Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
15. November 2024Zwangsarbeit
05. November 2024Totaler Irrsinn
18. Oktober 2024Arme Männer
14. Oktober 2024Christlicher Patriotismus
08. Oktober 2024Im Paradies der Damen
28. September 2024Von der Freiheit träumen
28. September 2024Reagan hätte nie für Trump gestimmt
10. September 2024Das Ende der Ampel
27. August 2024Streit ist das Wesen der Demokratie
27. August 2024Lauter Vizepräsidentinnen
14. August 2024
Wie umgehen mit Populisten?Im Zwispalt zwischen elektroaler und liberaler Demokratie
Ampel-Regierung und Unionsopposition haben sich darauf geeinigt, das Bundesverfassungsgericht vor einem Angriff von Autokraten und Populisten zu schützen. Das wurde in der Öffentlichkeit ziemlich unisono als Stärkung der Demokratie kommentiert und als Vorsorge für den Fall, dass sich die politischen Mehrheitsverhältnisse in Deutschland ändern sollten – im Klartext: dass die AfD bei den kommenden Wahlen weiter an Stimmen zulegen könnte.
Zweierlei fällt auf: Das Verfassungsgericht galt bislang als Bollwerk gegen die Versuchung von Politikern, mit ihren Mehrheiten zu machen, was ihnen in den Kram passt. Auch Demokraten sind nicht frei. Man denke an das Urteil zur Schuldenbremse, das die Verfassung durchgesetzt hat gegen Minister und Ökonomen, die das Urteil als juristische Knebelung der Demokratie ansehen. Und genauso ist es auch gemeint. Wenn das Verfassungsgericht solche Macht hat – warum muss es dann gestärkt werden? Womöglich ist der vorwegnehmende Akt in Wirklichkeit ein Ausdruck von Schwäche?
Gravierender noch ist zweitens die Paradoxie, wonach es eine Stärkung der Demokratie sein soll, wenn eine Institution vor geänderten Mehrheitsverhältnissen – mithin vor der Demokratie – geschützt wird. Demokraten haben Angst vor demokratischen Wahlergebnissen, die dazu führen könnten, dass sie entmachtet werden. Ist Entmachtungschance nicht das Wesen der Demokratie?
In Wirklichkeit geht es nicht um eine Stärkung der Demokratie, sondern um ihre Disziplinierung. Populisten sollen weniger Schaden anrichten können. Für die Befürchtung, dass sie das könnten, gibt es Gründe. Unredlich und unlogisch ist es, sich auf die Demokratie zu berufen. Denn vor der haben Ampel und Unionsopposition doch gerade Angst.
Der Liberalismus hat viele Feinde
Wenn es nicht um die Stärkung der Demokratie geht, sondern ihre Disziplinierung – man kann auch sagen ihre Schwächung –, worum geht es dann? Es geht um die Stärkung der Freiheit, also um Liberalität. Freiheit und Demokratie sind keine Synonyme, auch wenn das angesichts der ideologischen Überhöhung der Demokratie (als das Gute, Wahre, Schöne und Hochwertige) vielfach behauptet wird. Der Liberalismus hat viele Feinde, die Demokratie zählt dazu: Wenn das Volk mit Mehrheit entscheidet, kann die Freiheit (nicht nur die der unterlegenen Minderheit) auf der Strecke bleiben. Man muss sich also schon entscheiden, was man als obersten Wert ansieht: Freiheit und Liberalismus oder Mehrheitsprinzip und Demokratie. Ich wüsste, wofür ich mich entschiede, und will das heute aus der Ideengeschichte des Liberalismus heraus begründen.
Liberalismus setzt sich ein für eine Gesellschaft, in welcher niemand Angst haben muss. »Abwesenheit von Angst«, sagt die amerikanische Philosophin Judith Shklar (1928 bis 1992), ist die fundamentalste Freiheit, die es gibt. Wer Angst hat, ist nicht frei. Despoten pflegen ihre Untertanen zu ängstigen. Wenn sie sich dabei auf Gott berufen, umso schlimmer. Denn Religion kann Menschen in große Angst versetzen. Insofern hat sich der philosophische Liberalismus seit der Aufklärung gegen Machtanmaßungen des Staates zur Wehr gesetzt, einerlei, wie theokratisch oder säkular er sich legitimiert. Später ging es dann darum, die Freiheit gegen die Verlockungen von Revolution und Reaktion zu sichern, also gegen links wie rechts. Folgenschwer wurde ein innerliberales Schisma, zu dem es Ende des 19. Jahrhunderts gekommen ist: Während die »fortschrittlichen« Liberalen die Armut der Arbeiter als größte Bedrohung der Freiheit ansahen und vom Staat für sie sozialen Ausgleich forderten, war für die »klassisch« Liberalen diese Staatsgläubigkeit bereits der erste Schritt in Richtung Sozialismus. Seither stehen sich Linksliberale (»Liberal«) und klassisch Liberale (»Libertarian«) gegenüber.
Der Liberalismus gründete von Anfang an auf drei Säulen: auf politischer Freiheit, wirtschaftlicher Freiheit und auf eine Ethik der Freiheit. So kann man es in der Geschichte des Liberalismus nachlesen, die der britische Ideenhistoriker Alan S. Kahan gerade vorgelegt hat (»Freedom from Fear. An Incomplete History of Liberalism.« Princeton University Press). Politische Freiheitsrechte der Bürger müssen ergänzt werden durch wirtschaftliche Freiheit, die Eigentumsrechte und Verträge zwischen Marktteilnehmern sichert. Umstritten war stets, ob politische und wirtschaftliche Freiheiten durch ein ethisches Wertesystem ergänzt werden sollten, oder ob dies bereits ein ideologischer Übergriff wäre.
Den Staat vom Einfluss der Massen befreien
Dass die Demokratie die Freiheit bedroht, war den Liberalen (etwas bei Tocqueville oder J.S. Mill) stets bewusst. Besonders prominent kam die Gefahr den deutschen Ordo- oder Neoliberalen der »Freiburger Schule« in den Blick. »Der Staat muss die Stärke haben, sich selbst vom Einfluss der Massen zu befreien«, heißt es bei Walter Eucken. Der elitäre, antidemokratische Ton ist nicht zu überhören. Kein Wunder, dass Populisten aller Zeiten den Liberalismus (und nicht die Demokratie) als ihren Hauptfeind identifizierten. Mit der Demokratie haben sie weniger Probleme (Viktor Orbans »illiberale Demokratie«), mit dem Sozialismus auch nicht, blickt man auf die sozialpolitischen Programme von AfD oder BSW (»Bündnis Sahra Wagenknecht«).
Im Kampf gegen den Populismus geht darum, wie und woher der Liberalismus wieder neue Überzeugungskraft gewinnen kann. Naheliegend, aber nicht ungefährlich ist der rechtsstaatliche Weg, immer mehr Institutionen vor Mehrheitsentscheidungen abzuschotten. Der Vorwurf der Populisten, damit wollten die Herrschenden vor allem ihre Macht sichern, ist nicht von der Hand zu weisen. Im Namen der Freiheit demokratische Freiheiten einzuschränken, ist heikel. Ohnehin wird das die Populisten nicht daran hindern, liberale Institutionen (Gerichte, unabhängige Notenbank, freie Presse) zu schwächen, wenn sie an der Macht sind. Nicht minder problematisch ist der Vorschlag, der Liberalismus müsse seine ethischen oder gar religiösen Grundlagen stärken, um die Populisten mit einem freiheitlichen Sinnangebot zu schlagen. Auch die Populisten bedienen sich der Religion als Legitimationsinstanz: Putin hat seine Popen, Maduro und Trump haben ihre evangelikalen Charismatiker. Ideologische Charismatik ist nicht die Stärke des liberalen Bekenntnisses. Zum Glück.
Populismus ist eine demokratische Reaktion gegen den liberalen Legalismus. Der Liberalismus kann nicht mehr tun als für Freiheit zu werben gegen alle totalitären Ansprüche von Staaten, Partien und Religionen. Zur rechten Balance braucht es rechtsstaatliche Institutionen, die die Bürger vor paternalistischer, sozialistischer oder völkischer Hybris von Demokraten schützen.
Rainer Hank
14. August 2024
Pro und Contra WehrpflichtLasst das den Markt machen!
Deutschland soll »wehrfähig« oder gar »kriegstüchtig« werden. Das ist die bittere, aber notwendige Konsequenz der »Zeitenwende« nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. Dass wir, Kinder des Kalten Kriegs, uns so etwas nicht vorstellen konnten und wir die damit verbundenen Debatten nur widerwillig führen, schert die Wirklichkeit nicht.
Wie halte ich, Kriegsdienstverweigerer und »Zivi« des Jahres 1974, es mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht? Eine Mehrheit der Deutschen sei dafür, lese ich. Aber mit diesem Meinungsbild kann man wenig anfangen: Denn es sind die Älteren, die sich für eine Wehrpflicht aussprechen, aber selbst gar nicht betroffen wären. Auf Kosten der Jüngeren lassen sich leicht die Backen aufblasen. Die Jüngeren indes, die vom Kriegsdienst betroffen wären, sind mehrheitlich dagegen.
Es geht um drei Themen. Die Bundeswehr hat ein Personalproblem. Nach der gegenwärtigen Bewertung der Aufgaben Deutschlands im atlantischen Bündnis, so Verteidigungsminister Boris Pistorius, wären 420.000 Frauen und Männer in den Streitkräften nötig. Derzeit gibt es aber nur 180.000 Soldatinnen und 60.000 Reservisten. Es fehlen also 180.00 Männer (und Frauen?). Zweitens geht es um bessere Resilienz Deutschlands gegen Terror, Cyberangriffe von Islamisten und weitere realistische Schrecklichkeiten. Drittens wird über eine Überwindung der von vielen beklagten Spaltung der Gesellschaft diskutiert, die ein Dienst an der Gesellschaft (zivil oder mit Waffen) leisten soll. Die Armee als »Schule der Nation« und der Sozialdienst als Einübung von Solidarität: »Haben Sie gedient?« soll wieder zu einer Frage der Ehre werden.Die Antworten der Politiker sind gespalten. Pistorius von der SPD, derzeit der Liebling aller Meinungsumfragen, schlägt einen Grundwehrdienst von sechs Monaten für eine Auswahl wehrpflichtiger Jahrgänge vor. Dazu soll es eine verpflichtende Erfassung geben, in der junge Männer ihre Bereitschaft und Fähigkeit zu einem Wehrdienst benennen müssen und junge Frauen dies tun können. Pistorius will also ein Mischmodell aus verpflichtend abgegebenen Daten und freiwilligem Dienst für junge Männer. Völlig freiwillig dagegen soll es für junge Frauen sein. Eine solche Diskriminierung fühlt sich in dieser woken Zeit merkwürdig an, folgt aber dem Grundgesetz, das davon ausgeht: Männer kämpfen, Frauen kochen und kriegen Kinder. Dabei ist noch gar nicht ausgemacht, wer eigentlich (negativ) diskriminiert wird: Männer, weil sie im Verteidigungsfall gezogen werden oder Frauen, weil man ihnen den Kampfesmut abspricht.
Die Union geht einen Schritt weiter als der SPD-Mann Pistorius und tendiert dazu, ein verpflichtendes Dienstjahr von allen jungen Leuten zu fordern, welches sie in der Armee oder in zivilen Institutionen ableisten können. Das ist konsequent aus konservativem Geist gedacht (»Dienst am Gemeinwohl«), weshalb es in der Union inzwischen als Sündenfall gilt, dass ausgerechnet unter Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, einem CSU-Mann, im Jahr 2011 die Wehrpflicht ausgesetzt wurde.
Hohe volkswirtschaftsliche Kosten
Die Grünen, eher zurückhaltend, die FDP, eher forsch, können den Ideen der politischen Wettbewerber nicht viel abgewinnen. Eine Wehr- oder Dienstpflicht halten sie aus Gründen der Ökonomie und der Gerechtigkeit für nicht für wünschenswert. Die ökonomischen Gründe übernimmt die FDP aus einer aktuellen Studie des Ifo-Instituts. Demnach würde eine Wiedereinführung der Wehrpflicht volkswirtschaftliche Kosten in Milliardenhöhe verursachen. Das liegt daran, dass die Wehrpflichtigen erst später mit dem Aufbau von Humankapital beginnen, schlechter bezahlt werden und in Folge davon ihr Vermögensaufbau erschwert würde. Sollte ein gesamter Jahrgang eingezogen werden, wäre ein Rückgang der Wirtschaftsleistung um knapp 70 Milliarden Euro (1,6 Prozent des Bruttonationaleinkommens) zu befürchten. Das Ifo-Argument ist triftig, wird freilich von Pistorius mit dem naheliegenden »Totschlagargument« gekontert, dass ein Scheitern der Abschreckung – also ein Krieg – humanitär, aber auch volkswirtschaftlich noch viel teurer wäre als die Wiedereinführung eines Wehrdienstes. Gerecht ist ein Wehr- und Zivildienst nicht: Es sind immer nur wenige, die mit ihrem Körper für die Verteidigung des Landes einstehen. Sie werden zu einem höheren Risiko verpflichtet, während jene, die nicht dienen, in dieser Zeit mit geringerem Risiko besser verdienen.
Ökonomen und Verteidigungsexperten plädieren für einen Marktlösung als Alternative zu einer Pflicht- mithin Zwangslösung. Die Debatte um eine Wehrpflicht habe Ablenkungsfunktion, so die Sicherheitsexperten Claudia Major. Der Bundeswehr fehle nicht nur Masse, sondern auch technische Expertise (Cyberexperten), weil sie auf dem Markt nicht konkurrenzfähig sei. Die Wehrpflichtdebatte lenke von anderen Missständen ab, von veralteter Ausrüstung bis zur Unternehmenskultur, so Frau Major. Daraus folgt: Die Armee muss für junge Menschen attraktiver werden, die sich dafür freiwillig melden. Das geht nur, wenn der »Sold« den am Markt gezahlten Preisen für entsprechende Qualifikationen gleichkommt oder ihn gar übertrifft. Das höhere Risiko für Leib und Leben könnte einen Aufpreis gegenüber den Gehältern in der zivilen Wirtschaft rechtfertigen, denke ich. Wie hoch dieser Aufpreis ist, weiß man im Vorhinein nicht. Er stellt sich im Wettbewerb heraus.
Solche Anreize würden dann eben auch garantieren, dass Leistung, Qualifikationen und komparative Vorteile zählen, allemal bessere Lösungen als als junge Leute zu ziehen, die übergelaunt und wenig qualifiziert beim Bund gammeln. Fraglos würde die Marktlösung ebenfalls hohe Kosten verursachen, womöglich sogar höhere als die Dienstpflicht. Aber es ginge dabei gerechter zu: Denn nun müsste die Allgemeinheit der Steuerbürger unter Beweis stellen, dass und wieviel ihnen die Verteidigungsbereitschaft oder »Kriegstüchtigkeit« des Landes wert ist. Pekuniäre Anreize und institutioneller Wandel der Armee statt Zwang, Arbeitsteilung statt Naturalsteuer: Es sollen diejenigen zum Zuge kommen, die es wollen und es am besten können. Die anderen sollen dafür bezahlen.
So spricht am Ende vieles für das Marktmodell der FDP. Ob auf diese Weise ausreichend Freiwillige (und spätere Reservisten) zusammenkommen, wird von Pistorius und Teilen der Militärwissenschaft bezweifelt. Ob sie recht haben, wissen wir nicht. Es wäre kein gutes Zeichen, könnte aber schon sein. Dann bleibt immer noch der Zwang als ultima ratio. Ein liberales Land muss auch in Zeiten der Bedrohung auf Freiheit und Freiwilligkeit setzen. Pflicht – und sei es nur die Registrierungsplicht – ist und bleibt allemal die schlechtere Lösung.Rainer Hank
02. August 2024
Nicht tot zu kriegenWarum Ökonomen an die Religion glauben
Süddeutschland war einmal ein katholisches Land. Von religiöser Pracht zeugen die barocken Klöster und Kirchen bis heute. Dazu gehörten geistliche Besitztümer mit Landwirtschaft, Handwerk und Industrie (Brauereien), die den frommen Eigentümern ein beachtliches Einkommen bescherten, was wiederum die Voraussetzung war, Bibliotheken zu unterhalten, Messen zu komponieren und Architekten oder Stuckateure aus der ganzen Welt beschäftigen.
Das alles hatte sein jähes Ende im Jahr 1803, als die meisten geistlichen Fürstentümer durch den sogenannten Reichsdeputationshauptschluss säkularisiert wurden und die Besitztümer den weltlichen Territorialherren zugesprochen wurden als Entschädigung für die von Napoleon enteigneten linksrheinischen Gebiete. Profiteure in Süddeutschland waren zum Beispiel der Markgraf von Baden, der Kurfürst von Bayern oder der Herzog von Württemberg. Die katholische Kirche verlor ihre weltliche Macht. Mönche wurden arbeitslos, Wallfahrtsorte erlebten einen spirituellen und wirtschaftlichen Niedergang, von Klöstern abhängige Handwerker und Künstler fielen in Armut.
Ein schwerer Schlag, von dem die katholische Kirche Deutschlands sich nicht wieder erholen würde, – sollte man denken. Doch schon Mitte des 19. Jahrhunderts boomte die Religion. Neu gegründete oder wieder in Betrieb genommene Klöster engagierten sich in der Krankenpflege, in Altenheimen, der Seelsorge und der Schulbildung. Die Kirche fand neue Einnahmequellen (Internate zum Beispiel) als Kompensation für die enteigneten geistlichen Besitztümer. Zwischen 1850 und 1950 erlebte der deutsche Katholizismus eine seiner größten Blüten in der Kirchengeschichte.
Zufall? Nein, so lese ich es in einem faszinierenden Buch des britischen Ökonomen Paul Seabright, der an der Universität Toulouse lehrt. »The Divine Economoy« heißt das Buch. Die These: Religionen sind nicht tot zu kriegen. Der Forscher schreibt sine ira et studio; er argumentiert weder als Religionskritiker noch als Anwalt der Kirchen, sondern strikt als Wirtschaftswissenschaftler.
Religion funktioniert wie eine Plattform – nur besser
Weder Säkularisation (die Enteignung der kirchlichen Machtbasis), noch Säkularisierung (die Entzauberung einer Welt mittels philosophischer Aufklärung und Naturwissenschaft) haben es geschafft, der Religion den Garaus zu machen. Das liegt, ökonomisch gesprochen, an der Innovations- und Anpassungsfähigkeit der Kirchen, die all jene übersehen, die Religion als ein archaisches Relikt betrachten. Der Blick auf Europa und die Missbrauchspraxis der christlichen Kirchen trübt zudem den Blick. Zwar erleben Katholizismus und Protestantismus in Europa (mit Ausnahme Polens) tatsächlich einen dramatischen Niedergang. Dieser wird indessen zahlenmäßig überkompensiert durch den Zulauf, den die katholische Kirche in Afrika erlebt und die Evangelikalen und Pfingstkirchen in Südamerika oder in China. Ganz zu schweigen von der Attraktivität, die der Islam zwischen Indonesien und dem Maghreb auf die Menschen ausübt oder der staatlich geförderte Hinduismus in Indien. Das religiöse Geschäftsmodell ist robust und resilient.
Wie funktioniert der religiöse Markt? Seabright startet seine Studie mit der Geschichte von Grace, einer vierundzwanzigjährigen jungen Frau in Accra (Ghana). Sie verdient ihr Geld – täglich eineinhalb Dollar – mit dem Verkauf von Trinkwasser an einer Straßenkreuzung. Zehn Prozent davon (zuzüglich weiterer Spenden) führt Grace an ihre protestantische Gemeinde ab, was bedeutet, dass sie sich wichtige medizinische Behandlungen für ihr Tante nicht mehr leisten kann, mit der sie in einer kleinen Wohnung in einem Slum zusammenlebt. Der Pastor der Gemeinde ist ostentativ reich. Er fährt einen Mercedes und trägt einen Gürtel mit einem überdimensionierten Dollarzeichen.
Grace ist weder hörig noch unemanzipiert, noch handelt sie irrational. Sie geht gerne in die Kirche. Dort trifft sie Gleichgesinnte, mit denen sie beten, singen, essen und reden kann. Sie teilen die gleichen Werte und Rituale. Grace hofft, dass sie irgendwann einmal in der Gemeinde den Mann fürs Leben finden wird. Dort fühlt sie sich sicher, keinem Hochstapler oder Halunken auf den Leim zu gehen. Dort weiß der Mann, dass es sich gehört, am Sonntagmorgen gutgekleidet und pünktlich beim Gottesdienst zu sein. Und dass man seine Frau und seine Kinder anständig behandelt.Die Geschichte klingt romantisch, verklärt aber nichts. Nüchtern beschreibt der Ökonom die Angebotsseite der Religion als eine »Plattform«, die Menschen zum gegenseitigen Nutzen zusammenbringt. Die Kirche erfüllt dieselbe Funktion wie Tinder, aber sie leistet zugleich mehr: geschaffen wird ein Raum sozialer Zugehörigkeit. Die Gläubigen sind nicht nur »Konsumenten« auf der Plattform, die vom kirchlichen Angebot profitieren. Sie sind aktiv an der Herstellung und Weitergabe dieses Angebots beteiligt. Und sie zahlen für ein Gut, zu dem nur die Mitglieder der Kirche Zugang haben.
Theologie ist weniger wichtig
Mich überzeugt diese ökonomische Beschreibung der Religion. Der Inhalt des Glaubens, gar die theologische Lehre, ist zweitrangig, häufig sogar eher ein »Marketingnachteil«. Zwar sagen 31 Prozent der amerikanischen Katholiken, sie glauben an die Lehre der »Transsubstantiation«. Doch niemand verlangt von ihnen, dass sie sagen können, dass und wie die Hostie sich im Drama der Heiligen Messe in den Leib Christi wandelt. Die Beschlüsse der Konzilien der alten Kirche über die knifflige Beziehung zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist in der Trinität brauchen auch die meisten heutigen Theologen nicht mehr zu verstehen. Der Marketingnachteil wandelt sich gleichwohl in einen Vorteil der Zugehörigkeit und der Abgrenzung: Wir, die wir hier zusammenkommen, glauben Sachen, die unsre Umwelt nicht teilt. Viel überzeugender als theologische Glaubensinhalte sind ohnehin eher die packenden Erzählungen von Weihnachten, Exodus oder Kreuzigung. Zudem brauche es ein kirchliches Personal, das diese Erzählungen im Gottesdienst lebendig vorzutragen versteht.
Lässt sich aus der politischen Ökonomie der Religionen eine Lehre ziehen, wie die christlichen Kirchen Europas wieder auf die Beine kommen? Eher nein. Die religiöse Plattform lebt mehr als die säkularen Plattformen vom Vertrauen der Nachfrager in das Personal der Plattform. Ist dieses erst einmal zerstört, kommt es nicht so schnell wieder zurück. Die enge politische und fiskalische Bindung der christlichen Kirchen an den deutschen Staat samt vieler Privilegien helfen auch nichts. Im Gegenteil. Durch den Staat gestützte, quasi monopolistische kirchliche Macht macht träge – wie alle geliehene Macht. Da geht es den hiesigen Kirchen nicht anders als dem von Uber attackierten Taxigewerbe. Mehr und nicht weniger Wettbewerb, eine radikale Trennung vom Staatskirchenrecht, wäre die Empfehlung des Ökonomen für die Rückgewinnung von kirchlicher Innovation. Wer glaubt, dass es so kommt, wird selig.
Rainer Hank
02. August 2024
Computer sagt NeinFitness-Apps, Abseits im Fußball und die deutsche Schuldenbremse
Was haben mein Lieblingslokal, meine Hausärztin, mein Friseur und mein Ferienhotel gemein? Sie verfolgen mich digital. Sobald ich einen Platz zum Mittagessen reserviere, kommt eine Bestätigungsmail. Freundlich ermahnt sie mich, spätestens einen Tag vor dem Termin zu stornieren, sollte ich verhindert sein. Weil man mir das nicht wirklich zutraut, meldet sich das System am Vortag abermals und zwingt mich zu bestätigen, dass ich tatsächlich zur Stelle sein würde. Kaum sitze ich im Gasthause, will man von mir wissen, ob alles okay sei und versucht mich zu Bewertungen auf einer Skala von Eins bis Fünf zu zwingen. Mein Urteil soll ich abgeben, noch bevor ich einen Blick in die Speisekarte werfen konnte.
Dito verläuft es bei Hausärztin, Hotel und anderen online buchbaren Terminen. Das ist mega- nervig und außerdem paternalistisch. Können die mich nicht mal in Ruhe lassen. Wir können froh sein, dass unsere Freunde bei Privateinladungen sich solcher Buchungs-, Bestätigungs- und Bewertungssysteme noch nicht bedienen.
Zuweilen kommt es zur offenen Drohung: »Wenn Sie nicht 23 Stunden vor dem Termin absagen, belasten wir automatisch Ihre Kreditkarte mit einem Betrag von 50 Euro!« Gewiss, die Transparenz des Internets hat der Menschheit mehr Konsumentensouveränität beschert. Ich bin nicht auf die Gurus der Gastrokritik angewiesen, sondern erfahre auf der Webseite, ob es normalen Gästen geschmeckt hat. Meine Stimme als Kunde, Gast, Patient zählt. Der Markt ist für die Konsumenten da.
Doch nichts ist wahr ohne sein Gegenteil. Am schlimmsten an den automatisierten Systemen ist die eingebaute Verantwortungsdispens. Es wäre albern, mich bei der Hausärztin über die nervigen Erinnerungsmails zu beschweren. Mit ziemlicher Sicherheit weiß sie gar nicht, dass ihre Praxis ein solches System nutzt.
Verloren in der Anonymität
Jüngst hat mir meine Trainerin im Fitness-Studio ein neues Übungsprogramm fürs Krafttraining eingerichtet. Die Übungen nebst Angaben der Gewichte und der Anzahl der Sätze hat sie in die App des Studios eingetragen. Dummerweise kann ich die App nicht öffnen. Meine Trainerin kann mir auch nicht helfen, dafür sei eine »Fremdfirma« zuständig, deren Support solle ich kontaktieren. Der meldet sich mit Ideen, auf die ich längst auch schon gekommen war: App neu laden, Passwort ändern, eine andere Email eingeben. Der Support ist eben auch nur eine Maschine. Früher hätte man gesagt: Auch nur ein Mensch. Böse sein kann ich keinem Menschen. Meine Ansprechpartnerin im Studio ist genauso hilflos wie ich. Verdammt noch mal, wer hat denn hier die Verantwortung!
Die Entmenschlichung führt geradewegs in das Nichts der Nichtverantwortlichkeit. Der britische Journalist Dan Davies spricht vom »Verantwortungs-Ausguss« (accountability sink). Wir spülen die Haftung einfach hinunter. Das entlastet. Wer will schon Verantwortung für Fehler oder Versagen übernehmen. In meiner Jugend hatten wir gesagt, das »System« (wahlweise des Kapitalismus, Imperialismus oder sonst ein Ismus) sei schuld. Heute delegieren wir die Verantwortung, ein Handspiel oder Abseits beim Fußball festzustellen, an den Video Assistant Referee (VAR): Automatisierte Regelkonformität gilt als Fortschritt an Gerechtigkeit. Der »echte« Schiedsrichter wird von der Maschine entmachtet und im Gegenzug von der Angst vor einem Fehlurteil befreit.
Dan Davies hat in seinem Buch »The Unaccountability Maschine« ein besonders gruseliges Beispiel, was regelkonforme Verantwortungsabstinenz anrichtet. Die Geschichte spielt im Jahr 1999 und handelt von 440 lebenden Eichhörnchen. Die waren ohne Papiere auf einem KLM-Flug von Peking nach Athen auf dem Flughafen Schiphol in Holland gestrandet. Dort wusste man mit den niedlichen Tierchen nichts anzufangen: Weder dürfen lebende Tiere eingeführt werden, noch war es erlaubt, sie nach Athen weiterzuschicken. Also kamen sie in einen Shredder, mit dem normalerweise Küken in Hühnerfarmen getötet werden. Die Eichhörnchen zu schlachten sei »die menschlichste Art« der Lösung, gab die Airline zu Protokoll, nachdem es zu Protesten von Tierschützern gekommen war. Vorschrift ist Vorschrift.
Was hat das mit unserem Thema zu tun? Viel. Das Ende der Geschichte ist grausam, so viel ist sicher. Unsicher ist, wer eigentlich für den Mord an den Tieren verantwortlich ist. Niemand? Das System? Niemand wagte, eine Ausnahme zuzulassen und die Tiere in einen lokalen Tierhandel zu bringen. Er hätte ja Verantwortung übernehmen müssen. Und für seine Entscheidung grade stehen.
Ja sagen kann helfen
»Es sind nie die Menschen, es sind immer die Verhältnisse«, spottete der antike Philosoph Seneca. Er sei nicht schuld daran, dass nicht mehr Geld im Haushalt zur Verfügung stehe, sagt Finanzminister Christian Lindner: Es sei die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse, die eine höhere Kreditaufnahme verhindere. Es ist der Bankcomputer, der mir einen privaten Kredit verweigert. Tut mir leid, sagt der Kreditexperte der Bank oder der Risikoexperte der Versicherung: »Computer says no«, heißt ein in England verbreitetes Schlagwort.
Verantwortung zu übernehmen würde bedeuten, von der Regel abweichende Entscheidungen zu treffen und ein Risiko einzugehen. Da ist es allemal bequemer, sich auf die Compliance-Regeln des Hauses zu berufen. »Da kann man nichts machen«. Computer sagt Nein und Künstliche Intelligenz weiß es viel besser als ein einfacher Mensch mit seiner Vergesslichkeit, seinen beschränkten Informationen und seinen Vorlieben oder persönlichen Abneigungen. So hören und lesen wir es doch ständig. Das ist sehr verführerisch.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: In einer komplexer werdenden Welt entlasten uns Computer, wenn sie ihre Entscheidungen nach Regeln transparent und ohne Ansehen der Person treffen. Alles selbst und immer im Einzelfall entscheiden zu müssen, hätte den Geruch von Willkür, würde uns heillos überfordern und auf keinen grünen Zweig bringen. Andererseits führt die Delegation aller Entscheidungen an regelgesteuerte Maschinen zur Abschaffung von Haftung und Verantwortung.
Individuelle Haftung ist das Grundprinzip der sozialen Marktwirtschaft: Wer den Nutzen hat, muss auch für den Schaden gradestehen. Wird dieses Prinzip suspendiert, sind Krisen und Zusammenbrüche nicht weit. Die Finanzkrise des Jahres 2008 war eine typische Krise der Verantwortungslosigkeit. Keiner wollte es am Ende gewesen sein. Gekniffen waren die Sparer weltweit. »Der Markt wird es richten«, ist eine gefährliche Anonymisierung: Es sind immer Menschen aus Fleisch und Blut, die miteinander Verträge eingehen.
Alles dem Computer zu überlassen nervt, führt in die Unmündigkeit und mündet in die kollektive Verantwortungslosigkeit. Daraus folgt: Zuweilen Ja sagen, obwohl der Computer Nein sagt. Dazu braucht es Mut.Rainer Hank
25. Juli 2024
De-RadikalisierungWas europäische Parteienlandschaft mit zwei Eisverkäufern zu tun hat.
Beginnen wir mit einem sommerlichen Experiment. Ein Strand von 10 Meter Breite und 100 Meter Länge sei im Osten und Westen durch Felsen begrenzt, im Norden durch das Meer und im Süden durch eine Uferpromenade. An diesem Strand gibt es genau zwei Eisverkäufer mit je einem mobilen Eisverkaufsstand, der aber nur längs der Uferpromenade bewegt werden kann, nicht im Sand. Der Strand ist gleichmäßig mit Badegästen gefüllt. Beide Eisverkäufer bieten ihr Eis zu vergleichbarer Qualität und zu vergleichbaren Preisen an. Gesucht ist die optimale Position beider Eisverkäufer.
Die beiden Eisverkäufer wären optimal positioniert, wenn sie gleich große Einzugsgebiete hätten und so möglichst jeden Kunden versorgen könnten. So bediente einer die linke, der andere die rechte Seite des Strands jeweils in der Mitte seiner Strandhälfte. Dann haben die Badegäste, faul wie sie sind, jeweils den kürzesten Weg zu einem der beiden.
Da die beiden Eisverkäufer Kapitalisten und pfiffige Konkurrenten sind, passiert nun aber Folgendes. Der rechte Eisverkäufer denkt sich: »Wenn ich mich ein bisschen mehr in Richtung meines Konkurrenten bewege, dann wird mein Einzugsgebiet größer. Denn dann ist der Weg zu mir für mehr Strandgäste kürzer als vorher und ich verkaufe mehr Eis.« Das entgeht dem Kollegen, der den linken Strandabschnitt bedient, natürlich nicht. Er tut es seinem Wettbewerber gleich und bewegt sich seinerseits nach rechts. Am Ende treffen sich die beiden in der Mitte – was den offenkundigen Nachteil hat, dass die Badegäste, die nah den Felsen recht oder links lagern, jetzt deutlich längere Wege in Kauf nehmen müssen, um an eine Kugel Eis zu kommen.
Ein Gedankenexperiment
Das Gedankenexperiment ist berühmt. Es stammt von dem Ökonomen und Mathematiker Harold Hotelling (1895 bis 1973), der es 1929 veröffentlichte. Damals lehrte er an der Stanford Universität in Kalifornien. Später wechselte er an die Columbia Universität nach New York. Hotelling ist heute als Wissenschaftler nicht mehr sehr bekannt. Zu seinen Schüler gehören indessen berühmte Ökonomen, unter ihnen Milton Friedman und Kenneth Arrow.
In der Wirtschaftstheorie taugen Hotellings Eisverkäufer als Beleg dafür, warum rational handelnde Produzente ihre Produkte so ähnlich wie möglich im Vergleich zu ihren Wettbewerbern gestalten. Das interessiert mich hier nicht. Die Theorie bietet sich aber auch an zur Erklärung des politischen Wettbewerbs zwischen Parteien. Schaut man sich in Europa in diesen unruhigen Zeiten um, wäre es einen Versuch wert, mit Hotelling die De-Radikalisierung ehemals extremer Parteien zu beschreiben.
Beginnen wir mit Giorgia Meloni in Italien. Sie ist mein Paradebeispiel einer rationalen Eisverkäuferin. Angefangen hat sie als extreme Postfaschistin. Inzwischen hat sie sich in ihren politischen Ansichten derart gemäßigt, dass sie von konservativen Politikerinnen in der ganzen EU hofiert wird, nicht zuletzt von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Meloni verurteilt den Krieg Putins mindestens so vehement wie der SPD-Kanzler Olaf Scholz (wenn nicht noch stärker) und spricht mit Abscheu über das terroristische Gemetzel der Hamas in Israel. Hätte man gedacht, sie würde die Grenzen nach Lampedusa schließen und Flüchtlinge im großen Stil abschieben, so sieht man sich auch hier getäuscht: Seit sie im Oktober 2022 die Macht übernommen hat, ist die illegale Migration nach Italien nicht etwa zurückgegangen. Zurückgegangen ist dagegen in der italienischen Öffentlichkeit die Angst vor den Migranten, wie der in Oxford forschende bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev in einem Paper nachweist: Die Menschen fühlen sich ernst genommen.
Melonisierung?
»Melonisierung«, so lautet der Begriff für den Weg, den die Eisverkäuferin Meloni zurückgelegt hat vom faschistischen Extrem in die Mitte der Gesellschaft. Dass und wie Marine LePen quasi avant la lettre es ihr gleichgetan hat, konnte man in dieser Woche vielfach sehen und lesen. Der Erfolg gibt beiden Politikerinnen recht.
Blicken wir nach links und also nach Großbritannien, so haben sich auch hier die Eisverkäufer der Labour-Partei in Bewegung gesetzt. Jeremy Corbyn war ein strammer Sozialist. Er stand für klaren Antikapitalismus, für Verstaatlichung wichtiger Industrien, für die Erhöhung der Steuern und für mehr staatliche Ausgaben. Das gefiel den marxistischen Nostalgikern, aber leider nicht den Wählern. Sein Nachfolger Keir Starmer, zusammen mit seiner Chefökonomin Rachel Reeves, hat sich von solchen Träumereien verabschiedet, setzt auf Wachstum und Marktwirtschaft und eine Disziplinierung der Staatsfinanzen. Das ist sein Rezept, um die Linke erstmals seit vierzehn Jahren in Großbritannien wieder an die Macht zu bringen.
An die Seite stellen ließe sich Starmer, cum grano salis, die deutsche Sarah Wagenknecht. Sie begann als Edelmarxistin und Wiedergeburt Rosa Luxemburgs, bekehrte sich dann, zumindest rhetorisch, zur Freiburger Schule der sozialen Marktwirtschaft und hat seit der Gründung von BSW, dem Bündnis Sarah Wagenknecht, eine ordentliche Portion wohlfahrtsstaatlich großzügigem Nationalismus mit im Angebot für den Wähler. In Thüringen wird sie, nach allem, was uns die Wahlumfragen sagen, ihre Erfolgssträhne fortspinnen.
Schaut man sich an Europas politischen Stränden um, so ist der Zug von den Rändern in Richtung Mitte nicht zu übersehen. Das widerspricht der gängigen These von der Radikalisierungsspirale und ist so gesehen eine tröstliche Nachricht. Denn es beweist auch: Politiker verhalten sich (mehr oder weniger) rational, wenn sie Wahlen gewinnen wollen. Offenbar funktioniert auch die Demokratie einigermaßen rational. Nun kann man natürlich immer sagen, das seien lauter Wölfinnen im Schafspelz: Irgendwann werde Meloni ihr schwarzes Mussolini-Gewand anziehen und LePen sich als Hardcore-Rechte outen, sobald sie an der Macht ist. Doch bislang gibt es keine Indizien dafür.
Unübersehbar ist dagegen, dass es in der Mitte eng wird – vor allem für die »Altparteien«, die das Problem haben, dass sie das falsche Eis im Angebot habe – oder anders gesagt keine Antworten auf die Sorgen der Menschen (Migration ist nur eines dieser Themen).Gewiss, es gibt es auch Signale, die Hotelling widersprechen. Die polnische PIS-Partei war ursprünglich moderat, Victor Orbans Fidesz kommt aus einer liberalen Tradition. Und auch die deutsche AfD hat sich kontinuierlich radikalisiert, so lange bis die Eisverkäufer mit ihrem Kopf gegen die Felswand stießen. Und dann gibt es noch den ziemlich durchgeknallten Donald Trump in den USA. Aber das ist eine andere Geschichte.
Schon klar: Wenn sich die Extremen in die Mitte bewegen, gibt es an den Rändern wieder Platz für radikale Wettbewerber.
Rainer Hank