Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
07. April 2025Die Ordnung der Liebe
29. März 2025Streicht das Elterngeld
17. März 2025Der Kündigungsagent
17. März 2025Hart arbeiten, früh aufstehen
04. März 2025Kriegswirtschaft
21. Februar 2025Lasst Minderheiten regieren
12. Februar 2025Sägen, Baby, Sägen
12. Februar 2025Der Kiosk lebt
05. Februar 2025Was kostet Grönland?
05. Februar 2025Hitlers Sozialismus
21. April 2022
Über die MenschenfresserGibt es einen Fortschritt im moralischen Bewusstsein?
Dass es einen Fortschritt gibt in der Geschichte, dies würde ich (fast) immer vehement verteidigen. Wir leben nicht nur länger als unsere Vorfahren. Wir leben auch besser und gesünder. Früher waren die meisten Menschen arm und nur wenige waren reich. Inzwischen geht es den meisten Menschen der Welt ordentlich – gemessen am Armutsbegriff der Weltbank: Arm ist, wer weniger als 1,90 Dollar am Tag zur Verfügung hat (bezogen auf die Kaufkraft im jeweiligen Land). Seit 1999 hat sich weltweit die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, um eine Milliarde verringert.
Geht der wirtschaftliche, mit großen Freiheitsgewinnen verbundene Fortschritt einher mit einem Fortschritt der zivilisatorischen Verbesserung der Menschheit und ihres moralischen Verhaltens? War die Weltgeschichte also zu etwas nütze? Drei Generationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland aufgewachsen sind, haben die Erfahrung gemacht, dass wir dauerhaft in einer friedlichen Welt leben und »klassische« Kriege, bei denen ein Land ein anderes Land überfällt, der Vergangenheit angehören. Gelänge es uns dann noch, den Terrorismus auszurotten, wären wir wirklich in der – subjektiv – besten aller Welten angekommen.
Seit dem 24. Februar 2022 sind wir skeptisch geworden gegenüber der Behauptung eines Fortschritts des moralischen Bewusstseins.
Dieser Tage bekam ich einen Essay des französischen Moralisten Michel de Montaigne (1533 bis 1592) zu Gesicht, der »Über die Menschenfresser« (1. Buch, Kapitel 33) überschrieben ist. Er ist unter Montaigne-Experten sehr berühmt. Ich muss allerdings eine Triggerwarnung voranschicken an meine Leser: Die Montaigne-Zitate, die gleich folgen, können ungute Vorstellungen und Gefühle auslösen.
Montaigne lässt sich berichten
Wie viele Menschen der damaligen Zeit interessierte sich auch Montaigne auf seinem Schloss in der südfranzösischen Dordogne für die Berichte aus der noch sehr neuen Neuen Welt. Als Kronzeugen bemüht er einen Forschungsreisenden, der ihm anschaulich und wahrheitsgetreu von den Sitten und Gebräuchen der Eingeborenen in (Süd)Amerika berichtet. Vermutlich handelt es sich um Brasilien, das damals eine französische Kolonie war. Montaigne vermutet, dass die abwertende Beschreibung der dortigen Einwohner als »Wilde« und »Barbaren« nicht aufrecht zu halten sei. Schon die alten Griechen nannten alle fremden Völker Barbaren, einfach nur deshalb, weil sie ihnen fremd waren, aber nicht, weil deren Sitten grausamer waren.
Zum Beleg dieser Vermutung lässt Montaigne seinen Gewährsmann ausführlich berichten, wie die »Wilden« in Amerika Kriege führen (ich zitiere nach der viel gepriesenen Übersetzung von Hans Stilett): »Die Eingeborenen pflegen gegen die weiter landeinwärts jenseits der Berge lebenden Völkerschaften ihre Kriege zu führen, in die sie völlig nackt ziehen, ohne andere Waffen als ihre hölzernen Bögen und Schwerter. Die Härte ihrer Kämpfe, die niemals ohne mörderisches Blutvergießen enden, ist ungeheuer, denn von Furcht und Flucht wissen sie nichts. Jeder bringt als Trophäe den Kopf des von ihm getöteten Feindes mit und hängt ihn an den Eingang seiner Unterkunft.«
Und dann kommt Montaigne darauf zu sprechen, wie die Eingeborenen mit einem Gefangenen umgehen, den sie vor den Augen einer großen Versammlung mit mehreren Schwertstreichen niedermachen: »Sodann braten sie ihn, essen gemeinsam von ihm und schicken einige Stücke auch ihren abwesenden Freunden. All dies tun sie keineswegs, um sich zu ernähren, sondern um ihren leidenschaftlichen Rachegefühlen Ausdruck zu geben.« Man könnte meinen, grausamer und barbarischer gehe es nicht mehr. Doch dann berichtet Montaigne übergangslos, wie die Portugiesen – kein wildes, sondern ein christliches Volk – die gefangenen Eingeborenen umbringen, »indem man sie bis zur Hüfte eingrub, auf den aus der Erde ragenden Oberkörper einen Pfeilhagel niedergehen ließ und sie dann aufhängte«.
Ihn ärgere keineswegs, so kommentiert Montaigne, dass wir mit Fingern auf die barbarische Grausamkeit der »Wilden« zeigen. Empörend finde er indes, dass wir bei einem derartigen Scharfblick für die Fehler der Menschenfresser unseren eigenen Grausamkeiten gegenüber so blind seien: »Ich meine, es ist barbarischer, sich an den Todesqualen eines lebendigen Menschen zu weiden, als ihn tot aufzufressen.«
Die Barbarei war nie weg
Wir könnten die Menschenfresser also nach Maßgabe der Vernunftregeln durchaus Barbaren nennen, konzediert Montaigne, nicht aber nach Maßgabe unseres eigenen Verhaltens, da wir sie in jeder Art von Barbarei überträfen – nicht zuletzt darin, dass wir unserem barbarischen Verhalten auch noch einen Sinn unterlegten, um es zu rechtfertigen. Ent-Nazifizierung, Befreiung des russischen Volkes, so heißen die heutigen Rechtfertigungen, die aus westlicher Sicht absurd klingen, von den Aggressoren aber für bare Münzen genommen werden. Irgendeine Rechtfertigung lässt sich immer finden.
Der große französische Ethnologe Claude Levy-Strauss hat Montaignes Menschenfressertext im Jahr 1992 einen großen Vortrag gewidmet: »Rückkehr zu Montaigne«. Wenn nach Maßgabe der Vernunft frühe und moderne Gesellschaften dazu neigen, der Barbarei zu verfallen, müsste ein »Gesellschaftsvertrag« zu Humanität und Moralität verpflichten. Gerade weil sich die Menschen im Lauf der Geschichte nicht etwa immer weniger barbarisch verhalten, sondern die Methoden ihrer Grausamkeit sogar noch verfeinern, hülfe eine Übereinkunft der Vernunft zu reziproker Friedlichkeit, so die Hoffnung von Rousseau oder auch Hobbes. Nicht aus Nächstenliebe oder aus pazifistischer Gesinnung, sondern weil es in allseitigem Interesse wäre, einander nicht mit Kriegen das Leben, die Freiheit, das Eigentum und die Chance, sein Glück zu verfolgen, mit Panzern und Raketen zu zerstören.
Doch die Idee des Vertrages ist schön, aber brüchig, wie wir gerade sehen. »Entwickelte« Völker sind nicht besser als »primitive« Völker, die zu idealisieren (»edle Wilde«) ebenfalls in die Irre führt. Weder die Vernunft noch die Religion weisen einen Ausweg zum dauerhaften Frieden. Montaigne: »Unsere Religion ist gestiftet, die Laster auszurotten. Jedoch: Sie bahnt ihnen den Weg, unterhält und reizt sie noch.« Die religiöse Letztbegründung der barbarischen Aggression besorgt der Patriarch einer christlichen Kirche.
Am Ende bleibt der Relativismus, die Einsicht, dass unsere Sitten nicht weniger eigentümlich oder gar »moralisch besser« sind als die der anderen. Bei Montaigne führt der Relativismus nie in einen zynischen Fatalismus. Zugleich hat er als Skeptiker Zweifel an der Idee einer Utopie, die meint, sie könne »nach Maßgabe der Vernunftregeln« unsere Welt pazifizieren. Weiter sind wir auch heute nicht. Die Barbarei war nie weg. Sie ist und bleibt immer präsent.Rainer Hank
30. März 2022
Gentleman's personal GentlemenRussische Oligarchen und Großbritanniens Butler-Industrie
Für Oligarchen habe ich mich nie besonders interessiert. Es ist nicht so, dass mir Neid oder Bewunderung als Gefühle fremd wären. Doch die in London lebenden Superreichen (mit angeschlossener Luxusyacht und Fußballverein) sind so weit von meinem Alltag entfernt, dass mir das Vorstellungsvermögen für ihre Welt fehlt.
Mein Interesse an Oligarchen hat sich seit Ausbruch des Krieges schlagartig verändert. Soweit ich es verstanden habe, gibt es übrigens keine großen Profil-Unterschiede zwischen russischen und ukrainischen Oligarchen. Die Russen stehen nur deshalb im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil sie jetzt unter die Wirtschaftssanktionen fallen.
Ein Oligarch ist nach gängiger Definition ein steinreicher Mann – Frauen kommen nicht vor -, der auf undurchschaubare Weise an sein Geld gekommen ist und mit diesem Geld Macht ausübt auf Politik und Wirtschaft. Eine Milliarde britische Pfund oder Dollar scheint das Mindestvermögen für die Aufnahme in den Club zu sein. Man nennt sie auch »Wirtschaftsmagnaten«, »Tycoone« oder, ganz negativ, Kleptokraten. Die Geburtsstunde der neueren Oligarchen-Generation datiert in die Zeit des Zerfalls der Sowjetwirtschaft und der Privatisierung der Staatswirtschaft (Gas, Öl, Metalle). Marktwirtschaftlich gesehen war das alles in Ordnung. Star-Ökonomen wie Jeffrey Sachs von der New Yorker Columbia-Universität empfahlen als Transformationsberater einen radikale Systemwechsel (»Big Bang«).Die Zeit der Systemtransformation war für clevere Männer aus der alten Nomenklatura die Gelegenheit, schnelles Geld zu machen. Oder in den Worten der deutsch-ukrainischen heute Grünen Politikerin Marina Weisband: »Privatisieren hieß: zusammenklauen. Menschen brachten unfassbare Bestechungssummen in die Kreditabteilungen der Banken und kauften alles, was bei drei nicht auf den Bäumen war.« Die Gewinne aus solchen Geschäften investierten die werdenden Oligarchen nicht in den Aufbau einer gesundenden Wirtschaft in ihrer Heimat, sondern transferierten sie außer Landes: besonders gerne nach London. Seither spricht man dort von Moskau an der Themse oder Londongrad.
Warum London? Da gibt es eine sehr rationale Paradoxie. Gerade Milliardäre aus Staaten, die es mit Vertragsfreiheit und Privateigentum nicht so genau nehmen, achten peinlich darauf, ihr Vermögen in sichere westliche Rechtsstaaten zu schaffen. Das viele Geld ist bei der HSBC oder der Royal Bank of Scotland einfach sicherer als bei der Sberbank (Savings Bank of the Russian Federation) oder der Gazprombank, jedenfalls solange es nicht gerade einen Boykott gibt. Hinzu kommt: London ist ein idealer Ort für das, was die Soziologen »ostentativen Konsum« nennen. In der Nachbarschaft des Kensington Palasts – Lady Di und Prinzessin Margaret wohnten dort – hat man den Aufstieg in den Kreis der feinen Leute geschafft: Eine royale Nachbarschaft adelt.
Ideale Bedingungen für die Geldwäsche
Doch es gibt, wie in der Theorie der Migration, auch noch viel stärkere Pullfaktoren, begünstigende Umstände, die London für postkommunistische Milliardäre attraktiv werden ließen. Das hat abermals mit der Lehre der Marktwirtschaft zu tun: ehrliche Kaufleute vertrauen einander unabhängig von ihrer Nationalität. Die Grenzen zwischen selbstverständlichem und blindem Vertrauen sind fließend. Es hat aber auch mit der Aussicht vieler Menschen zu tun, an viel Geld zu kommen: Gemeint sind hier nicht die geldgierigen Oligarchen selbst, sondern die vielen Menschen, die sich an ihnen bereichern.
Als Pull-Faktor betrachtet, sind genau dies die idealen Bedingungen für Geldwäsche. Die Kopie eines Personalausweises genügte in den neunziger Jahren, um in London Immobilien in großem Stil zu erwerben. Dass hinterher im Grundbuch nicht der Name aus dem Personalausweis eingetragen war, sondern eine Firma mit Sitz auf den Jungferninseln, scherte niemanden. Amnesty International beziffert den Wert der heute von russischen Oligarchen gehaltenen Londoner Liegenschaften auf 1,5 Billionen Pfund. Jetzt rächt es sich, dass sich in den neunziger Jahren keiner für die Herkunft des Geldes interessiert hat. Entsprechend ist es heute schwer, zwischen »bösem« Putin-Geld und »normalen« Vermögen zu unterscheiden: »Großbritannien ist kein Platz für schmutziges Geld«, meint der Britische Premierminister Boris Johnson. Gut gebrüllt: Doch wer unterscheidet Schmutz von Sauberkeit?
Butler-Business statt Britischem Empire
Dass an derartiger Provenienzforschung bislang niemand wirklich interessiert war, liegt an der riesigen Dienstleistungsindustrie, die bis heute an den Oligarchen verdient. Diese Industrie ist es, die ihnen ihr Luxusleben ermöglicht. Der Schriftsteller Oliver Bullough nennt diese Industrie in einem neuen Buch, auf das die Financial Times am vergangenen Wochenende zu Recht lobend hinwies, »Butler für die Welt«. Gemeint sind die Immobilienmakler, die die Grundstücke und Paläste aussuchen, die Notare und Rechtsanwälte, die alles ordentlich testieren und Schiedssprüche aushandeln und die Banker, die aus viel Geld noch mehr Geld zu machen versprechen. Und das ist nicht alles: Hinzu kommt das viel gelobte Bildungssystem mit seinen Elite-Internaten und die Gesundheitsindustrie in England, wo man für gutes Geld beste Behandlung kaufen kann. Und natürlich die Caterer, die dafür sorgen, dass es bei den Partys nur besten Champagner und edelsten Kaviar gibt. Zur Pflege der Umgebung, aber auch um als guter Bürger dazustehen, sind Oligarchen gern gesehene Mäzene für Museen und Universitäten. Auch für beide großen Parteien fiel die ein oder andere großzügige Spende ab.
Butler in dieser Welt sind also nicht einfach nur Diener in weißem Livree. Es sind Scharen von Dienstleistern, die von den Oligarchen ein stabiles Einkommen beziehen. Reginald Jeeves, Butler in den Romanen von P.G. Wodehouse, nennt sich stolz »Gentleman’s personal Gentleman«. Bullough greift historisch weit zurück und zeigt, dass die britische Butler-Industrie das Kompensat war für die Kränkung des Imperiums nach der Suez-Krise (1956), rettende Idee eines neuen Geschäftsmodells für die »City«.
Aus all dem lassen sich drei verstörende Überlegungen ableiten. (1) Monokulturen in der internationalen Arbeitsteilung sind gefährlich. Sie bergen die Gefahr der Abhängigkeit. Teile der Dienstleistungsindustrie in London und anderswo haben sich abhängig gemacht von den Oligarchen. Europa hat sich abhängig gemacht von russischem Öl und Gas. (2) Wenn Ignoranten oder gar Feinde der Marktwirtschaft Markt und Rechtsstaatlichkeit legal benutzen, um sich zu bereichern, liegt das dann an der Naivität oder Profitgier der Marktwirtschaftler oder an der kriminellen Energie der Oligarchen? (3) Der alte Streit darüber, oder der Markt seine eigene Moral generiert (Friedrich A. von Hayek) oder ob er andauernd Moral verzehrt (Wilhelm Röpke) fällt – zumindest in diesem Fall – zugunsten von Röpke aus.
Rainer Hank
15. März 2022
Das Charisma des TyrannenWarum Menschen freiwillig Knechte werden
Warum unterwerfen sich Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten den Befehlen einer Regierung, die ihrerseits nur aus einer kleinen Minderheit dieser Menschen besteht? Murray Rothbard (1926 bis 1995), ein anarcholibertärer Ökonom, behauptet, dies sei das zentrale Problem der politischen Philosophie: Despoten halten sich nicht allein deshalb an der Macht, weil sie Bösewichte sind und ihre Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen. Hinzu kommt eine freiwillige Gefolgschaft der Untertanen, eine Art Hörigkeit, ohne welche nicht zu erklären wäre, warum zum Beispiel viele Menschen in der Sowjetunion nach Stalins Tod Tränen weinten und um ihren größten Peiniger trauerten, anstatt Freudentänze aufzuführen. Auch die Römer, so wird es überliefert, beweinten Nero nach seinem Tod trotz seiner Grausamkeiten.
Tyrannen müssen nicht immer Putschisten sein, die sich mit Gewalt an die Spitze eines Staates gebracht haben. Tyrannen kommen in der Geschichte auch vor als »lupenreine Demokraten«, die durch legale Wahlen an die Macht gekommen sind. Die Kehrseite des Despotismus ist nicht selten ein Paternalismus, welcher die nackte Machtausübung als väterliche Fürsorge camoufliert. Die Machthaber lassen sich dafür von Dichtern, Musikern oder Managern huldigen, die ihrerseits von der Gunst der Machthaber profitieren.
»Das Rätsel der Tyrannenherrschaft ist so unergründlich wie die Liebe«, lesen wir bei dem französischen Autor Étienne de La Boétie (1530 bis 1563). Nicht nur für den amerikanischen Liberalen Murray Rothbard, sondern auch für den deutschen Pazifisten Gustav Landauer ist La Boétie der beste Führer zur Ergründung des Paradoxes, warum Menschen sich freiwillig in Knechtschaft begeben. Und für die Frage, wie wir uns aus dieser Hörigkeit befreien können. Der französische Moralist Michel de Montaigne, ein Zeitgenosse, war von La Boéties »Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft« so begeistert, dass er beschloss, den Verfasser kennenzulernen. Daraus ergab sich eine innige Freundschaft bis zu La Boéties frühem Tod. Den Pazifisten gilt La Boétie als Begründer des »zivilen Widerstands«. Im zweiten Weltkrieg erschien seine Schrift in den Vereinigten Staaten unter dem Titel »Anti-Dictator« mit Anmerkungen zu Themen wie »Appeasement ist sinnlos« oder »Warum Führer Reden halten?« (»Why Führers make speeches«)
Muss ich begründen, warum ich La Boéties Schrift in diesen dunklen Tagen als Lektüre empfehle?Gift der Knechtschaft
Woher kommt das »Gift der Knechtschaft«? Demokratische Herrscher, schreibt La Boétie, seien nicht besser als gewaltsame Usurpatoren oder erbrechtlich abgesicherte Monarchen. Alle erliegen sie dem »Reiz der Größe«, wollen die Macht, einmal errungen, nicht mehr abgeben. Auch der demokratische Herrscher, der seine Herrschaft der Wahl durch das Volk verdankt, trachte danach, die Macht, die ihm vom Volk verliehen wurde, anschließend gegen dieses zu wenden: »Das Volk schlägt sich in Fesseln, schneidet sich die Kehle ab, gibt die Freiheit für das Joch dahin.« La Boétie schreibt, Caesar sei ein Herrscher, »der die Gesetze der Freiheit aufhob und an dem nichts Gutes, wie ich glaube, zu finden war«. Und doch wurde er über alle Maßen verehrt.
Die »Lockpfeife der Knechtschaft« ist eben nicht die Gewalt, sondern die Verführung: Es ist sogar eine besonders geschickte Verführung, mit der es dem Herrscher gelingt, sich die Abhängigkeit, ja Liebe seiner Untertanen zu sichern, wofür sie sogar bereit sind, ihre Freiheit zu opfern. Mittel der Verführung sind »Spiele und Possen«, vor allem aber von den Herrschern verteilte materielle Wohltaten: »Und so betrogen sie den Pöbel, dessen Herr immer der Bauch ist.« Sie teilen »Korn, Wein und Geld« aus, schreibt La Boétie – und erkaufen sich damit die Wiederwahl.
Die britische Autorin Sarah Bakewell erklärt in ihrem schönen Buch über Michel de Montaigne (»Wie soll ich leben?«) dessen Freund La Boétie gerade deshalb zum »Helden der Freiheit«, weil er wie kein zweiter die »Dramaturgie der Unterwerfung« analysiert habe, die der Diktator schafft. Dieses Drehbuch zieht sich durch die Geschichte. Als der Henker des ugandischen Diktators Idi Amin gefragt wurde, warum er Amin so treu gedient habe, antwortet er: »Sehen Sie, es ist Liebe.«
Warum Hörigkeit destruktiv ist
Natürlich ist es keine Liebe, sondern Hörigkeit, welche die vom Machthaber Abhängigen mit Liebe verwechseln. Unter Hörigkeit verstehen die Psychologen die gefühlsmäßige Bindung an einen anderen Menschen in einem Maße, in dem die persönliche Freiheit und menschliche Würde aufgegeben werden. Der Herrscher kann dann über die sich unterwerfende Person verfügen, was ihm selbst dann gelingt, wenn er die Grenzen von Recht und Moral missachtet.
Loyalitäts- und Hörigkeitsbindungen wird man nur schwer wieder los. Doch Étienne de la Boétie ist am Ende kein Fatalist. Er glaubt nicht, dass die Menschen dauerhaft dazu bereit sind, sich ihre Freiheitsrechte abkaufen zu lassen. Sein Freiheitsimperativ lautet: Hört auf, den Despoten und Populisten zu gehorchen. Was Anarchisten und Libertäre am meisten an La Boétie bewunderten, war die auch von Mahatma Gandhi propagierte Idee, eine Gesellschaft könne sich dadurch von der Tyrannei befreien, dass ein oder mehrere Einzelne mit Charisma und Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung dem Unterdrücker ihre Loyalität und Zusammenarbeit aufkündigen: Kassiert eure Einwilligung, Sklaven der Volkstribunen zu sein! »Stillschweigende Verweigerung« nennt La Boétie das. Tiefreligiös, wie er war, hoffte er auf Gottes Hilfe, dem nichts mehr zuwider sei als die Tyrannei. Und er tröstete sich damit, dass Gott den Tyrannen und ihren Mitschuldigen besondere Qualen aufspare.
Wenn ein paar Einzelne das Joch abschütteln, meint La Boétie, dann nur deshalb, weil ihnen der Blick auf die Geschichte die Augen geöffnet hat. Statt die Verhältnisse hinzunehmen, in die sie hineingeboren wurden, erlernen sie die Kunst, zur Seite zu treten und die Dinge aus einer distanzierten Perspektive zu betrachten.
Wo ist die Instanz, die zum Widerstand legitimiert? Die religiöse Legitimation, die für den Autor des 16. Jahrhunderts noch ganz selbstverständlich war, steht uns heute nicht mehr zur Verfügung. Worauf können wir uns berufen, wenn wir zur »stillschweigenden Verweigerung« ermuntern? Menschlichkeit, Würde, Selbstachtung, Wahrheitsliebe kommen einem in den Sinn. Und wie verhindern wir, dass die Befreiung von der einen Abhängigkeit mit dem Preis einer neuen Loyalität erkauft wird – das Schicksal vieler Illoyaler, die als Renegaten enden und sich dem Druck einer neuen Gruppe genauso unterwerfen wie früher der alten? Der Unheilszusammenhang von Loyalität und Exklusion wäre dann zurück, nur die Kulisse hätte gewechselt.Rainer Hank
21. Februar 2022
82 Millionen EZB-Präsident*innenEin Lob der guten alten Ordnungspolitik
Die Sorgen der Menschen über die steigenden Preise an der Tankstelle, im Supermarkt und anderswo nehmen zu. Im Euroraum stieg die Inflation im Januar auf 5,1 Prozent. Selbst das vorsichtige Ifo-Institut erwartet jetzt über das laufende Jahr gerechnet in Deutschland eine Teuerung von vier Prozent. Der Anstieg mag im historischen Vergleicht mit Phasen der Hyperinflation moderat sein, im Blick auf die vergangenen Jahrzehnte ist er extrem. Kein Wunder, dass die Kritik an der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) zunimmt: Schon bedeutend früher hätte sie ihre Anleihekäufe stoppen und die Zinsen erhöhen müssen, finden viele. Jetzt könnte es schon zu spät sein für eine »sanfte Landung«, also einer Rückkehr zu Preisstabilität ohne wirtschaftliche Verwerfungen.
Die Inflation, ist sie einmal da, hat nämlich die unangenehme Eigenschaft, die Erwartung weiterer Inflation zu schüren. Die Bürger ziehen größere Anschaffungen vor, weil sie befürchten, sie würden später teurer. Die Gewerkschaften addieren die erwartete Teuerung auf ihre Lohnforderungen. Opfer und Profiteure der Inflation sind sehr ungleich verteilt.
Der Inflationsdiskurs ist in vollem Gange und mit exponentiellem Tempo. Exakt 5947 Einträge des Wortes »Inflation« liefert die Datenbank des FAZ-Archivs für das Jahr 2021 Im Jahr zuvor waren es noch nicht einmal halb so viel. Rechnet man die Nennungen allein seit Anfang Januar hoch – es waren 2010 – käme man Ende 2022 auf über 24 000 Einträge.
Darf man die EZB kritisieren?
Die Leute reden über die Teuerung. Dürfen die das überhaupt? Mein derzeitiger ökonomischer Lieblings-Tweet stammt von Marcel Fratzscher. Unter der Überschrift »Fragen an die deutschen EZB-Kritiker« ließ sich der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) kürzlich auf Twitter wie folgt vernehmen: »Wie wäre es, wenn wir einfach der EZB Vertrauen schenken und ihre Unabhängigkeit respektieren würden? Wie wäre es, wenn wir nicht mehr glauben wollten, es gäbe 82 Millionen Fußball-Bundestrainer und auch 82 Millionen Experten in der Geldpolitik?«
Was will uns der DIW-Präsident – ein ehemaliger EZB-Angestellter – sagen? Die beiden »Fragen« sind Stoff für ein halbes Semester eines linguistischen Universitäts-Seminars. Es handelt sich um rhetorische Fragen, also das Gegenteil von wirklichen Fragen. Aus Fratzschers Sicht ist es eine Verletzung der Unabhängigkeit, die Politik der EZB auch nur zu kommentieren. Es läuft auf einen Maulkorb hinaus: Was immer die Zentralbank tut, steht über aller Kritik. Eine Begründung liefert Fratzscher nicht. Er appelliert lediglich an ein »Vertrauen«, das man deshalb wohl »blind« nennen sollte. Ganz wenige Ausnahmen des Kommentierungsverbots gibt es: Zu ihnen zählt Marcel Fratzscher selbst, der sich ununterbrochen zur EZB-Politik äußert – und selbstredend alles gut findet. Merke: Kommentare werden zugelassen, solange sie affirmativ sind.
Nun ist die EZB in der Tradition der Deutschen Bundesbank tatsächlich unabhängig. Ratschläge, gar Weisungen der Exekutive laufen ins Leere. Die Bank ist unabhängig von der Politik der europäischen Regierungen und deren Fiskal- oder Arbeitsmarktpolitik. Und sie ist genauso unabhängig von der Tarifpolitik der Sozialpartner. Sie muss gerade nicht die Folgen ihrer Geldpolitik im Blick haben, selbst wenn dies – wie etwa die Nullzinspolitik des vergangenen Jahrzehnts – die Einkommensverteilung der Bürger tangieren und die Ungleichheit vergrößern sollte (was umstritten ist). Dass das deutsche Bundesverfassungsgericht der EZB eine geldpolitische Folgenabschätzung in einem prominenten Urteil aus dem Jahr 2020 aufgetragen hat, ist, vorsichtig gesprochen, ein Missverständnis.
Die Unabhängigkeit der EZB ist indessen nicht grenzenlos. Sie wird begrenzt vom gesetzlich vorgegebenen Mandat der Bank, unterliegt somit Regeln. Der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio hat immer wieder betont, dass die Unabhängigkeit einer Institution in einer Demokratie eine besonders enge Auslegung ihres Mandats erfordert. Und was ist das Mandat der EZB? Sie ist zuständig für stabile Preise im Euroraum. So steht es in Paragraf 127 des »Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union«. Preisstabilität bedeutet – nicht nur für Laien – Null Prozent Inflation. Nach und nach haben die Banker sich mit ein paar semantischen Klimmzügen angewöhnt, unter stabilen Preisen ein Ziel »knapp unter zwei Prozent«, inzwischen sogar ein mittelfristiges Ziel »von zwei Prozent« (mal bisschen drunter, mal bisschen drüber) zu verstehen. Selbst wenn man dies nachvollzieht, eines ist gewiss: Längerfristig vier Prozent – so die Ifo-Prognose 2022 – sind nach Adam Riese mehr als zwei Prozent. Und also müsste die EZB aktiv werden. Das wird man wohl noch sagen dürfen, Herr Fratzscher. Die vielfältigen Tricks der Notenbanker, die Teuerung künstlich auf eine sogenannte Kerninflation (abzüglich der Energie- oder Immobilienpreise) herunterzurechnen, bis es passt, hat mich noch nie überzeugt.
Wann gibt es wieder Geldwertstabilität?
Die enge Begrenzung auf das stabilitätspolitische Mandat hat weitere Implikationen. Es könnte sein, dass eine straffere Geldpolitik Zins und Tilgung in hoch verschuldeten Staaten verteuert und deren Fiskalpolitik in Bedrängnis bringt. Das ist nicht schön, darf aber kein Motiv der Verzögerung geldpolitischer Maßnahmen sein. Es könnte auch sein, dass Zinserhöhungen sich dämpfend auf die Aktiendepots der Reichen auswirken: Rücksicht auf die Spekulanten darf erst recht kein Argument für Frau Lagarde, die EZB-Präsidentin, sein. Schließlich ist es denkbar, dass eine Straffung der Geldpolitik die Beschäftigung in den Euroländern gefährdet und Menschen arbeitslos werden. Auch wenn es hartherzig klingt: Der EZB hat die Arbeitslosigkeit egal zu sein.
Jeder soll sich um das kümmern, wofür er zuständig ist. Das ist die etwas laxe Fassung des altmodisch klingenden Konzepts der »Ordnungspolitik«, mit welcher die soziale Marktwirtschaft hierzulande erfolgreich wurde. Sorgt die Zentralbank für stabiles Geld, können die Gewerkschaften und Unternehmen sich darum kümmern, Produktivitätsfortschritte in höhere Realeinkommen zu verwandeln. Und der Staat muss sich nicht interventionistisch um die finanzielle Kompensation der Inflationsverlierer (Arme, Pendler, Mieter) scheren. Stattdessen soll er sich um Wettbewerb auf offenen Märkten kümmern; das diszipliniert die Preissetzungsmacht der Unternehmen. Ordnungspolitik heißt: Die wirtschaftspolitischen Akteure sind Regeln unterworfen. Das ist nicht nur das Gegenteil von Planwirtschaft, sondern auch eine bessere Alternative zu Laissez-Faire oder interventionistischen Experimenten.
Und wann ist die Geldwertstabilität erreicht? Meine Lieblingsantwort kommt von dem amerikanischen Ökonomen Alan Blinder: »Preisstabilität ist dann, wenn die Leute aufgehört haben, über Inflation zu reden.« Ich fürchte, das wird noch dauern.
Rainer Hank
14. Februar 2022
Kuss zum ValentinstagKlimts Meisterwerk für nur 1850 Euro
Suchen Sie noch ein Geschenk zum Valentinstag? In diesem Jahr hat sich das Wiener Museum Belvedere etwas Besonderes einfallen lassen: Es bietet den »Kuss« von Gustav Klimt, entstanden im Jahr 1908, zum Kauf an. In den 70er Jahren hing dieser Kuss als Poster in vielen Studentinnenzimmern.
Im digitalen Zeitalter muss es natürlich digital sein. NFT – Non-Fungible Token – heißt das Zauberwort: Dabei wird das Gemälde in 10 000 digitale Ausschnitte zerlegt, die quasi Unikate sein sollen (nicht austauschbar, eindeutig identifizierbar, deshalb »non-fungible«). Eines dieser Puzzlestückchen kostet 1850 Euro, ein willkürlicher Betrag, wie das Museum zugibt. Geht die Rechnung auf, kommen am Ende Einnahmen von 18,5 Millionen Euro zusammen. Okay, für mich ist das Ganze ein bisschen komplizierter, als einen Rosenstrauß über Fleurop zu bestellen. Zunächst muss man sich auf der Plattform »thekiss.art« anmelden. Sodann ist es erforderlich, dass sich Interessenten ein Wallet für die Kryptowährung Ether erstellen. Das ist nicht ganz trivial für Nicht-Digital-Natives. Schließlich ist es mir mit der App MetaMask gelungen (es gibt ein gutes Youtube-Tutorial).
Sollten sich mehr als 10 000 interessierte Käufer melden, werden die Kuss-Stücke verlost. Da kann man Pech haben. Vermutlich macht es einen kleinen Unterschied, ob die Partnerin am Ende ein Stück des roten Kussmundes erhält – oder lediglich einen Ausschnitt des langweiligeren Blumendekos drumherum. Das könnten sich später preislich spiegeln, will man seinen Klimt wieder los werden, sollte die Liebe erloschen und die Erinnerung daran nur noch schmerzlich sein.Am Valentinstag, also am Montag, findet das »Minting« statt (die »Prägung«). Das heißt, es klärt sich, ob ich einen Zuschlag bekomme und welches Kunststück für mich abfällt. Auch eine Liebeserklärung kann ich online hinzufügen. Auf den Zertifikaten, die jeder Käufer erhält, ist ersichtlich, welcher Ausschnitt des Gemäldes erworben wurde. Über eine handelbare NTF-Plattform sei der Weiterverkauf möglich, versprechen die Initiatoren. Gesichert wird mein Klimt auf der Blockchain, eine Datenbank, die als nicht manipulierbar, kostengünstig, schnell und transparent gilt – also eine Art digitaler Grundbucheintrag.
Ich wollte die etwas firlefanzig klingende Aktion besser verstehen und wandte mich an die Kanzlei CMS in Österreich, die das Belvedere berät. Von einer Vorstellung musste ich mich als erstes verabschieden: Sollte ich den Zuschlag erhalten, werde ich leider nicht Miteigentümer des Original-Klimts, sondern lediglich einer hochauflösenden digitalen Fotografie – also einer Kopie des Gemäldes. Kein Gold, nur Pixel. Hätte ich mir auch denken können. Für 18,5 Millionen gibt es keinen Klimt, dessen Porträt der Adele Bloch-Bauer zuletzt für über hundert Millionen verkauft wurde. Es ist also wie bei den Drucken in den Studentenzimmer, bloß teurer und bloß ein Teilchen. Zweifel gibt es auch, ob die Sache vor digitalen Kunstfälschern wirklich so sicher ist, wie die NFT-Enthusiasten versprechen: Mit etwas Geschick könne jedermann ein NFT der Mona Lisa erstellen, warnt die Rechtswissenschaftlerin Viktoria Kraetzig (FAZ vom 9. Februar).
Digitales Merchandising
Man könnte die Aktion des Belvedere als eine Art digitales Merchandising beschreiben. Die Älteren kaufen Kaffeetassen mit dem Klimt-Kuss, die Jüngeren kaufen NFT. Für die Museen, die angesichts der Rekordpreise am Kunstmarkt vielfach nicht mehr mitbieten können, eröffnen NFTs neue Finanzierungsmöglichkeiten. Die digitale Kunst-Welt wächst exponentiell – auf inzwischen 17 Milliarden Dollar weltweit, wie Goldman Sachs im vergangenen Oktober zu wissen glaubte. Bei Christies erzielte im vergangenen Jahr eine Online-Auktion digitaler Collagen knapp 70 Millionen Dollar.
Inzwischen bin ich unsicher, ob ich mich um den Kuss bewerben soll. Das heißt freilich nicht, das der Gag des Belvedere die gesamte Tokenisierung desavouiert. Die Grundidee dahinter ist, wie man Eigentumsrechte an einer Sache auf mehrere aufteilt, ohne die Sache zu teilen: Illiquides soll liquide werden. Der Wirtschaftshistoriker Alfred Chandler hat in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts gezeigt, dass dies exakt die Idee der Aktiengesellschaft war. Die Eigentümer einer Firma können mehrfach am Tag je nach Angebot und Nachfrage zu Markt- und Börsenpreisen ihre Anteile tauschen, ohne dass die Fabrik dafür zerschlagen werden müsste. Womöglich sogar ohne dass die Beschäftigten oder selbst das Top-Management davon etwas mitbekommen: die sollen ja arbeiten.
Was für Fabriken geht, sollte nun auch für Kunst, Manuskripte (Autografen), Immobilien oder Wälder möglich sein. Die Digitalisierung macht eine Demokratisierung von Vermögensgegenständen möglich. Der immer noch sehr archaische, elitär-intransparente Kunstmarkt wird auf diese Weise zu einer »normalen« Assetklasse. Mit kleinen Beträgen – na ja 1850 Euro ist nicht ganz klein – kann ich zum Kunstspekulanten werden (oder mir ein Stück Wald – ökologisch äußerst nachhaltig – leisten).
Theodor Weimer, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Börse, hat schon seit längerem einen Riecher für das Potential der Tokenisierung. Weimer bringt mich mit Carlo Kölzer zusammen, einem erfolgreichen Start-Up-Unternehmer. An dessen Firma 360x ist die Börse (neben der Commerzbank) mit 50 Prozent beteiligt. Man muss sich die Firma vorstellen wie einen »Mischkonzern« aus einer großen Kunstgalerie (mit kunsthistorischer Expertise, Qualitätssicherung, Provenienz-Auskunft, Schutz vor Fälschern) und angeschlossenem digitalem Handelsplatz. Vertrauensbildende Maßnahmen unter dem Dach der seriösen Börse zur Durchsetzung einer Finanz-Innovation. Wenn es klappt, werden reiche Kunstsammler ihre Werke (reale oder digitale) hier einstellen und Teile davon tokenisieren lassen.
Am Ende sind das vielleicht doch Anlage-Alternativen zu meinen Aktien-ETFs, die derzeit eher wenig Freude machen.Rainer Hank