Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
15. November 2024Zwangsarbeit
05. November 2024Totaler Irrsinn
18. Oktober 2024Arme Männer
14. Oktober 2024Christlicher Patriotismus
08. Oktober 2024Im Paradies der Damen
28. September 2024Von der Freiheit träumen
28. September 2024Reagan hätte nie für Trump gestimmt
10. September 2024Das Ende der Ampel
27. August 2024Streit ist das Wesen der Demokratie
27. August 2024Lauter Vizepräsidentinnen
23. August 2021
Der Irrsinn der Zehn-Punkte-PläneÜber Sofortprogramme, Maßnahmenkataloge – und was wirklich hilft
Jetzt, fünf Wochen vor der Bundestagswahl, der »heißen« Phase des Wahlkampfes, wie man sagt, haben sie wieder Hochkonjunktur: Die Zehn-Punkte-Sofortprogramme. Die Grünen sind Marktführer. Deshalb gibt es von ihnen in diesem Jahr gleich zwei davon: Ein Klimaschutzsofortprogramm in zehn Schritten. Und als Zugabe noch »10 Punkte für Grünes Regieren«.
Werfen wir einen kurzen Blick in die Texte der Grünen: 1. Erneuerbare Energien schneller ausbauen. 2. Den Kohleausstieg auf 2030 vorziehen. 5. Mobilitätswende beschleunigen. 10. Klimaaußenpolitik vorantreiben. Das Prinzip wird deutlich. Nichts kommt wirklich überraschend, selbst für Wähler, die nur grob eine Ahnung haben, worum es den Grünen geht. Jedes Mal wird ein verbaler Beschleuniger eingebaut. Das soll heißen: Wir drücken aufs Tempo. Nicht ungeschickt gemacht, finde ich, erst recht nach dem jüngsten Klima-Dringlichkeits-Tremolo des Weltklimarates. Im Vergleich zum Klimaprogramm fallen die »10 Punkte für Grünes Regieren« eher ab. Da heißt es zum Beispiel unter Punkt 6 »Soziale Sicherheit schaffen«. Wer wäre dagegen! Aber wie? Oder unter Punkt 10: »Fluchtursachen bekämpfen.« Gut, das haben amerikanische und deutsche Militärs gerade zwanzig Jahre lang in Afghanistan versucht. Am Ende müssen wir jetzt mit einer neuen Flüchtlingswelle rechnen.
Die Listen der anderen sind nicht besser. Etwa die »Zehn Punkte« vom #teamLaschetSpahn, die unter der Überschrift »Für ein innovatives und lebenswertes Deutschland« daherkommen. Besonders haben es mir die beiden letzten Punkte angetan: 9. Zusammenhalt STIFTEN. 10. Zukunftspartei SEIN. Donnerwetter. Den Sozialstaat haben ohnehin alle Parteien auf dem Zettel. Die Linke macht ihn »sicher«, die Grünen wollen ihn erst schaffen, haben wohl nicht mitgekriegt, dass es ihn schon gibt. Und die CDU will ihn sogar »modernisieren«. Die SPD übrigens hat keinen Zehnpunkteplan, sondern lediglich »Zwanzig Punkte gegen Steuerhinterziehung«. Und der FDP ist nach drei Punkten die Puste ausgegangen. Beides könnte sich am 26. September rächen. Ohne Zehnpunktepapier geht gar nichts.
Repertoire der politischen Entscheidungssimulation
Es hätte mir von Anfang an klar sein müssen, dass es vergebliche Liebesmühe ist, aus Zehnpunkteplänen inhaltliche Hilfestellungen für eine Wahlentscheidung bekommen zu wollen. Das ist nicht der Zweck dieser Literaturgattung, die redundant und unbestimmt bleiben müssen, einerlei aus welcher politisch-ideologischen Ecke sie stammen.
Doch warum versorgen uns die Parteien überhaupt mit derartigen Zehnerlisten, nicht nur zur Wahl? Mein Lieblingszitat stammt aus der Badischen Zeitung vom 2. Juni 2012: »Der neue Bundesumweltminister Peter Altmaier hat einen Plan. Er kennt den Inhalt noch nicht, aber es werden zehn Punkte sein.« Eine Erklärung für derartig absurde Sätzen findet sich in einem Buch des Bremer Politikwissenschaftlers Philip Manow, das den schönen Titel trägt »Die zentralen Nebensächlichkeiten der Demokratie.« Der Zehnpunkteplan gehöre zwingend zum »Repertoire der politischen Entscheidungssimulation«, schreibt Manow: Politiker wissen im Grunde, wie ohnmächtig sie sind (siehe Klima, siehe Afghanistan). Aber sie wissen auch, dass sie, frei nach dem Motto einer legendären Ford-Werbung, den Eindruck erwecken müssen: »Die tun was!« Und natürlich auch: »Die schaffen das.« Zehnerlisten sind Instrumente zur »Rückerlangung des Anscheins von Souveränität, Instrumente aus dem reichen Kasten politischer Inkompetenzkompensation« (Philip Manow).Bis heute unübertroffenes Vorbild aller Zehnpunktepläne ist natürlich der Dekalog, die Zehn Gebote, mit denen Mose vom Berg Sinai zurückgekommen ist. Der Dekalog zeichnet den Zehnpunkter vor allen anderen Bulletpoint-Bingo-Rankings aus. Zehn sind besser als fünf oder gar vierzehn. Berühmt wurde Georges Clemenceaus Kommentar auf Woodrow Wilsons 14–Punkte-Rede zu einer Friedensordnung für Europa vom Januar 1918: »Le bon dieu n’en avait que dix!«: Der liebe Gott ist doch auch mit nur zehn ausgekommen. Doch Mose musste sogleich erleben, dass das Volk Israel sich einen Teufel scherte um seine Zehn-Punkte-Programm und lieber um das Goldene Kalb tanzte.
Ich hätte übrigens eine Alternative zu den Zehnpunkteplänen. Der amerikanische Politiker Warren G. Harding (1865 bis 1923), ein Republikaner, wurde im Jahr 1921 zum US-Präsidenten gewählt. Sein Slogan hieß: »Return to Normalcy«. Das war direkt nach der Pandemie der spanischen Grippe ein befreiendes Verspechen. Warum soll so etwas heute nicht auch in Deutschland funktionieren? Wir kehren zurück zur alten Normalität. Das meint nicht nur die Freiheit des Alltagslebens. Es meint auch das Ende der grassierenden Staatswirtschaft.Wider die ordnungspolitische Verwahrlosung
Denn die Gefahr besteht, dass der ordnungspolitische Ausnahmezustand der langen Pandemie-Monate zur neuen Normalität wird, weil dies den Politikern Raum für immerwährenden Aktivismus eröffnet. Zum Beleg für meinen Verdacht taugen die Beschlüsse der letzten Ministerpräsidentenkonferenz von Anfang August. Unter den vielen Auflagen der Politik an die Betriebe findet sich etwa die Aufforderung der »Arbeitsschutzverordnung«, die Betriebe müssten Homeoffice anbieten. Das findet weiterhin breit statt. Dies wiederum führt dazu, dass viele Restaurants in den Städten kurzarbeiten lassen und einen zweiten »Ruhetag« einlegen, weil der Andrang zum Lunch noch nicht so groß ist wie vor der Krise. Absurd ist es, dass die Politik mit Geld der Steuer- und Beitragszahler (Kurzarbeit) einen Zustand (Homeoffice) kompensiert, den sie selbst mehr oder weniger vorgeschrieben hat. Mit Marktwirtschaft hat das nichts zu tun. Die Betriebe und ihre Beschäftigten sollen selbst eine Balance zwischen Office und Home-Office aushandeln. Womöglich überleben danach nicht mehr alle Restaurants. Sie dürften deshalb erst recht mit Kurzarbeitergeld gepäppelt werden.
Ordnungspolitik heißt: Lasst den Staat machen, was der Staat kann, und den Markt, was der Markt kann. Fast zwei Jahre erleben wir jetzt eine »ordnungspolitische Verwahrlosung« – so der Würzburger Ökonom Norbert Berthold: Staatswirtschaft verdrängt mehr und mehr die Marktwirtschaft. Der Staat verteilt Masken und Impfstoffe, nicht besonders effizient, wie wir gesehen haben. Der Staat verschuldet sich über die Halskrause und hofft auf unendlich viele Jahre mit Niedrigzinsen. Politiker finden großen Gefallen an dieser Art Staatswirtschaft. Geldausgeben macht ihnen Spaß. Viel Staatsgeld kommt jetzt auch zum Wiederaufbau der von der Flut zerstörten Städte und Dörfer an der Ahr zum Einsatz. In Wahlkampfzeiten geht das wahrscheinlich nicht anders – es wird freilich die Neigung, künftig klimabedingte Unwetterrisiken privat zu versichern, nicht gerade fördern. Der staatliche Allmachts-Gestus wird schließlich auch nicht dazu beitragen, dem Klimawandel mit Marktlösungen (Emissionshandel, CO2–Steuern) zu trotzen. Interventionismus und viel Geld ausgeben gehören – wie die Zehnpunktepläne – zum Instrumentenkasten politischer Kompetenzsimulation. Der Aufruf »Zurück zur Normalität« hat es da schwer, ich weiß.
Rainer Hank
16. August 2021
Warum gibt es Hungersnöte?2 Bilder ›
Amartya Sen hat eine überraschende Erklärung
Shantiniketan ist ein kleines Städtchen im indischen Bundesstaat Westbengalen. Der Dichter und Philosoph Rabindranath Tagore gab dem Ort seinen Namen. Wörtlich übersetzt bedeutet er »Heimstatt des Friedens«. Tagore gründete hier 1901 die Visva-Bharati Universität. Die Vorlesungen und Seminare wurden unter hohen Mango-Bäumen im Freien abgehalten. Hier studierte in den vierziger Jahren der spätere Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen. In Shantiniketan war er geboren. Dort wuchs er bei seinen Großeltern auf, beide große Bewunderer von Tagore. Noch bevor der Junge Englisch sprach, lernte er Sanskrit.
Die ländliche Idylle Shantiniketans wurde im Frühjahr 1943 abrupt gestört. Vom Hunger gezeichnete Menschen tauchten auf, erbettelten sich etwas zu essen und zogen weiter nach Kalkutta, wo sie auf Erlösung aus ihrem Elend hofften. Vergeblich. Was Sen als Zehnjähriger zu sehen bekam, war der Beginn der sogenannten »Großen Bengalischen Hungersnot«, der größten Katastrophe Britisch-Indiens. Zwischen zwei und drei Millionen Menschen, genau weiß man es nicht, fielen ihr zum Opfer.
Die frühe Erfahrung ließ Sen sein Leben nicht mehr los. Mit Forschungen über die Ursachen von Hungernöten, die er dreißig Jahre später anstellte, sollte er berühmt werden. Alle denken, dass Menschen hungern, weil sie nichts zu essen haben. Sen bestreitet das. Ich habe Sens dieser Tage erschienene, für das Genre untypisch ungeschwätzige Autobiographie »Home in the world« (Zuhause in der Welt) gelesen: Der Titel ist eine weitere Verneigung vor Tagore und bezieht sich auf die Spannungen zwischen westlichem und östlichem Denken und der Möglichkeit ihrer Versöhnung. Nichts bringt den heute 87 Jahre alten Sen so auf die Palme wie Samuel Huntingtons These eines dauerhaften Clashs der Kulturen. Das multikulturelle Bengalen seiner Kindheit und die Lehren Tagores bargen für Sen die Erfahrung eines spannungsreichen, jedoch versöhnlichen Zusammenlebens der Kulturen. Die Verehrung für Tagore hält bis heute an. Auch seinen Vornamen verdankt er dem Dichter: Amartya bedeutet auf Bengalisch »unsterblich« oder »himmlisch«.
Zurück zur Großen Hungersnot. Seit 1942 hatten die Preise für Lebensmittel in Bengalen angezogen. Warum das so war, blieb zunächst unklar. Die das Land regierenden Briten ignorierten die humanitäre Katastrophe, weil sie die Auffassung vertraten, es gäbe ausreichend zu essen und zu trinken. Damit lagen sie nicht falsch. Aber, so Sen, sie hatten die falsche Theorie, die ihre Ignoranz rechtfertigte und den Bengalen zum Verhängnis wurde. Blickte man lediglich auf das Angebot, so gab es keinen Mangel an Lebensmitteln. Es kam sogar mehr Ware auf den Markt.
Indien im Zweiten Weltkrieg
Doch was war mit der Nachfrage? Da gab es einen Boom. Wie kann es sein, dass es in einer boomenden Wirtschaft zugleich zu einer schrecklichen Hungersnot kommt? Wir befinden uns mitten im Zweiten Weltkrieg in Ostasien. Japanische Truppen standen an den Grenzen zu Indien. Hinzu kamen anti-britische indische Soldaten, später dann auch die Amerikaner. Überall wurde aufgerüstet, wofür Menschen gebraucht wurden, die viel essen mussten. Und das Geld dazu vom Staat bekamen. Es war ein Nachfrage-Schock, der die Preise nach oben schnellen ließ. Es gab Panikkäufe. Später kamen Spekulanten dazu, die aus der Not ihren Reibach machten.
So nahm das Unglück seinen Lauf. Um sicherzustellen, dass die Menschen in Kalkutta zu essen hatten, rationierte die Regierung in der Großstadt die Waren, die von ihr in den ländlichen Gegenden Bengalens zu nahezu jedem Preis aufgekauft wurden. Während die städtische Bevölkerung zu essen hatte und die auf dem Land lebenden oberen Schichten – zu denen Sens Familie zählte – ebenfalls, konnte es sich die arme Landbevölkerung nicht mehr leisten, Nahrungsmittel zu kaufen. Sie degenerierten moralisch und verhungerten elendiglich. Hunger, so Sen, ist eine Frage der gesellschaftlichen Klasse.
Hunger, trotz eines großen Angebots an Essen – so erklärt sich die Paradoxie. Hunger heißt nicht, dass es nichts zu essen gibt. Hunger heißt, dass die Armen kein Geld haben, sich etwas Essbares zu kaufen. Bei seinen Studien in den siebziger Jahren stellte Sen fest, dass dies generell für Hungersnöte gilt. Es geht um Rechte und Ansprüche (»entitlement«), nicht um Verfügbarkeit (»availability«) von Nahrung. Daraus leitet Sen seine These ab, Hunger sei kein ökonomisches, sondern ein politisches Problem. Auch das konnte er 1943 beobachten und mit seinen debattierfreudigen Onkeln, Tanten und Großeltern besprechen. Die englischsprachigen Zeitungen Indiens berichteten nicht über die Nahrungskatastrophe aus einer falsch verstandenen Solidarität mit den gegen die Nazis Krieg führenden Briten, denen man nicht in den Rücken fallen wollte. Das Parlament in London nahm von der Hungersnot lange keine Kenntnis. Der britische Premier Winston Churchill ignorierte, als sie ihn dann erreichten, alle Hilferufe zynisch und kaltherzig.
Biographien von Wissenschaftlern sind in der Regel ziemlich langweilig. Die Abenteuer von Geistesarbeitern spielen sich im Kopf ab. Äußerlich passiert da wenig. Sie sitzen am Schreibtisch, in der Bibliothek, im Labor, schreiben Papers und Bücher, diskutieren mit ihresgleichen auf Kongressen, unterrichten im Seminar und im Hörsaal.Geht die Farbei beim heiß Baden ab?
Sens Forschungen laufen anders, sie haben einen konkreten Sitz in seinem Leben. Seine Autobiographie ist, so gesehen, eine akademische Ausnahme. Weil sein Leben eine Ausnahme ist. Ständig ist er in der Welt unterwegs, in den frühen Jahren häufig auf dem Schiff. Sein Weg führt von Shantiniketan nach Kalkutta, von dort nach Cambridge in England, dann an das MIT in Boston und wieder zurück nach Delhi. Besonders aufregend muss es in den fünfziger Jahren in Cambridge gewesen sein. Eine intellektuell offene Atmosphäre, wo Keynesianer mit Liberalen (wie dem Entwicklungsökonomen Peter Bauer) und Marxisten um das beste Argument stritten und sich nicht – wie heute – in ihre Echokammern zurückzogen. Sens akademischer Held ist der heute nur noch von Fachleuten hoch geachtete Piero Sraffa. Seine Heldin im Leben ist Mrs. Hanger, seine Zimmerwirtin in Cambridge, die wohl noch nie einen Mann aus Indien gesehen hatte: Besorgt wollte sie wissen, ob wohl seine Farbe beim heiß Baden abgehen könnte. Sen nahm ihr die Frage nicht übel. Und Mrs. Hanger war alsbald tief überzeugt, dass alle Menschen gleich sind.
Sens Fragen sind seit der Kindheit dieselben: Wie vermeiden wir Armut und Hunger? Und was lässt sich tun gegen die Erfahrung von Ungleichheit, die nicht allein in einer ungerechten Einkommensverteilung gründet, sondern sich auch auf die Frage bezieht, welche Ressourcen Menschen brauchen, um unabhängig von Rasse und Klasse befähigt zu werden, ein autonomes Leben zu führen. Immer geht es um Gerechtigkeit. Es ist eine zutiefst humane ökonomische Theorie. Sollte jemand noch nach Ferienlektüre suchen: »Home in the World« wäre eine gute Wahl.
Rainer Hank
12. August 2021
Schröpft die Reichen!Warum zahlen sich die Geldversprechen linker Parteien nicht aus?
Lassen sich mit dem Versprechen von Steuererhöhungen Wahlen gewinnen? Es gibt dazu ein bizarres Beispiel der jüngeren Geschichte: Vor der Bundestagswahl 2005 hatte Angela Merkel, die damals zum ersten Man antrat, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte angekündigt. Die SPD war strikt dagegen. Am Ende wurde Merkel Bundeskanzlerin, und die Mehrwertsteuer wurde um drei Prozent erhöht. Spott ergoss sich über die Sozialdemokraten, weil sie der Gleichung zwei plus null macht drei zugestimmt hatten.
Mein Beispiel ist die Ausnahme geblieben: Der Normalfall ist seit langem, dass die linken Parteien im Wahlkampf Steuererhöhungen für die Reichen ankündigen. Und dass ihnen dies noch nicht einmal die potentiellen Profiteure danken. Ich habe mir den fiskalpolitischen Teil der Wahlprogramme linker Parteien in Deutschland (SPD, Grüne, Linke) seit 2009 angesehen. Stets sollen die Reichen stärker zur Kasse gebeten, die Mittelschicht und die Ärmeren dagegen entlastet werden: Mal über einen höheren Spitzensteuersatz, mal über eine Vermögenssteuer, mal über eine höhere Erbschaftssteuer, mal alles zusammen. Mehr Umverteilung von oben nach unten, um die Ungleichheit der Einkommen zu lindern, so lauten die Signale.Das strategische Kalkül der Linken geht so: Die Reichen sind Minderheit, alle nicht so Reichen sind Mehrheit, bei der das Umverteilungsversprechen auf fruchtbaren Boden fallen müsste. Die Wähler hat das nicht überzeugt. Die Unterstützung der SPD ist seit 2005 von 34 Prozent auf 20 Prozent 2017 geschrumpft. Derzeit stagnieren die Sozialdemokraten bei 16 Prozent. Die Ergebnisse der Partei »Die Linke« wurden einstellig. »Die Ausrichtung der Wahl auf Steuerthemen hat sich bisher für die Oppositionsparteien nicht ausgezahlt«, schrieb Renate Köcher, die Chefin des Allensbacher Instituts für Demoskopie 2013 in der FAZ. Es mag hinzukommen, dass die SPD in drei von vier Merkel-Regierungen als Juniorpartnerin nichts von dem durchzusetzen vermochte, was sie versprochen hatte.
Da verwundert es schon, dass im laufenden Wahlkampf die Linksparteien in ihren Programmen der Steuerpolitik abermals viel Platz einräumen. Während die Union Steuersenkungen ankündigt und – erkennbar unredlich – weder Verschuldung noch Staatausgaben einschränken will, sondern weitere öffentliche Investitionen verspricht, scheinen die Linken aus der Vergangenheit nichts gelernt zu haben. Würden deren Wahlprogramme umgesetzt, müsste ein Ehepaar mit zwei Kindern und einem Jahreseinkommen von 300 000 Euro künftig mit deutlich weniger Geld auskommen: Jährliche Einbußen von 12 000 Euro sind es bei SPD und Grünen. Unfassbare 190 000 Euro will die Linke dem Paar wegnehmen, was vor allem aus der Einführung einer konfiskatorischen Vermögenssteuer resultiert. Zugleich wäre ein Ehepaar mit zwei Kindern in den unteren Einkommensschichten bessergestellt als heute: Ihnen stünden bei einem Brutto-Einkommen von 40 000 Euro jährlich rund 3300 (Grün), 4000 (SPD) oder sogar 5100 (Linke) Euro mehr Geld im Jahr zur Verfügung. Das sind Berechnungen des Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), die beweisen, dass es auch 2021 möglich ist Gewinner und Verlierer der Wahlprogramme zu identifizieren.
Bewährt sich das Gesetz der Serie, werden sich diese Verteilungsversprechen im September 2021 abermals für die linken Parteien nicht auszahlen. Woran liegt das?
Der Mannheimer Politikwissenschaftler Thomas König hat herausgefunden, was wirklich die Wahlentscheidungen der Menschen beeinflusst. Sogenannte »Sachthemen« – und damit auch die Wahlprogramme – spielen allenfalls eine sehr nebensächliche Rolle. Viel wichtiger sind affektive Faktoren, die eine emotionale Bindung der Wähler zu »ihren« Parteien und den prominenten Repräsentanten zum Ausdruck bringen. Dabei geht es vor allem um Vertrauen und Glaubwürdigkeit, ein »Kapital«, das viel wichtiger ist als finanzielle Zusagen. Wenn das stimmt, können die Parteien versprechen, was sie wollen: es geht nur marginal in die Entscheidungsfindung der Wähler ein. Vor diesem Hintergrund klingt es scheinheilig, wenn jetzt viele beklagen, dem Wahlkampf mangele es an Sachthemen.
Ungleichheiten werden unübersichtlich
Eine weniger radikale Erklärung findet sich in Forschungen des Berliner Soziologen Steffen Mau. Mau zufolge ist die Unterscheidung zwischen oben und unten heute nur noch eine unter mindestens vier »Spaltungen«. Die traditionelle Unterscheidung zwischen Kapital und Arbeit, die – wenn nicht auf Revolution, so auf Redistribution setzt – ist inzwischen in die Jahre gekommen. Daneben gibt es die Spaltung in »Innen/Außen«, wo Migration eine große Rolle spielt und die Frage viel wichtiger ist, ob und in welchem Umfang Einwanderer Zugang zu unseren sozialen Sicherungssystemen bekommen. Modern sind auch die »Wir-Sie-Ungleichheiten«: Da geht es um die Anerkennung und rechtliche Gleichstellung von »nicht-heteronormativen Lebensformen«, diversen Identitäten und Minoritäten. Das sind Themen, die den links eingestellten besserverdienenden Eliten wichtiger sind als Fragen der Umverteilung. Schließlich spielen »Heute-Morgen-Ungleichheiten« eine große Rolle: Hier geht es um Ökologie und Nachhaltigkeit und die zwischen den Generationen ungleich verteilten Umweltrisiken. Die Themen »Klimawandel« und »Migration« könnten als die entscheidenden Sachthemen die Wahl entscheiden, Fiskalthemen dagegen rangieren unter ferner liefen.
Man kann sagen, das Thema Ungleichheit ist heute auch nicht mehr, was es einmal war. Heute sind wir mit einer neuen Unübersichtlichkeit der Ungleichheiten konfrontiert. So ist auch erklärbar, warum zwar 80 Prozent der Bevölkerung davon überzeugt sind, dass unser Steuersystem ungerecht ist und die Unterschiede zwischen Arm und Reich zunehmen. Doch selbst einkommensschwache Bürger in Ost und West überzeugen die linken Gerechtigkeitsversprechen nicht. Sie fühlen sich von den linken Parteien alleingelassen in ihrer Angst vor Überfremdung, eine Angst, die offenbar ganz im Vordergrund der Wahlentscheidung steht: Mit Blick auf die Innen-Außen-Ungleichheit wählen sie AfD und nicht die linken Parteien.
Eine letzte Erklärung klingt eher simpel, ist mir aber eigentlich die liebste. Womöglich geht es uns viel besser als viele Journalisten-Kollegen und Sozialwissenschaftler uns seit Jahren weismachen, die vor lauter Spaltungen und Gerechtigkeitsgräben übersehen, wie groß der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft ist. Jeder, der will, findet Arbeit. Der Wohlstand ist so hoch wie noch nie in allen sozialen Klassen. Krisen wie Corona durchstehen wir – abgesehen vom Bildungssystem – solidarisch und ohne größere Blessuren. Die Ungleichheit der Einkommen wächst seit dem Jahr 2005 nicht mehr. Es könnte sein, dass die Mehrheit der Deutschen – arm wie reich – in Wirklichkeit andere Probleme hat als »oben und unten« zu egalisieren. Die linken Parteien wären dann altmodischer als ihre potentiellen Wähler.
Rainer Hank
02. August 2021
Was darf ein Knöllchen kosten?In den Städten wird (falsch)parken jetzt richtig teuer
Letzten Sonntag waren wir in der Pfalz zum Wandern. Von Deidesheim in die Weinberge, ein kleines Paradies. Das fanden außer uns noch mehr Menschen, weshalb die Parkplätze am Waldrand schon am späten Vormittag hoffnungslos überfüllt waren und nicht wenige Wanderer ihren Wagen am Rande des für Autos an sich verbotenen Waldwegs abstellten.
Das hätten sie besser unterlassen. Am frühen Nachmittag kam uns ein Team der örtlichen Verkehrs-Sheriffs entgegen, die sich über ihre fette Beute erkennbar freuten. 30 Euro je Falschparker, zehn Autos auf einen Streich allein an unserer. Später trafen wir die Ordnungshüter noch einmal, mit noch besserer Laune. Deidesheim darf sich freuen. Okay, auch Kommunen hatten, fiskalisch gesehen, dürre Monate in Zeiten des Lockdown.
30 Euro fürs Falschparken sind bald Vergangenheit, wenn der neue nationale Bußgeldkatalog in Kraft tritt. Er ist längst beschlossen und soll von September an gelten, noch vor der Bundestagswahl. Die Tarife sind gesalzen. Die Falschparker in der Pfalz müssen künftig 55 Euro an die Kommunalkasse entrichten. Noch teurer wird es in den Städten: Wer dort sein Auto auf einem Radweg abstellt, kann mit einem Bußgeld von bis zu 110 Euro belangt werden. Auch das beliebte Parken in der zweiten Reihe sollte man sich zweimal überlegen: Ebenfalls 110 Euro werden fällig.
Es überrascht nicht, dass nun auch die Autofahrer nicht besonders gut auf Andreas »Andy« Scheuer, den Verkehrsminister von der CSU, zu sprechen sind, dessen Haus die neuen Regeln erlassen hat: Jeder zweite von Automedienportal.net Befragte findet, dass die Preiserhöhung für Falschparker »unfair« sei. Oft sei das Falschparken nur die »letzte Lösung« in Ermangelung geeigneter freier Plätze, sagen sie. Das Argument ist verständlich, dennoch ethisch und ökonomisch dürftig. Eine »letzte Lösung« gibt es nicht; in Wirklichkeit wollen die Autofahrer die Kosten langer Suchzeiten abkürzen. Niemand ist gezwungen, mit dem Auto in die Stadt zu fahren. Das Argument der traurigen Automobilisten wäre allenfalls dann zu akzeptieren, wären Fahrrad, U-Bahn oder Uber noch nicht erfunden.
Der gerechte Preis fürs Falschparken
Gibt es einen gerechten Preis für ein Knöllchen? 55 und 110 Euro sind willkürlich. Warum nicht 70 und 140 Euro? Dagegen sind die heute anfallenden 15 Euro für zwei Stunden im Halte- oder Parkverbot eindeutig zu billig, wenngleich auch ich mich jedes Mal über den Strafzettel ärgere. Warum zu billig? In Frankfurt muss ich in einem Innenstadtparkhaus für zwei Stunden im Schnitt fünf Euro bezahlen. Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Ordnungshüter mich im Parkverbot entdeckt? Erwischt er mich jedes dritte Mal, kommt mich das Falschparken nicht teurer als das Parkhaus. Kommt er seltener vorbei, mache ich ein Geschäft, muss allenfalls das schlechte Gewissen meiner katholischen Erziehung auf die Strafe aufaddieren.
Das erinnert an ein berühmtes verhaltensökonomisches Experiment in einem israelischen Kindergarten. Dort ärgerten sich die Erzieherinnen darüber, dass die Eltern ihre Sprösslinge andauernd zu spät abholten. Sie führten eine Strafe ein von drei Dollar pro Kind, dessen Eltern sich beim Abholen verspäteten. Das Ergebnis: Noch mehr Eltern kamen später. Sie interpretierten die Strafe als eine Art legalen Preis, der fällig wird, um ihre Kinder länger im Hort zu »parken«.
Daraus folgt: Strafe muss weh tun, um eine abschreckende Wirkung zu entfalten. Exorbitant hoch darf sie aber auch nicht sein. Darauf macht mich der Düsseldorfer Wettbewerbsökonom Justus Haucap aufmerksam. Das Ziel der Kommunen ist es ja nicht nur, Falschparker zu verhindern, sondern – siehe Deidesheim – an Geld zu kommen. Bei null Falschparkern hätten sie null Einnahmen. Mit Blick auf das notorisch klamme Budget einer Kommune müsste der Preis für das Knöllchen so hoch sein, dass die Autofahrer lieber ins Parkhaus fahren. Gehören die Parkhäuser dann ganz oder teilweise den Kommunen, könnte man beide Preise weiter anheben, um die Einnahmesituation der Gemeinde zu optimieren. Haucap spricht vom »optimalen Monopolpreis«.
Doch, wie gesagt, die Preise fürs Falschparken macht Herr Scheuer in Berlin, unsere »Bundes-Nanny«, wie Grünen-Bürgermeister Boris Palmer aus Tübingen scherzt. Offenbar steckt dahinter die Vorstellung, es sei gerecht, wenn die Strafe für das Parken auf dem Radweg in Posemuckel, Deidesheim oder Frankfurt für jeden gleich ist. Juristen mögen so denken. Ökonomen denken in Opportunitäten und Knappheiten. Eine Parklücke in einer Großstadt ist – entsprechend den Bodenpreisen – deutlich mehr wert als auf dem Dorf. Entsprechend höher ist der Nutzen, den der Falschparker sich erschleicht. Ökonom Haucap regt an, die Strafe auch vom Einkommen abhängig zu machen. Sonst könnten sich am Ende nur noch Porsche-Fahrer leisten, stundenlang Einfahrten zu blockieren. Freilich erhöht sich dadurch der Verwaltungsaufwand erheblich, wenn nicht einfach der Strafzettel unter dem Scheibenwischer klemmt, sondern erst noch das Einkommen des Fahrzeughalters überprüft werden muss. Vom Wert des Autos auf den Reichtum des Halters zu schließen, kann trügen. Ich kenne einige Nachbarn hier im Viertel, die sich locker einen Porsche leisten könnten, aber Opel Corsa oder ähnliches fahren.
Im Wettbewerb um oder gegen das Auto
Der Trend bei der Bepreisung des öffentlichen Raums geht jedenfalls eindeutig in Richtung dezentral. Das fängt an beim Anwohnerparken. Jahrzehnte lang kostete das von Flensburg bis Lindau maximal 30 Euro im Jahr und war immer schon zu billig; allein Unterhalt und Reinigung des Platzes – was ja die Kommune übernimmt – sind teurer. Inzwischen ist die Deckelung gekippt; die Kommunen sind frei in der Preisgestaltung. Ökonomen schlagen vor, sich etwa an den Bodenrichterwerten, den vergleichbaren Mieten für Sammelgaragen/Parkhäuser oder dem Jahresticket für den öffentlichen Personennahverkehr zu orientieren. Als Richtwert liebäugeln viele Kommunen – dann doch wieder eher uniform – mit 1 Euro am Tag, mithin 360 Euro im Jahr. Das lässt einen erst mal nach Luft schnappen, wäre es doch zehn Mal so viel wie heute. Dabei ist auch der Weg zu einer City-Maut (vornehm: Anti-Stau-Gebühr) nicht mehr weit. Das Ifo-Institut schlägt 6 bis 10 Euro am Tag vor und verspricht für München eine Reduktion der täglichen Staus um bis zu einem Drittel.
Es wird so kommen: Nachverdichtung der Städte und politisch gewollte Verknappung der Parkplätze durch Radwege reduzieren das Angebot. Die Liebe der Deutschen zum SUV samt Fiat500 als Zweitwagen erhöht die Nachfrage. Nach Adam Smith macht dies das mobile Leben in den Städten teurer. Immerhin: Wenn die Kommunen die Preise fürs Fahren und (Falsch)parken in der Hand haben, können die Bürgermeister entscheiden, ob sie mit dem Klima-Argument die Autofahrer ganz vertreiben wollen. Und die Bürger haben ein zusätzliches Kriterium für die Wahl ihres Lebensmittelpunktes.
Rainer Hank
30. Juli 2021
Klimawandel als AusredeWarum Krisen auch nicht mehr das sind, was sie mal waren
Was Corona ist, haben wir nach eineinhalb Jahren Pandemie nun gelernt. Was der Klimawandel ist, könnten wir schon seit dem Kyoto Protokoll wissen. Aber was ist eigentlich eine Krise?
Das Wort Krise hat sich inflationär ausgebreitet. Wir sprechen von Corona-Krise und Klima-Krise. Davor hatten wir die Flüchtlings-Krise, die Euro-Krise und die Finanzkrisen. Die eine ist noch nicht vorbei, da lugt schon die nächste um die Ecke. Normalität ohne Krise scheint nicht mehr vorgesehen zu sein.
Das von der Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff edierte »Handbuch der Krisenforschung« klärt auf: Eine Krise ist eine Ausnahmesituation, die ein Potential zum Guten oder Schlechten hat. Von der Antike bis ins 17. Jahrhundert bezog Krise sich auf die ärztliche Entscheidung über Leben und Tod. Arzt und Patient sind handlungsmächtig und können durch eigene Initiative Krisen bewältigen. Da zeigt sich der Kern des Allerweltsspruchs von der »Krise als Chance«.
Seit dem 18. Jahrhundert greift der Krisenbegriff imperial um sich, erstreckt sich von der Medizin und Kriegsführungskunst auf Wirtschaft, Gesellschaft und Politik und dringt in die Alltagssprache ein: »Ich glaub, ich krieg die Krise.« Wer eine Krise sieht, glaubt nicht an eine einfache, lineare Fortschritts- und Entwicklungsgeschichte, benennt historische Perioden des Übergangs, der Unsicherheit und der Entscheidung. Das schreibt der Historiker Rüdiger Graf im genannten Handbuch der Krisenforschung. Die »Gründerkrise« 1873 markiert ein vorläufiges Ende des liberalen Fortschritts- und Wachstumsglaubens, vergleichbar der Dotcom-Krise der New Economy zur Jahrtausendende 2000. Die Ölkrise 1973 hat der Weltbevölkerung schlagartig deutlich gemacht, dass Energie und Ressourcen begrenzt sind und wir gut daran tun, effizient damit umzugehen. Dass es absolute »Grenzen des Wachstums« gäbe, wie der Club of Rome damals als Reaktion auf die Ölkrise behauptete, hat sich zum Glück als falsch erwiesen. Der Einfallsreichtum der Menschen hat den Fatalismus besiegt.
Zu unterscheiden wäre zwischen Katastrophenereignissen wie Überflutungen, Bankenansturm, Flüchtlingsströmen einerseits und Krisen wie Erderwärmung, Verschuldung, Migration, die auf eher langfristige Entwicklungen zurückgeführt werden. Dass langfristige Krisen furchtbare Katastrophen nach sich ziehen können, erleben wir gerade.Lass keine Krise ungenutzt
Auffallend ist die veränderte Einstellung der Menschen zu Krisen im Lauf des 20. Jahrhunderts. In den Zwanziger Jahren erblickten die Menschen in den Krisen ein »notweniges, kathartisches Durchgangsstadium auf dem Weg in eine bessere Zukunft« (Rüdiger Graf), mithin ein positives Aufbruchssignal.
Solch ein fortschrittliches Geschichtsdenken hat sich seit dem späten 20. Jahrhundert in sein Gegenteil verkehrt. Krise wird heute vor allem als Verschlechterung erlebt. Der Glaube, dass sich aus einer Krise etwas machen lasse, getreu dem Motto Winston Churchill »Lass keine gute Krise ungenutzt« (»Never let a good crisis go to waste«), kam selbst in die Glaubwürdigkeitskrise. Pessimismus schlägt den vormaligen Krisen-Optimismus. Die Krise ist nicht mehr Appell an die Entfaltung kreativer Anpassungskräfte der Menschen. Sie ist jetzt Signal für die drohende Apokalypse. Wir stehen kurz vor dem Untergang, wahlweise je nach Krise ist es der Untergang des Kapitalismus oder gleich der ganzen Menschheit durch nicht aufhaltbare Flüchtlingsströme oder den Kollaps des Klimas.
Was dieser Wandel des Krisenverständnisses vom Optimismus zum Pessimismus bedeutet, zeigen die Reaktionen auf die aktuelle Flutkatastrophe. Ein positives Verständnis der Krise, das sich vorgenommen hätte, aus dem tödlichen Schrecken der zerstörerischen Flut Lehren für die Zukunft zu ziehen, müsste jetzt kluge Anpassungsstrategien an den Klimawandel erarbeiten. Die »positive« Fantasie könnte sich in jede Richtung austoben: Noch bessere Hochwasserwarnsysteme für enge Täler deutscher Mittelgebirge oder der Voralpen, verbunden mit ausreichend Rückstaumöglichkeiten und Auffangbecken. Private Versicherungen könnten ihre Policen in den – von Regen wie Hitze – bedrohten Gebieten nach oben anpassen und zugleich Preisnachlässe als Anreize setzten für Bürger, die sich entschließen, künftig weniger nah am Wasser zu bauen. Der Bau von Dämmen und Warften (Siedlungshügel) müsste dazu kommen. All das kann man übrigens nachlesen auf der Internetseite des Bundesumweltamtes: »Deutsche Anpassungsstrategie an den Klimawandel« heißen die Empfehlungen aus dem Jahr 2008.
Dramatisch wirkt die Versiegelung der Böden. Wenn Dämme oder Rücklaufventile aus einer Zeit stammen, in der die Fläche unbebaut war, dann muss der restliche heutige Boden der Region das x-fache aufnehmen können, um eine Flut zu vermeiden. Der Mannheimer Politikwissenschaftler Thomas König hat mir dazu eine kleine Rechnung geschickt, die er zusammen mit seinem Schwiegervater Helmut Pannenbäcker, einem Diplom-Ingenieur erstellt hat. Fallen – wie berichtet – 15 Liter Wasser in der Stunde auf einen Quadratmeter, sind das 15 000 Kubikmeter auf einen Quadratkilometer, wenn die Fläche hundert Prozent aufnehmen kann. Je weniger Wasser nun aufgrund von Bebauung oder Verdichtung versickern kann, desto mehr Kubikmeter fließen ab und erhöhen den Druck in den Abflüssen, so dass aus einem kleinen Rinnsal von 10 Quadratmetern im Querschnitt ein reißender Strom werden kann. Bei 50 Prozent Versickerung entspricht dieser Strom einer Säule von 750 Metern Länge, bei 25 Prozent Versickerung 1125 Metern auf einer Fläche von lediglich einem Quadratkilometer pro Stunde.
Klimawandel lenkt ab
Das apokalyptische Krisenverständnis unserer Tage denunziert Anpassungsstrategien als Flucht vor dem Klimawandel, als billige Ausrede, die Erderwärmung zu leugnen. Anpassung ist verpönt, radikaler Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft ist angesagt. Dabei hat die von Menschen gemachte Versiegelung der Flächen nicht das Geringste zu tun mit dem von Menschen gemachten Klimawandel. Der penetrante Blick auf das Ziel der Klimaneutralität im Jahr 2050 oder früher ist es, der davon ablenkt, dass heute über Anpassung geredet werden müsste.
Das negative Krisenbild (»fünf vor zwölf«) ficht das nicht an. Seine Anhänger fordern sofortigen, radikalen Verzicht: Kein Fleisch essen, nicht nach London fliegen, nicht mit dem Diesel fahren, keine Kinder zeugen. Kinder seien klimaschädlich, sagt die radikale Bewegung »Birthstrike«: Jedes nicht geborene Kind spart 58,6 Tonnen CO2. Die depressive Reaktion auf die Klimakrise mündet in den Befehl, das Leben insgesamt bleiben zu lassen. Es läuft auf das vorweggenommene Ende der Gattung aus Angst vor dem Klima-Tod hinaus.
Das alles wird den zerstörten Orten in der Eifel genauso wenig nützen wie eine Beschleunigung des Baus von Windrädern in Deutschland. Verantwortlich für die Klima-Katastrophe ist der weltweite Ausstoß von Treibhausgasen; das tugendhafte Deutschland, das für zwei Prozent der Weltemissionen verantwortlich ist, wird das nicht ändern. Das wir das nicht sehen wollen, hängt damit zusammen, dass wir den Glauben an den Fortschritt der Naturbeherrschung über Bord geworfen und Krisen apokalyptisiert haben.Rainer Hank