Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 18. Mai 2020
    Die Zentrale hat immer Recht

    »ultra vires«: Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts Foto bundesverfassungsgericht.de

    Dieser Artikel in der FAZ

    Von Landräten, Verfassungsrichtern und Lateinlehrern

    Dass Latein noch einmal in unserem Leben wichtig werden könnte, hätte Herrn Lenz gefreut. Denn natürlich hatten wir unseren Lateinlehrer mit seinen eigenen Sprüchen aufgezogen, damals in den sechziger Jahren am Stuttgarter Dillmann-Gymnasium, und Beweise gefordert dafür, dass hier fürs Leben (»non scolae sed vitae…«) gelernt werde. Jetzt brachte uns »ultra vires« ziemlich ins Schleudern, ein Ausdruck, der sich unübersetzt bereits im ersten Absatz der Pressemitteilung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) über das Staatsanleihen-Kaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) findet – und erkennbar ziemlich wichtig ist.

    Der Kalauer, bei »vires« an Corona zu denken, verbietet sich. Aber an »Männer« mussten wir denken: »vir«, der Mann. Doch warum sollte es »gegen die Männer« sein, Anleihen zu kaufen? Das klingt schief. Ein Gespräch mit Freunden mit tatkräftiger Unterstützung ihrer lateinsicheren Tochter brachte schließlich Aufklärung: »ultra vires«, ein Akkusativ-Plural, kommt nicht von »vir«, sondern von »vis«, was »Kraft, Stärke, Gewalt« bedeutet: Die Richter finden also, was die EZB da mache, überschreite die Kräfte und Kompetenzen der europäischen Geldpolitiker.

    Die Luxemburger Richter sind beleidigt

    Das ultra-vires-Argument sollte man tatsächlich verstehen, um zu sehen, welche Zäsur das Urteil der Karlsruher Richter bedeutet. Kompetenzgemäß wäre das Handeln der EZB nämlich nur, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werde, sagen sie. Dass die Geldpolitik negative wirtschaftspolitische Folgen habe – schrumpfende Sparguthaben deutscher Bürger zum Beispiel – hätte in einer solcher Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt werden müssen und müsse nun nachgeholt werden, andernfalls dürfe die deutsche Bundesbank sich künftig nicht mehr an den Anleihekäufen beteiligen.

    Inzwischen ist deutlich, dass Karlsruhe sich mit Gott und der Welt angelegt hat: Nicht nur mit der EZB, sondern erst recht mit den Richtern des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg und mit ganz Brüssel sowieso, angeführt von unserer Mustereuropäerin Ursula von der Leyen. »How dare you«, wie könnte ihr so frech sein, so schallt es seither aus dem europäischen Wäldern heraus: Die Luxemburger Richter stehen auf dem Standpunkt, nur sie allein hätten das Recht darüber zu befinden, ob eine europäische Institution wie die EZB kompetenzwidrig »ultra vires« handle oder nicht. Und aus Sicht des EuGH ist natürlich alles okay, was die EZB tut. Von der Leyen sekundiert mit dem Argument, wo kämen wir hin, wenn jetzt auch oberste Gerichte in Ungarn, Polen oder sonstwo in Osteuropa frech würden.

    Wieder einmal zeigt sich nicht nur die vermurkste Architektur des Euro, sondern auch der Fluch des europäischen Zentralismus. Der EuGH benimmt sich, als sei er das oberste Gericht eines europäischen Bundestaates, demgegenüber alle nationalen Verfassungsinstanzen der EU-Mitgliedsländer nachgeordnete Behörden und zum Stillschweigen verurteilt wären, nachdem das oberste europäische Gericht geurteilt hat. Wir dulden keine nationalen Extrawürste, so heißt der dahinterstehende Befehl. Karlsruhe hingegen dreht den Spieß um: Das BVG versteht sich als Anwalt des deutschen Volkes. Dieses ist der Souverän, demgegenüber Brüssel lediglich eine abgeleitete Autorität hat. Die EU ist eben kein Bundesstaat wie die Vereinigten Staaten. Mag sein, dass so auch die Populisten in Osteuropa argumentieren. Aber das ist nicht das Problem des BVGs, denn in Deutschland leben wir in einem Rechtsstaat.

    Subsidiarität ist nur noch ein inhaltsloses Wieselwort

    Hier kommt nun noch einmal Herr Lenz, unser Lateinlehrer, ins Spiel. Denn was sich da gerade zwischen Karlsruhe und den europäischen Institutionen abspielt, kann man auch als Kampf um die Subsidiarität interpretieren. Dieser Begriff kommt von »subsidium«, meint »behelfsweise« und bedeutet, dass in einer Gemeinschaft jeder Einzelne für sich selbst verantwortlich ist und andere nur »subsidiär« für ihn einstehen sollen – eben dann, wenn sie sich nicht selbst helfen können. Dies besagt auch, dass Dezentralität Vorrang hat und höhere Ebenen erst gefragt sind, wenn die regionalen oder nationalen Ebenen überfordert sind. Subsidiarität spielt zwar als Begriff in den EU-Verträgen eine große Rolle, ist inzwischen aber zum rhetorischen Wieselwort von Sonntagsreden ziemlich auf den Hund gekommen. Stattdessen hat sich in Europa ein Zentralismus breit gemacht, der meint, es sei am besten, von oben nach unten durchzuregieren. Karlsruhe hat auch diesen Grundsatz der Subsidiarität in Erinnerung gerufen: nationale Parlamente als Anwälte der Bürger eines Landes können nicht einfach von europäischen Institutionen übergangen werden.

    Während der Anti-Zentralismus hierzulande immer dann viel Unterstützung findet, wenn es gegen die Machtanmaßung aus Brüssel geht, ist der deutsche Föderalismus deutlich weniger beliebt, der doch auf demselben Prinzip von Subsidiarität und Non-Zentralismus fußt. Das lässt sich gerade jetzt beobachten an den Maßnahmen zur Corona-Eindämmung, was Sache der Länder und neuerdings der Landkreise ist. Das stößt bei den Leuten schnell auf Missfallen. Dann ist – in unterschiedlicher Metaphorik – von »Flickenteppich« und »Kleinstaaterei« die Rede und davon, dass es keine »Extrawürste« und keinen »Überbietungswettbewerb« geben dürfe. Dahinter steht die Ansicht, dass es in der Not einer starken Zentrale bedürfe, die sagen müsse, wo es lang geht.

    »Die Zentrale weiß alles besser«, hat Kurt Tucholsky 1925 in der »Weltbühne« geschrieben: »Die Zentrale hat die Übersicht, den Glauben an die Übersicht und eine Kartothek. In der Zentrale klopfen dir die Männer auf die Schulter und sagen: Lieber Freund, Sie können das von Ihrem Einzelposten nicht so beurteilen! Wir in der Zentrale …« Wenn jetzt Landräte in Sonneberg in Südthüringen beurteilen sollen, was zu tun ist, wenn eine Obergrenze von fünfzig Corona-Infizierten überschritten wird, dann wird das ein spannendes Experiment im Kampf gegen unseren habituellen Zentralismus.

    Föderal verfasste Staaten (etwa die Schweiz) stehen wirtschaftlich stets besser da als Zentralstaaten. Einiges spricht dafür, dass Länder, in denen mit der Coronakrise föderal und subsidiär angegangen wird, bessere Ergebnisse haben als zentralistische Staaten (Frankreich). Altersstruktur, Bevölkerungsdichte, Wirtschaftskraft – das alles unterscheidet sich von Stadt zu Stadt, macht aber in der Krise einen gehörigen Unterschied. Die Stärke des Föderalismus heißt: Lernfähigkeit, Anpassungsfähigkeit, regionale Robustheit. Macht der Landrat einen Fehler, müssen die anderen ihn nicht mitmachen. Macht Berlin einen Fehler, sind alle betroffen. Seien wir froh, dass wir das Heft des Handelns in der Pandemie nicht an Brüssel delegiert haben. Wenn es ernst wird, rettet uns nur der föderal verfasste Nationalstaat.

    Das Urteil von Karlsruhe und die Dezentralisierung der Corona-Bekämpfung haben eine entscheidende Gemeinsamkeit: Sie korrigieren den Glauben an den Zentralismus und setzen auf nationale und föderale Autonomie. Zentralismus übersteigt unsere Kräfte, er ist »ultra vires«.

    Rainer Hank

  • 12. Mai 2020
    Krieg und Krise

    Im Fieber Foto Wynn Pointaux pixabay

    Warum martialische Vergleiche mehr erklären als gedacht

    Wir sind im Krieg! Für diesen Satz in der Corona-Krise ist der französische Präsident Emmanuel Macron arg gescholten worden, zumindest hierzulande. Auf den ersten Blick liegt Macron gewiss komplett falsch: Im Krieg gibt es klare Feinde, es gibt am Ende Sieger und Besiegte und schreckliche Zerstörung auf allen Seiten. Es gibt Täter und Opfer, Angreifer und Verteidiger. Das alles wird uns gerade an diesem Wochenende in Erinnerung gebracht, dem 75. Jahrestag der Kapitulation und Befreiung.

    Falsch wäre es indessen, den Vergleich der Corona-Krise mit dem Krieg gänzlich ad acta zu legen. Bei näherem Hinsehen gibt es nämlich eine ganze Reihe auffälliger Gemeinsamkeiten. Den Sinn dafür hat uns Harold James geschärft. Der Mann ist Wirtschaftshistoriker, lehrt und forscht an der Universität Princeton und hat vor kurzem in der nicht genug zu lobenden Webinar-Serie seines Princeton-Kollegen Markus Brunnermeier über »Corona-Lektionen« der Kriegs- und Nachkriegszeiten 1918 und 1945 gesprochen. Wie heute wird auch in Kriegszeiten die normale Wirtschaft stillgelegt, nationale Grenzen werden für Menschen, Güter und Dienstleistungen dicht gemacht. Es gibt nur noch ein Thema, dem sich alles andere unterzuordnen hat. Der Staat setzt bürgerliche Freiheiten außer Kraft, gesellschaftliches Leben erstirbt. Dafür nehmen die Staatsschulden in Kriegen ungeheure Ausmaße an, ohne dass es daran nennenswert Kritik gibt. Im Gegenteil: Die Regierungen profitieren im Ansehen bei ihrer Bevölkerung, die Umfragewerte regierenden Partei gehen nach oben. »Rally-round-the-flag« nennt die Politikwissenschaft dieses Phänomen freiwilliger Bürger-Loyalität: In schweren Zeiten versammeln wir uns hinter unseren Führern. Das Parlament akklamiert, die Opposition verstummt.

    Keiner weiß, wie lang es dauert

    Harold James listet noch eine Reihe weiterer Gemeinsamkeiten auf zwischen Krieg und Pandemie. Besonders überzeugt hat mich die Beobachtung, dass die Menschen nicht wissen, wie lange der Krieg oder die Pandemie dauern, man nicht planen kann und dass genau diese Unsicherheit sich als psychisch zermürbend herausstellt. Durchhalteparolen und Drohszenarien aus Regierungskreisen haben das Ziel, die Menschen bei der Stange zu halten: Angstgetriebene Konformität allerorten. Viel Moral ist im öffentlichen Angebot, achtet man etwa auf die Solidaritäts- und Gemeinwohlrhetorik seit Ausbruch der Corona Krise.

    Damit ist der Vergleich noch lange nicht erschöpft. Wirtschafts- und finanzpolitisch geht es darum, wie man nach dem Shutdown wieder in den Zustand der Normalität zurückfindet. Wenn es gut geht, sorgt ein ordentliches Wachstum in der Wiederaufbauzeit dafür, dass die Staaten aus ihren Schulden herauswachsen. Und wenn es gut geht, konsumieren die Menschen dann wieder freudig, anstatt sich in eine Deflation hinein zu sparen, während gleichzeitig eine umsichtige Geld- und Fiskalpolitik dafür sorgt, dass dies am Ende nicht in eine überschießende Inflation fließt. Wenn es schief geht, gibt es einen Schuldenschnitt und das Geld ist weg.

    Der Oberbegriff für Krieg und Pandemie heißt Krise. Die FAZ-Dokumentation hat gezählt, dass der Begriff Krise in den führenden deutschen Medien im April 2020 noch häufiger auftaucht als im Krisenmonat des Zusammenbruchs von »Lehman Brothers« im September 2008. Doch was überhaupt ist eine Krise? Auch dafür habe ich eine hilfreiche Hörempfehlung: Petra Gehring, eine an der TU Darmstadt lehrende Philosophin, hat im Jahr 2017 eine Vorlesung gehalten zum Thema »Philosophische Krisendiagnosen im 20. Jahrhundert«, die man im Netz bequem nachhören kann. Gerade weil diese Vorlesung noch keine Kenntnis der Corona-Krise haben konnte, sind die Gedanken der Philosophin hilfreich.

    Dabei zeigt sich: Der Begriff der Krise kommt ursprünglich aus der Medizin. Kranke Körper kommen früher oder später in die Krise, jenem Höhepunkt des Krankheitsverlaufs, in welchem sich der Ausgang der Sache entscheidet. Die Krankheit ist ein Prozess, an dessen fiebrigem Höhepunkt völlig in der Schwebe ist, wie alles enden wird: mit Heilung oder Tod. Die Krise selbst bringt die ganze Gesellschaft ins Fieber. Man kann das als Kurve zeichnen mit einem Scheitelpunkt: bezogen auf heute ist das jener Punkt, an dem die Zahl der Infizierten zurückgeht, R kleiner Eins wird – und alle aufatmen. An Corona können wir sozusagen die Urform einer Krise ablesen.

    »Alles wird neu!«

    Die Fieberkurve mit Scheitelpunkt wurde nicht nur in der Ökonomie das Modell für das Auf und Ab des Konjunkturzyklus, sondern auch in der Militärwissenschaft Vorbild für die Beschreibung von Kriegen als Krisen. Stets bleibt der Krisenbegriff ambivalent. Das zeigt die Floskel von der »Krise als Chance«; die auch heute wieder gerne genommen wird. Es wird dann die Zeit vor der Krise abgewertet (übertriebene Globalisierung, unmenschlicher Kapitalismus, Konsumismus, Egoismus), während das Gute der Krise darin bestünde, die »wahren« Bedürfnisse der Menschen offen zu legen, die Menschen zum »Eigentlichen« zu führen und überhaupt alles zum Besseren zu wenden. Es werde keine Normalität geben »wie vorher«, so tönt es jetzt aus den öffentlich-rechtlichen Fernsehgeräten, eine Drohung, die sich als Verheißung camoufliert.

    »Alles wird neu!« heißt der Slogan dieser Krisen-Propheten, als dessen Ahnherrn Petra Gehring den Basler Historiker Jacob Burckhardt anführt. In Burckhardts berühmten »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« aus dem Jahr 1905 trägt ein großes Kapitel die Überschrift »Die geschichtlichen Krisen«. Dort findet man nicht nur die Übertragung der medizinischen Terminologie auf Krieg und Frieden, sondern auch genau jene Solidaritätsbeschwörung, die uns heute eingetrichtert wird. Bei Burckhardt wird daraus ungeniert ein Lob des Krieges. Der lange Friede habe eine »eine Menge jämmerliche Existenzen« hervorgebracht: »Sodann hat der Krieg, welcher so viel als Unterordnung alles Lebens und Besitzes unter einen monumentalen Zweck ist, eine enorme sittliche Superiorität über den bloßen gewaltsamen Egoismus des einzelnen: er entwickelt die Kräfte im Dienst eines Allgemeinen, welcher zugleich die höchste heroische Tugend sich entfalten lässt. Er allein gewährt den Menschen den großartigen Anblick der allgemeinen Unterordnung unter ein Allgemeines.«

    Würde man die etwas altertümliche Rhetorik des Basler Historikers ein wenig aktualisieren und das Wort Krieg konsequent durch Corona-Pandemie austauschen, dann gehe ich die Wette ein: Man könnte Jakob Burckhardt quasi inkognito unter die vielen Texte von Politikern und Fernsehkommentatoren schmuggeln, die uns heute weismachen wollen, dass die Krise auf wundervolle Weise zeige, wie der Staat in der Lage sei, alle Wirklichkeit einem Gemeinwohlinteresse unterzuordnen. Diese Erfahrung soll nun auch die Grundlage für eine neue solidarische Gesellschaft in der Nach-Corona-Zeit abgeben. Geläutert durch Corona würden wir die jämmerliche Existenz unseres Vorkrisen-Egoismus überwinden.

    Sollte es uns nicht zu denken geben, dass die jetzt dem Corona-Ausnahmezustand zugeschriebene kathartisch-heroische Kraft ihren Ursprung hat in der Kriegsverherrlichung des Krisen-Theoretiker des 20. Jahrhunderts?

    Rainer Hank

  • 04. Mai 2020
    In der Risikogruppe

    Fit in der Risikogruppe Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Darf man den Wert eines Lebens in Geld beziffern?

    »Willkommen in der Risikogruppe!«, das war meine Grußformel, die ich einem Freund anlässlich seines 60. Geburtstags vergangene Woche zurief. Nicht sehr feinfühlig, wir mir klar wurde. Wer will schon gerne ein Risiko sein, weder für andere noch für sich selbst. Wen immer ich derzeit aus meiner Kohorte spreche, hat daran zu knabbern. »Was mir der Coronakomplex antut, ist, dass er mich zum ›Senior› macht«, schreibt mir ein putzmunterer akademischer Emeritus: Die Politik wolle ihm Reisen zu Vorträgen oder Arbeitstagungen verbieten und ihm Berufsverbot erteilen, knurrt er. »Damit sie das kann, ernennt sie mich zum »Senior«, also überflüssig«, so der Emeritus.

    Das alles ist eine gewaltige narzisstische Kränkung. Wir Alten – wie sich das schon anhört – rebellieren innerlich ununterbrochen. Die liebste Entlastungsübung geht so: Wir rechnen uns souverän aus der Risikogruppe raus. Denn biographisches Alter und biologisches Alter klaffen bekanntlich auseinander. »60 ist das neue 50«, so ungefähr jedenfalls geht das Spiel. Das alles, man muss es so klar sagen, sind mehr oder weniger hilflose Anstrengungen, die das Ziel haben, die sichtbare und zählbare Anwesenheit des Todes in den Hintergrund zu drängen. Aber wie soll man das nur schaffen, bei all den Statistiken zur »Übersterblichkeit«, mit denen wir täglich konfrontiert werden (von den Fernsehbildern der Särge ganz abgesehen).

    Zwar bedroht die Corona-Pandemie die Menschheit als Ganze. Aber das Risiko nimmt mit dem Alter zu. All die Maßnahmen, die derzeit zur Abflachung der Infektionskurve unternommen werden, kommen – statistisch gesehen – mir mehr zugute als meiner fünfundzwanzigjährigen Nichte. Bislang waren wir gewohnt, die mit der steigenden Lebenserwartung verbundene demographische Entwicklung nahezu ausschließlich positiv zu interpretieren. Jetzt zeigt sich aber, dass dieser Gewinn an Lebenszeit für die Gesellschaft mit deutlich höheren Kosten und Unannehmlichkeiten verbunden ist.

    Pandemie in Zeiten alternder Gesellschaften

    Covid 19 sei die erste Seuche der Menschheitsgeschichte, die in eine Zeit fällt, in der mehr Menschen über 65 Jahre alt sind als unter fünf Jahren, schreibt Andrew Scott, ein Ökonom der London Business School. Wir sind mehr und wir leben länger. Das heißt einerseits, dass es viel mehr Menschen mit höheren Infektionsrisiken gibt als vor hundert Jahren und dass zugleich von den Maßnahmen sozialer und physischer Distanzierung, die jetzt überall vorgeschrieben sind, vor allem wir Älteren profitieren. Und dass dies der gesamten Gesellschaft mehr Geduld abverlangt als frühere Pandemien.

    Corona, folgt man der Argumentation von Professors Scott, wird im Vergleich mit früheren Epidemien deutlich teurer und zwar ganz unabhängig von den billionenschweren Konjunktur- und Kreditprogrammen. Dies schlicht deshalb, weil mehr Alte gerettet werden müssen. Die Herleitung Scotts ist ein bisschen kompliziert, lohnt aber das Nachdenken: Im Jahr der Spanischen Grippe 1920 waren 8,5 Prozent der Bevölkerung älter als 60 Jahre; heute sind es 22 Prozent. Im Jahr 2050 werden es 28 Prozent sein. Weil nun das Risiko an Corona zu sterben mit dem Alter exponentiell wächst, nehmen im Umkehrschluss auch die Vorteile für die Älteren zu, die von einer erfolgreichen Politik der sozialen Distanz profitieren. Hätten wir heute eine Altersverteilung wie im Jahr 1920, würden die jetzt getroffenen Maßnahmen 580000 Leben retten, während heute 1,8 Millionen Menschen dem Tode entgehen.

    Ökonomen schrecken vor nichts zurück und übersetzen die potenzielle Lebensrettung in Geld, indem sie jedem Leben einen statistischen Wert geben. Das klingt kalt, ist aber gleichwohl nicht abwegig. Natürlich gibt es keinen noch so hohen Geldbetrag, für den wir freiwillig unser Leben oder das eines geliebten Menschen hergeben würden. Doch darum geht es nicht. Wir stellen bei all unseren Handlungen selbst häufig ein Kalkül an, wissen zum Beispiel, dass Autofahren tödlich enden kann und machen es trotzdem bei (zumeist) vollem Risikobewusstsein. Um das Risiko tödlicher Autounfälle zu reduzieren, errichten die Kommunen Ampeln. Da man aber nicht an allen Kreuzungen Ampeln aufstellen kann, kommt man um eine Kosten-Nutzen-Analyse nicht herum, für die sich ein fiktiver Geldbetrag des Nutzens – genannt »Wert eines statistischen Lebens« – einsetzen lässt.

    Solche Überlegungen spielen jetzt auch in der Corona-Krise eine Rolle. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat das vergangene Woche auf die ihm eigene Weise beschrieben: »Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig«. Die im Grundgesetz verankerte Menschenwürde schließe nicht aus, »dass wir sterben müssen«. Corona desillusioniert unsere Unsterblichkeitsphantasien.

    Wir alten profitieren

    Benutzt man den Wert eines statistischen Lebens in diesem Sinn, verliert die Rechnung ihren Zynismus. Andrew Scott, der Professor aus London, beziffert für Amerika den Wert der durch die Maßnahmen sozialer Distanzierung geretteten Menschenleben auf knapp acht Billionen Dollar. Die im Vergleich zu 1920 heute größere Anzahl älterer und länger lebender Menschen erfordert aber zugleich auch, dass der Shutdown dreimal so lang dauert als er 1920 für vergleichbare Ziele nötig gewesen wäre.

    Was daraus folgt? Wir Alten sollten uns dreimal überlegen, wie laut wir die Einordnung als Risikogruppe beklagen. Denn objektiv profitieren wir überproportional – je älter umso mehr –, während der Löwenanteil der Kosten dafür von den Jüngeren geschultert werden muss. Statistisch gesehen tun die Jüngeren also mehr für mich als für sich.
    Daraus könnte ein neuer Generationenkonflikt resultieren. Es bleibt ungenügend, die Jüngeren damit zu beschwichtigen, dass sie selbst auch einmal älter werden und im Fall einer abermaligen Pandemie dann auch von Jüngeren gerettet werden wollen. Das Argument der Gegenseitigkeit, das an den »Generationenvertrag« bei der gesetzlichen Rente erinnert, ist zwar richtig, aber etwas unfair, weil die hohen Kosten für die Jüngeren heute anfallen, während der künftige Nutzen erst später erzielt wird und noch dazu unsicher ist.

    Um einen drohenden Generationenkonflikt zu entschärfen, könnte es geraten sein, im weiteren Verlauf der Pandemie den Jüngeren mehr Freiheiten als den Älteren zu lassen. Es ließe sich die größere Freiheitsbeschränkung paternalistisch mit dem höheren Schutzbedürfnis der über Sechzigjährigen begründen, was dann als eine »gute« Diskriminierung kommuniziert werden könnte. Aber es wäre doch zugleich eine ziemlich dicke Entmündigung, wie sie bei kleinen Kindern, aber nicht bei vernünftigen Erwachsenen gerechtfertigt ist. Wäre es nicht besser, uns Alte selbst entscheiden zu lassen, welchen Risiken wir uns aussetzen wollen, natürlich bei Wahrung der Abstand- und Mundschutzregeln? Ethisch gibt es daran nichts auszusetzen: Wir müssen in Kauf nehmen, von Jüngeren angesteckt zu werden, sind aber unsererseits für die Jüngeren keine größere Gefahr als alle anderen Zeitgenossen.

    Es gibt eben keinen absoluten Schutz vor dem Sterben. Jetzt nicht. Aber eben auch nicht, wenn Corona – hoffentlich bald – vorüber sein wird.

    Rainer Hank

  • 28. April 2020
    Seuchensozialismus

    Wollen wir immer so leben Foto pisauikan on unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie die Corona-Krise Utopien als Dystopien entlarvt

    Was macht den Menschen am meisten Angst in dieser Krise? Josh Cohen arbeitet als Psychoanalytiker in seiner Praxis in London. In den vergangenen Wochen hat er viele Patienten behandelt, die ihm von ihren aktuellen Ängsten erzählt haben. Dabei stellte sich heraus: Schlimmer als die Angst sich zu infizieren, zerstörerischer als die Sorge um das künftige Einkommen ist die Erfahrung, plötzlich keine Arbeit zu haben. Leere und Sinnlosigkeit tun sich auf. »Ich habe Angst, mich selbst zu verlieren«, so berichtet Cohen die Aussage einer Patientin in einem Artikel im »Guardian«. Der Psychoanalytiker folgert: Jetzt spüren wir, wie abhängig wir davon sind, dass wir Arbeit haben.

    Wenn nicht mehr selbstverständlich, wird plötzlich der Wert der Normalität bewusst. Arbeit ist unser Leben und ohne Arbeit verlieren wir uns selbst. Das wirft ein Licht auf einen breiten Strom von Utopien, welche die Befreiung von der Arbeit als Ziel der Menschheit beschrieiben. Oscar Wilde, der britische Exzentriker an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, träumte davon, dass im Sozialismus niemand mehr arbeiten müsse (»The Soul of Man«). Die Menschen bräuchten dann keine Sklaven mehr zu sein und könnten sich stattdessen Maschinen als Sklaven halten, um ihrerseits der Selbstverwirklichung zu frönen. Es sind Künstler-Träume einer befreiten Gesellschaft, die das unterdrückende Reich der Arbeit hinter sich gelassen hat.

    Die Corona-Krise bietet unfreiwillig die Chance, die ein oder andere lieb gewordene Utopie dem Realitätscheck zu unterwerfen – zugegeben unter bösen Bedingungen. Viele dieser Utopien zerplatzen oder wandeln sich gar von der Utopie zur Dystopie, ihrem pessimistischen Gegenbild. Die Welt ohne Arbeit ist ja nicht nur die Fantasie früherer Sozialisten. Seit geraumer Zeit wird sie auch von heutigen Top-Managern großer Unternehmen propagiert: In einer digitalen Wirtschaft, in welcher die Roboter und Algorithmen die Arbeit übernehmen und für die Gewinne der Unternehmen sorgen, lasse sich eine Art Maschinensteuer abschöpfen, die allen Menschen ein garantiertes Grundeinkommen sichert, ohne dass sie dafür arbeiten bräuchten. Allzu fern von dieser Welt sind wir derzeit nicht: Das Kurzarbeitergeld, das viele jetzt beziehen, ist nichts anderes als eine Art »bedingungsloses Grundeinkommen«, um den entfallenen Lohn zu kompensieren. Doch jetzt spüren wir, Geld ohne Arbeit ist nicht die Erfüllung des Lebenssinns. Auch die Hoffnung, befreit von der Sklaverei entfremdeter Büroarbeit würden wir nun endlich in unserem Homeoffice kreativ und zu uns selbst finden, könnte trügen. Befriedigender ist es, wenn der Lohn »Belohnung« ist für die Arbeit und diese im sozialen Austausch stattfinden kann.

    So also sieht Degrwoth aus

    Ernüchterung gegenüber dem utopischen Potential einer »besseren« Welt lässt sich auch auf anderen Feldern studieren. So erleben wir derzeit, zweitens, auch den Praxistest der Degrowth-Idee, die häufig im Bündnis mit radikalen Umwelt- und Klimautopin daherkommt. Degrowth meint: Wir haben es mit dem Wachstum übertrieben, haben vergessen, was unsere wahren Bedürfnisse sind und sind dabei, mit unserer Gier uns selbst zu verlieren, darüber hinaus die Umwelt zu zerstören, mithin den nachfolgenden Generationen die Lebensgrundlage zu entziehen. Weltweit hat sich diese »Degrowth-Bewegung«, die für Wachstumsrücknahme, Bescheidung der Bedürfnisse oder aktive Schrumpfung wirbt und sich anschickt, die etwas angestaubte kapitalismuskritische Attac-Bewegung abzulösen. »Schnecken aller Länder, vereinigt euch!«, so lautet das Motto.

    Radikaler und rascher als der Virus es geschafft hat, hätte es die Degrowth-Bewegung nie vollbringen können: Das erste halbe Jahr 2020 verläuft wirtschaftlich tatsächlich im Schneckentempo. Wir erleben einen Einbruch des Wachstums, wie er zuletzt während der großen Kriege des 20. Jahrhunderts zu beobachten war. Selten war der ökologische Fußabdruck der Menschen so schonend wie heute, dazu muss man sich nur den kerosinfreien blauen Himmel anschauen. Doch der Preis ist hoch: Quer durch alle Branchen brechen den Konzernen die Umsätze weg und der Bewegungsradius der Menschen ist aufs Äußerste reduziert, auf den Alltag in Heim und Herd.

    Das hängt, drittens, mit der Frage zusammen, ob wir es mit der Globalisierung übertrieben haben. Auch davon sind viele überzeugt: Weil wir alle global vernetzt sind, habe es nur wenige Wochen gebraucht bis das Virus überall auf der Welt mit exponentieller Geschwindigkeit sein Geschäft habe erledigen können. Unsere Abhängigkeit von der weltweiten Arbeitsteilung führe jetzt dazu, dass Medizin und Mundschutz, weil in China produziert, hierzulande nicht mehr zur Verfügung stünden. In der Tat: Globalisierung und Verletzlichkeit gehören zusammen. Aber was ist die Alternative? Eine Welt, wie jetzt, in der die nationalen Grenzen so dicht sind wie nie? Das mag die Welt sein, die TTIP-Gegner (wer weiß noch, was das war?) sich wünschen. Für Liberale hingegen bleiben offene Märkte essentiell, und gute Linke müssten darauf pochen, dass auch Migration in einer Welt geschlossener nationaler Clubs zum Erliegen kommt. Schon 50 Flüchtlingskinder aus Griechenland scheinen inzwischen Deutschland zu überfordern.

    Der Abgrund der Staatsbedürftigkeit

    Was ist, viertens, mit dem Staat, den so viele sich zurückgewünscht haben, um den imperialen Neoliberalismus zu bändigen? Jetzt ist er wieder da. Der Staat nimmt Billionen Euro in die Hand, so viel Geld wie noch nie, um die Schäden der Krise zu begrenzen. Aber auf den aktuellen Nutzen folgen spätere Kosten. Wo überall sie anfallen werden (Inflation, Schrumpfen des Sozialstaats, oder eher Deflation) weiß heute noch niemand. Wenn das Geld vom Staat (und nicht vom Kunden) kommt, schulen Unternehmer sich im »Rent-Seeking«, im Geld abholen, wo es geht: die KfW wird es schon richten. Es siegt der Cleverste. In dieser Welt geht es fast so raffgierig zu, wie die Staatsfreunde sich immer die Kapitalisten vorstellen. Der Staat ist als Planer jetzt in der Tat gefordert, aber zugleich völlig überfordert, wenn er sich zum Beispiel anmaßt zu wissen, ob ein Händler mit 800 Quadratmetern Verkaufsfläche weniger infektionsgefährdend ist als mit 810 Quadratmetern. In der Krise zeigt sich die Staatsbedürftigkeit unserer Gesellschaft, aber auch deren Abgründigkeit.

    Es mag nicht fair sein, den utopischen Gehalt der Corona-Welt zum Indiz für ihre dystopische Wirkung zu machen. Doch als Rechenübung könnte gelten: Man nehme das Krisen-Design (Ersatzeinkommen ohne Arbeit, Wirtschaft ohne Wachstum, Handel im Nahbereich und ohne Migration, Anerkennung der Staatsbedürftigkeit) und ziehe davon Corona ab. Ist das, was übrigbleibt, dann jene »bessere Welt«, die zu bauen die Krise zur Zäsur und Chance werden ließe, wie jetzt viele sagen. Ich gestehe: Da ist mir die gute alte Welt vor Corona lieber. Lieber jedenfalls als der neue Seuchensozialismus jener orakelnden Propheten, die uns, frei nach Karl Popper, ein Paradies versprechen, das sich am Ende als Hölle erweisen könnte.

    Rainer Hank

  • 21. April 2020
    Von wegen kaputtgespart

    Klinikalltag Foto unsplash/Luis Melendez

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie gut sind deutsche Krankenhäuser?

    Man habe unser Gesundheitssystem »kaputtgespart«, so liest es sich derzeit vielerorts. Schuld daran seien Ökonomisierung und Privatisierung der Medizin: Gewinne für börsennotierte Krankenhausgesellschaften gingen auf Kosten medizinisch unterversorgter Patienten. Besonders viel Häme ergießt sich über die Bertelsmann Stiftung, die im vergangenen Jahr vorgeschlagen hat, jede zweite Klinik in Deutschland zu schließen und die Zahl der Krankenhausbetten drastisch zu reduzieren.

    Vor dem Hintergrund der derzeitigen Corona-Lage nimmt sich das auf den ersten Blick seltsam aus. Werden nicht verzweifelt Betten für die schwerkranken Infizierten gesucht? Um wie viel schlimmer stünden wir da, hätten wir den Empfehlungen all dieser Studien nachgegeben! Eine Lehre der Krise, so folgern jetzt viele, müsse es sein, die Gesundheit den privaten Akteuren zu entziehen und dem Staat oder, wie früher, der Barmherzigkeit der Kirche zu überantworten.

    Was ist dran an der These des Kaputtsparens? Es empfiehlt sich ein Blick in die Studie »Gesundheit auf einen Blick« der OECD. Die neueste Ausgabe ist aus dem Jahr 2019 und analysiert die Situation der reichen Länder der Welt. Generell gilt: Überall auf der Welt wird den Menschen ihre Gesundheit immer mehr wert. Die Gesundheitsausgaben steigen – von durchschnittlich 8,8 Prozent der Wirtschaftsleistung auf prognostiziert 10,2 Prozent im Jahr 2030. Deutschland (heute schon knapp 12 Prozent) nimmt dabei eine Vorreiterrolle ein nach den Vereinigten Staaten und der Schweiz. Während einige wenige Länder (dramatisch Griechenland, aber auch Italien) ihre Ausgaben für Gesundheit zurückgefahren haben (ob es am Austeritätszwang der EU lag, ist fraglich), gibt Deutschland kontinuierlich mehr Geld aus: Je Einwohner stiegen die Ausgaben zwischen 1993 und 2017 von 2400 auf 4000 Euro (in Preisen von 2010).

    Wir leisten uns immer mehr Gesundheit

    Damit haben wir ein erstes Ergebnis: Keine Rede von Kaputtsparen, noch nicht einmal vom Sparen. Im Gegenteil: relativ zu anderen Dingen des Lebens leisten wir uns immer mehr Gesundheit. Damit ist – wohlgemerkt – die Frage noch nicht beantwortet, ob wir auch gute Medizin für unser Geld bekommen. In den Vereinigten Staaten, die derzeit schon 18 Prozent des Sozialprodukts auf die Gesundheit verwenden, spricht einiges dafür, dass zwar viele Gesundheitslobbyisten, aber nicht die Kranken und schon gar nicht die Ärmsten der Armen von dem internationalen Gesundheits-Spitzenplatz profitieren. Doch dazu gleich mehr.

    Zunächst zum zweiten Bösewicht, dem Privatisieren. Dazu lohnt die Lektüre des Gesundheits-Kapitels aus dem Jahresgutachten 2018/2019 des deutschen Sachverständigenrats. Hierzulande stiegen die staatlichen Gesundheitsausgaben zwischen 1993 und 2017 um 130 Prozent auf jährlich 230 Milliarden Euro an, während sich im selben Zeitraum die nominalen Gesamtausgaben des Staates »lediglich« um 70 Prozent erhöhten. »Das Gesundheitswesen bildet nach der sozialen Sicherung, insbesondere der Alterssicherung, den größten Ausgabeposten des Staates«, schreiben die Fünf Weisen. Das wäre dann das zweite Ergebnis: Von einer Entstaatlichung kann bei solchen Steigerungen staatlicher Ausgaben nicht die Rede sein. Dabei werden die Krankenhausleistungen natürlich auch von Privaten angeboten. Grob gesagt sind es jeweils ein Drittel Private, ein Drittel Staatliche und ein Drittel kirchliche oder andere gemeinnützige Träger. Ob es besser wäre, alle Leistungen würde der Staat anbieten? Wer das gut findet, soll sich das zu hundert Prozent staatliche, »kostenlose« National Health-System (NHS) Großbritanniens anschauen, eine Ikone des britischen Wohlfahrtsstaats, dessen Performance in der Corona-Krise dramatisch schlechter ausfällt als das deutsche System.

    Kleine und mittlere Kliniken versagen

    Nun zur zentralen Frage: Wie effizient sind unsere Krankenhäuser? »Sie könnten viel effizienter sein«, sagen nicht nur die Bertelsmann Stiftung, sondern auch der Sachverständigenrat und die Gesundheitsberater der Bundesregierung. Im internationalen Vergleich leistet sich Deutschland mit 800 Krankenhausbetten auf 100000 Einwohner besonders hohe Kapazitäten. Aber darunter gibt es viele kleine und mittelgroße Häuser, die wenig spezialisiert sind und gleichwohl den Anspruch haben, alles anzubieten. Viele Kreise und Gemeinden halten daran aus Prestigegründen fest. Zahlen aus dem Jahr 2016 zeigen: Ein Fünftel der Krankenhäuser haben keine Intensivbetten; ein gutes Drittel verfügt noch nicht einmal über eine eigene Computertomografie. Spezialisierung und Skaleneffekte – für viele klingt das ökonomistisch – würden die Qualität verbessern. Ein Chefarzt einer mittleren Klinik, der vom Herz bis zur Blase alles, aber selten, operiert, ist gesundheitsgefährdend.

    Nachfrage bei Lars Feld, dem Vorsitzenden des Sachverständigenrats, der das Gesundheitskapitel des Jahresberichts 2018/19 mitverantwortet, ob er sich heute für den damaligen Vorschlag schämt, »Überkapazitäten« der Krankenhäuser drastisch zurückzufahren. »Nein«, sagt Feld. Die Corona-Pandemie zeige doch einerseits, wie gut es gelinge umzusteuern und mehr Intensivbetten zu bekommen. Es zeige sich aber auch, dass gerade kleinere Kliniken unzureichend für die Intensivversorgung ausgestattet seien. Das gehe wesentlich darauf zurück, dass die das bislang nicht brauchten. Felds Hauptargument für eine notwendige Konzentration im Krankenhaussektor mit größeren Zentren und einer geringeren Zahl kleiner Häuser: Größere Klinik-Zentren haben mehr Erfahrung mit einer Vielzahl von Behandlungen, weil sie mehr Fälle verarzten. Kleinere Häuser können dies nicht leisten und sind damit ein Risiko für die Patienten. Felds Vorbild heißt Dänemark, wo man diesen Weg der Konzentration und Modernisierung konsequent geht. »Ich kann nicht erkennen, dass in Dänemark eine schlechtere Versorgung als in Deutschland in dieser Pandemie geleistet wird.«

    Die deutschen Kliniken haben nicht versagt. Derzeit gibt es ausreichend Beatmungsgeräte und 11000 freie Intensivbetten. Natürlich kann man sich alarmistisch Szenarien einer steigenden Reproduktionsrate »R« durch Corona-Infektionen ausdenken, was einen Kollaps des Systems zur Folge hätte. Aber R geht zurück (aktuell stecken zehn Infizierte »nur noch« sieben weitere an). Hätte Deutschland sich gleichwohl besser vorbereiten müssen? Auch das behaupten jetzt viele und verweisen auf einen »Risikobericht« der Bundesregierung aus dem Jahr 2013, in dem ziemlich genau eine gefährliche Pandemie simuliert wird wie wir sie derzeit erleiden. Darin stand auch, dass so etwas alle hundert Jahre passieren könne – also genau jetzt, hundert Jahre nach der Spanischen Grippe »Und nichts Präventives geschah«; schimpfen die Kritiker. Doch abgesehen davon, dass man hinterher immer klüger ist: Hätte man für einen Zeitpunkt, den keiner kennt, in ganz Deutschland 40000 leere Intensivbetten vorhalten sollen? Es kommt doch viel eher darauf an, im Fall der Pandemie rasch umzusteuern. Das scheint das deutsche System zwar nicht perfekt, aber offenbar besser als andere zu schaffen. Es wäre womöglich noch besser gerüstet gewesen, hätte man den Prozess der Konzentration, Spezialisierung und Modernisierung der Krankenhäuser früher in Angriff genommen.

    Rainer Hank