Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 25. Juli 2024
    Königsmord

    Der »Marktgraf« Otto Graf Lambsdorff (1926 bis 2009) Foto wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Lambsdorffs Putsch – und was das für heute bedeutet.

    Nachdem die Koalitionsparteien im Laufe des Jahres 2024 auch noch mehrere Landtagswahlen verloren haben, war der Zerfall der Regierung nicht mehr aufzuhalten. Die Differenzen zwischen den Parteien traten immer schärfer hervor. Die Orientierung der FDP an einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik und die Ausrichtung der SPD auf staatliche Investitionslenkung und Wirtschaftskontrolle waren miteinander nicht vereinbar.

    Der Rest war politisches Showgeschäft. Während Lindner mit der Union über einen Koalitionswechsel verhandelte, bezichtigte Scholz die FDP wirkungsvoll des »Verrats« und nahm bei seinem Abgang bereits jene Rolle des parteiübergreifend agierenden Staatsmanns ein, die er in den darauffolgenden Jahren spielen würde. Am 1. Oktober 2024 wurde Friedrich Merz (CDU) durch ein konstruktives Misstrauensvotum zum Bundeskanzler gewählt.
    So könnte es kommen. Und so war es: Ersetzt man das Jahr 2024 durch 1982 und die Namen Lindner, Scholz und Merz durch Lambsdorff (FDP), Schmidt (SPD) und Kohl (CDU), so stammt alles wörtlich aus der »Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert« des Historikers Ulrich Herbert. Einzig die Behauptung, dass Ex-Kanzler Scholz nach seinem Sturz weiterhin als Besserwisser vom Dienst noch wahrgenimmen würde, wäre zu überprüfen.

    Zur »Wende« geführt hatte ein Papier, in welchem der liberale Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff auf Bitten von Kanzler Helmut Schmidt seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen zusammenfasste, die sogleich öffentlich wurden. Lambsdorffs Analyse sah zwar auch internationale Ursachen für die langanhaltende Konjunkturschwäche, benannte aber vor allem den Rückgang der Investitionen und den Anstieg der Staatsquote als zentrale binnenwirtschaftliche Verursacher der Krise. Nicht zuletzt die Ausweitung des Sozialstaates seit Mitte der siebziger Jahre erkannte Lambsdorff als Bürde. Seine Folgerungen: Konsolidierung des Haushalts, eine stärker marktwirtschaftlich ausgerichtete staatliche Politik, Umstrukturierung der öffentlichen Ausgaben von konsumtiver (Sozialetat) zu investiver (Infrastruktur) Verwendung und eine »Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an die veränderten Wachstumsbedingungen«. Nötig sei eine strenge Haushaltdisziplin. Womöglich erhoffte Helmut Schmidt von Lambsdorff Schützenhilfe gegen die eigene Partei. Faktisch wurde Lambsdorff mit dem Papier zum »Königsmörder«.

    Die Rolle von Hans Tietmeyer und Otto Schlecht

    Dass es Lambsdorffs »Manifest der Marktwirtschaft« nur partiell gelang, eine marktwirtschaftliche Erneuerung der Bundesrepublik voranzutreiben, wie der Freiburger Ökonom (und Berater von Finanzminister Christian Lindner) Lars Feld konstatiert, steht auf einem anderen Blatt. Das größte Versagen der Regierung Kohl lag in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die vom Koalitionspartner FDP nicht verhindert, noch nicht einmal gebremst wurde.

    Wie hat Lambsdorff sein »Manifest der Sezession« (Gerhard Baum) in derartiger Windeseile zu Papier bringen können? Die kurze Antwort heißt: Er hat es gar nicht selbst geschrieben. Es lag längst in seiner Schublade. Die Ehre der Urheberschaft gebührt zwei Ministerialen, die gar nicht der FDP angehörten. Sie heißen Otto Schlecht (parteilos, aber CDU-nah,1925 bis 2003) und Hans Tietmeyer (CDU, 1933 bis 2016). Von Otto Schlecht stammen Idee und Auftrag; Hans Tietmeyer ist der Autor des Textes.
    Die drei Männer waren nicht nur politisch sehr unterschiedlich. Während Lambsdorff aus altem baltischem und hardcore-protestantischem Adel stammt, kommen Schlecht und Tietmeyer aus eher »kleinen« Verhältnissen. Otto Schlecht wuchs in einer Metzgerei im schwäbischen Biberach auf. Hans Tietmeyer kommt aus dem katholischen Münsterland; sein Vater verwaltete als »Rentmeister« die Gemeindekasse von Metelen an der Vechte.

    Otto Schlecht arbeitete sein ganzes Berufsleben, 38 Jahre lang, im Bonner Wirtschaftsministerium und diente Ministern aus allen drei Parteien. Die »Welt« nannte ihn eine »Inkarnation der beweglichen Grundsätze«. Im Vergleich zu ihm war Tietmeyer ein prinzipienfester westfälischer Dickschädel – später wurde er der letzte Präsident der Bundesbank vor Errichtung der Europäischen Zentralbank.

    1982 war Otto Schlecht, der Ältere, Staatssekretär. Hans Tietmeyer leitete unter ihm die Grundsatzabteilung des Hauses. In einem Interview aus dem Jahr 2000 schildert Schlecht die Genese des »Lambsdorff-Papiers«: Schon Anfang 1982 habe der parlamentarische Staatssekretär Martin Krüner (FDP) ihm gegenüber geklagt: »Wir in der FDP wissen nicht mehr, wo es lang geht, wo man mit den Sozialdemokraten noch Kompromisse machen kann und wo man hart bleiben muss.« Krüner habe Schlecht gebeten aufzuschreiben, »wie die Sache jetzt eigentlich sein müsste, damit wir Orientierungsmaßstäbe für unsere praktische Politik haben«. Schlecht gab den Auftrag an Tietmeyer weiter: »Er hat einen sehr guten Entwurf gemacht, den wir dann durchgesprochen und redigiert haben.«

    Als sich die Krise in der Koalition zuspitzte, habe Kanzler Schmidt, so Schlecht, Lambsdorff angeherrscht: »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was Sie wollen. Schreiben Sie mir doch einfach mal auf, was Sie wollen.« Lambsdorff, der den Tietmeyer-Text kannte und billigte, antwortete: »Das können Sie postwendend haben« – und schickt das lediglich minimal redigierte Tietmeyer-Papier an den Kanzler.

    Die Pointe des Umsturzes von 1982 ist dreifach: Die Grundgedanken einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Politik, die ein FDP-Minister präsentierte, stammen nicht von liberalen Parteipolitikern, sondern von einem CDU-Beamten: entworfen aus dem Geist der katholischen Soziallehre (Subsidiarität und Eigenverantwortung), der Freiburger Schule (Walter Eucken, Wilhelm Röpke) und seiner sozialen Weiterentwicklung durch Ludwig Erhard, Alfred Müller-Armack und Joseph Höffner.

    Die zweite Pointe ist nicht weniger stark: Ein Papier mit streng ordnungspolitischen Maximen führte in eine Koalition, die sich um Ordnungspolitik wenig scherte (Kanzler Kohl: »Ich will Wahlen und nicht den Ludwig-Erhard-Preis gewinnen«) und statt einer geforderten Angebotspolitik den Sozialstaat weiter aufblähte (Norbert Blüm und die Einführung der Pflegeversicherung).
    Schließlich gibt es noch eine dritte Pointe: Erst unter der rot-grünen Regierung Gerhard Schröders (SPD) setzte sich unter dem Namen »Agenda 2010« eine marktwirtschaftliche Wende durch – mit Erfolgen am Arbeitsmarkt bis heute. Am Ende hat, leicht überspitzt, der Sozialdemokrat Gerhard Schröder das von einem CDU-Mann verfasste und von FDP-Mann Lambsdorff in die Welt gesetzte Wende-Papier umgesetzt, das der sozialdemokratische Kanzler und »Weltökonom« Helmut Schmidt 1982 als »Verrat« der Koalition interpretierte.

    Rainer Hank

  • 01. Juli 2024
    Lob der Kleinstaaterei

    Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger hat wenig zu sagen Foto: BMBW

    Dieser Artikel in der FAZ

    Föderalismus in der Bildung hat einen schlechten Ruf. Zu Unrecht.

    Eine Freundin ist vor ein paar Jahren aus beruflichen Gründen mit ihrer Familie von Hamburg nach München gezogen. Unter dem Schulwechsel, den der Umzug zur Folge hatte, leiden die Kinder bis heute. In Hamburg waren die Schulnoten stets bestens. In Bayern, so erzählt die Mutter, sind die Anforderungen nicht etwa strenger. Doch in Mathe, nur als Beispiel, wurde die Kenntnis »negativer Zahlen« vorausgesetzt. Die wären in Hamburg erst später drangekommen. Die Noten der Kinder sackten in den Keller. Der Schock des Ortswechsels wurde zum Familiendrama.

    Es sind solche Geschichten, die erklären, warum der Bildungsföderalismus in Deutschland einen miserablen Ruf hat. Um die 70 Prozent der Befragten plädieren in Umfragen regelmäßig für mehr Zentralismus der Standards durch das Bundesbildungsministerium. Bildungsdurcheinander als Mobilitätshemmer beruflicher Veränderung – wenn dies der Effekt des Föderalismus sei, sollte man ihn lieber abschaffen, so heißt es. Einen guten Stand hat der Föderalismus eigentlich nur noch in Sonntagreden. Ansonsten wird er als Flickenteppich und Kleinstaaterei geschmäht. Einzig in Bayern schneidet das regional differenzierte Bildungssystem im Ansehen besser ab. Jedenfalls bei denen, die ihre ganze Bildung dort absolvieren. Kein Wunder: Im Leistungsvergleich liegt der Freistaat zumeist an der Spitze. Eltern haben den Eindruck, ihre Kinder würden dort am besten auf ein erfolgreiches und einkommensstarkes Leben vorbereitet. Und ja, natürlich verteidigen die Kultusminister der Länder den Föderalismus. Kein Wunder, sie würden andernfalls ihren Job verlieren.

    Dass Bildung Ländersache ist, war einmal der konfessionellen Friedenssicherung geschuldet, belehren mich Jörg Scheller und Michael Geiss, zwei Schweizer Autoren, in einem FAZ-Essay: Katholische Eltern sollten nicht genötigt werden, ihre Kinder in eine unchristliche oder, schlimmer noch, in eine protestantische Schule zu schicken. Durch die Regionalisierung der Kompetenzen ließ sich dieser Konflikt entschärfen. Heute hat sich dieses Problem angesichts flächendeckender Säkularisierung erledigt.

    Yardstick Competition

    Hat denn niemand ein paar gute Argumente für den Bildungsföderalismus? Zumindest unter Ökonomen, von Berufs wegen Freunde der Konkurrenz, finden sich noch ein paar Befürworter. So etwa beim Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministers. Das Argument der Wissenschaftler geht so: Das Wahlvolk könne im Zentralismus wegen mangelnder Vergleichsmöglichkeit die Qualität der von ihm gewählten Politikerinnen und Politiker nicht wirksam überwachen. Im Föderalismus haben die Wähler aber die Chance, aus dem Vergleich mit den Politikergebnissen benachbarter Länder Rückschlüsse auf die Leistungen der Politik ziehen, so dass in der Politik ein Wettbewerb anhand von Vergleichsmaßstäben entsteht. Der Fachbegriff dafür heißt »Yardstick Competition«: Institutioneller Wettbewerb zwischen Bundesländern könne somit die Effizienz der Bildung verbessern. Klingt ein bisschen geschwollen, ich weiß. Einfacher gesagt: Föderalismus hat den Vorteil, dass sich Fehler an der Spitze nicht gleich auf das ganze Land auswirken. Das übersehen die Anhänger der zentralen Bildungsplanwirtschaft, wenn sie blind auf die Weisheit von Frau Stark-Watzinger vertrauen. Das Argument, Bürger könnten in einem Föderalismus dorthin umziehen, wo ihnen die Schulpolitik besser gefällt, ist natürlich blauäugig. Doch wenn »Yardstick Competition« die Bürger über die bessere Qualität der Bildung in anderen Bundesländern informiert, können die Wähler ihr Missfallen über die Politik im eigenen Bundesland an der Wahlurne zum Ausdruck bringen.

    Geht das auch ein bisschen konkreter? Ja. Vor ein paar Wochen hat Ludger Wößmann vom Münchner Ifo-Institut, für mich der anregendste Bildungsökonom hierzulande, eine Studie über die Chancengleichheit in den Bundesländern vorgelegt. Dort geht es um den Skandal, dass deutschlandweit nur wenige Kinder aus Nichtakademikerfamilien das Gymnasium besuchen, währen die meisten Akademikereltern von ihren Sprösslingen erwarten, dass sie auf die höhere Schule gehen. Das heißt nicht, dass das Abitur des Menschen Glück bedeutet. Doch die Chancen sollten gleich verteilt sein, sofern es mit gerechten Dingen zugeht.

    Das Ergebnis der Ifo-Studie förderte deutliche regionale Unterschiede zutage. Ausgerechnet in Berlin und Brandenburg sind die Chancen des Bildungsaufstiegs für Unterschichtskinder relativ besser, besser auch als ausgerechnet in Bayern und Sachsen. Wößmann und seine Koautoren haben die Vermutung, dass diese Gerechtigkeitsdifferenz auch damit zu tun haben könnte, dass die Kinder in Berlin und Brandenburg erst nach der sechsten Klasse in die weiterführende Schule wechseln – also zwei Jahre länger zusammen beschult werden.

    Die Staatskanzlei jault

    Der Aufschrei aus Bayern folgte auf dem Fuß: »Skandall!« brüllte Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger. »Einseitig, fragwürdig und methodisch verfehlt«, so echote es beleidigt aus der Münchner Staatskanzlei. Dass könnte daran liegen, dass die Bayern nicht verstanden haben, dass die Studie die Chancengleichheit misst, aber nicht das Leistungsniveau der Schüler. Leistungsmäßig deuten in der Tat die meisten Ländervergleiche darauf hin (zuletzt der aktuelle Bundesbildungsbericht), dass das Leistungsniveau in Deutschland zwar insgesamt stark gefallen ist, dass Bayerische Schüler indessen immer noch relativ mit besten Leistungen auf das Leben vorbereitet werden. Schlusslichter des Leistungsrankings dagegen sind Berlin, Brandenburg und Bremen – ausgerechnet jene Bundesländer, in denen Chancengleichheit deutlich besser realisiert wird als in Bayern und Sachsen.

    Beide Aussagen passen gut zusammen, oder? Zwar steht Deutschland insgesamt im internationalen Vergleich schlecht da (Pisa, TIMSS, Bundesbildungsbericht). Auf diesem bescheidenen Niveau befinden sich aber offenbar zwei Modelle im Wettbewerb: Ein egalitäres System (Berlin, Brandenburg) führt zu mehr Chancengleichheit, ein elitäres Modell (Bayern, Sachsen) bietet dagegen ein höheres Leistungsniveau, lässt dafür aber Unterschichtskinder eher links liegen.

    In einer idealen Bildungswelt müssten hohes Leistungsniveau und Chancengleichheit kein Widerspruch sein. Anschauungsbeispiele, wie das geht, kann man sich in Schweden holen. Doch man stelle sich für einen Augenblick vor, ein zentralistisches Bildungssystem müsste sich zwischen elitär und egalitär entscheiden. Sechs Jahre Grundschule in ganz Deutschland? Der Aufschrei wäre mindestens so laut, als hätte man früher alle protestantischen Schüler in katholische Ordensschulen gezwungen.

    Vielleicht könnten ja beide Modelle innerhalb eines Bundeslandes angeboten werden? Eltern könnten sich dann am Ort zwischen egalitär und elitär entscheiden. G8 und G9 gab es auch eine Zeitlang parallel. Oder ist das jetzt schon wieder blauäugig?

    Fazit: Bildungsföderalismus bietet mehr Vielfalt, leider aber kein Optimum.

    Rainer Hank

  • 19. Juni 2024
    Die Boomer sind geizig

    Die Boomer geben das Geld mit vollen Händen aus? Denkste! Foto Reisereporter

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum mangelt es den Alten an Lebensfreude?

    Wir Boomer sind die reichste Generation, die es in der Geschichte je gegeben hat. Wir hatten im Leben ziemlich viel Glück. Bildungsaufsteiger, die wir sind, haben wir die Chance genutzt, – mit BAföG und Stipendien – zu studieren. Der Lohn der Mühe war nicht nur lebenslag ein guter Beruf, eine ordentliche Karriere und ein gutes Einkommen, sondern auch ein Gewinn an Freude und Freiheit, um vorgegebene Bahnen des Lebens zu verlassen. Wir Boomer sind seit langem die erste Generation, die ohne die persönliche Erfahrung von Krieg, Vertreibung und Hunger alt werden darf. Mein Großvater kam als Krüppel aus dem ersten Weltkrieg zurück; mein Vater kam mit schweren Blessuren aus russischer Gefangenschaft nachhause.

    Es gibt keine amtliche Definition, wer sich Boomer nennen darf. Weltweit sollen es 270 Millionen sein. Wir kamen nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Welt. Wir sind so lange immer mehr geworden, bis sich nach dem Pillenknick der Trend umkehrte. Das war 1964. Seither gehen die Geburtenraten in allen Industrieländern zurück, je länger, je dramatischer. Es fehlen Ideen, wie sich das ändern ließe. Aber das ist ein anderes Thema.

    Heute frage ich mich, warum wir unseres Glücks nicht richtig froh werden. Und warum wir unseren Erfolg nicht angemessen genießen. Sollte man nicht annehmen, dass die Boomer jetzt damit beginnen, ihr Vermögen zu verzehren, das sie durch Arbeit und Leistung – also verdient – aufgehäuft haben? In den USA, so lese ich im »Economist«, machen die Boomer 20 Prozent der Bevölkerung aus, vereinen aber 52 Prozent des Vermögens auf sich, ein Reichtum, der sich auf 76 Billionen Dollar summiert. Doch was sagen uns die Zahlen? Wir sind eine Kohorte der Geizhälse; knausrig halten wir unser Geld zurück. Wiewohl statistisch absehbar ist, dass unsere Restlaufzeit mehr oder weniger kurz ist, um es salopp zu formulieren.

    Kreuzfahrtaktien schwächeln

    Der Verdacht, dass die Alten irrational leben, kam mir beim Blick auf mein Aktiendepot. Weitsichtig kam ich mir vor, als ich mir schon während Corona ein paar Aktien von Kreuzfahrtschiffen zulegte. Meine Prognose: Wenn der Lockdown vorbei ist, werden die Senioren die Aidas dieser Welt besetzen, um von Costa Rica bis auf die Fidschi-Inseln ihr Erspartes zu verjubeln. Kreuzzufahren ist die ideale Konsumweise älterer Menschen. Das Geheimnis des Geschäftsmodells hat der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog einmal so beschrieben: Er besuche viele Länder und Städte, müsse seinen Koffer aber nur einmal auspacken, weil er sein komfortables Hotel die ganze Zeit bei sich habe. Doch was soll ich sagen: Zwar steigen die Passagierzahlen auf den Kreuzfahrtschiffen wieder deutlich. Doch meine beiden Aktienpäckchen – sie heißen Carnival- und Norwegian-Cruiseline – schwächeln, sind die Loser im Depot, weil den Investoren offenbar das Vertrauen in die Zukunft des Schiffsreisens fehlt. Wird schon noch werden, so meine Hoffnung. Doch nun muss ich dem schon erwähnten Economist-Artikel entnehmen, dass die gesamte Altersindustrie underperformt. Der »Ageing-society opportunities index« (was es nicht alles gibt!), er enthält neben der Kreuzfahrtbranche und dem Tourismus auch Aktien von Alters- und Pflegeeinrichtungen und zudem die ganze Anti-Aging-Kosmetik-Industrie, fällt ausgerechnet seit dem Ende von Corona gegenüber jene Indizes zurück, die breit in alle Branchen investieren.

    Das bringt die Makroökonomen in Erklärungsnot. Denn die arbeiten seit langem mit einer sogenannten Lebenszyklus-Hypothese: In der Jugend geben die Leute mehr aus als sie verdienen. Sie leisten sich eine akademische Ausbildung und bauen ein Haus auf Pump, weil das Einkommen noch gering ist. In der mittleren Lebensphase verdienen sie zwar mehr, müssen aber auch private Vorsorge für das Alter betreiben, weil man ihnen gesagt hat, die staatliche Rente werde nicht reichen. Erst in der dritten Lebensphase können die Menschen dann mehr Geld ausgeben als sie einnehmen: »Entsparen«, der Verzehr des finanziellen Erfolgs, wofür das Englische den schönen Ausdruck »eating into my wealth« hat. Doch das Gegenteil passiert: Die Sparquote der Alten steigt, anstatt dass sie sinkt.

    Für die Weltwirtschaft ist das gut, denn Entsparen in großem Stil würde rasch zu Inflation führen (große Konsumnachfrage, knappes Arbeitskräfteangebot). Doch für uns Boomer ist das eine einigermaßen traurige Botschaft. »Krampfhaftes Klammern kann zu weniger Lebensfreude führen«, hat der legendäre FAZ-Kolumnist Volker Looman immer wieder geschrieben. Er warnte, wir würden zu Sklaven unseres seines Vermögens, wenn wir nicht bereit wären loszulassen.

    Der letzte Rasierer hält lange

    Auf dem Markt sind eine ganze Reihe von Erklärungen für die merkwürdige Sparverhaltensänderung der Babyboomer. Die Angst, die Nachkommen könnten es einmal weniger guthaben als wir Glückskinder bringt die moralische Verpflichtung mit sich, ihnen ein üppiges Erbe zu hinterlassen. Hinzu kommt: Langlebigkeit kann dauern; da ist man gut beraten, nicht zu früh von der Substanz zu leben, zumal das Risiko besteht, die letzten Monate oder gar Jahre könnten mit aufwendiger Pflege und hochwertigen Medikamenten besonders teuer werden.

    Ganz subjektiv habe ich noch ein paar weitere Kandidaten altersbedingter Sparsamkeit. Womöglich ist es ein Wohlstandsphänomen, dass die Konsumwünsche im Alter zurückgehen. »Schenkt mir nichts, ich habe schon alles«, so lesen wir es regelmäßig auf den Geburtstagseinladungen. Ein Freund hat mir erzählt, kurz nach dem 60. Geburtstag habe er sich einen neuen Rasierapparat gekauft. Der vorige habe 25 Jahr lang gehalten. »Das wird dann also der Letzte gewesen sein«, so sein melancholischer Kommentar.
    Viele meiner Kollegen arbeiten nach dem Eintritt in das gesetzliche Rentenalter freiberuflich einfach weiter. Ich finde das ein schönes Hobby, das wenig kostet, aber verhindert, dass Zeit zum Geld ausgeben da ist. Auch von Managern der Finanzindustrie höre ich immer häufiger, sie hätten hier oder da noch Aufsichts- oder Beratermandate. »Man kommt zu nichts«, so jüngst ein rüstiger Achtzigjähriger.

    Es wird vermutlich noch ein paar weitere Konsumsperren geben. Wer wie ich im Schwäbischen aufgewachsen ist, hat mit der Muttermilch aufgenommen, dass Sparen eine Tugend sei und Geld ausgeben über den notwendigen Bedarf hinaus zwar keine Sünde, aber doch nahe dran. An die Substanz darf es nicht gehen, das weckt regelmäßig hartnäckig sitzende Verarmungsängste. Wer ein Leben lang zu Sparsamkeit angeleitet wurde, kann nicht einfach im Alter den Hebel umlegen, bloß weil die Ökonomen ihm sagen, jetzt sei die »Verzehrphase« angesagt. Sinnvoller wäre es, die Verhaltensökonomen würden damit beginnen, sich empirisch mit der neuen Alterssparsamkeit zu beschäftigten, sollte sie sich als säkularer Trend erweisen.

    Rainer Hank

  • 11. Juni 2024
    'tschuldigen Sie!

    Robert Habeck, Bundeswirtschaftsminister für Wirtschaft und KLimaschutz. Foto BMWK

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie verlogen ist unsere politische Fehlerkultur?

    Robert Habeck gilt als »Pionier der politischen Fehlerkultur«. Kürzlich hat er eine Entschuldigung für das von der Ampel völlig vergeigte Heizungsgesetz vorgetragen: »Die Debatte um das Gebäudeenergiegesetz, also wie heizen wir in Zukunft, war ja auch ehrlicherweise ein Test, wie weit die Gesellschaft bereit ist, Klimaschutz – wenn er konkret wird – zu tragen. Und da bin ich zu weit gegangen.«

    In den Kommentaren dazu kam Habeck meist gut weg. Der Minister zeige sich »reumütig«, war zu lesen. Er verfüge über die Größe, Fehler einzugestehen. Einige haben Habeck zum Helden eines neuen Politikstils ausgerufen, mit der die Spaltung der Gesellschaft überwunden werden könne: Die Entschuldigung als Angebot zur Versöhnung.
    Das Drehbuch für Habecks Entschuldigung klingt, als sei es von einer PR-Agentur geschrieben, die sich auf Krisen- und Reputationskommunikation spezialisiert hat. In deren Handbüchern liest man, der Entschuldigende müsse sich »verletzlich zeigen«, er müsse »die Opfer im Blick« haben, »aufrichtig wirken« und versprechen, »sein Verhalten in der Zukunft zu ändern«. Wie schrieb schon der Philosoph Theodor W. Adorno: »Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.«

    Habeck, der studierte Philosoph, erweist sich als Schüler Adornos, zeigt Schwäche und versteht zu verhindern, dass seine Gegner gestärkt werden. Die paternalistische Arroganz fällt erst auf den zweiten Blick auf. Habeck sagt, seine Partei wisse, was klimapolitisch zu tun sei, habe die Bürger »getestet«, ob sie da mitmachen und »ehrlicherweise« feststellen müssen, dass sie kleinen Kindern gleich dazu nicht willens oder nicht bereit seien. Habeck redet wie ein Vater, der erkennen muss, dass sein Söhnchen noch nicht alleine laufen kann und einsehen muss, zu weit gegangen zu sein, als er ihm die stützende Hand entzog. Das ist dann weniger Adorno als Plato, der antike Philosoph, der meinte, am besten werde der Staat von Experten regiert, die dem dummen Volk sagen, wohin es die Wärmepumpe zu hängen habe. »Niederträchtig« hat der Kolumnist Harald Martenstein, auch eine Art Philosoph, den Politiker-Satz »Wir müssen unsere Politik den Menschen nur besser erklären« genannt. Habeck sagt, er sei zu weit gegangen, nachdem sich durch einen von der Exekutive veranstalteten Volks-Test herausgesellt habe, dass die Menschen noch nicht reif seien für grüne Umerziehungspolitik.

    Die Entschuldigung als Waffe

    Die Entschuldigung wird zur Waffe im Kampf um Selbstbehauptung; sie setzt den anderen Schachmatt: »Was willst Du denn, ich habe mich entschuldigt.« Wer nach einer Entschuldigung argumentativ nachtritt, outet sich als Rechthaber, setzt sich selbst ins Unrecht und muss am Ende fürchten, dass nun von ihm eine Entschuldigung verlangt wird fürs nicht Annehmen einer Entschuldigung. Eine Entschuldigung hat man zu akzeptieren ohne Wenn und Aber. Notorischen Haarspaltern fällt ein, dass einem der Lehrer damals beigebracht hat, man könne sich gar nicht selbst entschuldigen, sondern lediglich den, den man verletzt hat, um Entschuldigung bitten. Das hilft aber auch nicht heraus aus der Schachmattfalle: »Wir bitten unseren Sohn wegen starker Kopfschmerzen und Übelkeit zu entschuldigen«, hatten die Eltern auf den Zettel geschrieben, den man »Entschuldigung« nannte.

    Einiges spricht dafür, dass es hierzulande nicht an einer Kultur, Fehler einzugestehen, gebricht, sondern vielmehr längst eine grassierende Entschuldigungskultur um sich gegriffen hat. Ein kurzer Blick ins FAZ-Archiv liefert mengenweise Beispiele. Während Corona berühmt wurde der Satz des damaligen Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU), der aus den Deutschen eine einzige Entschuldigungsgesellschaft machen wollte: »Wir werden einander viel verzeihen müssen.« Als dann das Kabinett Merkel ausgerechnet über Oster einen Lockdown beschlossen und kurz darauf wieder zurückgenommen hatte, bekannte die Kanzlerin, der Entschluss sei »einzig und allein« ihr Fehler, für den sie die Bürger um Verzeihung bitte.

    Dieses alle Schuld auf sich nehmende Bekenntnis kennt man als »mea culpa« aus dem Stufengebet der Messe in der katholischen Kirche. Was geradewegs zur protestantischen Bischöfin Margot Käßmann führt, die, nachdem sie alkoholisiert eine rote Ampel überfahren und des Fehltritts überführt worden war, bekannte, sie habe einen schweren Fehler gemacht, den sie zutiefst bedauere, um sich selbst im gleichen Zug Trost zuzusprechen mit dem Satz: »Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.« Der Wirtschaftsminister Karl Theodor zu Guttenberg (CSU), des Plagiats in seiner Doktorarbeit bezichtigt, entschuldigte sich bei allen, »die ich aufgrund meiner Fehler und Versäumnisse verletzt habe«.
    Ein Plagiat ist eine Lüge. Eine Entschuldigung ist dagegen immer eine Entschuldigung; es lässt sich schwer nachweisen, dass sie nicht aufrichtig ist. Sie kommt als Schwächebekenntnis daher, hat aber die strategische Absicht, Stärke zurückzugewinnen. Im abendländisch.-christlichen Höflichkeitsdiskurs dient sie dazu, Boden zu gewinnen. Wer sich selbst erniedrigt, will erhöht werden, so die Bibel leicht abwandelnd Friedrich Nietzsche (»Menschliches, Allzumenschliches«).

    »Sorry« kompensiert fehlende Triggerwarnung

    Womöglich ist die Inflation der Entschuldigungen auch eine Reaktion auf die Inflation wehleidiger Verletzlichkeit. Wer vergaß, rechtzeitig eine Triggerwarnung auszusprechen, dem bleibt nur, sich schleunigst zu entschuldigen. So die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die beim deutschen Kanzler »geradezu autistische Züge« wahrgenommen haben will – um wenig später alle Autisten kollektiv um Entschuldigung zu bitten, nicht aber Olaf Scholz.

    Entschuldigung – so viel Proseminar-Linguistik muss sein – ist ein performativer Akt. Wer sich entschuldigt, benennt nicht nur etwas, teilt nicht nur etwas mit, sondern macht etwas mit Worten: Ich entledige mich meiner Schuld, indem ich »Entschuldigung« sage. Der kulturelle Kontext erfordert, diesen Akt als Reinigungsritual zu akzeptieren. Man kann einer Entschuldigung schlecht widersprechen, siehe oben. Gut, es gibt Ausnahmen. Armin Laschet (CDU) hat sich für seinen Lacher im überschwemmten Ahrtal entschuldigt, was ihm die Wähler bei der Bundestagswahl nicht als mildernde Umstände haben durchgehen lassen. Ähnlich geht es gerade den Nazi-Grölern auf Sylt, deren Entschuldigung nicht dazu geholfen hat, dass sie vom Pranger losgebunden wurde. Wenn der Konformitätsdruck der Umwelt emotional besonders heiß kocht und/oder der, der seine Schuld bekennt, besonders hassbedacht wird, dann nützt ihm weder Selbstkritik noch Schuldbekenntnis. Womöglich ahnte der Alt-Kanzler Gerhard Schröder dies, als er bockig eine Entschuldigung für seine Putin-Freundschaft verweigerte: »Mea culpa ist nicht mein Ding«.

    Rainer Hank

  • 11. Juni 2024
    Demokratie verteidigen: Wie geht das?

    Demo auf dem Frankfurter Römerberg 5.3.2024 Foto hr

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über allerlei Scheinheiligkeiten

    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sein Thema gefunden: Er kämpft für die Demokratie. Und er ermuntert uns, mit ihm für die Demokratie zu kämpfen: »Schützen werden die Demokratie nicht andere. Schützen müssen wir sie selbst. Auf uns und jeden von uns kommt es an!«

    Was sollen wir kämpfenden Demokraten nun aber konkret machen außer Lichterketten und Demos im Spätfrühling? Das sagt der Bundespräsident nicht. Ich vermute, er meint, wir sollten auf keinen Fall die AfD wählen. Aber das darf er natürlich nicht sagen. Das wäre undemokratisch, oder?

    Es deutet sich ein Widerspruch an, um den es in meiner heutigen Kolumne gehen soll: Muss man die Demokratie schützen, indem man die Demokratie einschränkt? Dass so etwas geplant ist, geben derzeit viele Politiker (implizit) zu. Nur ein Beispiel: Die Ampelkoalition erwägt, Regelungen zu Wahl und zur Amtszeit von Verfassungsrichtern nicht nur in einem einfachen Gesetz, sondern im Grundgesetz festzuschreiben. Diese könnten dann nicht mehr mit einfacher Mehrheit, sondern nur mit Zweidrittelmehrheit geändert werden. Das würde verhindern, dass bei einem Regierungswechsel Richter vergleichsweise einfach aus dem Amt entfernt würden oder die Rolle des Verfassungsgerichts verändert werden könnte. In Ungarn oder Israel zeigt sich, dass die Ängste nicht unbegründet sind. Die Union hat signalisiert, sie werde eine dafür nötige Verfassungsänderung nicht boykottieren.

    Demokratiestärkung durch Demokratieschwächung. Das ist ein Paradox, bei dem man sich fragen darf, ob die ganze derzeitige Wir-stärken-die-Demokratie-Rhetorik nicht in Wirklichkeit Ausdruck eines Schwäche-Diskurses ist. Denn gewiss ist: Eine Verfahrensänderung von einfachen auf Zweidrittelmehrheiten bergrenzt demokratische Souveränität. Im Vorfeld der Thüringenwahl haben Juristen einen Katalog von Empfehlungen vorgelegt, wie sich »rechtsstaatliche Resilienz« stärken lasse (nachzulesen auf »verfassungsblog.de«): Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, die Landeszentrale für politische Bildung, der Verfassungsgerichtshof, der Verfassungsschutz und die Polizei sollen gegenüber Eingriffen durch Parlament und Regierung immunisiert werden. »Konsultative Volksbefragungen« (klingt für mich nach Demokratie) sollen als »Kampagneninstrumente der Regierung« (Regierung klingt eigentlich auch nach Demokratie) verboten werden. Demokratie müsse eingehegt werden, um autoritär-populistische Versuchungen unschädlich zu machen.

    Liberaler Keuschheitsgürtel

    Damit ist die Katze aus dem Sack. Die politische Ökonomie der sogenannten Public-Choice-Schule war da immer schon ehrlicher, wenn sie darauf insistierte: Nicht die Demokratie, sondern der Rechtsstaat ist in Gefahr. Der liberale Ökonom und Philosoph Anthony de Jasay (1925 bis 2019) hat die Verfassung einer Demokratie mit einem Keuschheitsgürtel verglichen. Das politische wenig korrekte Bild will sagen: Eine demokratische Verfassung muss demokratische Freiheiten einschränken und bedient sich insofern undemokratischer Instrumente. Es zeichnet den Rechtsstaat aus, dass er die Bürger einschließlich seiner Regierungen Gesetzen unterwirft, dass die Gewalten geteilt sind und jede Gewalt die anderen Gewalten überwachen kann und dass es Institutionen gibt (das Verfassungsgericht, die unabhängige Notenbank, der »staatsferne« Rundfunk, die Richter und Gerichte), die keinen parlamentarischen oder regierungsamtlichen Weisungen unterliegen. Würde da, wo es um die Bewahrung des Rechtsstaats geht, nicht immer gedankenlos von der Bewahrung der Demokratie geredet, wäre viel für die Verwirklichung dieser Ziele erreicht, meinte kürzlich der Ökonom Hartmut Kliemt auf dem Blog »wirtschaftlichefreiheit.de«.

    Ich werde den Eindruck nicht los, dass die Einhegung demokratischer Freiheiten durch selbstbindende Rechtsstaatlichkeit vielen heutigen Demokratie- und Resilienz-Kämpfern immer nur da recht ist, wo es ihnen passt. Geht es zum Beispiel um die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse, so drehen dieselben Leute den Spieß herum und betonen, wie »undemokratisch« es sei, der Fiskalhoheit als dem »Königsrecht« eines Parlaments derartige verfassungsrechtliche Fesseln aufzuerlegen. Denn das Schuldenverbot verhindere, dass die Demokraten Gutes tun könnten für Investitionen und Wirtschaftswachstum. Die Kritiker der Schuldenbremse merken nicht, dass sie ein klassisches populistisches Argument verwenden. Oder aber sie wollen die Bezeichnung »Populismus« für Rechtskonservative vorbehalten, was ziemlich willkürlich wäre.

    Der Politikwissenschaftler Philip Manow hat in seinem neuen Buch, erschienen unter dem Titel »Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde« (suhrkamp), auf solche Scheinheiligkeiten hingewiesen. Zentral ist Manows Unterscheidung zwischen »liberaler« und »elektoraler« Demokratie. »Liberal« wäre eine Demokratie dann, wenn sie Mehrheitsentscheidungen durch Institutionen des Rechts begrenzt. Damit eignet der liberalen Demokratie ein paternalistisches Element. »Elektoral« wäre eine Demokratie dann, wenn sie das Mehrheitsprinzip möglichst uneingeschränkt walten lässt. Der Kampf für die Demokratie wird dann zu einem Kampf der liberalen Demokratie gegen die elektorale Demokratie, der nicht über den Weg zu trauen sei, weil sie zwingend zu einer elektoralen Autokratie mutieren werde. Anders als die Freunde der Rechtsbindung tun, existiere die liberale Demokratie nicht schon seit den Stadtstaaten Athens oder der französischen Revolution, sondern sei sie ein Kind der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts, behauptet Manow. Nicht zuletzt die Europäische Union, selbst alles andere als lupenrein demokratisch, unterwerfe die je nationale, »elektorale« Souveränität vielen Beschränkungen und lasse diese vom europäischen Gerichtshof exekutieren. So gesehen ist es kein Wunder, dass gerade postkommunistische Staaten Osteuropas (wozu auch die fünf neuen Bundesländer zählen) nach anfänglicher Begeisterung inzwischen mit der liberalen Demokratie fremdeln, die Mehrheitsentscheidungen juristisch kupiert. Das mag sich für den ein oder anderen Leser politikwissenschaftlich verknüselt anhören, hat aber, träfe es zu, erhebliche Konsequenzen. Die Krise der Demokratie, von der heute allenthalben die Rede ist wäre dann eine Krise der in den neunziger Jahren erst entstandenen und radikalisierten liberalen Demokratie. Diese jetzt durch noch strengere Selbstbindungen resilient machen zu wollen und die (elektoral) demokratischen Entscheidungen weiter einzuschränken, wäre so ziemlich das Verkehrteste, was man im Kampf gegen den Populismus tun könnte.

    Was aber dann? Besser wäre es, die demokratischen Parteien würden eine bessere Politik machen. Und damit den extremen Parteien den Boden unter den Füßen wegziehen.

    Rainer Hank