Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
29. März 2025Streicht das Elterngeld
17. März 2025Der Kündigungsagent
17. März 2025Hart arbeiten, früh aufstehen
04. März 2025Kriegswirtschaft
21. Februar 2025Lasst Minderheiten regieren
12. Februar 2025Sägen, Baby, Sägen
12. Februar 2025Der Kiosk lebt
05. Februar 2025Was kostet Grönland?
05. Februar 2025Hitlers Sozialismus
21. Januar 2025Liberalismus in der Defensive
21. Januar 2025
Leben in der TikTok-ÄraLesefähigkeit verkümmert. Bilder-Glotzen boomt
Zur Jahrtausendwende habe ich in der – neuen – Hauptstadt Berlin gelebt. Wenn ich morgens mit der S-Bahn unterwegs war, konnte ich die anhaltende Teilung der Stadt an der Zeitungslektüre erkennen: Der Ost-Mensch las die »Berliner Zeitung«, 1945 gegründet als »Organ des Kommandos der Roten Armee«. Im Westen wurde der »Tagesspiegel« gelesen, ebenfalls 1945 gegründet unter der Lizenz der »Information Control Division« der US-Militärregierung. Damals, nur zur Erinnerung, hatte fast jeder S-Bahn-Fahrgast eine Zeitung vor der Nase. Die Ohren der Bahnfahrer waren damals noch podcastfrei, sieht man einmal von den »Walkman« genannten Ungetümen der Firma Sony ab.
Zehn Jahre später, so um das Jahr 2010, war alles anders. Gedruckte Zeitungen verschwanden mehr oder weniger aus dem S-Bahn-Bild. Der Siegeszug der Mobiltelefone hatte sie verbannt. Mit einigem Wohlwollen konnte man annehmen, dass die einen auf ihren Handys »Tagesspiegel« lasen, die anderen »Berliner Zeitung«. Oder die FAZ. Man weiß das ja nicht. Der Leser der gedruckten Zeitung outet sich und seine Präferenzen vor seiner Mitwelt. Der Nutzer des Smartphones outet sich seinen Followern im Netz.
Inzwischen hat sich die Welt abermals gedreht: vom Text zum Bild. Das ist eine viel tiefgreifendere Veränderung als der Übergang von einer analog-physischen zu einer digital-virtuellen Welt. Kunstwissenschaftler nennen das den »iconic turn« (von »eikon«, griechisch »Bild«). Damit gemeint ist die wachsende Dominanz von Bildern und visuellen Medien in Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft. Bilder erschließen sich viel leichter als Texte -, aber auch sie müssen interpretiert und verstanden werden. Doch macht es einen großen Unterschied, eine Novelle Heinrich von Kleists oder einen FAZ-Leitartikel zu verstehen oder exotische Fotos auf Instagram und Katzen-Videos auf Tiktok.
Dazu gibt es jetzt empirische Daten. Ich entnehme sie meiner Lieblingskolumne »Data Points«, die regelmäßig in der »Financial Times« erscheint. Bis etwa 2015 haben die meisten Menschen die Neuigkeiten über das Weltgeschehen direkt aus Zeitungen, Radio, Fernsehen bezogen, sei es analog-physisch (Papier), sei es digital-virtuell (Bildschirm). Der Anteil der Menschen, die diese klassischen Nachrichtenkanäle nutzen, ist von 2015 bis heute von 70 auf 50 Prozent geschrumpft ist. Im selben Zeitraum wuchs die Gruppe jener, die ihr Wissen über die Welt indirekt und gefiltert über soziale Medien ihrer »Freundesgruppen« beziehen, von 30 auf knapp 50 Prozent. Die Zahlen stammen aus den USA; das Verhalten der Menschen in Europa dürfte davon nicht nennenswert abweichen. Schon dies hat gravierende Konsequenzen: X &Co. reduzieren die Welt auf wenige Buchstaben und neigen zur Zuspitzung. Am Ende bleibt dann nur hängen, Elon Musk fände, die AfD sei die Rettung für Deutschland. Solche Sachen halt.
»Iconic turn«
FAZ-Artikel und Tweets auf X sind Texte. Die Art und Weise wie wir ihren Sinn verstehen, gleichen sich. Wir müssen Buchstabenfolgen (Zeichen) in Bedeutung (Sinn) übersetzen. Doch nun kommt der »iconic turn« ins Spiel, der sich etwa seit gut fünf Jahren in den Zahlen spiegelt. Während unter jungen Menschen soziale Textmedien (X, Facebook) an Relevanz verlieren, nimmt die Zahl der Nutzer bei Bildmedien (Tiktok, Instagram) exponentiell zu. Junge Menschen haben Bilder und Filme lieber als Texte. Tiktok, eine Welt kurzer intensiver und emotional aufgeladener Videoschnipsel, mag ein soziales Netzwerk genannt werden wie X wegen des mit Followern bevölkerten Plattformcharakters. Es ähnelt aber als Medium bewegter Bilder eher Netflix als Facebook. Tiktok hat inzwischen weltweit 1,7 Milliarden User, Tendenz steigend. Über 80 Prozent der Teenager in England nutzen Youtube, Tiktok, Snapchat oder Instagram. Facebook ist inzwischen nur noch für 30 Prozent von ihnen relevant, X liegt bei 10 Prozent (armer Elon Musk!). Das ist der »iconic turn«.
Bei Tiktok bin auch ich seit ein paar Jahren – passiv, ein Schläfer. Ich habe jetzt wieder reingeschaut und bekam eine für mich wirre Vielfalt von Clips mit meist flacher Pointe geleifert. Der Sog dabeizubleiben entsteht durch das kontinuierliche Weiterwischen von Clip zu Clip: Auf Katzenvideos folgt Alice Weidel, die mich auffordert, AfD zu wählen und mich dazu mit einem Herzchen zu bekennen. Zeitungen und Textplattformen profilieren sich mit »News«, mit Neuigkeit, die sich abheben vom Altbekannten. Auf Tiktok und Insta heißt die Währung, die zählt, Charisma und Energie: Der Erste zu sein ist weniger relevant als hyperengagiert zu sein, sagen uns die Medienwissenschaftler. Tiktok lebt von der Inszenierung und Performativität: Die Nutzer stellen die virtuelle Welt in ihrer realen Welt nach. Sie schaffen sogenannte Memes – kurze Bildbotschaften, die eine Idee, einen Witz oder ein Gefühl oft auf den ersten Blick anschaulich machen und massenhaft viral weiterverbreitet werden.
Kulturpessimismus hilft nicht weiter
Man hat Tiktok & Co. soweit ich sehe, bislang immer nur unter zwei Rücksichten diskutiert: Politikwissenschaftlich wurde vielfach festgestellt, dass die Plattformen sich dazu eignen, von populistischen Parteien wie der AfD gekapert und instrumentalisiert zu werden. Dem haben die Parteien der Mitte nichts entgegenzusetzen. Neurowissenschaftler belehren uns, dass der dauerhafte Konsum kurzer Videos Hirnstrukturen verändern kann und zum Beispiel die Empathiefähigkeit schwächt. Beides mündet dann rasch in einen Kulturpessimismus und die Forderung des Handyverbots aus pädagogischen oder politischen Gründen. Ob das durchsetzbar wäre, selbst wenn es wünschenswert wäre, bezweifle ich.
Der soziologische oder, hochgestochen, epistemologische Wandel der Wirklichkeitsbegegnung vom Text zum Bild ist dagegen noch kaum in den Blick geraten. Wäre es nicht klug, eine derart fundamentale Zäsur erst genauer verstehen zu suchen, bevor recht hilflos nach Verboten gerufen wird? Das Konzept des »Iconic Turn« könnte hier weiterhelfen. Es entstammt dem wegweisenden Aufsatz des Basler Kunstwissenschaftlers Gottfried Boehm über die »Wiederkehr der Bilder« aus dem Jahr 1994. Boehm konnte Tiktok nicht kennen. Er dachte wohl eher an Piet Mondrian oder Yves Klein. Doch die These des Iconic Turn, wonach Bilder nicht nur auf etwas anderes verweisen, sondern aktiv Bedeutung erzeugen und zur Nachahmung anregen, könnte von Tiktok und Instagram kaum besser veranschaulicht werden.
Parallel gibt es übrigens auch einen »akustic turn«. Den erkennt man an den weißen Stöpseln (airpods), die vielen Menschen inzwischen aus den Ohren wachsen. Früher haben wir gemeinsam Radio gehört. Heute ist jeder in seiner Hörwelt frei, aber allein. Podcasts zur hören ist wie Videos gucken weniger anspruchsvoll als Texte zu lesen.
Rainer Hank
19. Januar 2025
Elon Musk am ApparatÜber Fehlentscheidungen, Risikoangst und schlechte Gefühle
Kürzlich traf ich auf Klaus Zellmer (57), den Chef des tschechischen Autobauers Skoda. Am Dillmann-Gymnasium, meiner alten Stuttgarter Schule, sollte ich mit ihm über die (traurige) Lage der deutschen Automobilindustrie (speziell im Raum Stuttgart) sprechen, über die (besorgniserregende) Situation der deutschen Wirtschaft und warum sich das zum VW-Konzern zählende Unternehmen Skoda (nachweislich) besser schlägt als der Rest der Branche.
Nachdem wir damit durch waren, ging es im letzten Teil des Gesprächs um Ratschläge eines Top-Managers für die jüngere Generation. Ferdinand Piëch, der 2019 verstorbene Patriarch des VW-Porsche-Imperiums hatte uns einmal in einem Interview gesagt, bei ihm könne nur einen Job bekommen, wer schon einmal im Lauf seiner Karriere gescheitert sei; die erlittene Niederlage als Einstellungsbedingung. Damit könne er nicht dienen, sagte Zellmer; Piëch hätte ihn deshalb wohl nicht zu Skoda geholt. »Bisher habe ich immer Glück gehabt«, so Zellmer, der Glück als eine Mischung aus Vorbereitung und Gelegenheit definierte.
Ich schob die Frage nach, ob es in seiner Laufbahn eine Entscheidung gegeben habe, mit der er hinterher gehadert oder sie gar bereut habe. Zellmer antwortete mit einer Geschichte: Sie beginnt 2017 mit einem Interview fürs amerikanische Morgenfernsehen. Klaus Zellmer, groß geworden in Stuttgart, war damals Nordamerikachef von Porsche und wurde gefragt, ob auch der deutsche Sportwagenhersteller schon Kunden an Tesla verloren habe. Er beantwortet die Frage wahrheitsgemäß mit »Ja«, was man in der Stuttgarter Porsche-Zentrale, vorsichtig gesprochen, wenig amüsiert registrierte.
Wenig später meldete sich Tesla-Chef Elon Musk persönlich bei Zellmer am Telefon. Er habe das Interview gesehen und möchte ihn treffen. Bei Space X, seiner Weltraumfirma, oder bei sich zuhause? »Zuhause«, sagt Zellmer, »ist doch interessant zu sehen, wie so jemand wohnt«.
Es fehlt der Mut
Musk meinte es ernst. Ein Uber-Taxi bringt Zellmer nach Bel Air in Los Angeles. Dem Fahrer im Toyota Hybrid erzählt er stolz, hier wohne Elon Musk. Wenig später muss er eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben; nichts dürfe von dem Treffen bekannt werden. Auch nicht die Adresse des Tesla-Manns. In der Bibliothek warten zwei Wassergläser, aus dem Nebenzimmer dringen Kinderstimmen. 30 Minuten dauert das Gespräch. Musk, damals noch nicht »First Buddy« von Donald Trump, macht ihm ein Angebot, zu Tesla zu wechseln. »Er fand mich cool«; so Zellmer. Näheres müsse man beim nächsten Treffen besprechen.
»In dem Moment hatte ich nicht genug Mut«, gibt Zellmer zu. Tesla steckte damals in der »Produktionshölle« und war weit von Gewinnen entfernt. Mercedes hatte seine Anteile verkauft (was sie heute noch bedauern). Zellmer geht auf das Angebot Musks nicht ein, wechselt statt nach Palo Alto (Kalifornien) nach Wolfsburg (Niedersachsen) als Vertriebschef von VW und 2022 dann auf den Vorstandsposten von Skoda in Mladá Boleslav (Böhmen). Manchmal denke er: »Vielleicht hätte ich in einem Jahr bei Tesla so viel erlebt wie sonst in einem ganzen Berufsleben nicht.« Und auch die Vergütung in Aktien, die damals üblich war, hätte ihren Reiz gehabt. »Dann wäre ich heute der größte Spender fürs Dillmann-Gymnasium, ohne dass ich es überhaupt merken würde.« Freilich wäre er auch das Risiko eingegangen, nach einem halben Jahr gefeuert zu werden, eine personalpolitische Sprunghaftigkeit, für die Elon Musk bekannt ist.
Klaus Zellmer wirkt einverstanden mit seiner Karriere; wäre auch nochmal schöner. Ein leichtes Bedauern freilich schwang in seiner Erzählung mit. In der ökonomischen Entscheidungstheorie nimmt das Bedauern (»regret«) eine wichtige Rolle ein. Menschen beziehen bei der Antizipation des Nutzens einer Entscheidung auch die Möglichkeit eines Bedauerns von Entscheidungen mit ein, heißt es im »Psychologielexikon«. Es finde ein Vergleich der Emotionen statt, die bei anderen möglichen Ausgängen von Entscheidungsoptionen eintreten würden. Der Entscheider empfindet nicht nur die mit der Konsequenz seiner Entscheidung assoziierte Zufriedenheit oder Unzufriedenheit, sondern auch Emotionen, die aus dem Vergleich mit verpassten Konsequenzen resultieren: »Was wäre geschehen, wenn ich mich anders entschieden hätte?« Bedauern wäre dann der Wert der Differenz zwischen der getroffenen Entscheidung und der im Nachhinein als optimal angesehene Entscheidung. Je größer diese Differenz ist, umso mehr schmerzt es.
Ein Gefühl von Traurigkeit und Enttäuschung
Die Angst, sich auf etwas einzulassen, und die Angst, etwas zu verpassen, stehen einander gegenüber. Das Gefühl des Bedauerns wird dabei als »ein Gefühl von Traurigkeit und Enttäuschung« definiert. Spielt noch eine moralische Komponente mit hinein, sprich man von »Bereuen«. Allemal werden Kosten und Nutzen gegeneinander aufgewogen. Kalifornische Sonne, eine charismatisch-exzentrische Gründerfigur, exorbitante Einkommensversprechen und die Chance, etwas völlig Neues zu machen treffen auf Sicherheitsbedürfnisse, Selbstzweifel, Karrierepfadabhängigkeiten und womöglich mehr oder weniger konkrete Aufstiegsversprechen im angestammten Unternehmen.
Interessant beim Bedauern ist nun, dass Risikobereitschaft und Beharrungswünsche nicht gleichmäßig verteilt sind. Die Verhaltensökonomie hat nachgewiesen, dass die Menschen die Angst vor Verlusten höher bewerten als die Gewinnerwartung, wenn sie ein Risiko eingehen. Headhunter wissen, wovon die Rede ist. Oder anders gesagt: Das Leiden im Job muss schon ziemlich groß sein, um den Sprung ins kalte Wasser zu wagen.Ein weiteres kommt hinzu: Menschen tendieren dazu, kurzfristige Belohnungen (die nächste Gehaltserhöhung) langfristigen Versprechungen vorzuziehen: So kommt es, dass wir Gelegenheiten (»windows of opportunity«) nicht nutzen, die erst später Früchte zu tragen versprechen. Kurzum: Meistens siegt das Beharrungsvermögen siegt, die Risikofreude hat das Nachsehen.
Ob sich aus der Theorie des Bedauerns Lehren ziehen lassen? Mein Onkel Hugo hat es nicht hingekriegt. Woche für Woche hat er Lotto gespielt. Nie hat er gewonnen. Jedes Mal seufzte er bedauernd »Wieder nix«. Um gleich darauf mit einem neuen Tippschein zum Kiosk zu laufen. Der Nervenkitzel, dieses Mal werde alles anders und ein großer Gewinn sei gewiss, war offenbar stärker als die Erfahrung, dass sich der Einsatz noch selten gelohnt hat. Das lässt darauf schließen, dass das Bedauern nicht so schmerzhaft gewesen sein muss. Und sich im Lauf der Jahre durch ständige Verlustwiederkehr wohl auch abgenutzt hat. Es gibt offenbar auch ein Gesetz des abnehmenden Bedauerns durch Ritualisierung.
»Non, je ne regrette rien«. Ich hoffe, viele Leser können sich Édith Piaf am Ende dieses Jahres lauteren Herzens anschließen.
Rainer Hank
19. Januar 2025
Meine Bücher des Jahres 2024Faszinierende Ökonomie
Wie wär’s damit, an diesen Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr mal wieder Monopoly zu spielen? Was haben wir als Kinder dieses Spiel geliebt! Ein König, wer es auf Schlossallee oder Parkstraße geschafft hat, um dort seine Hotels zu bauen. Ich mochte trotzdem die Goethe- und Schillerstraße lieber.
Später dann galt uns das Spiel als Sinnbild des bösen Kapitalismus. Klar, es geht darum, als Monopolist reich zu werden. Die, die es nicht schaffen, verschwinden aus dem Spiel. Was ich nicht wusste: Monopoly, entwickelt im Jahr 1904 von der amerikanischen Spieleerfinderin Elizabeth Magie unter dem Namen »The Landlord’s Game«, war ursprünglich dazu gedacht, die negativen sozialen Auswirkungen von Monopolen zu veranschaulichen. Es passte in das späte 19. Jahrhundert, als Leute wie John D. Rockefeller mit seinem »Standard Oil Trust« 90 Prozent der Erdölraffinerien kontrollierten. Und die USA mit dem »Sherman Antitrust Act« von 1890 die Zerschlagung wettbewerbsschädlicher Monopole ermöglichte.
Die kürzeste Wirtschaftsgeschichte
Die Geschichte von Monopoly fand ich einem Buch, das sich als »kürzeste Wirtschaftsgeschichte« präsentiert; der Autor Andrew Leigh, ein australischer Wirtschaftsprofessor, löst dieses Versprechen auf weniger als 200 Seiten bravourös ein. Klassische Wirtschaftsgeschichten benötigen dafür viele hundert Seiten.
Leighs kurze Geschichte ist die erste Empfehlung meiner Bücher des Jahres. Nicht nur, weil es kurz ist, sondern auch, weil es unterhaltsam und zugleich lehrreich ist und die Wohlstandsgeschichte der Menschheit als Fortschrittsgeschichte erzählt.Zwei Belege: Dass Anreize (»Incentives«) wirken, veranschaulicht Leigh am »Baby Bonus«, den Australien vom 1. Juli 2004 an für jedes Neugeborene auslobte. Und siehe da: An diesem 1. Juli 2004 erreichten die Geburtenzahlen einen nie wieder erreichten Rekord. Warum? Geburten wurden aufgeschoben, Kaiserschnitte verzögert – ein rationales Verhalten, um an das Staatsgeld zu kommen. Es gibt Belege, dass Menschen auch den Zeitpunkt ihres Todes strategisch verzögern, damit die Hinterbliebenen von attraktiveren Erbschaftssteuerregelungen profitieren.
Das zweite Beispiel belegt beweist die geniale Leistung der globalen Arbeitsteilung – und warum Autarkiesehnsüchte teuer und zum Scheitern verurteilt sind. Der Designer Thomas Thwaites hatte sich vor einigen Jahren das heroische Projekt vorgenommen, einen Toaster von Grund auf ausschließlich mit eigener Arbeit und selbst hergestelltem Material zu fertigen. Das funktioniert, dauerte aber neun Monate, was bezogen auf den durchschnittlichen Arbeitslohn einem Preis von gut 20.000 Euro zuzüglich Materialkosten entspricht. Bei Amazon gibt es formschöne Toaster für 20 Euro, die ihren Zweck erfüllen. Thwaites Toaster dagegen schmolz wenige Sekunden nach Inbetriebnahme in sich zusammen.
Was treibt Islamisten?
Ich komme zu meiner zweiten Buchempfehlung. Was sind eigentlich Islamisten? Warum herrscht in vielen Regionen des Nahen Ostens so viel Gewalt und warum gibt es dort so wenig Wohlstand? Das sind naive Fragen, die mir zuletzt nach dem Sturz des Tyrannen Baschar al-Assad Anfang Dezember durch den Kopf gingen, aber natürlich schon seit dem 7. Oktober 2023 die tägliche Zeitungslektüre begleiten.
Die »Geschichte des Islam« von Gudrun Krämer in einer völlig neu bearbeiteten Fassung kommt da gerade recht. Krämer gilt als Deutschlands renommierteste Islamwissenschaftlerin; bis zu ihrem Ruhestand war sie Professorin an der Freien Universität Berlin. Seit langem kritisiert sie, dass die Deutschen ein einseitig negatives Bild vom Islam haben. Gerade Syrien blickt auf eine lange Geschichte des Zusammenlebens von Religionen zurück, mit Höhen und Tiefen.
Das Buch von Krämer habe ich von hinten nach vorne gelesen, also vom 20. Jahrhundert zurück bis in die Zeit des Religionsgründers Muhammad im 7. Jahrhundert. Islamismus ist in dieser langen Geschichte ein relativ junges Phänomen: Islamisten treten als Verteidiger »des Eigenen« auf gegen »das Fremde«, wofür ganz pauschal »der Westen« steht. Dieser Westen wiederum hatte seit dem Imperialismus des 19. Jahrhunderts aus einer Haltung zivilisatorischer Überlegenheit, Sendungsbewusstsein, Rassismus und Sozialdarwinismus sich weltweit seine kolonialen Einflusssphären gesichert. Und damit den geographisch riesigen Raum des osmanischen Reiches radikal verändert, das seit 1500 mit einer florierenden Wirtschaft, einer wachsenden Bevölkerung und einer relativ starken Zentralregierung ein mehr oder weniger stabiles Selbstbewusstsein gebildet hatte.
Die Lektüre des gut 1500 Jahre umspannenden Buches von Krämer kontrastiert die täglichen Meldungen von Gewalt, Krieg und Hass aus dem Nahen Osten mit der »long durée« einer großen Kultur. Die Autorin schildert die Geschichte nüchtern und enthält sich moralischer Urteile.
Kreativität verbessern
In meiner dritten Empfehlung geht es um Kreativität. Darunter verstehen die meisten Menschen jemanden, der besonders künstlerisch begabt ist: Maler, Musiker, Künstler. Das ist aber nicht alles, schreibt der Hirnforscher Martin Korte in einem Buch mit dem Titel »Gute Idee«, das er zusammen mit der Journalistin Gaby Miketta geschrieben hat. Kreativität ist zentral für Wachstum, Wohlstand und wirtschaftlichen Fortschritt. Es geht um schnelles Umdenken, intelligente Alternativen finden, aus Fehlern ungewöhnliche Schlüsse ziehen und Altes hinter sich lassen zu können. Die Kraft der »kreativen Zerstörung« ist der Treiber wirtschaftlicher Entwicklung, eine Einsicht, die wir dem österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter verdanken.
Die These des Buches: Kreativität ist keine angeborene Fähigkeit, sondern lässt sich lernen. Die Stärke des Buches: Es erklärt nicht nur, was das Gehirn macht, wenn es kreativ ist. Sondern liefert Kreativitätstechniken für jedermann als Alltagstraining für das Gehirn. Und Strategien, wie Wirtschaft und Gesellschaft kreativer werden können.
Beispiele gefällig? Gruppenarbeit ist gefährlich und birgt die Gefahr von zu viel Konformität. Das ist schlecht für die Kreativität. Deshalb der Aufruf: Arbeite besser allein! Zumindest für den Anfang. Lasse Deine Tagträume zu, damit das Denken freier werden kann. Anschließend kann man sich in einer Gruppe treffen. Dort soll jeder erst einmal seine Ideen vorstellen, ohne dass diese von den anderen zensiert werden. Auch Hierarchien sind für kreative Prozesse eher schädlich. Das klingt auf den ersten Blick nach einem üblichen Ratgeberbuch. Ein Ratgeberbuch ist es schon, aber ein außerordentlich kluges.*Andrew Leigh: The Shortest History of Economics. Old Street Publishing 2024
Gudrun Krämer: Geschichte des Islam. Vollständig überarbeitete Auflage C.H. Beck 2024.
Martin Korte/Gaby Miketta: Gute Idee! In sieben Schritten kreativ denken lernen. DVARainer Hank
13. Januar 2025
GerontokratieSoll es im Wahlrecht eine Altersbeschränkung geben?
Neulich gab es am Abendbrottisch mit Freunden (alle Ü65) eine hitzige Debatte darüber, ob man das Wahlrecht beschränken solle. Die Befürworter vertraten in einem Akt heroischer Selbstentmachtung die Meinung, ältere Menschen seien mit Blick auf ihr näher rückendes Ende nicht mehr so sehr am längerfristigen Überleben der Gattung und des Planeten interessiert. Es müsse ja nicht gleich eine Haltung des »Nach mir die Sintflut« sein, – wenngleich der Philosoph Hans Blumenberg das Wissen um den Abgrund zwischen endlicher Lebenszeit und unendlicher Weltzeit als eine der großen Kränkungen der Menschheit beschrieben hat. Dass diese Kränkung mit zunehmendem Alter näher vor Augen rückt, kann ich nicht bestreiten.
Man sollte das Thema nicht auf die leichte Schulter nehmen und mit »Geht ohnehin nicht« vom Tisch wischen. Vor allem die Argumente der politischen Ökonomie sind triftig. Das sogenannte Rentenpaket der verstorbenen Ampel hatte eine demographische Unwucht, wollte die Rentner finanziell privilegieren und die Jüngeren stärker belasten. Die Älteren stellen eine potente Wählergruppe, auf die alle Parteien schielen, weil es ihnen um Stimmenmaximierung geht. Von den 61 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland sind 23 Millionen Rentner, das sind bald 40 Prozent. Noch haben sie nicht die Mehrheit. Wenn es so weiter geht mit einer rückläufigen Geburtenrate und langlebiger Fitness der Älteren, dann kippt die Geschichte irgendwann in den 2050er Jahren. Schon 2030 werden die Älteren boomerbedingt 45 Prozent des Wahlvolkes stellen.
Ein Einwand gegen die simple Logik der politischen Ökonomie lautet, die Menschen seien gar nicht so egoistisch nutzenorientiert, wie es ihnen nachgesagt werde. Schließlich beweisen die »Omas for Future« (Opas sieht man da weniger), dass auch den Älteren der Klimawandel nicht einfach schnuppe (hätte man früher gesagt) ist und die »Last Generation« keinen Exklusivanspruch auf den ethischen Longtermism hat. Schaut man sich freilich die politischen Präferenzen der Älteren bei der aktuellen Sonntagsfrage an, so wählen die in dieser Reihenfolge die Union, die SPD und die AfD. Die Grünen (und die FDP) rangieren unter »ferner liefen«. Einen gewissen interessengetriebenen Egoismus könnte man daraus schon ablesen, wenn eine Partei wie die Grünen, die sich Zukunft, Umwelt und Klima auf die Fahnen geschrieben hat, so wenig Unterstützung findet; es kann nicht nur an Robert Habeck und der vergeigten Wärmepumpe liegen.
One man one vote
Auch die Gegenargumente sind gewichtig. Der Grundsatz »One man one vote« ist eine demokratische Errungenschaft. Das Wahlrecht soll weder von der sozialen noch der ökonomischen oder politischen Stellung des Wählers abhängig sein. Das kommt einem heute selbstverständlich vor. Doch hat bekanntlich das demokratische Musterland Schweiz das Frauenwahlrecht erst in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eingeführt (mit einer Mehrheit der Männer). Und dafür, dass Schwarze wählen können, bedurfte es in den USA in den sechziger Jahren mehrerer Grundsatzurteile des obersten Gerichts.
Soll es nun tatsächlich, nachdem die soziale, rassische und Geschlechtergleichheit in den meisten Demokratien durchgesetzt wurde, eine Altersdiskriminierung beim aktiven Wahlrecht geben? Mit gleichem Recht könnte man auch eine Bildungsdiskriminierung einführen: Die klugen Alten dürfen wählen, die Dooferen unter ihnen eher nicht. Das zeigt, dass solche Ausnahmen des One-Man-Grundsatzes extrem ideologie- und politikanfällig wären. Besser ist es, was vielfach auch geschieht, das Eintrittsalter im Wahlrecht zu verjüngen. Ich durfte erst mit 21 an die Wahlurne gehen, weil man damals erst mit 21 volljährig wurde. Inzwischen traut man den Jüngeren schon mit 18 eine ausgewogene Wahlentscheidung zu. Und in der EU – vielleicht, weil es da nicht so drauf ankommt – sogar mit 16. Es wird schon gut sein, dass es nirgends in der Welt ein Höchstalter für Wähler gibt. Mit einer Ausnahme übrigens: Römisch-katholische Kardinäle verlieren mit 80 Jahren das Recht, den Papst zu wählen. Ist die Kirche ausnahmsweise einmal ihrer Zeit voraus?
Wie ist es mit dem passiven Wahlrecht? Sollte es ein Höchstalter für Regierungschefs und Staatspräsidenten geben. Die Angst vor einer Gerontokratie wurde zuletzt diskutiert, als es so aussah, als würde in den USA ein 76jähriger Trump gegen den 81jährigen Biden antreten. Der Wechsel zu Kamala Harris, 60, lieferte dann den Beweis dafür, dass die Bürger bei Wahlen nicht automatisch jüngere Frauen bevorzugen.
Auch beim aktiven Wahlrecht sollten man sich die Sache nicht zu einfach machen. Schließlich gibt es für viele Berufe Altersbegrenzungen. Piloten mussten bei der Lufthansa mit 60 Jahren ihren Dienst quittieren, bis das oberste europäische Gericht diese Regelung kippte. Viele Länder legen für Feuerwehrleute oder Polizisten ein Höchstalter fest. Amerikaner müssen die Armee verlassen, bevor sie 64 werden. Auch in vielen Wirtschaftsunternehmen werden die CEOs mit 60 Jahren genötigt, den Platz für Jüngere freimachen, dürfen allenfalls auf ein Gnadenbrot als Aufsichtsratsvorsitzender hoffen.
Fahren darf man nicht, wählen schon
Ob jemand auf den Straßen noch fahrtüchtig ist, muss vielfach von einem bestimmten Alter an durch regelmäßige Fahrprüfungen nachgewiesen werden. Ob jemand mit 76 noch präsidententüchtig ist, scheint keines Nachweises zu bedürfen. Das durchschnittliche Alter der Staats- und Regierungschef ist in den letzten fünf Dekaden von 55 auf 62 Jahre gestiegen. Für den Zugang zur Spitze des Staates gibt es dagegen hohe Hürden: Bundespräsident kann man in Deutschland frühestens mit 40 werden; in Italien sogar erst mit 50 Jahren. Emmanuel Macron, Jahrgang 1977, müsste dort noch gut zwei Jahre warten, bis er Präsident werden kann. Es sei denn, er macht es wie der gerade vertriebene syrische Machthaber Assad, der kurzerhand das Wahlalter von 40 auf 34 Jahre, herabgesetzt hat, und wählbar zu werden. Bei Eintritt ins Amt wird Reife und Lebenserfahrung verlangt. Altersstarrsinn und nachlassende geistige Präsenz scheinen dagegen kein Hindernis zu sein, große Staaten zu regieren.
Doch auch beim passiven Wahlrecht käme man mit Altersbeschränkungen in Teufels Küche. Es gibt wackelige 60jährige und absolut toughe Achtzigjährige; Konrad Adenauer wird hierzulande immer als Beweis genannt. Es gehört zur demokratischen Freiheit, dass die Wähler entscheiden, was sie älteren Bewerbern zutrauen. Einen »Trost« präsentiert der »Economist«: Auch wenn das Durchschnittsalter der politischen Führer insgesamt steigt, geht das Alter demokratischer Staatslenker zurück, zumindest ein wenig. Das könnte mehr werden, wenn mehr Frauen wie Giorgia Meloni (48) an die Macht kommen: Alice Weidel (45) oder Sahra Wagenknecht (55) zum Beispiel. Aber dann ist’s natürlich auch wieder nicht recht.
Rainer Hank
13. Januar 2025
Gottes HungerlohnEine Verneigung vor den Arbeitern in Notre-Dame
Dieses Wochenende bietet die Chance, die populäre Reichenkritik einmal anders zu parieren als üblich. Mehr als 800 Millionen Euro wurden binnen kurzer Zeit weltweit von privaten Spendern und Unternehmen zum Wiederaufbau von Notre-Dame in Paris nach dem großen Brand von 2019 aufgebracht. Unter den Großspendern befinden sich der Luxuskonzern LVMH oder der Kosmetikkonzern L’Oréal mit der Familie Bettencourt und ihren Stiftungen.
Gut, dass wir solche Milliardäre haben. Sie entlasten die normal verdienenden Bürger. Ohne ihre Millionenspenden hätte der französische Staat den Wiederaufbau des sakralen Bauwerks aus Steuermitteln finanzieren oder die Staatsverschuldung um eine Milliarde Euro vergrößern müssen. Hardcore-Liberale würden sagen, es sei nicht Aufgabe von Unternehmern, die einen Kirchenbau zu alimentieren, sie sollten ihr Geld lieber in gute Geschäftsideen investieren. Hardcore-Marxisten machen ein ähnliches Argument, wenn sie sagen, das Spendengeld hätten die Fabrikanten zuvor ihren Arbeitern abgepresst, um sich jetzt im Glanze ihrer Großzügigkeit einen Platz in der ersten Bankreihe bei den Eröffnungsfeierlichkeiten zu sichern. Beide Argumente sind nicht ohne; gleichwohl will ich sie hier übergehen.
Stattdessen soll diese Kolumne zu einer Verneigung werden vor den einfachen Menschen des Mittelalters (nicht nur den direkt am Bau beteiligten Arbeitern und Handwerkern), ohne die es Notre-Dame nie gegeben hätte. Einer von vielen Unterschieden zwischen heute und damals besteht darin, dass die Beschäftigten von L’Oreal und LVMH keinen oder zumindest vernachlässigbaren Lohnverzicht leisten müssen als Folge der Großspenden. Das war im Mittelalter anders: Technologische Produktivitätsgewinne wurden der Bevölkerung vorenthalten – um ihnen Heilsgewinne und dem Klerus Prestigegewinne zu sichern. Finanziert wurden Klöster und Kirchen auch damals schon teilweise von freiwilligen Stiftern. Aber ein Großteil stammte aus dem Steueraufkommen der ländlichen Bevölkerung.
Haben die Bischöfe die Felsbrocken geschleppt?
Wir kommen damit auf Bertold Brechts für unsere Zwecke leicht abgewandelte »Fragen eines lesenden Arbeiters« zurück: »Wer baute die große Kathedrale von Paris? In den Büchern stehen die Namen von Bischöfen und Kardinälen. Haben die Bischöfe die Felsbrocken herbeigeschleppt?« Grobschätzungen gehen davon aus, dass die in der Zeit von 1163 bis 1345 erbaute Kirche mehrere Hunderttausend Livres gekostet hat. Zum Vergleich: Ein Handwerker verdiente damals etwa zwei bis drei Livres im Jahr; ein Ritter hatte ein Jahreseinkommen von hundert Livres.
Zur Zeit des Baus von Notre-Dame gab es einen großen europaweiten Wettbewerb, welche Stadt die größte und schönste Kathedrale errichtet. Daron Acemoglu, der Ökonomienobelpreisträger des Jahres 2024, spricht in seinem jüngsten Buch »Power and Progress« von einem spektakulären Sakralbauboom im hohen Mittelalter: In 26 Städten wurden gleichzeitig große und prächtige Kathedralen gebaut; über 8000 neue Kirchen waren in Planung (1472 davon allein in Paris zwischen 1100 und 1250). Hinzu kommt eine explodierende Anzahl neuer Klöster. Das verschlang nicht nur Unsummen an Geld, mit dem man auch profane Bauten hätte errichten können. Man benötigte zudem Tausende Baumeister, hoch spezialisierte Handwerker und einfache Arbeiter etwa zum Transport von Steinen, die oft aus weit entfernten Steinbrüchen stammten. Acemoglu schätzt, dass etwa 20 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung der damaligen Zeit in das religiöse Baugewerbe floss. Und damit einem möglichen andernfalls wachsenden Wohlstand der Bevölkerung vorenthalten wurde. Oder genauer: Es verhinderte, dass die Menschen ein bisschen weniger bitter arm gewesen wären als sie es waren.
Schon damals gab es nicht nur soziale Kritik (und vereinzelt auch Revolten), sondern auch religiöse Missbilligung der Pracht. »Kritiker sagen, die Feier der Heiligen Eucharistie bedürfe lediglich einer gläubigen Seele, eines reinen Geistes und einer andächtigen Haltung«, schreibt Abt Suger von Saint Denis (bei Paris). Der Abt verwirft die Kritik nicht, er unterläuft sie stattdessen dialektisch: »Wir stimmen völlig zu, dass die Haltung der inneren Frömmigkeit das Wichtigste ist. Aber wir glauben zugleich, dass große Pracht und heilige Kelche für unseren Gottesdienst genauso wichtig sind, damit innere Reinheit und äußere Nobilität einander entsprechen.«
Der Preis dafür ist hoch. Es ist ja nicht so, dass das Mittelalter nur dunkel und ohne kreative, die Produktivität verbessernde Erfindungen gewesen wäre. Vor allem Wassermühlen und ihre Markteinführung in großem Stil bewirkten einen großen wirtschaftlichen Schub. Doch sind Produktivitätsgewinne eben nicht automatisch auch Wohlstandsgewinne für die Menschen. Es kommt darauf an, wer die Macht hat, darüber zu befinden, wie diese Gewinne verteilt werden. Explizit bezweifelt der Ökonom Acemoglu im Übrigen das Malthussche Gesetz, wonach Produktivitätsfortschritte von höheren Geburtenraten wieder aufgefressen worden wären, so als ob die Armen selbst an ihrer stabilen Armut schuld gewesen wären.
Religiöse Produktivität
Warum haben die Arbeiter sich in ihr Los gefügt und längere Arbeitsstunden, weniger Konsum und schrumpfenden Wohlstand trotz steigender Produktivität akzeptiert? Acemoglu ist der Meinung, das sei dem Zwang wirtschaftlicher und religiöser Macht geschuldet. Wirtschaftlich waren die kirchlichen Arbeitgeber selbst in Zeiten von Knappheit des Arbeitsangebots nicht genötigt, höhere Löhne zu zahlen – so lange der Klerus die Macht hatten, die Arbeiter zu mehr Arbeitsstunden bei gleichen oder schlechteren Löhnen zu zwingen. Religiös stand jeglicher Zweifel oder gar Widerstand gegen die Kirche unter der Drohung der Exkommunikation, welche mit den schrecklichsten Höllenstrafen verbunden ist. Zwang und Drohung verfehlten ihre Wirkung nicht.
Gleichwohl bin ich nicht überzeugt. Acemoglu kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass es einen positiv-intrinsischen Wert von Religion gibt. Er mag sich nicht glauben, dass es für Arbeiter am Bau der Kathedrale Notre-Dame auch eine Ehre sein konnte, an diesem großen Werk mitzuarbeiten. Und dass sie darauf hofften, dass ihre Gott wohlgefällige Arbeit ihnen im Himmel einmal vergolten wird. Ökonomen, die in Kategorien von Kosten und Nutzen denken, müssten für diesen theologischen Gedanken eigentlich offen sein. Wer aber wie Acemoglu offenkundig keinen Sinn für den Eigenwert religiöser Erfahrung (auch von »einfachen« Leuten) hat, kann die Geschichte nur als Unterdrückungsgeschichte der Armen durch den Klerus lesen.
Wir Heutigen, die wir an diesem Wochenende die Wiedereinweihung der Kathedrale erleben (meist am Bildschirm) sind denen zu Dank verpflichtet, die damals dieses wunderbare Bauwerk errichtet haben – und verneigen uns vor ihrem Glauben.
Rainer Hank