Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
27. Mai 2025Wer stoppt Trump?
10. Mai 2025Ein Herz aus Stammzellen
14. April 2025Lauter Opportunisten
07. April 2025Die Ordnung der Liebe
29. März 2025Streicht das Elterngeld
17. März 2025Der Kündigungsagent
17. März 2025Hart arbeiten, früh aufstehen
04. März 2025Kriegswirtschaft
21. Februar 2025Lasst Minderheiten regieren
12. Februar 2025Sägen, Baby, Sägen
02. Januar 2025
Das Evangelium nach Peter ThielEin Internet-Milliardär und das Erbe von René Girard
Dass Donald Trump den Untergang bringt und zusammen mit Tesla-Twitter-SpaceX-Milliardär Elon Musk als »Duo Infernale« (»Der Spiegel«) uns alle ins Elend reißen wird, haben wir inzwischen begriffen. Bis zum Amtsantritt des Leibhaftigen am 20. Januar ist noch ein bisschen Zeit. Ich empfehle, vom Modus des Diabolisierens in den des Analysierens zu wechseln.
Dass die USA ein gespaltenes Land sind, ist bekannt. Neu war mir indes, in meiner samstäglichen Lieblingskolumne der Financial Times (»Data Points«) zu lesen, dass die Anhänger der Demokraten deutlich mehr zur Spaltung beigetragen haben als die Republikaner. So sprechen sich seit Mitte der neunziger Jahre konstant zwischen 30 und 40 Prozent der Konservativen dafür aus, die Migration zu begrenzen. Bei den Demokraten dagegen waren noch im Jahr 2000 ebenfalls 20 Prozent der Meinung, es gebe zu viel Einwanderung. Inzwischen plädieren 40 Prozent von ihnen dafür, mehr Migranten ins Land zu lassen. Das mag man gut finden; bloß sollte man die Spaltung des Landes nicht komplett Trump anlasten.
Das heißt im Umkehrschluss: die Trump-Bewegung erschöpft sich nicht nur in den Entertainer-Qualitäten ihres Anführers. Mehr als fünfzig Prozent der Wähler und eine Vielzahl ganz unterschiedlicher kluger Köpfe, die sich ihm angeschlossen haben, müssten eigentlich unsere intellektuelle Neugier wecken – nicht um die Truppe zu preisen, aber um sie besser zu verstehen.
Nehmen wir den Tech-Milliardär Peter Thiel. Kluge Freundinnen haben mir immer wieder zugeraunt, der sei besonders gefährlich, aber irgendwie scheinen sie ihn intellektuell verführerisch zu finden: Ein Unternehmer, der sich als Hardcore-Libertärer versteht, mit dem Katholizismus flirtet und als schwul outet – so etwas haben wir in Deutschland nicht; das gibt es nur im Silicon Valley. Wir haben dafür Robert Habeck, – »so lässig, so charming« (Annalena Baerbock).
Facebook, Palantir & Co.
Die Biografie in kurzen Zügen. Thiel, Jahrgang 1967, wird in Frankfurt am Main geboren. Wenig später wandern die Eltern nach USA aus. Thiel studiert Philosophie und Jura an der Stanford Universität, arbeitet bei einer New Yorker Kanzlei und wendet sich den Finanzmärkten zu. Ende der neunziger Jahre beteiligt er sich am Internet-Bezahlsystem PayPal, das später für 1,5 Milliarden Dollar an Ebay verkauft wurde. Thiel finanziert Mark Zuckerbergs Facebook; dessen Börsengang spült abermals viel Geld auf sein Konto. Später gründet er die Datenanalysefirma Palantir. Aktuell wird sein Vermögen auf gut 12 Milliarden Dollar geschätzt. Trumps Vize J.D. Vance bezeichnet Thiel als seinen Mentor. Thiel will gewinnen; als Kind habe er es gehasst zu verlieren, erzählt er – ganz besonders beim Schach.
Thiel hat sich in der ersten Trump-Regierung sehr für diesen engagiert, freilich damals schon gewarnt: »Die eigenen Gesetze zu ignorieren, geht in einem liberalen Rechtsstaat nicht.« Im jüngsten Wahlkampf hat er sich eher zurückgehalten, anders als sein alter Kumpel Elon Musk. Natürlich bekam Trump abermals Thiels Stimme. Doch dessen »Clowns Show« sei ihm fremd, gab er zu Protokoll. Und den Slogan »Make America Great Again« findet er daneben, weil es ein Verlierer-Slogan sei. Das Silicon Valley hat er schon vor geraumer Zeit verlassen: »Zu viel Konformismus«. Heute lebt er in Los Angeles, versteht sich als »Contrarian«, als Nonkonformist.
Thiel ist intellektuell umtriebig. Geprägt wurde er von dem französisch-kanadischen Philosophen René Girard (1923 bis 2015), bei dem er in Stanford studiert hat. Von ihm stammt die Theorie des »mimetischen Begehrens«. Wir begehren, was andere begehren, nicht weil wir es tatsächlich haben wollen, sondern weil wir den Drang verspüren, die Wünsche Anderer nachzuahmen (deshalb »mimetisch«). Dieser Wettbewerb ist zerstörerisch, führt zu Leid und Unglück. Das meint Thiel mit seinem missverständlichen Satz »Competition is for loser«, Wettbewerb sei für Verlierer. Man kann ihn natürlich auch als Aufruf zur Bildung von Machtmonopolen deuten. Thiel unterscheidet zwischen destruktivem und kreativem Wettbewerb und hält es auch hier mit Girard: »Das Geniale des ökonomischen Liberalismus besteht in der Tatsache, dass er die Freiheit mimetischer Rivalität zum Wohle unseres Wohlstands ermöglicht.«
Über René Girard kommt Peter Thiel nicht nur zur Beschäftigung mit dem christlichen Erlösungsglauben, sondern auch mit der politischen Theologie des deutschen Staatsrechtlers Carl Schmitt (1888 bis 1985). Das hat ihm Kritik eingetragen, weil Schmitt als Kronjurist der Nazis gilt – was viele deutsche Linke nach 1945 nicht hinderte, Schmitt zu bewundern. Thiel sieht Parallelen zwischen Deutschland in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts und dem heutigen Amerika: Beide Male ist der Liberalismus auf dem Rückzug. Das könne daran liegen, dass die Liberalen die zentrale politische Unterscheidung zwischen Freund und Feind nicht ernst genug genommen haben. Liberale, begeistert von einer durch weltweiten Handel global versöhnten Ordnung, haben sich der Illusion einer Welt ohne Feinde verschrieben. Feinde sind für Liberale lediglich Verhandlungs- und Vertragspartner. Dass das gut gemeint, aber naiv ist, weiß man seit Putin, Xi – und Trump: Ein Staat, der meint, sich durch »Straf«-Zölle schützen zu müssen, kann auch die Weltwirtschaft nur als Schlachtfeld zwischen Feind und Freund verstehen. Die Hoffnung der Liberalen, man könne sich einfach weiter durchwursteln, sei gescheitert, so Thiel.
Verwickelt in Widersprüchen
Alle Schlüsselbegriffe der politischen Ökonomie hätten theologische Ursprünge, meint Thiel mit Bezug auf Schmitt. Diese liegen im Kampf zwischen Satan und Gott und einer bleibenden Tendenz zur Destruktion. Das Konzept von Freund und Feind bringe Licht in die Tabuzonen des Liberalismus, in das unterschätzte und verdunkelte Kriegs- und Bürgerkriegsfeld.
Als Libertärer müsste Thiel eigentlich den Interventionismus und Isolationismus Trumps und dessen Staatsmonomanie ablehnen. Doch da eiert er gewaltig nach dem Motto: hätten nur alle sich an die reine libertäre Lehre gehalten, wäre die Theorie für die Praxis tauglich. Da aber die Chinesen unfair spielen, also böse sind, müssen wir jetzt eben zurückschlagen. Staatskritik gegen den linksliberalen Staat der woken Political Correctness – davon kann Thiel nicht genug kriegen. Trumps Big Government legitimiert er. Konsequent ist das nicht.
Wer jetzt von Peter Thiel angefixt ist, dem sei das Gespräch empfohlen, dass der Ökonom Tyler Cowen mit ihm geführt hat. Dass sich zwei Wirtschaftsleute ausschließlich über Theologie unterhalten, ist hierzulande eher unüblich. Über die Lage nach der Trump-Wahl gibt es im Netz einen guten Talk der Journalistin Bari Weiss mit Thiel. Beides lässt sich leicht googeln.
Rainer Hank
02. Januar 2025
Wer die Wahl hatNachhilfe kommt ausgerechnet von Wilhelm von Humboldt
In der wirtschaftspolitischen Debatte Deutschlands stehen sich aktuell zwei unterschiedliche Denkrichtungen gegenüber. Auf der einen Seite gibt es die Hoffnung auf eine Industriepolitik durch staatliche Feinsteuerung über kreditfinanzierte Subventionen und selektiv ausgewählte Regulierungen. Auf der anderen Seite wird eine marktbasierte, diskriminierungsfreie und somit technologieoffene Angebotspolitik durch eine umfassende Verbesserung des Ordnungsrahmens gehandelt. Einmal geht es um direkte Wirtschaftseingriffe etwa zur Stärkung einzelner sogenannter Schlüsselindustrien (Auto, Zulieferer, Chip) als Reaktion auf eine geopolitisch veränderte globale Ökonomie. Das andere Mal geht es um die Schaffung optimaler Wettbewerbsbedingungen für alle, nicht nur für ausgewählte Firmen.
So ungefähr steht es auf Seite fünf in Christian Lindners auch nach dessen Rausschmiss aus dem Kabinett sehr lesenswertem Scheidungspapier »Wirtschaftswende Deutschland«. Die Beschreibung der Alternative ist zutreffend; der Bürger hat bei der bevorstehenden Bundestagswahl eine echte Wahl. Solche Klarheit gab es in den Merkel-Jahren nicht. Insofern ist diese Wahl ein Glücksfall, nicht nur, weil es höchste Zeit war, die Ampel abzuschalten.
»Aktive Industriepolitik« gilt als modern, »Ordnungspolitik«, »Angebotspolitik«, »soziale Marktwirtschaft« gelten als altmodisch und den heutigen Gefahren und Herausforderungen (Trump, China, Klima) nicht gewachsen. Besonders klar kommen die Gegensätze in einem Streitgespräch zwischen Robert Habeck (Grüne) und Friedrich Merz (CDU) zum Ausdruck, das die beiden im Juni im Fernsehsalon bei Maybrit Illner geführt haben (lohnt sich in der Mediathek anzusehen). Weil Industriepolitik teuer ist, stört die Schuldenbremse. In den Augen von Grünen und SPD ist sie nichts anderes als ein Dogma der Ewiggestrigen in der FDP (und Teilen der Union). Dass das Verschuldungsverbot vom Grundgesetz vorgeschrieben wird, unterschlagen die »Modernisierer« dabei. »Die Welt hat sich verändert«, wird Habeck nicht müde, Merz entgegenzuschleudern. Der kontert, Grün und Rot wollten den Bürgern (oder ihren Kindern) erst Hunderte von Milliarden Euro aus der Tasche ziehen, um das Geld anschließend nach Gutdünken, also willkürlich, an ausgewählte Subventionsempfänger zu verteilen. »Anmaßendes Wissen« ist der Vorwurf an jene, die ausgewählt wichtige Industrien mit Milliarden unterstützen, selbst wenn diese das Geld gar nicht haben wollen (siehe Intel in Magdeburg).
Was ist die Aufgabe des Staates – und was nicht?
Grün und Rot wollen aktive Industriepolitik; Liberale und Union wollen Angebotspolitik. Die anderen Parteien lassen wir außen vor. Wenn es gut geht, entscheiden die Bürger am 23. Februar zwischen einer konservativ-liberalen und einer rot-grünen Koalition. Im Kern geht es dabei um zwei fundamental unterschiedliche Vorstellungen vom Staat und dessen Verhältnis zu Markt und Gesellschaft. Wieviel Steuerungskompetenz und Bürgerwohltätigkeit soll und kann sich der Staat zutrauen?
In diesen Wahlkampf-Wochen gibt es die Chance, den ein oder anderen Klassiker zu Rate zu ziehen. Kürzlich habe ich Robert Nozicks vor 50 Jahren erschienenes Werk »Anarchie, Staat und Utopie« zur Lektüre empfohlen. Heute bringe ich Wilhelm von Humboldts 1792 erschienene »Ideen zu einem Versuch, die Gränzen [sic!] der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen« in die Debatte. Anders als Nozick schlägt Humboldt nicht der Vorwurf des kalten Neoliberalisten und Turbokapitalisten entgegen. Wilhelm und sein Bruder Alexander sind Nationalheilige, die die deutschen Werte eines neuhumanistischen Bildungsideals verkörpern.
Lange vor der Erfindung des umverteilenden Sozialstaats, aber im Angesicht eines sich am Glück der Untertanen orientierenden aufgeklärten Wohlfahrts- und Fürsorgestaates interessiert Humboldt die Frage, »ob der Staat auch den positiven Wohlstand der Nation oder bloß ihre Sicherheit abzwecken soll«. Wenn man so will, standen sich auch damals schon interventionierende Sozialpaternalisten und nüchterne Ordnungspolitiker gegenüber, die die Aufgaben des Staates auf die Garantie der Rahmenbedingungen für Bürger und Unternehmer beschränken wollten.
Humboldt schlägt sich auf die Seite der Ordnungspolitik. Ein Staat, der sich anmaße, in die Wohlfahrt seiner Bürger einzugreifen (selbstredend nur zu deren Bestem), müsse zwingend eine Beschränkung der Freiheit dieser Bürger in Kauf nehmen. Der Schaden, den dieser Eingriff anrichtet, sei allemal gravierender als der mögliche Nutzen staatlich gesteigerten bürgerlichen Glücksempfindens für Unternehmen und Gesellschaft.
Wider die Monopolisierung des Sozialen
Humboldts zentraler Satz lautet: »Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem anderen Endzweck beschränke er ihre Freiheit.« Der Preuße hat die fatalen Folgen des immer mehr Geld verteilenden Sozialstaats vorausgesehen. Wer alle Verantwortung für sein Wohlbefinden dem Staat überantwortet, sieht sich selbst »jeder Verbesserung seines Zustands überhoben«. Wo der Staat das Soziale monopolisiert, werden die Menschen untereinander »zu gegenseitiger Hilfsleistung träger«. Mit anderen Worten: Der umverteilende oder mit Schulden finanzierte Staat macht die Menschen weniger solidarisch. Wenn meine Konkurrenten Subventionen bekommen, mein Unternehmen aber nicht, werde ich entweder resignieren oder, was wahrscheinlicher ist, mich ebenfalls in den Wettlauf um Staatsknete einreihen. Letztlich ist jeder irgendwie Teil einer Schlüsselindustrie.
Übersetzen wir Humboldts Sprache des deutschen Idealismus in die Sprache des deutschen Wahlkampfes, dann folgt aus seinem Staatsbuch: Priorität für das Handeln des Staats hat die äußere und innere Sicherheit. Wenn das Trump-Amerika sein Engagement für die Nato zurückfährt und Putin immer aggressiver agiert, muss der deutsche Staat mehr Geld für Waffen ausgeben. Er muss zugleich die Staatsgrenzen gegen unkontrollierte Migration sichern. Fremde sind in einer liberalen Gesellschaft willkommen, sofern sie sich assimilieren (Friedrich Merz nennt das Leitkultur); die Bürger müssen vertrauen, dass sie sich in ihrem Land sicher und frei sich bewegen können, was womöglich höhere Ausgaben für die Polizei nach sich zieht.Wenn Sicherheit teurer wird, kann nicht gleichzeitig auch das Soziale (Bürgergeld, Rente, Pflege) teurer werden. Hier bewährt sich die disziplinierende Wirkung der Schuldenbremse. Es geht nicht um einen Abbau des Sozialstaats, wie die SPD erzählt. Es reicht schon, ihn nicht ständig weiter auszubauen, würde Wilhelm von Humboldt heute konzedieren, großzügig seinen aufgeklärten Radikalismus von damals relativierend.
Rainer Hank
04. Dezember 2024
Ein Hoch auf PharmaKann die Abnehmspritze den schlechten Ruf der Branche drehen?
Der Fortschritt kommt mit großen Sprüngen daher. Erst drei Jahre ist es her, dass die Abnehmspritze Semaglutid des dänischen Pharmakonzerns Novo Nordisk seine Zulassung bekam. Inzwischen werden die Erfolge des Medikaments auf der ganzen Welt gefeiert. Novo Nordisk und Elly Lilli, ein amerikanischen Pharmaunternehmen, das mit dem Wirkstoff Tirzepatid ein eigenes Mittel gegen Fettleibigkeit vertreibt, haben seit dem Jahr 2021 ihren Marktwert um rund eine Billion Dollar gesteigert.
Das ist eine gute Nachricht nicht nur für die Aktionäre. Sondern auch für Milliarden Menschen auf der Welt. Das Medikament hilft auch gegen Alzheimer und kann zur Behandlung von Diabetes, Herz-, Kreislauf- und Nierenkrankheiten eingesetzt werden. Ein Wundermittel, das anders als viele Möchtegernwundermittel, in empirischen Tests seine Wirksamkeit erwiesen hat.Zwei Fünftel der Weltbevölkerung gelten als übergewichtig oder fettleibig. In vielen Gesellschaften werden diese Menschen stigmatisiert. Sie werden bei Job-Bewerbungen und Karriereaufstieg diskriminiert, verursachen hohe volkswirtschaftliche Kosten – und schämen sich ihres eigenen Körpers. Es ist ein Elend, dass sich bald erledigt haben könnte. Dank der Forscherleistung vieler Chemiker und Pharmazeuten. Und dank des Risikoeinsatzes von Aktionären, die dafür zurecht fürstlich entlohnt werden. Das Versprechen eines längeren, gesünderen und glücklicheren Lebens kann für die Dicken wahr werden.
Wäre das nicht einmal ein Grund, die Pharmaindustrie hochleben zu lassen? Doch nein. Schon hagelt es Kritik von allen Seiten. Aufgezählt werden die Risiken und Nebenwirkungen der Spritze, die von Magendarmbeschwerden und Kopfschmerzen bis zu Bauchspeicheldrüsenentzündungen reichen können. Hinzu kommt: Die neuen Medikamente sind extrem teuer. Die Behandlung kostet allein für einen Monat mehr als 500 Dollar. Will sagen: Es sind mal wieder nur die Reichen, die sich schön und schlank machen dürfen. Womit wir beim kulturkritischen Argument wären: Die Abnehmspritze werde dazu führen, die Schönheitserwartungen immer weiter zu normieren. Am Ende sehen wir lauter identische Körper mit Weltstandardgewicht in den Büros und auf den Partys. Gruselig. Anstatt die Fettleibigkeit mit Pharma zu bekämpfen, sollte die Gesellschaft lieber die Stigmatisierung dicker Menschen beenden, rufen die Zivilisationskritiker.
Bald kommen die Generika
Alles schön und recht. Aber alles nicht triftig. Es wäre ein Wunder, wenn Wettbewerber von Novo Nordiks und Elly Lilli nicht bald eigene Medikamente zur Gewichtsreduktion auf den Markt bringen würden. Es wäre ein Wunder, wenn nach Ablaufen von Patenten nicht viele günstigeren Pillen oder Spritzen zu haben wären. Die Forderung, die Gesellschaft dürfe die Dicken nicht stigmatisieren, hören wir seit Jahren. Dummerweise hält sich die Gesellschaft nicht an diesen guten Rat. Und die Fettleibigen leiden. Jetzt bekommen sie eine Perspektive.
Wie kann es dann sein, dass in den Befragungen zur Reputation unterschiedlicher Wirtschaftszweige die Pharmaindustrie regelmäßig die letzten Plätze zugewiesen bekommt? Einen gewissen Ansehensgewinn konnte die Branche zwar durch die Erfindung der Covid-Impfstoffe verzeichnen, der freilich durch die inflationsbedingte Teuerung der letzten Jahre gleich wieder dahin schmolz.
Komisch! Den Fortschritt gibt es ja nicht erst seit der Erfindung der Abnehmspritze. Die Erfindung der Anästhesie im späten 19 Jahrhundert befreite die Menschen davon, bei operativen Eingriffen unerträgliche Schmerzen erdulden zu müssen. Die Erforschung von Hygienebedingungen (Händewaschen & mehr) und die Entwicklung urbaner Abwassersysteme haben das Aufkommen tödlicher Seuchen reduziert.
An dieser Erfolgsgeschichte ist die Pharmaindustrie maßgeblich beteiligt. Impfstoffe sorgten dafür, dass Polio und Pocken weitgehend ausgerottet wurden. Insulin, vor hundert Jahren zum ersten Mal aus der Bauchspeicheldrüse von Schlachtvieh gewonnen und Diabetikern gespritzt, rettet inzwischen Millionen Menschen das Leben. Brustkrebs war bis in die sechziger Jahre eine tödliche Krankheit. Inzwischen kann er geheilt werden. Vor dreißig Jahren war eine HIV-Erkrankung ein Todesurteil. Dank BionTech & Co. hat Covid seinen tödlichen Schrecken verloren. Der Freiheits- und Lebensgewinn solcher Medikamente kann kaum überschätzt werden. Die pharmazeutische Innovation trägt nach einer im National Bureau of Economic Research (NBER) veröffentlichten Studie aus dem Jahr 2017 mit über 70 Prozent zu den Erfindungen der Lebenswissenschaften bei.
Gibt es Erklärungen für das miese Ansehen einer lebensrettenden Branche? Generell, so mein Eindruck, ist der Antikapitalismus nirgends so verbreitet wie im Gesundheitswesen. Dass Pharmafirmen die Maximierung des Gewinnes vor das Gemeinwohl stellen, davon sind viele Menschen überzeugt. Kein Wunder, dass Minister Karl Lauterbach ein Gesetz zur Entökonomisierung der Gesundheit plant.Die Menschen wollen nicht krank sein
Han Steutel, Präsident des »Verbandes forschender Arzneimittelhersteller« hat ein paar tiefer liegende Vermutungen. »Die Menschen wollen nicht krank sein«, sagt er. Die Arznei erinnere sie daran. Epilepsie, eine Krankheit mit gravierenden Nachteilen für die Betroffenen, kann mit Medikamenten unter Kontrolle gehalten werden. Doch lediglich 40 Prozent der an Epilepsie leidenden Patienten sind therapietreu. Ähnlich ist es mit Blutdruck- oder Cholesterinsenkern. Das ist eine von vielen Irrationalitäten, mit denen die Menschen leben. Sie ignorieren die Krankheit und kritisieren die Hersteller der Pillen.
Steutel hat noch eine weitere Vermutung, eher aus dem Bereich der Magie. »Wir wollen keine Chemie und keine Pharmazeutika im Körper haben.« Eigentlich müsse doch etwas – die Krankheit – raus aus dem Körper. Da ist es ein Widerspruch, etwas einnehmen zu müssen. »Es muss was raus, nicht rein.« Und die hohen und intransparenten Preise? »Diese Debatte werden wir nie los«, sagt Steudel: Man klagt über die Preise und verdrängt den Nutzen der Arznei.
Und dann sind da noch die Ärzte. Anders als ihr Ruf, sich ständig auf Kosten der Pharmaindustrie auf Kongressen in Davos oder der Toskana bespaßen zu lassen, erweisen sie sich als besonders scharfe Kritiker der Pharmabranche: Lebensrettende Medikamente würden vom Markt genommen, wenn sich ihre Fertigung nicht mehr rentiere. Das gibt es. Aber die Pharma- und Wirtschaftsgeschichte – siehe oben – sprechen auf lange Sicht eine andere Sprache. Wir verdanken den Pillen insgesamt eine enorme Verbesserung und Verlängerung unseres Lebens.
Ob die Abnehmspritze an diesem paradoxen Befund etwas ändern wird? Schön wäre es. Ich glaube es nicht. Das Kartell der Ärzte, Kulturkritiker, Naturheiler und Arzneiverächter bleibt intakt – allen Erfolgen der Branche zum Trotz.
Rainer Hank
04. Dezember 2024
Mit Unsicherheit lebenViel mehr als wir glauben, hängt von Zufällen ab
Warum ist die Unpünktlichkeit der Deutschen Bahn ein Debattendauerthema, an dem sich Alt und Jung, Arm und Reich, Mann und Frau gleichermaßen beteiligen? Ich vermute, es hängt damit zusammen, dass wir Unsicherheit nur schwer aushalten.
Schlechte Ereignisse, die vielleicht eintreten können, sind schwerer zu ertragen als schlechte Ereignisse, die gewiss eintreten. Das ist eine Erkenntnis, die ich dem Neurowissenschaftler Volker Busch verdanke. Wenn klar ist, dass der Zug sechzig Minuten Verspätung hat, ist das nicht schön, aber damit kann man leben, weil man sich darauf einstellen kann. Wenn – was häufig passiert – bis zuletzt völlig unklar ist, ob der Zug 15 oder 70 Minuten Verspätung hat, versetzt uns das in Stress. Nichts ist sicher, so lautet ein Sprichwort, mit Ausnahme der Steuern, des Todes – und der Unsicherheit selbst.
Ereignisse, die vielleicht eintreten, gibt es ständig: Vielleicht knackt der Dax die 20.000 Punkte? Vielleicht bricht er ein? Vielleicht wird KI unseren Arbeitsplatz ersetzen? Vielleicht aber »lediglich« den des Kollegen? Vielleicht werden E-Autos künftig nur noch in China produziert? Vielleicht führt die Eskalation der Gewalt in Nahost oder der Ukraine irgendwann doch in die ganz große Katastrophe? Vielleicht übernimmt der terroristische IS irgendwann die Macht? Unsicherheit nährt Ängste. Ängste sind anfällig für populistische Angebote.
Kein Wunder, dass kluge Menschen seit Generationen Wege ersinnen, die Unsicherheit im Zaum zu halten. Wir können uns nicht völlig dem Zufall überlassen. Das würde uns lähmen, jegliches auf die Zukunft ausgerichtete Handeln ersticken, nicht zuletzt das wirtschaftliche Handeln. Zum Fortschritt in der Bekämpfung von Unsicherheiten hat vor allem die Wahrscheinlichkeitsrechnung beigetragen. Mit ihrer Hilfe sind wir in der Lage, Unsicherheit in Risiken zu verwandeln: Wir quantifizieren das mögliche Eintreten eines Ereignisses mit Zahlen und haben damit ein Maß für das Risiko, das wir eingehen. Seit wir wissen, dass es ziemlich riskant ist, auf einen pünktlich ankommenden Zug zu setzen, bauen wir größere Puffer bei der Reiseplanung ein. Das reduziert Stress – lindert freilich nicht unseren Ärger darüber, dass Fahrpläne inzwischen in etwa so fiktional sind wie Daniel Defoes Robinson Crusoe.
Meritokratie wird überschätzt
Welches Maß an Unsicherheit jemand auszuhalten bereit ist, wie stark er darunter leidet, ist kein objektives Faktum. Wenn wir in die Ferien fahren, buchen wir das Hotel im Voraus, informieren uns rechtzeitig bei Google Maps über Staus und hoffen, die Wetter-App zeigt uns verlässlich an, wie warm Luft und Wasser an unserem Urlaubsort sind. Freunde von uns machen das ganz anders. Sie hassen Planung und brechen einfach ins Blaue auf. Was wir als unzumutbare Unsicherheit meiden, ist für sie ein Überraschungskitzel, den sie neugierig auf sich zukommen lassen. Unsicherheit ist eine Frage des Framings. Die einen haben Reisefieber, die anderen genießen dasselbe Gefühl als prickelnde Vorfreude auf etwas, was sie noch nicht kennen.
So oder so unterschätzen wir alle die Wirkmacht des Zufalls im Leben. Dabei hätte man es im Buch Prediger der Heiligen Schrift nachlesen können. Dort steht geschrieben (Kapitel 7, Vers 9): »Wiederum sah ich unter der Sonne, dass nicht den Schnellen der Preis zufällt, und nicht den Helden der Sieg, nicht den Weisen das Brot, noch den Verständigen Reichtum, noch den Einsichtigen Gunst; sondern alle trifft Zeit und Zufall.« So ist es. Lieber wäre es uns, Beruf und unser Einkommen wären der Lohn für unsere Leistung und deshalb gerecht und angemessen. Meritokratie, die Annahme, dass Leistung belohnt wird, ist ein frommer Wunsch.
Der schönste Beleg, den ich für die Macht des Zufalls, also die Unsicherheit über die Zukunft, kenne, kommt aus dem Fußball. Forscher um den Sportwissenschaftler Martin Lames von der Technischen Universität München haben ein Beobachtungssystem entwickelt, mit dem das geplante oder nicht planbare Zustandekommen von Toren ermittelt wird. Sechs Merkmale sollen dafür stehen: abgefälschte Bälle, Abpraller, Tore mit Torwartberührung, Abpraller von Latte oder Pfosten, große Entfernung und Beteiligung der Abwehr. Das Ergebnis: In Gesamt von über 2500 Toren in der Datenbank der Forscher war bei 44,6 Prozent der Zufall beteiligt. Oder leicht vergröbert gesagt: Fast jedes zweite Tor verdankt sich nicht dem Können des teuer eingekauften Fußballers oder der strategischen Genialität des ebenso teuren Trainers. Sondern dem puren Zufall. Die Unsicherheit über den Ausgang eines Fußballspiels ist hoch.
Zufall im Fußball
Ich habe das Fußballexperiment häufig im Freundeskreis zum Besten gegeben. Die Reaktion war immer dieselbe: Man monierte, ich verstünde nichts von Fußball und bestritt das Ergebnis des Experiments. Ersteres ist korrekt, letzteres nicht. Die Studie wurde mehrfach empirisch überprüft. Einerseits wollen wir den Zufall im Sport möglichst geringhalten und geben dafür auch ziemlich viel Geld für Training, Strategieplanung und Spielanalyse aus. Andererseits macht die Unsicherheit über den Ausgang des Spiels gerade den Reiz des Wettbewerbs aus. Wäre das Ergebnis planbar, würde es schnell langweilig.
Wen das Nachdenken über Unsicherheit genauso fasziniert wie mich, dem empfehle ich das neue Buch von David Spiegelhalter: »The Art of Uncertainty«. Der Mann ist emeritierter Professor für Statistik an der Universität Cambridge. Sein Vorgängerbuch »The Art of Statistics« von 2019 ist ein Longseller. Spiegelhalter schreibt nicht (nur) für Akademiker, sondern für »interessierte Leute, die auf Fachleute angewiesen sind, ohne deren Glaubwürdigkeit beurteilen zu können«. Das Buch ist unterhaltsam und mit vielen Beispielen gespickt, hüpft von Giacomo Casanovas Idee einer Lotterie für den französischen Staat bis zu Bayes Theorem zur Berechnung bedingter Wahrscheinlichkeiten. Und befreit vom Zwang der Herstellung einer Welt ohne Unsicherheit. Eher geht es darum, zu großes oder zu geringes (Un)sicherheitsgefühl zu identifizieren. Die Behauptung von US-Präsident George W. Bush, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, hat die hohe Unsicherheit dieser Behauptung unterschlagen. Die Behauptung, Rauchen verursache Krebs, wurde von der Tabakindustrie jahrelang als hochgradig unsicher interpretiert. Um dies zu durchschauen, braucht es weniger Kenntnisse der Wahrscheinlichkeitsrechnung als der Interessen politischer und wirtschaftlicher Macht.
Die größte Unsicherheit des Lebens ist der Zufall der Geburt. Der ist am wenigsten zu beeinflussen und beeinflusst seinerseits doch so vieles. Wann, wo, in welcher Zeit, mit welchen Genen jemand auf die Welt kommt, macht einen Unterschied fürs ganze Leben. Dies lässt sich nur in Demut zur Kenntnis nehmen.
Rainer Hank
15. November 2024
ZwangsarbeitWie der Staat uns permanent enteignet.
Steuern sind eine Art von Zwangsarbeit. Zwangsarbeit finden wir moralisch verwerflich, Steuern in der Regel nicht. Im Gegenteil: Die SPD will die Reichen (von einer Million Euro an) mit einer Vermögenssteuer zusätzlich belasten. Zudem soll es höheren Erbschafts- und Einkommensteuern für die Superreichen geben. Eine Begründung liefern die Sozialdemokraten nicht. Es sei denn, man ließe die Erklärung durchgehen, damit könne man die »arbeitende Mitte« entlasten. Irgendwo muss das Geld ja herkommen. Argumentativ dürftiger geht es kaum, nicht nur weil unterstellt wird, die Reichen würden nicht arbeiten.
Das ist natürlich noch nicht die Erläuterung, warum Steuern eine Form der Zwangsarbeit sind. Hilfreich ist ein Blick in den »Belastungscheck 2024« auf der Internetseite des Bundes der Steuerzahler. Dort wird aufgerechnet, was dem Durchschnittsdeutschen von einem erarbeiteten Euro am Ende bleibt. Raten Sie doch mal, bevor sie weiterlesen!
Hier die Antwort. Von einem Euro werden 20,9 Prozent Steuern und 31,7 Prozent Sozialabgaben abgezogen. Am Ende bleiben somit 47,4 Prozent zum Leben übrig. In den Steuern stecken Lohn-, Mehrwert- und Energiesteuern (inklusive der CO2–Steuer). Aber auch Abgaben, an die man zunächst nicht denkt, wie etwa die vom Vermieter an mich überwälzte Grundsteuer oder die Zwangsgebühren für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (eine verkappte Steuer). Sozialabgaben sind Beiträge zur Arbeitslosen-, Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung.
Der Steuerzahlerbund hat deshalb den Steuerzahlergedenktag eingeführt. Bis zu diesem Tage wird dem durchschnittlichen Steuerbürger sein gesamtes Einkommen abgenommen. Das war in diesem Jahr der 11. Juli. Deshalb Zwangsarbeit. Erst danach können die Menschen über ihr Einkommen frei verfügen. Dass wir in aller Regel durch Umverteilung von unseren Steuern und Abgaben etwas zurückbekommen (Bildung, Polizei, Gesundheitsleistungen, »Heute Show«) ändert am Charakter der Zwangsarbeit nichts. Auch eingesperrte Zwangsarbeiter bekommen in der Regel Verpflegung und Unterkunft gestellt. Unter dem Strich bleibt es dabei, dass Arbeitnehmerhaushalte mehr als die Hälfte ihres Erwerbseinkommens nicht zur freien Verfügung haben, sondern zunächst an die öffentlichen Kassen abtreten.
Es sei höchst bedenklich, wenn mehr als 50 Prozent des individuellen Einkommens über staatliche Kanäle umverteilt werden, sagt der Steuerzahlerbund. Dies schwäche die Arbeitsanreize. Gleichzeitig dürfte eine durchschnittliche Einkommensumverteilung von mehr als 50 Prozent das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen stören und als konfiskatorisch empfunden werden.
Doch warum regt sich das Gerechtigkeitsempfinden erst bei 50 Prozent und nicht schon beim ersten Euro, den der Staat seinen Bürgern abnimmt? Diese radikale Ansicht vertritt mit guten Argumenten der Philosoph Robert Nozick. Sein Klassiker »Anarchie, Staat, Utopie« erschien vor 50 Jahren im Jahr 1972. Nozick (1938 bis 2002) wuchs in Brooklyn in einer jüdischen Familie auf; sein Vater war aus einem russischen Stetl in die USA eingewandert. Nozick studierte Philosophie an der Columbia-Universität in New York und engagierte sich in der sozialistischen Studentenbewegung. Eine Elvis-Tolle auf den Fotos vom ihm zeigt, welcher Generation er angehört. Die Lektüre der Schriften Friedrich August von Hayeks ließ ihn zum Liberalen werden.
Nur das Argument zählt
Für Nozick zählten weder Praktikabilität, Empathie oder Umverteilungssolidarität – sondern nur das vernünftige Argument. Berühmt ist sein Wilt-Chamberlain-Beispiel gegen jegliche Form staatlicher Umverteilung. Wilt Chamberalain war ein erfolgreicher und sehr reicher amerikanischer Basketballspieler (10 Millionen Dollar Nettovermögen), vergleichbar mit Michael Jordan oder Dirk Nowitzki.
Nozicks Argument geht so: Stellen Sie sich vor, Chamberlain unterzeichnet einen Vertrag mit seinem Basketballteam. Jede verkaufte Eintrittskarte für Spiele, an denen er teilnimmt, bringt ihm 25 Cent. Während der Saison kommen eine Million Menschen, um Chamberlain zu sehen. Am Ende der Saison ist er 250.000 Dollar reicher als zuvor. Entstanden ist eine Welt größerer Ungleichheit.
Gibt es daran irgendetwas auszusetzen? Nein, sagt Nozick. Die Leute zahlen freiwillig. Mit welchem Recht darf der Staat Chamberlain von seinem Eigentum etwas wegnehmen? Er hat sein Geld legal auf der Grundlage von freien Verträgen erworben. Alles andere würde seine Freiheit einschränken. Das steht dem Staat nicht zu: »Die Besteuerung von Arbeitsverdiensten ist mit Zwangsarbeit gleichzusetzen.« Entzieht man jemanden den Verdienst von 100 Arbeitsstunden, so ist das, als zwänge man ihn, 100 Stunden für andere zu arbeiten. Manche Menschen fänden den Vergleich absurd, schreibt Nozick: »Doch auch diese, sofern sie etwas gegen Zwangsarbeit haben, wären dagegen, dass man beschäftigungslose Hippies zur Arbeit zugunsten Bedürftiger zwingt.« Als Hippies, für jüngere Leser, bezeichnete man damals junge Leute, für die Naturverbundenheit, Konsumkritik, sowie der Bruch mit spießigen Lebens- und Moralvorstellungen zentral war.
Nozick ist kein Anarchist. Er ist für einen Staat, der die Freiheit seiner Bürger schützt gegen Übergriffe ihrer Mitbürger oder fremde Angreifer. Nozicks Staat hat ein Gewaltmonopol, garantiert »Life, Liberty, Property« und wacht darüber, dass Verträge eingehalten werden (»Rule of Law«). Das ist ein starker, aber schlanker Staat. Man sollte nicht von einem »Minimalstaat« reden: Wenn der Staat sein Monopol verliert, machen sich Warlords, Milizen und Terrororganisationen (Hisbollah, Hamas) breit. Für seine Leistungen, die allen zugutekommen, darf der Staat von den Bürgern Gebühren verlangen; staatliche Leistung und Gegenleistung erhalten Preisschilder.
Folgt daraus, dass in Nozicks Modell Arme auf der Straße verhungern, ohne dass der Reiche seine Finger krümmt? Abermals Nein. Unter dem Dach des schlanken S
taates wäre Platz für alle Arten der Philanthropie und Barmherzigkeit – für säkulare oder religiöse Vereine und Stiftungen. Das kann man naiv finden, wenn man der freiwilligen wechselseitigen Zuwendung von Menschen misstraut. Es könnte aber auch sein, dass solch freiwillige Barmherzigkeit von bürokratischen Zwangsstaaten seit langem einfach erstickt wurde.Robert Nozicks Staat der Freiheit ist eine Utopie, keine Frage. Wir werden ihn nicht erleben. Die Utopie des freiheitlichen Staates taugt indessen als Korrektiv und regulative Idee gegen den interventionistischen, paternalistischen und distributiven Staat, in dem wir leben. Wir sollten Nozicks Freiheitsidee im Hinterkopf behalten, wenn uns in den langen Monaten des kommenden Bundestagswahlkampfes die Umverteiler unsere Freiheit nehmen wollen.
Rainer Hank