Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 06. Oktober 2025
    Weg mit dem Weltkulturerbe

    Weltkulturerbe: Angkor/Kambodscha Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Das Gütesiegel stiftet mehr Schaden als Nutzen

    Im Jahr 1519 schuf Lucas Cranach der Ältere einen aus drei Flügeln bestehenden Altar für den Naumburger Dom. Reformatorische Bilderstürmer zerstörten den Mittelflügel des Kunstwerks, so dass nur noch die Seitenflügel erhalten blieben. Erst in unseren Tagen (2020 bis 2022) ergänzte der Maler Michael Triegel – ein Künstler der sogenannten Neuen Leipziger Schule – den Mittelteil des Altars, und zwar im Stil des 16. Jahrhunderts, aber alles andere als epigonal.

    Triegels Werk ist bei den Besuchern des Doms sehr beliebt: Nicht nur, weil der Künstler den Apostel Petrus mit Baseball-Cap zeigt, sondern weil er eine gelungene Ergänzung zu Cranach geschaffen habe. Ganz anders urteilte die UNESCO, die dem Dom 2018 den begehrten Titel des Weltkulturerbes verliehen hat, insbesondere für seine weltberühmte Stifterfigur, die heilige Uta von Naumburg. Es droht der Entzug des begehrten Titels, was eine Art lokale Katastrophe wäre. Nach langem Hin und Her gilt derzeit folgender Zwischenstand: Triegel kann bleiben, aber nur, wenn er vom Westchor in das Nordquerhaus abgeschoben wird. Denn so, wie er jetzt steht, verbaue er den Blick auf Uta; die »Sichtachse« sei wiederherzustellen.

    Was erlaubt sich die UNESCO? Die Kundschaft ist zufrieden, die Kirchengemeinde als Eigentümer ist zufrieden, der Künstler und die meisten Kunstkritiker sind es auch. Aber die für Kultur zuständige Unterorganisation der UNO befiehlt räumliche Umzugsmaßnahmen. Als ob es sich um ein Gottesurteil handele. Denn mit Label-Entzugsdrohungen ist nicht zu spaßen. Das musste Dresden erfahren. Dort wurde der erst kurz zuvor verliehene Titel »Kulturlandschaft Dresdner Elbtal« im Jahr 2019 wieder aberkannt aufgrund des Baus der sogenannten Waldschlößchenbrücke, die laut den UNESCO-Kommissaren den Blick trübt. »Blickachsen« sind offenbar besonders im Blick der UNESCO-Kommissare. Dem Ort Herrnhut in der Oberlausitz, einem Erbe des deutschen Pietismus, könnten jetzt Windräder – besonders hässliche Sichtachsen – den Titel kosten.

    Blickachsen schützen?

    Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten; Windräder finde ich auch nicht hübsch, weil sie die Perspektive verrücken: Großes wird vor ihnen klein. Doch Geschmacksurteile rechtfertigen noch lange nicht autoritäre, undemokratische und den ästhetischen Fortschritt unterbindende (siehe Triegel) Urteile.

    Warum lassen wir uns das gefallen? Klar, weil sich die Staaten dem Reglement der UNESCO freiwillig unterworfen haben. Und weil viele Bürgermeister, Landräte und ihre Lobbyorganisationen sich mit dem Titel schmücken und angeben können, was sie für den Schutz des kulturellen Erbes, die Ankurbelung des Tourismus und ihr eigenes Erbe in der Weltkulturgeschichte getan haben.

    Aber wie sieht die materielle und immaterielle Kosten-Nutzen-Rechnung des Kulturerbe-Business aus?

    Zu den Fakten. Auf der UNESCO-Generalkonferenz in Paris 1972 wurde die »Konvention zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt« beschlossen. Geschützt werden sollen »Meisterwerke der menschlichen Schöpfungskraft« und »außergewöhnliche Zeugnisse einer kulturellen Tradition«. Die erste Auszeichnung erhielten der Aachener Dom und die Altstadt von Krakau. Neben dem Weltkulturerbe gibt es auch das Weltnaturerbe. Das Erbe wächst und wächst: Inzwischen sind es 1248 Erbstätten in 170 Ländern. Deutschland steht mit 52 Auszeichnungen auf Platz drei gut da, nach Italien und China. Auch »immaterielles Erbe« wird geschätzt: In Deutschland zum Beispiel die Schützenvereine. Bis ein Titel verliehen wird, treten unzählige Kommissionen, Komitees und Fachbeiräte in Aktion. Kosten der Anerkennung und Eignungsprüfung (»Heritage Impact Assessment«) für eine mittelbedeutsame historische Altstadt werden auf eine halbe Million Euro geschätzt; eine grenzüberschreitende Kulturlandschaft durchzuboxen summiert sich auf mehrere Millionen.

    Die Inflationierung des Erbes – demnächst sind die bayerischen Märchenschlösser Ludwigs II. dran – wundert nicht: Der Titel verspricht Touristen aus aller Welt, die mit ihrer Bucket-Liste die Erbstätten abgrasen und ihre Liebsten auf Insta mit denkmalgarnierten Selfies versorgen. Davon profitieren Hotels, Restaurants, Parkhäuser und Museen. Aber haben Neuschwanstein, Venedig, Dubrovnik oder Pompei den Titel überhaupt nötig? Oder trägt er nicht zusätzlich zum »Overtourism« bei? Dies scheint auch die UNESCO zu befürchten, wenn sie neuerdings als Bedingung für die Anerkennung eine »Besucherleitstrategie« von den Betreibern der Stätten verlangt.

    Overtourism wird durch das Siegel gezüchtet

    Ökonomisch gesprochen müsste man sagen: Das UNESCO-Label wirkt als Markenschutzrecht, bietet eine Monopolrente und muss deren selbst erzeugten Folgen planwirtschaftlich regulieren (»Besucherleitstrategie«). Die Monopolrenten wurden nicht mit eigener Leistung erworben, sondern verdanken sich der historischen Einmaligkeit. So gesehen käme auch noch eine ungerechte Ungleichbehandlung dazu: Nicht jede Stadt hat einen Kölner Dom, Castrop-Rauxel hat lediglich eine Stadthalle aus den siebziger Jahren.

    Dem »objektiven« Urteil der Titelverleiher kann von den Aspiranten nachgeholfen werden. Bruno Frey, ein Schweizer Ökonom, hat 2013 in einer empirischen Studie nachgezählt und siehe da: Europa ist völlig überrepräsentiert. Wohlhabende Staaten haben Vorteile. Sogenanntes Rent-Seeking, finanzstarke Lobbyarbeit, um »ihre« Stätten durchzubringen, zahlt sich aus. Das ist nicht nur ungerecht im globalen Titelkampf, sondern auch unter der Perspektive der Opportunitätskosten: Das viele Geld könnte besser eingesetzt werden – zum Beispiel durch Aufträge an zeitgenössische Künstler oder um innovative Tourismuskonzepte zu erstellen.

    Unterm Strich überwiegen für mich die Nachteile: Der Titel wirkt strukturkonservativ, verhindert oder erschwert ästhetischen, städtebaulichen oder wirtschaftlichen Fortschritt, verstärkt Overtourism, ignoriert paternalistisch-autoritär basisdemokratisch mehrheitliche Meinungsbildung, kostet aber viel Geld, das in der Regel das Geld der Steuerzahler ist, die man dafür nicht um ihre Zustimmung gefragt hat.

    Aus meiner Sicht könnte man das ganze UNESCO-Welterbe-Business ersatzlos streichen. Das wäre ein schöner Beitrag zum Bürokratie-Abbau. Die arbeitslosen Komitees und Beraterfachausschüsse müssten sich nach einer sinnvollen Tätigkeit umsehen. Die Kommunalpolitiker wären freier, ihre Stadt nach sachlichen und nicht nach Blickachsen-Vorgaben weiterzuentwickeln. Das »kulturelle Erbe« nähme keinen Schaden. Oder vorsichtiger gesagt: Es nähme nicht weniger Schaden als es auch trotz des Titels da und dort der Fall ist. Wer es nicht glaubt, soll sich den Verfall des Mittelrheintals anschauen – Weltkulturerbe seit 2002 und seither in der Dauerkrise: Investitionen bleiben aus, Menschen wandern ab.

    Rainer Hank

  • 19. August 2025
    Nahbarkeit

    Sie hieß Mary Ann Foto CSU-Fraktion im bayerischen Landtag

    Politiker zum Anfassen sind eine Gefahr für die Demokratie

    Politiker sind auch nur Menschen. Schon, aber ist das eine Überraschung? Fast hat man den Eindruck, Politiker seien der Meinung, sie müssten das den Bürgern täglich einhämmern. Ein Hang und Zwang zur »Nahbarkeit« hat um sich gegriffen, der befremdlich ist. Nahbarkeit als Tugend? Politiker zum Anfassen sind peinlich.
    Die Belege gehen quer durch die Parteien. Beginnen wir mit Robert Habeck (Die Grünen), dem Meister der Nahbarkeit. Bei der Bundestagswahl 2025 trat Habeck unter dem Motto an »Kanzler werden, Mensch bleiben«. Gerade so, als ob es da eine Gefahr gäbe, das Amt könne ihn, Habeck, entmenschlichen. Damit es der Letzte kapiert, bekräftigt Habeck: »Meine Arbeit, ja meine Vorstellung von Politik ist, die Distanz zwischen Menschen, die Distanz zwischen den Typen, die man aus dem Fernsehen kennt, und denjenigen, die von der politischen Entscheidung betroffen sind, zu verringern, nahbar zu sein.« Habeck, so will es Habeck, sollen wir also nicht nur aus dem Fernsehen kennen, sondern auch aus unserer alten WG-Küche.

    Zu Habeck gesellt sich die frühere Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang. Sie wurde von Habeck aus dem Amt gedrängt (vermutlich eine Spielart der Nahbarkeit), um anschließend den Rückzug ins Privatleben als eine Art von Menschwerdung zu vermarkten – und den Zustand des Politikerseins demgegenüber als Entfremdung zu kontrastieren. Lang kritisiert den Zwang zu einer technizistischen und unaufrichtigen Sprache im Amt: »Und dann fängt man an, Mist für Gold zu verkaufen und so einen Unsinn zu reden, wie ich es da geredet habe.« Hier geniere sich jemand für das eigene Handeln und Reden – und lasse den Rücktritt wie einen Befreiungsschlag wirken. So analysieren Astrid Séville und Julian Müller, zwei Sozialwissenschaftler, im neuesten Heft der Zeitschrift »Mittelweg«.

    Nehmen wir noch Kevin Kühnert (SPD) und Christian Lindner (FDP) hinzu – um dann beim ungekrönten König der Nahbarkeit zu landen. Kevin Kühnert gab zu Protokoll, er wolle sich dem Hass nicht mehr weiter aussetzen, den das politische Amt mit sich bringe. Zuletzt ist er allein unterwegs auf einer tausend Kilometer langen Alpenwanderung, die ihn vom Neusiedler zum Bodensee führt. »Alles wird ein bisschen besser, wenn Berge in der Nähe sind«, sagt er: Damit auch wir das mitbekommen, lässt er uns gelegentlich auf Instagram teilhaben. Nahbarkeit, nah bei den Menschen (Kurt Beck), bleibt ihm wichtig, zumindest im digitalen Modus sogenannter sozialer Netzwerke. Nicht anders als Christian Lindner, der uns am neuen Baby- und Vaterglück teilhaben lässt (»Familie ist das Wichtigste; das baut auf«), jedenfalls sofern damit nicht satirisch umgegangen wird wie in der Titanic: dann schaltet er seine Anwälte ein.

    Der Döner des Monats

    Flaggschiff der Nah-Menschlichkeit ist Markus Söder, der uns inzwischen so nah ist, dass wir fast schon vergessen haben, dass er im Nebenamt auch noch bayerischer Ministerpräsident ist. Söder beißt in jede Bratwurst, jedenfalls so sich daraus ein Reel, View oder Like machen lässt (1,5 Millionen Follower). Wir wissen von ihm, dass er sich für günstigere Döner einsetzt und dass er Seemannslieder tonsicher schmettern kann (»Sie hieß Mary Ann«). Wofür er politisch steht, ist weniger wichtig, ändert sich ohnehin von Monat zu Monat. Dafür kriegt er als Held der sozialen Netzwerke vergangene Woche sogar eine ziemlich unkritische Titelgeschichte im »Spiegel«.

    Die schon erwähnte Zeitschrift »Mittelweg« – sie wird redaktionell verantwortet von Jens Bisky im Hamburger Institut für Sozialforschung – behandelt das Thema »Nahbarkeit« jetzt in einem sehr lesenswerten Heft und erst einmal ohne Wertung unter der Überschrift »Amtsmenschen«. Heute als bürokratisch und entfremdungsanfällig beäugt, war das einem verliehene Amt in Politik, Kirche oder Wirtschaft einmal als Schutz der Menschlichkeit und Person gedacht. Der Amtsinhaber hat eine Rolle zu leben, die seine Autorität begründet und Respekt von den Menschen (nicht nur den Untergebenen) entgegengebracht bekommt. Klassisch kann man das bei Max Weber (»Politik als Beruf«) nachlesen. Dort schreibt der Soziologe, Politik sei »ein starkes und langsames Bohren von Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich«. »Augenmaß« setzt für Weber die Fähigkeit »der Distanz zu den Dingen und Menschen« voraus.

    Distanzfähigkeit anstatt Distanzlosigkeit wäre somit vom Politiker gefordert. Distanzlosigkeit hält Weber für »eine der Todsünden jedes Politikers«. Amtsmenschen haben die vom Amt gegebenen Erwartungen zu erfüllen; das ist das Gegenteil der heutzutage vorgeschriebenen Authentizitätserwartungen. Distanz ist Voraussetzung des »Amtscharismas«. Dieses ist gerade nicht eine besondere, Instagram taugliche Ausstrahlung (mit oder ohne Bratwurst), sondern der vom Amt dem Politiker verliehene »Glaube an die spezifische Begnadung einer sozialen Institution als solcher«. Der Begriff »Begnadung« verweist auf die religiösen Wurzeln des Amtscharismas, zuweilen in Kreisen von Kirchenleuten verspottet mit dem Diktum: »Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand.«

    Das Amtscharisma als Ausweg

    Lässt man sich auf eine solche Ethik der Distanz ein, so flackert der Verdacht auf, der heutige Zwang zur Nahbarkeit, gar zum »Anfassen«, sei nicht etwa ein Beitrag zur Stärkung der Demokratie, sondern sein Gegenteil: blanker Populismus. Politiker wollen keine Respektspersonen sein, sondern Kumpel. Da ist der Weg zur populistischen Kumpanei nicht mehr weit. Der »Mittelweg« zitiert eine Bemerkung des Politikwissenschaftlers (und großen Max Weber-Forschers) Wilhelm Hennis, wonach der zentrale Begriff der repräsentativen Demokratie das Amt sei. Wer das Amt nur noch als bürokratische Entfremdung verachtet, der schädigt die Demokratie, statt sie zu stärken, was er durch sein Anfassbarkeitspathos zu erreichen hofft.

    Man könnte das »Amtscharisma« jene »unsichtbaren Institutionen« zugesellen, die zu Unrecht in Verruf geraten sind und gerade deshalb für die von allen beklagte Krise der Demokratie verantwortlich sind. Der Begriff »unsichtbare Institutionen« stammt von dem französischen Historiker Pierre Rosanvallon; sein neuestes Buch gibt es seit kurzen ebenfalls im Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Rosanvallon nennt als unsichtbare Institutionen das Vertrauen, die Autorität und die Legitimität. Aus ökonomischer Sicht müsste man den Markt hinzufügen. Sie alle tragen – neben den sichtbaren Institutionen der Gewaltenteilung – zu Integration, Kooperation und demokratischer Regulierung von Gesellschaften bei. Wer die Demokratie stärken will, müsste Distanzlosigkeit gerade vermeiden, statt sie populistisch zu zelebrieren.

    Rainer Hank

  • 19. August 2025
    Schuld und Schulden

    Lars Klingbeil, Bundesschuldenminister Foto Bundesfinanzministerium

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie sich der Teufel in die Wirtschaftswelt verirrt hat

    Der Bund macht im kommenden Jahr 174 Milliarden Euro neue Schulden. Ist das viel? Ja, zweifellos. So viel neue Schulden in einem Jahr gab es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Zuletzt waren es im laufenden Jahr lediglich 35 Milliarden Euro.

    Ist das auch schlimm? Kommt darauf an. Worauf es ankommt, hängt auch von der Sprache ab, in der man die Verschuldung kommuniziert. Neudeutsch spricht man vom Framing, also dem Rahmen oder Design, innerhalb dessen man die Neuverschuldung erzählt. Wer Schulden sagt, sagt auch, dass es sich um eine »Schuld« handelt. Schuld kann im Deutschen nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine moralische Schuld meinen. Von der Moral ist ein kurzer Weg zur Religion: Wer Schuld auf sich lädt, begeht eine Sünde. In der Literatur werden Schulden gerne als ein »Pakt mit dem Teufel« diabolisiert. Der Teufel verspricht alle Annehmlichkeiten dieser Welt, und zwar sofort, lässt den Schuldner dafür aber bis in alle Ewigkeit zahlen und fordert zudem als Pfand seine Seele. Wer Staatsschulden als Schuld »framt«, weist in aller Regel sogleich darauf hin, dass dafür künftige Generationen werden zahlen müssen. Der Schuldner versündigt sich an seinen Kindern und Enkeln, die dafür – unschuldig, weil noch gar nicht geboren – büßen müssen.

    Um das diabolische Framing zu vermeiden, gibt es eine Reihe von Tricks. Gerne wird von »Nettokreditaufnahme« gesprochen. Das hört sich technisch an, haushaltspolitisches Business as usual. Rein sprachlich wird aus den Schulden nun der Kredit. Der ist moralisch und theologisch weitaus besser angesehen: Kredit kommt von credere, was vertrauen und glauben heißt. Der Gläubiger – ein Verwandter des Gläubigen – vertraut dem Kreditnehmer, »er glaubt an ihn«. Und der Kreditnehmer darf das Vertrauen, das in ihn gesetzt wird, nicht enttäuschen. Wer Geld ausgeben will, das er erst noch einnehmen muss, spricht deshalb lieber davon, er müsse einen »Kredit aufnehmen«, statt dass er Schulden macht.

    Dreist ist der Versuch, Schulden als Vermögen zu deklarieren. Also Geld, das einem nicht gehört, zu Eigentum zu framen. Und mit diesem Vermögen macht der Staat selbstredend nur Gutes – nämlich dringend nötige Investitionen (in Infrastruktur und Kriegstüchtigkeit). Lars Klingbeil, der Finanzminister, wäre töricht, sich Staatsschuldenminister zu nennen, was er natürlich ist. Lieber sieht er sich als »Investitionsminister«.

    Die Hälfte ist Psychologie

    Als Schwarz-Rot die Schuldenbremse mit einer Mehrheit des alten Bundestags aushebelte, haben die Politiker nicht gesagt, sie würden jetzt die Schuldenbremse außer Kraft setzen: Sondern sie kreirten zwei milliardenschwere »Sondervermögen«, eine Art Finanzalchemie oder Geldschöpfung aus dem Nichts. Hausbesitzer, denen man zu ihrem neuen Wohneigentum, gratuliert, sagen gerne, das neue Heim gehöre gar nicht ihnen, sondern der Bank. Damit behaupten sie nicht, dass der Sparkassenvorsteher dort wohnt, sondern dass das Haus auf vielen Schulden gebaut ist, für die Zins und Tilgung zu leisten sind. Unternehmen und der Staat sagen, sie begeben Anleihen. Das hört sich ebenfalls viel freundlicher an: Denn auf der anderen Seite des Schuldners sitzt dann der Gläubiger, der seinen Reibach macht. Das verkehrt die Schuldfrage, macht aus dem Kreditgeber einen »Wucherer« – und der Antisemitismus ist nicht weit, wie man an Shylock, dem wahren Helden in Shakespeares »Kaufmann von Venedig« sehen kann.

    Die Hälfte der Wirtschaft ist Psychologie. So lautet ein häufig bemühtes Bonmot, das Ludwig Erhard, dem legendären deutschen Wirtschaftsminister zugeschrieben wird. Meistens benutzt man das Diktum, wenn man irgendetwas nicht so genau versteht: zum Beispiel, warum die Leute sagen, alles werde teurer, obwohl die Inflation zurückgeht.
    Andreas Peichl, ein Forscher am Münchner Ifo-Institut, hat jetzt mit Co-Autoren in einem Papier die »psychologischen Kosten« des sprachlichen Framings in wirtschaftlichen Diskursen methodisch aufwendig untersucht. Und zwar am Beispiel der Schulden. Dafür machen die Forscher sich den Umstand zunutze, dass im Deutschen, Niederländischen und Schwedischen die moralisch aufgeladene Schuld (und die Sünde) in den finanziellen »Schulden« steckt: »Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern«, heißt es im Vaterunser. Im Englischen und Französischen dagegen heißt die finanzielle Schuld nicht guilt oder culpabilité, sondern debt oder dettes. Schuld hat indogermanische Wurzeln, debt geht auf das lateinische Debitum zurück: etwas, das ich jemandem schulde. Schuld ist ein Vergehen, debt ist eine Verpflichtung.

    Und siehe da: Eine Schuld bezogene Sprache reduziert die Zustimmung zur Kreditaufnahm und zwar sowohl bei privaten wie bei staatlichen Schulden. Das lässt sich messen: Die Bereitschaft, sich privat zu verschulden, geht um 18 Prozent zurück, wenn man die Versuchspersonen in einer Schulden-Sprache befragt und antworten lässt, verglichen mit einer neutralen, nicht moralisch belasteten Sprache. Bewusst oder unbewusst wird dieser Umstand in wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen strategisch eingesetzt und instrumentalisiert: Politiker, die gegen neue Kredite sind, sprechen von einer »Schuldenorgie«. Politiker, die dafür sind, sprechen von Sondervermögen und Investitionen in die Zukunft. Peichl & Co. haben festgestellt, dass die Linke, die Grünen und die SPD weitaus seltener von »Schulden« sprechen als CDU/CSU und AfD. Es wäre spannend zu sehen, wie sich das bei der Union seit Schwarz-Rot verändert hat.

    Linugistische Ökonomik

    Ebenso spannend wäre es zu untersuchen, ob und inwiefern der moralisierende Schuld-Diskurs negative oder eher positive Auswirkungen hat auf Wachstum und Wohlstand in diesem Sprachraum. Schulden-Aversion könnt zu sub-optimalen Finanzentscheidungen führen, schreiben Peichl & CO. Das wird so sein: »Auf seinen Schulden reitet der Unternehmer zum Erfolg«, heißt es im Frühwerk des österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter. Denn nur mit Eigenkapital lassen sich keine großen Sprünge machen. Umgekehrt führen hohe Schulden rasch in die Überschuldung – und in die Pleite. Das zeigte sich in der Finanz- und Eurokrise der Jahre 2008ff.

    Tatsächlich ist Deutschland privat und öffentlich weniger hoch verschuldet als Länder mit neutralem Schulden-Framing. Die Eigenheimquote ist hierzulande niedriger als in vielen Debt-Ländern. Deutsche »Hausbanken« vergeben Kredite an Unternehmen eher restriktiv; in Debt-Ländern verschuldet man sich eher am Kapitalmarkt, der womöglich das Geld risikofreudiger zur Verfügung stellt. Ist das nun gut oder nicht? Das zu untersuchen wäre spannend. Vielleicht kommt nach der Verhaltensökonomie jetzt die »linguistische Ökonomik« in Mode. Reizvoll wäre es allemal.

    Rainer Hank

  • 15. August 2025
    Unser Freund, das Aton

    Unser Freund das Atom. Walt Disney 1958 Foto Knaur Verlag

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum wir die Kernkraft nicht abschreiben sollten

    Der Widerstand gegen die Kernenergie – zu einer Zeit, in der wir sie bitter nötig hätten – ist das größte Paradox unserer Zeit. Das schreibt der britische Nuklearchemiker Tim Gregory in seinem Anfang August erscheinenden Buch »Going Nuclear: Wie die Atomenergie unsere Welt retten wird«.

    Mit solchen Büchern kann man die Deutschen auf die Palme bringen. Neue Atomkraftwerke oder die alten noch einmal flott machen? – Keinesfalls, dekretierte Umweltminister Carsten Schneider (SPD) kürzlich, nachdem Katharina Reiche (CDU), seine Kollegin aus dem Wirtschaftsressort, etwas von »Technologieoffenheit« gemurmelt und es gewagt hatte, am Treffen der »Europäischen Nuklearallianz« in Luxemburg teilzunehmen.

    Der Zug sei leider abgefahren, sagte Wolfgang Schäuble in einem Gespräch, das ich zwei Jahre vor seinem Tod mit ihm im Berliner Reichstag geführt habe. Schäuble fügte hinzu: »Wir sollten uns zumindest in der künftigen Forschung über neue Nutzungen von Atomstrom nicht vom Rest der Welt abkoppeln. Das ist wie auf der Autobahn: Wenn alle in die andere Richtung fahren, muss man sich schon gut überlegen, ob man selbst richtig liegt.«

    Schäuble sollte Recht behalten. Eine Übersicht der geplanten Atomreaktoren vom Juli 2025 zeigt: China 30, Russland 23, Indien 14, Usbekistan 6, Polen 3, Schweden 2, Ungarn 2. Belgien und Italien haben ihren früheren Ausstiegsbeschluss gekippt. Und die Weltbank hat im Juni angekündigt, in Entwicklungsländern erstmals seit Jahrzehnten wieder Atomkraft zu finanzieren – »aus humanitären Gründen«. Außenseiter, in moralischer und politischer Überheblichkeit, bleiben die Schweiz, Österreich und Deutschland. Wir sind Schäubles Geisterfahrer.

    Sicherer als die Windenergie

    Tim Gregory, der Nuklearchemiker, hält dagegen. Klimafreundliche Atomenergie sei der einzige Weg, wie wir unsere von der Klimakatastrophe bedrohte Welt dekarbonisieren können, ohne dass wir auf wirtschaftliches Wachstum verzichten müssten. Technische Machbarkeit, relative energiepolitische Sicherheit und moralische Verpflichtung gehen Hand in Hand.

    Gregory zerpflückt sämtliche Argumente, die die Atomgegner seit Jahren vorbringen. Zum Beispiel die Behauptung, Kernkraft sei eine besonders gefährliche Art der Energieerzeugung. Mit Bezug auf die Plattform »Our World in Data« lässt sich zeigen: Atomkraft ist so ungefährlich wie Solarenergie, sogar ein bisschen sicherer als Windenergie, wenn man sich die »Energie-Toten« je Terrawattstunde zwischen 1990 und 2014 ansieht: Besonders lebensbedrohlich sind Kohle (Grubenunglücke), Öl oder Gas. In Fukushima, der »Atomkatastrophe«, die in Deutschland 2011 zum abrupten Ausstieg (und zum Wahlsieg von Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg) führte, gab es nachweislich keine direkt durch ionisierende Strahlung verursachten Todesfälle. Aber es gab mehr als 16.000 Tote und viele Verletzte und Vermisste durch den fürchterlichen Tsunami.
    Nichts gegen regenerative Energien. Doch fahrlässig ist es, sich ganz auf sie zu verlassen: Denn Atomkraft ist verlässlich und nachhaltig, Wind und Sonne gibt es mal, mal ist es windstill und tief bewölkt.

    Und was ist mit der ungeklärten Endlagerung des atomaren Mülls? In Deutschland wird die Suche danach seit Jahrzehnten wie eine heiße Kartoffel von einem zum anderen weitergereicht. Inzwischen hat Finnland gehandelt: In Olkiluoto werden in 500 Metern Tiefe Tunnel ausgehoben, die 60.000 Kubikmeter Atomabfall aufnehmen, hundert Jahre lang befüllt und danach versiegelt werden. Bald bieten sich auch Weltraumlastwagen zur Entsorgung an.

    Nüchtern rechnet Tim Gregory vor, dass mit den geschätzt 500 Milliarden Euro, die Deutschland für die »Energiewende« ausgibt, 40 große Atomreaktoren hätten gebaut werden können – ausreichend, um das ganze Land CO2frei zu machen. Stattdessen sind wir hierzulande immer noch auf fossile Energie angewiesen, die viel Kohlendioxyd in die Luft pulvert, allen grünen Deals zum Trotz.

    Bleibt schließlich das Argument, es dauere zu lange, neue Meiler zu bauen. Das stimmt, einerseits. Zwischen 1973 und 1999 hat Frankreich 56 Reaktoren gebaut, deren Bau im Schnitt sechs Jahre brauchte. Atomkraftwerke, die nach 2000 errichtet wurden, dauerten durchschnittlich zehn Jahre. Schuld daran ist nicht das Atom, sondern die Überbürokratisierung und das NIMBY-Symptom (»Not in my Backyard«).

    Ökonomisch unverantwortlich, moralisch falsch und psychologisch irrational.

    Den Anti-AKW-Irrationalismus der Deutschen gab es nicht immer schon. Von den fünfziger bis in die frühen siebziger Jahre herrschte sogar eine Atom-Euphorie. Die »friedliche Nutzung der Kernkraft« galt als sauber, still, unendlich und bestens geeignet, die schmutzige Energie aus Kohle und Öl zu ersetzen. Das Atom werde unsere Ernährung verbessern und uns – Stichwort Nuklearmedizin – gesund machen. »Unser Freund, das Atom«, titelte ein viel beachteter Werbefilm aus dem Jahr 1957. Nur die Industrie war zurückhaltend, denn die hatte gerade viel Geld in die Braunkohle investiert. Der Traum von der friedlichen Atomindustrie sei die »Integrationsideologie der fünfziger Jahre«, schreibt der Historiker Joachim Radkau in seinem Standardwerk über »Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft« aus dem Jahr 1983.

    Wann hat sich der Wind gedreht? Mitte der siebziger Jahre, zu einem Zeitpunkt, als mit der Ölkrise auch die fossile Energie unsicher wurde, schlug die Stimmung um. Aus dem Hoffnungsträger wurde ein gewaltiger Angstgegner. Die Anti-AKW-Bewegung, in Bestform mit bis zu 120.000 Kundgebungsteilnehmern, stellte nicht nur alle Demonstrationen der Studentenbewegung in den Schatten, sie steht auch in der Welt einzigartig da. Hierzulande hat sie mindestens zwei Generationen tief geprägt. Angefangen hatte es Mitte der siebziger Jahre mit dem Protest gegen den Bau eines Atomkraftwerks im badischen Wyhl, der von den Kaiserstühler Winzern ausging, die durch die Nebelschwaden aus den Kühltürmen der Meiler Nachteile für ihren Wein befürchteten und vor einem »Ruhrgebiet am Oberrhein« warnten.

    Erst später mischten sich unter die lokalen Bauern und Bürger zugereiste »Atomtouristen« (oft konservative Technikkritiker). Da spätestens hatte eine tiefsitzende German Angst vor dem Atom (Atomkrieg, Krebs, Weltuntergang) die Erlösungssehnsüchte durch das Atom verdrängt. Das alles, wohlgemerkt, war lange vor den Störfällen in Harrisburg und Tschernobyl.

    Gegen tiefsitzende Ängste ist kein Kraut gewachsen, sagt man. Zumal die Anti-AKW-Bewegung zum Gründungsmythos der grünen Partei gehört. Doch Pfadwechsel sind nicht ausgeschlossen. Immerhin haben die meisten Deutschen, gerade auch viele Grüne, inzwischen ihren Pazifismus revidiert. Vielleicht gelingt das auch mit der irrationalen Abwehr des friedlichen Atoms?

    Rainer Hank

  • 15. August 2025
    Ein Sparkommisar?

    Reinste 50er Jahre: Der Bundesrechnungshof in Bonn Foto Bundesrechnungshof

    Dieser Artikel in der FAZ

    Immerhin haben wir den Rechnungshof in Bonn

    Das Schicksal eines Staates lasse sich barometrisch an seinem Rechnungswesen ablesen. Das schrieb der 1933 vor den Nationalsozialisten geflüchtete sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Haushaltsexperte Kurt Heinig in seinem 1949 erschienenen Standardwerk »Das Budget«. Die Kontrolle der Finanzen sei keineswegs eine »Nebenfunktion«, so Heinig.

    Auf dieses Diktum stieß ich bei einem Besuch im Bundesrechnungshof in Bonn an einem brüllend heißen Sommertag Anfang Juli. Zum Glück hat sein Präsident, er heißt Kay Scheller, ein klimatisiertes Büro; er ist der Einzige der über 1000 Mitarbeiter dieser Behörde, dem dieses Privileg zusteht. Seit elf Jahren amtiert der Jurist als Präsident; im kommenden Jahr endet seine Amtszeit.

    Der Rechnungshof ist eine altehrwürdige Institution, gegründet im Deutschen Kaiserreich als Nachfolger der preußischen Generalrechenkammer von 1714. Ursprünglich 1950 in Frankfurt am Main errichtet, wurde der Sitz im Zuge des Berlin-Bonn-Gesetzes von Frankfurt nach Bonn verlegt; seit 2000 ist der »Hof« im Gebäude des ehemaligen Postministeriums an der Bonner Adenauerallee untergebracht: ein astreiner 50er Jahre-Bau mit monumentaler Eingangshalle und Vordach auf schlanken Betonpfeilern.
    Was also verrät der Rechnungshof »barometrisch« über das Schicksal Deutschlands? Nichts Gutes, um es pauschal zu sagen. Machen wir es in aller Kürze an drei aktuellen Beispielen konkret: Der desolaten Lage der Pflegeversicherung, der prekären Situation der Bundeswehr und den finanziellen Folgen der Maskenbeschaffung während Corona.
    Zur Lage der Pflege äußerten sich die Rechnungsprüfer in der vorvergangenen Woche kritisch: und zeichneten für die nächsten Jahre ein düsteres Bild. Demnach wird die Pflegekasse 2026 ein Defizit von 3,5 Milliarden Euro einfahren. Bis zum Jahr 2029 werde sich dieser Verlust auf 12,3 Milliarden Euro anhäufen. Das liegt vor allem daran, dass immer mehr alte Menschen stationär gepflegt werden und Leistungen in Anspruch nehmen. Und dass die Kosten für die Heimplätze explodieren.

    Den überteuerten Maskenkäufen des Bundes im Ministerium von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) widmete der Bundesrechnungshof bereits mehrere Berichte. Zuletzt haben die Prüfer aufgelistet, welche Folgekosten die Fehlentscheidungen nach sich ziehen. Bis ins Jahr 2027 hinein fallen Millionensummen allein für Lagerung und Vernichtung der Masken an.

    Viel Geld macht verschwenderisch

    Schließlich äußerte sich der »Hof« auch zur Lage der »Kriegstüchtigkeit« (Boris Pistorius) des Landes. Zwar ermächtigt die faktische Abschaffung der Schuldenbremse durch Schwarz-Rot den Bund zur grenzenlosen Verschuldung. Ob das Geld aber effizient ausgegeben wird, das stellen die Rechnungsprüfer infrage. Wenn einer Organisation deutlich mehr finanzielle Mittel zur Verfügung stünden, steige das Risiko für unwirtschaftliches Handeln, so heißt es in einem Gutachten vom Ende Mai. Zumal in den vergangenen Jahren schon vieles falsch und teuer lief: Es gibt zu viele Häuptlinge, aber zu wenig Indianer, pardon: einfache Soldaten. Und es gibt zu viele Soldaten, die für nicht kriegerische Aufgaben eingesetzt werden.

    Gut, dass es den Rechnungshof gibt. Die aktuellen Beispiele zeigen, dass es um das Land und seine Finanzen nicht gut steht. Sie zeigen zugleich, dass es um die unabhängige Kontrolle durch eine unabhängige Behörde gut steht. Was nicht zuletzt daran liegt, dass die Rechnungsprüfer – anders als es ihr Name vermuten lässt – nicht nur rückwärtsgewandt kontrollieren, sondern auch vorwärtsgewandt den Staat (Parlament und Exekutive) beraten.

    Dass der Rechnungshof künftiges staatliches Geldausgeben kritisch begleitet, ist nicht etwa behördliche Anmaßung, sondern von der Verfassung gedeckt. und geht zurück auf einen Mann namens Friedrich Ernst Moritz Saemisch (1869 bis 1945), der von 1922 bis 1938, also ungewöhnlich lange, als Präsident des Reichsrechnungshofs der Behörde bis heute seinen Stempel aufdrückte. Nachlesen lässt sich das in der hervorragenden Geschichte des Rechnungshofs, die der Kölner Finanzhistoriker Hans-Peter Ullmann unter dem Titel »Kontrolle und Beratung« 2021 im Wallstein Verlag vorgelegt hat.

    Kommisar Friedrich Ernst Moritz Saemisch

    Ullmann nennt die Kumulation von Ämtern, die der erfolgreiche, durchsetzungsstarke und autoritär agierenden ehemalige Rechnungshofpräsident auf sich vereinte, das »System Saemisch«: Zentrales Merkmal war die Erweiterung der retrospektiv durchgeführten Kontrolle durch eine auf Zukunft ausgerichtete Beratung des Staates.

    Und das kam so: Angesichts hoher Reparationszahlungen nach dem Weltkrieg und wachsender Verschuldung richtete die Weimarer Regierung nach amerikanischem Vorbild eine »Verwaltungsabbaukommission« ein und ernannte Saemisch zum »Reichssparkommissar«. Bürokratieabbau war also auch schon damals ein zentrales Thema. Saemisch stellte seine Arbeit unter die Maßgabe »Sparsamkeit« und »Wirtschaftlichkeit«, mithin die Notwendigkeit, sich auf das Notwendige zu beschränken, was man heute »Priorisierung« nennen würde. Als Sparkommissar hatte er zugleich über die Beratung hinaus die Macht, die von ihm für richtig erkannten Maßnahmen auch durchzusetzen.
    Saemischs Bürokratieabbau-Bilanz kann sich sehen lassen: Zum Abschluss seines Mandats als Kommissar im Jahr 1924 gab es insgesamt 116.000 öffentlich Beschäftigte weniger, was 20 Prozent (!) der Belegschaft entsprach. Allein beim Reich belief sich der Einsparbetrag auf 300 bis 400 Millionen Reichsmark. Einen derart radikalen und für die Beschäftigten mit großen Härten verbundenen Personalabbau, der zugleich von Verwaltungsvereinfachung und behördlichen Effizienzmaßnahmen flankiert wurde, würde man heute mit dem Argentinier Javier Milei eine Revolution mit der »Kettensäge« nennen. Zum Vergleich: Elon Musk hat als Chef von Trumps Behörde für Regierungseffizienz DOGE zwar laut gebrüllt, aber lediglich geschätzt zehn bis zwölf Prozent Stellen des öffentlichen Dienstes gekürzt. Man könnte daraus schließen, dass ein preußischer Beamter beim Bürokratieabbau erfolgreicher ist als ein kalifornischer Milliardär.

    Zurück zum Bundesrechnungshof und seinem heutigen Präsidenten Kay Scheller. Der kann zwar kritisieren, dass der deutsche Staat zu teuer ist und zu viel Personal an der falschen Stelle beschäftigt. Aber anders als sein Amtsvorgänger Saemisch in der Weimarer Zeit hat er nicht die Macht, seiner Kritik Taten folgen zu lassen. Er darf beraten, Bürokratie abbauen darf er nicht. Das ist gut so. Für Bürokratieabbaus ist in einer Demokratie die Exekutive zuständig; eine unabhängige Behörde hat diese Macht im Rechtsstaat nicht. Wenn die Regierung es nicht schafft, und dem Bürger der Staat zu teuer wird, muss der Wähler die verschwenderischen Politiker abwählen.

    Rainer Hank