschaden für Prüfer und Geprüfte hoch und die Wettbewerber reiben sich die Hände. Stattdessen kam es am Ende dann dazu, dass aus Angst vor Reputationsschaden für EY ein viel größerer Reputationsschaden entstand.

    Das führt – ordnungspolitisch – zur größten Verhaltensauffälligkeit der Branche, dem Oligopol von vier Platzhirsche (»Big Four«) Deloitte, PwC, EY und KPMG. Es geht ein bisschen zu wie bei den »Zehn kleinen Jägermeistern« der »Toten Hosen«: Erst waren es fünf, dann verschwand Arthur Andersen. Jetzt droht EY das Aus. Es blieben noch drei Gesellschaften übrig. Bei funktionierendem Wettbewerb müsste jetzt ein kleiner Prüfer der »Next Ten« in den Olymp aufsteigen. Dass das nicht passiert, liege daran, dass die Kleineren der Branche die für das Wachstum erforderlichen hohen Investitionskosten nicht stemmen könnten, sagt man mir. Und dass die besten Uniabsolventen aus Karriere- und Einkommensgründen alle bei den Großen anheuern. So geben sich die Big Four bei den Dax-40 die Klinke in die Hand (mit Ausnahme von SAP, den kein Großer prüfen will, weil sich dort mit Beratung viel mehr verdienen lässt).

    Oligopole müssen nicht per se schädlich sein, solange es einen harten Preis- und Qualitätswettbewerb gibt. Aber kann es gut sein, dass reihum immer die Gleichen rotieren? Und neuerdings auch wieder hohe Preise durchsetzen können? Schon droht der Staat, in einem künftig möglichen Dreierkarussel die Prüfungsmandate hoheitlich zu vergeben. Das würde den Teufel mit Beelzebub austreiben. Stattdessen wäre es den Schweiß der Edlen wert zu prüfen, wie sich die Zugangsschwelle zum Club der Wenigen senken ließe. Vielleicht hat die Monopolkommission ein bisschen Luft und kann sich Gedanken machen?

    Rainer Hank

  • 29. März 2023
    Neoliberalismus in Chile

    Augusto Pinochet 1974

    Dieser Artikel in der FAZ

    Was trieb gute Ökonomen in die Arme eines Diktators?

    Vor 50 Jahren, am 11. September 1973, putschte das Militär in Chile. Der drei Jahre zuvor demokratisch gewählte, sozialistische Präsident Salvador Allende nahm sich das Leben. Eine Junta unter der Führung des Generals Augusto Pinochet regierte das Land bis zum 11. März 1990. Staatlicher Terror, politische Morde, Folter und Verschleppungen waren an der Tagesordnung.

    Zur Gesundung der wirtschaftlichen Situation des Landes holte sich Pinochet Hilfe bei marktliberalen Ökonomen in den USA. Unter Allende hatte das Land ökonomisch abgewirtschaftet, war buchstäblich bankrott und die Menschen bettelarm. Die Ökonomen aus Chicago, angeführt von Milton Friedman, verordneten dem Land einen wirtschaftlichen Reformkurs: radikale Privatisierung, Förderung des Unternehmertums, Abbau von Zöllen, niedrige Steuern, Öffnung der Märkte und eine unabhängige Notenbank. Man kann sich das ähnlich vorstellen wie im China von Deng Xiao Peng nach dem 11. Parteitag 1978 – nur dass es in Südamerika kein maoistisches Regime war, das den Markt entfesselte, sondern eine autoritäre Militärjunta.

    Seit Pinochets Chile – noch vor der Thatcher-Revolution (1979) und dem Regierungsantritt Ronald Reagans (1981) – ist der Begriff »Neoliberalismus« in Verruf gekommen. Das war zuvor anders: Da verstand man etwa in Deutschland unter Neoliberalismus die »soziale Marktwirtschaft« der Freiburger Schule Walter Euckens, der wir das Wirtschaftswunder nach 1945 verdanken. Tatsächlich lässt sich der Umschlag von der positiven zur negativen Konnotation des Begriffs mit Inhaltsanalysen publizistischer Texte auf Mitte der siebziger Jahre datieren.

    Verführung von rechts

    Die blutige Revolution Pinochets in Chile hat dem Neoliberalismus einen Tiefschlag versetzt, von dem er sich bis heute nicht erholt hat. Viele Chilenen fanden damals Asyl in Deutschland, viele davon in der DDR. In Oste und West las man die Gedichte des Literaturnobelpreisträgers Pablo Neruda, der wenige Tage nach dem Putsch einem Giftanschlag erlegen war und zum Helden der kommunistischen Freiheitsbewegung verklärt wurde.

    Wie aber konnten Freude der bürgerlichen Freiheit dazu kommen, ein autoritäres Regime zu unterstützen, das die Freiheit seiner Bürger brutal unterdrückt? Milton Friedman, Ökonomie-Nobelpreisträger von 1976, rechtfertigte sich in einem Newsweek-Artikel vom 14. Juni 1976 mit einem technokratischen Argument: »Trotz meiner tiefen Ablehnung des autoritären politischen Regimes in Chile betrachte ich es nicht als böse für einen Ökonomen, der chilenischen Regierung technischen wirtschaftlichen Rat zu geben. Gleichermaßen würde ich es auch nicht als verwerflich erachten, wenn Ärzte dem Regime medizinischen Rat zuteilwerden ließen, wenn es gälte, in Chile eine Krankheitswelle zu beenden.« Wirklich überzeugend finde ich diese Apologie nicht, hatte Friedman doch selbst in seiner Schrift »Capitalism and Freedom« von 1962 die Auffassung vertreten, wirtschaftliche und politische Freiheit seien untrennbar.

    Unrühmlich ist auch die Rolle des österreichischen Ökonomie-Nobelpreisträgers Friedrich A. von Hayek, der Pinochets Chile zweimal bereist hat, im Mai 1977 und im April 1981, wobei es beim ersten Besuch zu einer kurzen Begegnung mit dem Diktator gekommen war. Anders als Friedman hat Hayek sich nicht zu Mord und Folter geäußert und sich nie von den Menschenrechtsverletzungen Pinochets distanziert. Aus seinen zahlreichen öffentlichen Äußerungen ist ein Leserbrief an die britische »Times« vom August 1978 von Interesse. Hier versichert Hayek, er habe nie behauptet, dass autoritäre Regime besser als demokratische Regierungen in der Lage seien, die individuelle Freiheit zu sichern. Das bedeute freilich nicht, »dass unter bestimmten historischen Umständen die persönliche Freiheit von einem autoritären Regime nicht hätte besser beschützt werden können als von einer Demokratie«. Die umständliche doppelte Verneinung besagt im Klartext: Es gibt Situationen, in denen Diktaturen freiheitsfördernder sind als Demokratien.

    Zum Beleg kommt Hayek nach einem missglückten Lob der Tyrannenherrschaft im antiken Athen und einem indiskutablen Lob des portugiesischen Diktators Salazar auf Chile zu sprechen: Er kenne keinen einzigen Menschen, der nicht der Aussage zustimmen würde, dass die persönliche Freiheit unter Pinochet größer sei als unter Allende. Auch diese Behauptung kann allenfalls im Umkehrschluss durchgehen: Beide Male handelte es sich um eine Diktatur, mal von links, mal von rechts. Mit der persönlichen Freiheit war es beide Male nicht weit her.

    Gefahren der »unbegrenzten Demokratie«

    Am Ende seines Briefs macht Hayek einen Punkt, der aus heutiger Sicht sehr nachdenkenswert ist. Eine »begrenzte Demokratie«, behauptet er, sei die überlegene Regierungsform und das beste Mittel, Frieden zu sichern. Eine »unbegrenzte Demokratie hingegen müsse durch die Logik der Übernahme unabhängiger Institutionen zum Totalitarismus führen. Darin wird man Hayek – bei allem sonstigen Widerspruch – unbedingt Recht geben müssen. Eine »begrenzte Demokratie« würde man heute als »liberale Demokratie« bezeichnen: Deren begrenzende Ideen heißen Toleranz, Respekt vor der persönlichen Autonomie und Respekt vor Minderheiten. Diese Werte muss eine Regierung garantieren, die ihrerseits durch das Recht diszipliniert wird. Der Rechtsstaat sichert das Privateigentum, die Vertragsfreiheit und freie Märkte: Nichts davon darf eine demokratisch gewählte Regierung über Bord werfen, gerade weil sie sich auf Mehrheiten berufen könnte.

    Die Notwendigkeit, zwischen Demokratie und Rechtsstaat zu unterscheiden, könnte Hayek zu seinem Lob der Diktatur verführt haben. Eine »liberale Diktatur« hingegen ist ein Widerspruch in sich, den sie will mit Zwang Freiheit durchsetzen, die doch gerade durch Abwesenheit von Zwang definiert ist. Heute geht die Gefährdung der Freiheit eher von »illiberalen Demokratien« (Victor Orban & Co.) aus. Über die sogenannte Justizreform Benjamin Netanjahus hat der israelische Ökonom Eran Yashiv kürzlich in einem Spiegel-Interview bemerkt: »Wenn die Reformen mit ihren Angriffen auf die Medien, die Justiz und die akademische Welt umgesetzt werden, wird Israel sich in eine Autokratie verwandeln.« Und zwar auf demokratische Weise, müsste man hinzufügen.

    Es ist der historische Irrtum der »neoliberalen« Ökonomen – oder soll man von Schuld sprechen -, aus berechtigter Sorge vor dem Umschlag eines demokratischen Regimes in den Totalitarismus blind gewesen zu sein gegenüber diktatorischen Unrechtsstaaten wie Chile oder Portugal. Das ändert indessen nichts daran, dass der Auftrag, die Demokratie rechtsstaatlich einzuhegen, heute wieder höchst aktuell ist. Eine Verabsolutierung der Demokratie wird die Freiheit abschaffen.

    Rainer Hank

  • 15. März 2023
    Alles toxisch, oder was?

    Wie schaffe ich nur mein Abi? Foto Nguyen Dinh Lich/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wer Gleichheit will, soll sich um die Männer kümmern

    Lange musste mein Geschlecht den Spott über die »alten, weißen Männer« aushalten, die in der Hierarchie der Unsympathen einen Spitzenplatz einnehmen. Jetzt dreht sich der Wind: Zwei Journalistinnen haben gerade ein Buch über »alte, weise Männer« auf den Markt gebracht, das sie großzügig als »Schlichtungsversuch« anbieten. »We love alte weise Männer«, umschmeicheln die Autorinnen uns Männer, was die Kollegin Lucia Schmidt vergangene Woche in der FAS als vergiftete Liebeserklärung diagnostizierte: Männer würden reduziert auf die Rolle eines Produkts in der Werbung gerade so, »als seien sie eine Nuss-Nougat-Creme«.

    Vielen Dank, kann ich da nur sagen. Was ist schlimmer, Spott oder Mitleid? Eindeutig Mitleid, finde ich, was wahrscheinlich auch wieder typisch männlich ist. Helden gieren nach Bewunderung, nicht nach Empathie. Man kann es uns schwer recht machen.

    In dieser Situation kommt mir das Buch eines amerikanischen Ökonomen gerade recht, dessen Forschungsthema »Chancengleichheit« ist. Richard V. Reeves heißt der Mann. Er arbeitet an der renommierten Brookings Institution in Washington, hat sich einen Namen gemacht mit einer Biografie über den liberalen Philosophen John Stuart Mill – und nimmt sich jetzt der Männer an – aus gegebenem Anlass: er ist Vater von drei Jungs. »Von Buben und von Männern. Warum der moderne Mann ins Stolpern geriet, warum das ein Problem ist und was man dagegen tun kann«, so der Titel des Buches, das mir ein in den USA lebender Freund zum Geburtstag geschenkt hat – was immer er sich dabei gedacht hat.

    Kein Blame-Game

    Die Problembeschreibung ist nicht neu, aber gleichwohl überraschend. Mit einer 50prozentigen Wahrscheinlichkeit schneiden Jungs in zentralen Schulfächern schlechter ab als Mädchen – nämlich in Mathe und in Lesen. Viel mehr Buben als Mädchen verlassen die Schule ohne Abschluss. Mütter machen sich längst mehr Sorgen um ihre Söhne als um die Töchter. An den Universitäten stellen Studentinnen die Mehrheit. In fast allen westlichen Ländern sind die durchschnittlichen Löhne der Männer heute niedriger als vor dreißig Jahren. Im selben Zeitraum sind die Arbeitseinkommen der Frauen explodiert. Die Chance, Karriere zu machen, ist in Zeiten von Quote und Parität aus rein rechnerischen Gründen für Frauen viel größer als für Männer gleicher Qualifikation, und zwar mindestens so lange, bis Quote oder Parität aufgefüllt sind. Schließlich und bedrückend: In vielen Ländern ist Suizid die häufigste Todesursache von Männern unter 45 Jahren.

    Normalerweise würde jetzt das Spiel der Schuldzuweisungen beginnen: Die Entgegnung auf den Einkommensschwund der Männer heißt bekanntlich »gender pay gap« oder auf Deutsch: immer noch verdienen Frauen bei gleicher Tätigkeit weniger als Männer (na gut sieben Prouzent). Rund um den Weltfrauentag musste man es diese Woche wieder auf allen Kanälen hören. Auf die heutigen Karrierenachteile der Männer angesprochen, erwidern die Frauen: So habt ihr es Jahrhundertelang mit uns gemacht. Jetzt seht ihr mal, wie es einem geht, wenn man benachteiligt ist. Die amerikanisch-israelische Journalistin Hanna Rosin hat schon vor zehn Jahren das »Ende der Männer« ausgerufen und unsere Zeit zum »Jahrhundert der Frauen« geadelt, in welchem weibliche Tugenden (Flexibilität, soziale Intelligenz, Kommunikationsfähigkeit) stärker nachgefragt würden als Muskeln und Machismo.

    Richard R. Reeves, der Brookings-Forscher, kennt das alles, lässt sich freilich nicht auf das Spiel gegenseitiger Beschuldigungen ein. Nüchtern konstatiert er lediglich, dass man aus Gründen der Gerechtigkeit Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern in beide Richtungen problematisieren sollte. Wer vom Gender-Pay-Gap redet, sollte die Einkommensverluste der Männer gegenüber früher nicht verschweigen und konstatieren, dass Männer häufiger arbeitslos werden als Frauen. Wenn Ungleichheit ein Gerechtigkeitsproblem ist (was man bestreiten kann), dann ist Ungleichheit immer ein Problem – nicht nur, wenn Frauen betroffen sind.

    Neue Konzepte der Männlichkeit gesucht

    Erst recht sollten wir nicht mit zweierlei Maß messen: Geht es um die Benachteiligung von Frauen, sind stets die gesellschaftlichen und historischen Umstände – sprich: das Patriarchat und der Kapitalismus – schuld. Geht es um die Benachteiligung von Männern, heißt es: selber schuld, stellt euch nicht so an. Wenig hilfreich ist der Vorwurf »toxischer Männlichkeit«: Das bedeutet nämlich nichts anderes, als das wir Männer ein Gift in uns haben, das dem Körper entzogen werden muss – am besten durch Detox-Kuren und Aggressionsabbau-Therapien. In religiösen Jahrhunderten hätte es dafür Exorzisten (Teufelsaustreiber) gebraucht. Dabei trifft der Vorwurf, wir Männer seien testosterongetrieben, nicht uns, sondern die Evolution oder den Schöpfergott, der sich bevölkerungspolitisch vermutlich was gedacht haben wird.

    Noch einmal: Das Blame-Game der Schuldzuweisungen bringt nichts. Es ist ja keine Frage: Während Frauen spätestens seit Simone de Beauvoirs »Deuxième Sexe«, erschienen 1949, erfolgreich für Freiheit und Emanzipation gekämpft haben, wofür sie, zumindest im statistischen Mittel, mit mehr Glück und Zufriedenheit belohnt wurden, haben Männer den Blick auf das eigene Geschlecht lange ignoriert und es verschlafen, sich um ein neues Rollenmodell zu kümmern.

    Es ist die Stärke des Buches von Reeves, dass er sich nicht den Schlachtruf der amerikanischen Konservativen zu eigen macht und die Traditionswerte (Familie, Religion, Nation) beschwört. Stattdessen plädiert er für neues Selbstbewusstsein und neue Rollenmodelle. Nicht alle Vorschläge überzeugen: Jungs ein Jahr länger auf die Schule zu schicken (weil unser Gehirn sich blöderweise später entwickelt) oder sie vorwiegend von männlichen Lehrern unterrichten zu lassen, klingt ein bisschen nach Sonderschule. Zielführender wäre es, die Buben gezielt mit typisch weiblichen Berufsfeldern im Dienstleistungsbereich (Gesundheit, Bildung, Administration) vertraut zu machen, quasi als
    Stipendiengegenprogramm zu all dem vielen Fördergeld, das mit den MINT-Initiativen für Mädchen (Mathe, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) ausgegeben wurde. Nur ein Beispiel: Das Ende des »Verbrenners«, den die EU bekanntlich verbieten will, bedeutet eben auch den Abschied vom männlich-stolzen »Facharbeiter« in Fabrikhalle.

    »Ein Mann käme nie auf die Idee, ein Buch zu schreiben über die besondere Situation des Mannes«, heißt es bei Simone de Beauvoir. Das war, wie gesagt, 1949. Heute hat sich die Situation verändert: »Gesucht wird das Konzept einer neuen Männlichkeit in einer postfeministischen Welt«, schreibt Reeves. So unklar deren Konturen sind, es wäre allemal hilfreicher als das Gequatsche über alte weiße oder weise Männer.

    Rainer Hank

  • 08. März 2023
    Lieber tot als Sklave

    Lieber rot als tot? Sahra Wagenknecht Foto Deutscher Bundestag

    Dieser Artikel in der FAZ

    Was uns die Freiheit wert ist.

    Herr Dr. Schülke, unser Deutschlehrer, ließ uns gerne Aufsätze schreiben zu ethischen Entscheidungsfragen. Es kam ihm darauf an, uns beizubringen, dass es wichtig ist, eine »Haltung« einzunehmen. Zugleich bestand er darauf, dass die Haltung Argumente für den eigenen Standpunkt braucht und Gegenargumente nicht einfach unter den Tisch fallen dürfen.

    »Lieber tot als Sklave« (»lewwer duad üs slaav«) war so ein Entscheidungsthema für einen Aufsatz. Die Zeile entstammt der Ballade »Pidder Lüng« des Dichters Detlev von Liliencron (1844 bis 1909). Die geht, kompakt zusammengefasst, so: Pidder Lüng war ein armer Inselfischer; seine Fänge reichten kaum zum Leben. Aber er war auch ein freier und stolzer Mann. Als eines Tages der Amtmann von Tondern mit seinen Söldnern kam, um die Steuern einzutreiben, traf er Pidder Lüng bei seinem kargen Mahl an. Der Amtmann forderte die sofortige Zahlung der Steuern. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, spuckte er in Pidder Lüngs Kohlgericht. Daraufhin wurde Pidder so zornig, dass er den Amtmann ergriff und ihn mit seinem Gesicht im heißen Kohltopf erstickte. Dabei rief er einen alten friesischen Freiheitsspruch: »Lewwer duad üs Slaav!« Die Söldner des Amtmanns erschlugen Pidder Lüng und die Seinen. Doch sein Freiheitsruf »Lieber tot als Sklave« überlebte.

    Im kalten Krieg, jener Zeit, in der ich aufgewachsen bin, wurde Pidder Lüngs Freiheitsbekenntnis gerne in sein Gegenteil verkehrt. Den antikommunistischen Ruf »Better dead than red.« hatte die Friedensbewegung der siebziger und achtziger Jahre in »Lieber rot als tot« verkehrt. Soweit ich mich erinnere, hatte ich mich dieser Haltung damals in meinem Schulaufsatz angeschlossen: Das (Über)leben sei wichtiger als die Freiheit, so meine Meinung: Denn was wäre das ganze Pathos wert, wenn die Freiheit nur um den Preis des Todes zu haben wäre.

    Pidder Lüng

    Die deutschen Debatten der vergangenen Wochen haben mich an meinen Deutschlehrer und Pidder Lüng erinnert. Die neue (und alte) Friedensbewegung von Sarah Wagenknecht bis Jürgen Habermas, der sich ungefähr die Hälfte der Deutschen anschließt, nimmt zumindest als Konsequenz ihrer Haltung in Kauf, dass der Osten der Ukraine als Ergebnis von Friedensverhandlungen okkupiert bliebe und das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer mit Füßen getreten würde. Friede geht vor Freiheit, auf diese Formel lässt sich der Neopazifismus zusammenfassen, der das Argument auf seiner Seite hat, dass nach einem Nuklearkrieg am Ende alle tot und also auch nicht mehr frei wären. Einer der schwächsten Punkte dieser Haltung ist freilich die Annahme, ein Verhandlungsergebnis führe in den von den besetzten Gebieten tatsächlich zum Frieden und nicht – wie die Geschichte vielfach lehrt – zu weiterem Morden, weil aus brutalen Aggressoren nach Verhandlungen nicht plötzlich Friedensengel werden. Am Ende bleibt dann nicht nur die Freiheit, sondern auch das Leben derer auf der Strecke, denen mit einem Kompromiss die Freiheit genommen würde. Wilhelm Röpke, einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft und wehrhafter kalter Krieger in den fünfziger Jahren, warnte vor »Atomschlotterern, die vor Angst nicht mehr denken können« und ihrem Pazifismus, »der nur die Alternative zwischen zwei Formen des Weltuntergangs kennt: Unterwerfung unter kommunistische Weltherrschaft oder ein dritter Weltkrieg.«

    Heute würde ich, anders als damals als Schüler, die Freiheit als obersten Wert zu begründen suchen. Doch damit fängt die Arbeit gedanklich erst an. Was meinen wir mit Freiheit? Und warum hat die Freiheit – jenseits von Sonntagsreden des Bundespräsidenten – so wenige Freunde?

    Augenscheinlich meinen nicht alle das Gleiche, wenn sie für Freiheit plädieren. Anhänger der Republikaner in den USA, nur als Beispiel, würden sagen, das Recht auf Waffenbesitz sei ein Freiheitsrecht, was gar nicht falsch ist: Denn ein Verbot, Waffen zu besitzen, schränkt die persönliche Freiheit ein, auch wenn sich das Verbot mit dem Gewaltmonopol des Staates legitimiert, der Leib und Leben seiner Bürger zu schützen beansprucht. Anhänger der Demokraten in den USA würden das Recht auf Abtreibung als Freiheitsrecht für sich beanspruchen, was ebenfalls nicht falsch ist: Denn ein Abtreibungsverbot schränkt die persönliche Freiheit der Frauen ein, auch wenn dieses Verbot für sich ins Feld führt, das einem Schwangerschaftsabbruch entgegenstehende Freiheitsrecht des Ungeborenen zu vertreten.

    Freiheit sei eben kein Freibrief, schrieb die Tübinger Philosophin Sabine Döring vergangene Woche in einem FAZ-Artikel. Und berief sich auf den liberalen Denker John Locke. Sichtbar wird hier, dass die Freunde der Freiheit es mit zwei gefährlichen Versuchungen zu tun bekommen. Nennen wir die eine die paternalistische oder pazifistische Verführung, die andere die egoistische. Was paternalistische Verführung anrichtet, ließ sich in den Jahren der Pandemie beobachten. Da hat sich der Staat paradoxerweise angemaßt, unsere Freiheit zu schützen, indem er meinte, er müsse unsere Freiheit unterbinden – und zwar gewaltig: Eine »Bundesnotbremse« regelte minutiös, wer sich mit wem wann treffen darf, nämlich kaum noch jemand. Einige Corona-Verordnungen schrieben weiträumig das Tragen von Masken im Außenbereich vor, auch beim Joggen im Park, weil man sich angeblich im Vorbeilaufen hätte infizieren können. Eine »Unwucht zulasten der Freiheit« konstatiert der Münsteraner Verfassungsrechtler Oliver Lepsius. Vergleichbar nimmt die pazifistische Verführung aus Angst vor dem Weltuntergang den Freiheitsuntergang in Kauf (siehe Röpke).

    Zwei Verführungen der Freiheit

    Die egoistische Freiheitsverführung lässt sich als Gegenbewegung gegen die paternalistisch-pazifistische Verführung deuten. Sie findet sich bei anarchisch Libertären und bei Querdenkern jeglicher Couleur und zeichnet sich durch eine fundamentale Ablehnung jeglicher Einschränkung aus, auch dann, wenn diese Einschränkungen die Freiheitsrechte anderer zu sichern beanspruchen. Einiges spricht dafür, dass der Begriff der Freiheit zuletzt gerade von aggressiven Corona-Leugnern und Querdenkern empfindlich demoliert wurde. Darunter sind mutmaßlich und abermals paradoxerweise nicht wenige, die, wenn es jetzt um die Ukraine geht, für Friedensverhandlungen plädieren, die Freiheitsverluste in Kauf nähmen.

    Ein Liberalismus, der es ernst meint, muss sich auf Abwägen und auf Argumente der Verhältnismäßigkeit einlassen. Doch die Freiheit hat stets Vorrang. Die Beweislast hat der, der die Freiheit mit welchen politischen (»Manifest für Frieden«), ökonomischen (»das Gemeinwohl«) oder wissenschaftlichen Argumenten (»follow the science«) einschränken will. Dagegen ist stets jene »negative Freiheit« zu verteidigen, die den Paternalisten und Paziristen aus guten Gründen unterstellt, sie präferieren Zwang und unterschlagen Freiheit. Diese Freiheit darf weder geopolitischen noch pazifistischen oder paternalistischen höheren Zielen geopfert werden.

    Rainer Hank

  • 27. Februar 2023
    Ein Lob der Schweiz

    Sind es die Berge, die die Menschen gesund halten? Foto Claudia Beyli/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum die Eidgenossen gesünder und langlebiger sind als wir

    Neulich hatte ich Besuch von einem Freund, den es vor ein paar Jahren beruflich mit seiner Familie in die Schweiz verschlagen hat. Wir sind, um es vorsichtig zu sagen, politisch nicht wirklich auf einer Linie: er ist Antikapitalist, bekennendes Mitglied der Partei »Die Linke« und findet, unser Wirtschaftssystem – schreiend ungleich und ungerecht – sei von innen nicht wirklich reformierbar.

    Mein Freund ist indes alles andere als ein Ideologe, sondern ein hellwacher, witziger Geist, bereit, sich von der Empirie korrigieren zu lassen. Sowas gibt es. Wie zu erwarten, war er vor dem Umzug in die Schweiz der Ansicht, das Gesundheitssystem dort, dem Musterland des Gesundheits-Kapitalismus, könne nichts taugen, müsse die Hölle der Zweiklassenmedizin sein. Umso mehr erstaunte ihn die Wirklichkeit: Als er innerhalb von zwei Tagen einen Termin bei einem Arzt in der Nachbarschaft erhielt, wähnte er noch, der müsse wohl stadtbekannt ein schlechter Arzt sein, wenn es so schnell gehe. Doch er wurde gut behandelt und die Familienangehörigen machten bei anderen Ärzten ähnlich zuvorkommende, positive Erfahrungen. Und, versteht sich, mein Freund ist kein Privatpatient (gibt es in diesem Sinn in der Schweiz gar nicht), er wohnt in einer sozial durchmischten Gegend mit überdurchschnittlichem Migrantenanteil – aber eben hoher Arztdichte.

    Ich will wissen, ob sich die positiven Erfahrungen meines Freundes generalisieren lassen – nicht zuletzt auf dem Hintergrund der schlechteren Erfahrungen hierzulande (von Großbritannien ganz abgesehen) mit langen Wartezeiten. Ein Anruf bei dem Basler Gesundheitsökonomen Stefan Felder liefert ein differenziertes Bild: Nicht alles dort ist Gold, was glänzt – aber vieles eben doch.

    Einheitliche Gesundheitsprämie

    Anders als bei uns wird das Schweizer Gesundheitssystem durch eine einheitliche Gesundheitsprämie finanziert, eine Pauschale, die unabhängig von Einkommen und Vermögen jedermann die gleichen Gesundheitsleistungen garantiert. Es gibt keine staatlichen Krankenkassen, sondern 57 private Versicherungen, zwischen denen die Bürger wählen können. Die Zahl ist in den vergangenen Jahren gesunken. Die Versicherungen dürfen die Menschen nicht abweisen, um nur »gute Risiken« aufznehmen (Kontrahierungszwang). Im Wettbewerb können die Versicherten sich für sogenannte »Managed-Care«-Programme entscheiden, welches die freie Arztwahl einschränkt und dafür die Prämien senkt.

    Dieses System einer obligatorischen Privatversicherung hat die Schweiz in den späten neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eingeführt. Es gilt als »solidarisch«, weil jeder zu gleichen Preisen die gleichen Leistungen erhält. Für ärmere Menschen gibt es einen Zuschuss vom Staat, der verhindern soll, dass der Beitrag auf über zehn Prozent des Einkommens steigt. Ein Selbstbehalt appelliert an eine gewisse Eigenverantwortung. Dieses System – die Älteren erinnern sich – wurde auch bei uns vor rund zwanzig Jahren unter dem polemischen Begriff »Kopfpauschale« (klang wie Kopfprämie) diskutiert – und verworfen. Einer der am Ende siegreichen Opponenten damals war der heutige SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD).

    Wie schlägt sich nun das Schweizer Modell insgesamt? Kriegt man dort nicht nur rasch einen Arzttermin, sondern sind die Menschen womöglich auch insgesamt gesünder und langlebiger? Dazu habe ich mir die neueste Gesundheitsstudie der OECD (»Health Care at a Glance«) aus dem Jahr 2021 angeschaut. Eines haben Deutschland und die Schweiz gemein: Beide Länder leisten sich die teuersten Gesundheitssysteme weltweit, übertroffen bloß von den USA. Jeden Bürger in der Schweiz kostet das Gesundheitssystem 6700 Dollar im Jahr, in Deutschland sind es 6518 Dollar. Im OECD-Durchschnitt sind es lediglich 4000 Dollar.

    Und was kriegen die Bürger für ihr Geld? Da, so muss man es leider sagen, schneiden wir deutlich schlechter ab als die Eigenossen. Nehmen wir nur die Lebenserwartung des Geburtsjahrgangs 2019. Da liegt Japan mit 84,4 Jahren siegreich (und erwartbar) auf Platz Eins. Aber schon auf Platz zwei rangiert die Schweiz (84 Jahre), gefolgt von Spanien und Italien (was uns ebenfalls weniger überrascht: Sonne, Siesta und Olivenöl. Weit abgeschlagen landet Deutschland mit einer Lebenserwartung von 81,4 Jahren auf Platz 25, das ist nur knapp über dem OECD-Durchschnitt von 81 Jahren und nur kurz vor Costa Rica (nichts gegen Costa Rica, da war ich vor Kurzem).

    Nehmen wir als weiteres Beispiel das Risiko, an Krebs zu sterben. Da kommen in Deutschland auf 100 000 Menschen 192 Krebstote. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 191. In der Schweiz ist das Risiko deutlich geringer: An Krebs sterben 167 Menschen bezogen auf 100 0000 Bürger.

    Vermeidbare Sterblichkeit

    Schließlich ein letzter, wie Gesundheitsökonomen sagen, besonders wichtiger Bereich: Was bringt die Prävention schwerer und häufig tödlich endender Krankheiten (Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes, Krebs)? Im Fachjargon ist von durch rechtzeitige Behandlung »vermeidbare Sterblichkeit« die Rede (»preventable and treatable causes of mortality«), was nichts an der Tatsache ändert, dass wir alle sterben müssen. Hier hält die Schweiz seit langem den ersten Platz (auch wenn ein paar statistische Effekte womöglich das Bild schönen). Die klügere Gesundheitsprävention führt dazu, dass »nur« 39 behandelbare Krankheitsfälle trotz Vorsorge tödlich enden (wieder bezogen auf 100 000 Bürger), während es hierzulande 62 sind. Es sind solche einprägsamen Zahlen, die dazu führen, dass auch andere vergleichende Gesundheitsstudien der Schweiz ein gutes Zeugnis ausstellen. So kann man in den eher »linken« »Mirror-Mirror-Studien« der amerikanischen Commonwealth-Foundation nachlesen, dass die Schweiz (zusammen mit Norwegen und Australien) die »vermeidbare Sterblichkeit« durch gute Gesundheitspolitik in den vergangenen zehn Jahren um 25 Prozent zu reduzieren vermochte.

    Fassen wir zusammen: Dass es sich in der Schweiz deutlich gesünder lebt als hierzulande, liegt nicht am Geld. Die Ausgaben sind (fast) gleich hoch, die Leistungen erheblich besser. Die guten Ergebnisse sind sicher nur teilweise auf die klügere Finanzierung mittels Kopfpauschalen zurückzuführen. Der Hauptgrund ist eine höhere Effizienz des Systems: weniger Verschwendung, weniger Fehlanreize für Ärzte und Kliniken und die Konzentration auf Vermeidung schwerer und häufiger Krankheiten. Nicht mehr Geld ausgeben, sondern klüger Geld auszugeben, heißt die erste Lehre des Vergleichs. Und die zweite Lehre heißt: Medizin und Ökonomie gegeneinander auszuspielen, wie es derzeit bei Karl Lauterbach & Co. groß in Mode ist, macht die Medizin schlechter und das System teurer.

    Rainer Hank