Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 21. November 2025
    Das letzte Stück Kuchen

    Wehe einer greift zu! Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wenn alle wissen, was (nicht) alle wissen

    Bei Kaffee und Kuchen in feinen adligen Kreisen soll es vorgekommen sein, dass tatsächlich ein Gast sich das letzte Tortenstück auf der Kuchenplatte reichen ließ und es verzehrte. Ein Fauxpas erster Güte. Der Gast wusste nicht, dass das letzte Stück Kuchen stets übrigbleiben muss, einerlei wie nachdrücklich die Gastgeberin zuzugreifen nötigt. Womöglich, weil andernfalls der Eindruck entstünde, es sei zu wenig da gewesen. Das würde auf den Gastgeber zurückfallen.

    Wissen ist wichtig. Noch wichtiger ist gemeinsames Wissen. Es besteht darin, dass alle wissen, dass alle wissen. Gemeinsames Wissen sagt uns, wie wir uns zu verhalten haben. Wer es nicht teilt, oder sich anders verhält, setzt sich außerhalb der Gemeinschaft.

    Mehr Beispiele gefällig? Bei einer Abendgesellschaft war auf der Einladungskarte »Black Tie Optional« gestanden. Dazu muss man zum einen wissen, dass Black Tie nicht einfach nur wörtlich Schwarze Krawatte bedeutet, sondern Smoking, Weißes Hemd, Schwarze Lackschuhe verlangt. Wie beim adligen Kuchenbuffet soll es auch hier vorgekommen sein, dass ein Gast das Wörtchen »optional« wörtlich genommen hat und im Anzug erschien. Schamesröte muss ihm ins Gesicht gestiegen sein, als er realisierte, der Einzige der Gesellschaft ohne Smoking zu sein.

    Früher, in etwas verklemmteren Zeiten als heute, fragte nach zufriedenstellendem erstem Date der Jüngling seine Partnerin auf dem Nachhauseweg, ob er ihr seine Briefmarkensammlung zeigen dürfe. Da, so wird kolportiert, soll es einmal passiert sein, dass die Partnerin konterte: »Bring sie mir doch einfach runter.« Vermutlich kannte sie den Code und wusste, dass sich hinter der Briefmarkensammlung die Einladung verbirgt, die Nacht zusammen zu verbringen – hatte aber keine Lust darauf, und ironisierte die Frage, indem sie sie wörtlich nahm. Das gemeinsame Wissen nutzen und die Erwartung gleichzeitig ironisch enttäuschen, wäre somit eine höhere Ebene der Kommunikation.

    Der Kaiser ist nackt

    Der Klassiker ist Hans Christian Andersens Märchen »Des Kaisers neue Kleider«. Zwei Betrüger geben sich beim Kaiser als Werber aus und behaupten, Stoffe weben zu können, die für Dumme und Unwürdige unsichtbar seien. In Wirklichkeit gibt es gar keine Kleider – aber niemand wagt, etwas zu sagen, alle fürchten, für dumm gehalten zu werden. Und halten es für möglich, dass die anderen ja wirklich einen prächtig gekleideten Kaiser sehen. Das geht so lange gut, bis ein Kind ruft »Aber er hat ja gar nichts an.« Dann wissen alle, dass alle wissen, dass der Kaiser nackt ist. Und der Spuk ist vorbei.

    Vergleichbar Beispiele in Hülle und Fülle finden sich in dem gerade erschienenen neuen Buch des Harvard-Psychologen Stephen Pinker. Es trägt den schönen Titel »Wenn alle wissen, dass alle wissen« (S. Fischer Verlag). Pinker ist ein akademischer Star. Er ist Kognitionswissenschaftler, hat längst die Grenzen seines Fachs überschritten und sich zum »öffentlichen Intellektuellen« gemausert. In der Kontroverse mit Präsident Trump um linksliberale Korrektheit seiner Universität und den Entzug finanzieller Mittel hat Pinker einerseits Harvard verteidigt, andererseits darauf insistiert, dass es tatsächlich einen linksliberalen Konformitätsdruck gegeben habe, der korrekte Wissenschaftler finanziell belohnte.

    Pinkers Theorie des gemeinsamen Wissens geht so. Es genügt nicht, dass alle dasselbe wissen. Es kommt vielmehr darauf, dass jeder weiß, dass alle es wissen und so weiter in immer weiteren Rekursen. Dieses rekursive Bewusstsein ist eine zentrale Voraussetzung für viele Formen der sozialen Koordination, Kommunikation und kollektiven Handelns. Und lässt sich nicht zuletzt auf die Politik oder die Ökonomie und die Finanzmärkte übertragen.

    Schlagendes politisches Beispiel ist das Debakel Joe Bidens in der Fernsehdebatte mit Donald Trump im Präsidentschaftswahlkampf 2024. Es gab zuvor schon allerorts Zweifel, ob und inwieweit Präsident Biden noch fit genug sei, dass er seine zweite Amtszeit meistern würde. Aber es war kein gemeinsam gesichertes Wissen. Bei der Debatte offenbarte er für alle sichtbar fatale Schwächen (unbeweglich, verhaspelt sich, bringt Fakten durcheinander). Das ist der Moment, in dem das Kind ruft: »Der Kaiser ist nackt.« Danach war Biden als Kandidat nicht mehr zu halten.

    Kaufen, was alle kaufen

    Das beste Finanzbeispiel stammt aus der »General Theory« des großen Ökonomen John Maynard Keynes, erschienen 1936. Damals gab es Wettbewerbe in Zeitungen, bei denen die Leser aus hundert Fotos von Frauen die sechs hübschesten Gesichter auswählen sollten (ginge heute bei keiner Zeitung mehr durch). Gewinner war nicht derjenige, der nach seinen persönlichen Präferenzen urteilte, sondern dessen Wahl dem Durchschnitt aller Einsendungen am nächsten kam. Wer das durchschaute, wusste, er muss jene Gesichter wählen, die mutmaßlich die meisten anderen für schön halten.

    Das lässt sich auf die Geldanlage übertragen: Investoren kaufen nicht unbedingt jene Finanzprodukte, von denen sie persönlich besonders überzeugt sind, sondern die, von denen sie glauben, dass sie die meisten anderen Anlegern überzeugen. Mit der Theorie des »gemeinsamen Wissens« – hier dem Wissen gemeinsamen Handelns von Spekulanten – lassen sich Blasen an den Finanzmärkten erklären. Solange alle kaufen, müssen alle kaufen. Dreht sich der Wind (warum auch immer) und die Ersten verkaufen, dann wollen alle schnell verkaufen – und die Blase platzt, weil alle erwarten, dass alle erwarten, dass alle ihre Häuser, Aktien, Anleihen abstoßen. Franklins D. Roosevelt wusste das mit seinem berühmten Ausspruch: »Das Einzige, was wir fürchten müssen, ist die Furcht selbst.« Es ist die Angst, dass alle sich zu fürchten beginnen, womit sie genau jene Katastrophe auslösen, die sie verhindern wollten.

    So wenden sich die netten Beispiele über Kuchenesser und Briefmarkensammler am Ende in eine eher bedrohliche Richtung: Gemeinsames Wissen definiert Spielregeln für alle. Spielregeln können gebrochen werden. Die Theorie atomarer Abschreckung geht davon aus, dass jeder atomare Erstschlag mit einem nicht minder vernichtenden Zweitschlag quittiert würde – und man deshalb besser die Finger davon lassen sollte. Aber alle müssen davon überzeugt sein, dass alle davon überzeugt sind. Sollte ein Aggressor von seiner Überlegenheit überzeugt sein oder sich aus anderen, etwa innenpolitischen Gründen zum Atomschlag genötigt sehen, bricht die ganze friedenswahrende Abschreckungstheorie in sich zusammen.

    Nebenbei zeigt sich hier, dass Pinkers Theorie des gemeinsamen Abschreckungswissens nichts anderes ist als eine Anwendung und Generalisierung der ökonomischen Spieltheorie. Wir dachten einmal, wir würden sie dafür nicht mehr brauchen. So haben sich die Zeiten geändert.

    Rainer Hank

  • 21. November 2025
    Rentner streicheln

    Aktive Rentner brauchen keine Aktivrente Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum ich die Aktivrente nicht brauche

    Ich fühle mich von der schwarz-roten Regierung doppelt ungerecht behandelt.

    Es geht um die sogenannte Aktivrente. Die ist Resultat einer Reform, die Schwarz-Rot gerade auf den Weg gebracht hat. Wer als Rentner weiterarbeitet, der soll monatlich 2000 Euro seines Einkommens steuerfrei behalten dürfen. Also auf 24.000 Euro seines Jahreseinkommens keine Steuern zahlen müssen. Warum die Regierung das macht, ist nicht ganz klar. Vorgeblich, um den angespannten Arbeitsmarkt zu entlasten. Vermutlich aber, um den Rentnern – das sind ja auch ziemlich viele Wähler – etwas Gutes zu tun. Jedenfalls geht es nicht darum, die Rentenkassen zu entlasten. Denn aktive Rentner beziehen ja schon Rente, die durch das Arbeitseinkommen nicht gekürzt wird. Aktivrente heißt das Ganze, weil Ruheständler aktiviert und dafür belohnt werden sollen.

    Ich bin ein Rentner. Aber ich arbeite auch noch, schreibe zum Beispiel diese Kolumne. Klar, dass ich mich erstmal freue, dass nicht nur mein Auftraggeber, sondern auch der Fiskus sich dafür bei mir erkenntlich zeigt. Umso erstaunter war ich zu lesen, dass ich nicht in den Genuss des Steuervorteils kommen soll. Den sollen ausschließlich Arbeiter und Angestellte erhalten, die fest in einer Firma angestellt sind, ein »sozialversicherungspflichtiges Einkommen« beziehen, wie es technisch heißt. Selbständige wie ich sollen dagegen weiterhin auf jeden zur Rente hinzu verdienten Euro Steuern zahlen müssen. Ich kenne viele Kollegen meines Alters, die als Rentner kein festes Beschäftigungsverhältnis mehr haben, weil sie frei sein wollen. Aber auch, weil Freelancer für die Firmen billiger sind als Angestellte.

    Gibt es Argumente für die Schlechterstellung der Freiberufler? Ich habe keins gefunden. Ich glaube auch in aller Bescheidenheit nicht, dass meine Kolumnen fiskalisch gesehen weniger wert sind als zum Beispiel das Vorstandsprotokoll, das ein angestellter Mittelmanager beim Daimler geschrieben hat. Aus meiner Sicht liegt hier ein eindeutiger Fall von Ungleichbehandlung vor, der entweder im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens bereinigt oder andernfalls vom Verfassungsgericht kassiert werden muss.

    Grob ungerecht

    Nehmen wir also an, die Ungerechtigkeit würde korrigiert und ich käme auch in den Genuss des Steuervorteils. Dann fangen die gravierenden Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten erst an. Einerseits, weil hier, was mich betrifft, eindeutig ein sogenannter Mitnahmeeffekt vorliegt. Ich fange ja nicht erst zu arbeiten an, weil ich Steuern erlassen bekomme. Der Staat verzichtet auf Einkommen, das ihm klaglos zukäme. Höre ich nicht ständig Finanzminister Klingbeil jammern, der Staat habe angesichts der vielen neuen Aufgaben trotz Schuldenorgie immer noch zu wenig Geld?

    Grob ungerecht ist aber zudem, dass jetzt abermals die ohnehin staatlich gehätschelten Rentner gegenüber der jüngeren Generation finanziell privilegiert werden. Dazu hat der Ökonom Bert Rürup – Sie erinnern sich, das ist der Erfinder der »Rürup-Rente« – eine kleine Rechnung aufgemacht: Nehmen wir einen Rentenempfänger mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 48.000 Euro. Dieses Einkommen soll zum einen aus einem Arbeitsentgelt von 24.000 Euro bestehen, zum anderen aus weiteren Einkünften – zum Beispiel der gesetzlichen Rente und Mieteinnahmen. Diese Person hätte künftig rund 2600 Euro Steuern im Jahr zu entrichten. Ein jüngerer Zeitgenosse, der ebenfalls 48.000 Euro im Jahr verdient, zahlt hingegen darauf annähernd 10.000 Euro Einkommensteuer.

    Zwei gleiche Einkommen, zweimal dieselbe »Leistungsfähigkeit«, wie die Steuerrechtler sagen. Aber am Ende hat der Rentner 7.400 Euro mehr zur Verfügung als ein jüngerer Steuerbürger. Die durchschnittliche Steuerbelastung des Rentners liegt bei elf Prozent, die des Jüngeren liegt bei 21 Prozent. Gerecht kann das nicht sein, oder?

    Werden wir noch grundsätzlicher: Unser Einkommensteuersystem beruht auf einem klaren Prinzip. Besteuert wird nicht danach, wer das Einkommen erzielt, sondern danach, wie hoch es ist. So habe ich es bei dem Ökonom Christian Hagist von der WHU in Vallendar jüngst in der FAZ gelernt. Ein Euro ist ein Euro, unabhängig davon, ob er von einem Angestellten, einem Arbeiter, einem Selbständigen, einem Unternehmer oder einem Rentner stammt. Diese Neutralität ist Ausdruck der im Grundgesetz verankerten Gleichheit vor dem Gesetz. Mit der Aktivrente würde dieses Prinzip empfindlich verletzt. Entscheidend wäre nicht die Höhe des Einkommens (dafür gibt es die Progressionstabellen), sondern die Person des Steuerpflichtigen und sein Alter.

    Am besten einstampfen

    Einmal aufgeweicht, gäbe es kein Halten mehr, so Christian Hagist. Um mehr Frauen in den Arbeitsmarkt zu bringen, könnte die Politik auf die Idee verfallen, Frauen einen niedrigen Einkommensteuersatz zu gewähren als den Männern. Oder sie könnte »gesellschaftlich nützliche« Berufe (Ärzte, Pfleger) steuerlich privilegieren im Vergleich mit gesellschaftlich weniger nützlichen Tätigkeiten (Banker oder Immobilienmakler zum Beispiel). Das Ergebnis wäre eine ideologische Politisierung und Moralisierung des Steuerrechts, die unter dem Vorwand, Einzelgerechtigkeit herstellen zu wollen, Klientelbegünstigung betreibt – nach Maßgabe der jeweils größten Wählerlobby. Die Kehrseite der steuerlichen Anreize (hört sich gut an) heißt: staatliche Subventionierung einzelner Personengruppen (hört sich weniger gut an). Nicht alles, was sich Reform nennt, ist gut. Die Aktivrente ist eine schlechte Reform.

    Was aber soll ich nun machen in meiner Eigenschaft als aktiver Rentner? Ich erwarte nicht, dass Schwarz-Rot – was eigentlich das Beste wäre – das ganze Projekt Aktivrente im letzten Moment aus Einsicht einstampfen wird. So korrekturoffen funktioniert Politik nicht. Ich erwarte eher, dass im Lauf des Gesetzgebungsverfahrens am Ende auch Selbständige und Freiberufler von der Aktivrente profitieren werden. Dann erhalte auch ich vom Fiskus einen geldwerten Vorteil, den ich und alle anderen aktiven Rentner meiner Meinung nach zu Unrecht kassieren.

    Was kann man machen? Dem Finanzamt mitteilen, ich wolle den Steuervorteil nicht in Anspruch nehmen und dafür werben, dass alle Aktivrentner das genauso machen – das wird nicht funktionieren. Denn dann würde das Finanzamt ja gegen das Gesetz verstoßen. Solidarische Verweigerung von Privilegien ist zudem eine Illusion. Ich könnte mir meinen individuellen Steuervorteil als Aktivrentner von meiner Steuerberaterin ausrechnen lassen und diesen Betrag heroisch für einen guten Zweck spenden (selbstverständlich inklusive des Vorteils der Spendenquittung).

    An der Ungerechtigkeit gegenüber allen jüngeren Einkommensteuerzahlern würde das nichts ändern. Staatlichen Unsinn können Bürger nur bei Wahlen korrigieren.

    Rainer Hank

  • 19. Oktober 2025
    Wird KI zur Blase?

    Jeff Bezos und John Elkann in Mailand Foto Italian Facts

    Dieser Artikel in der FAZ

    Und wäre das schlimm? Hören wir, was Jeff Bezos meint

    Manchmal bin ich die depressive Miesepeterei leid, die sich bei uns breit gemacht hat. Die Klage über den überbordenden Sozialstaat und die einfallslose Industrie ist ja richtig. Durch permanentes Beweinen wird nichts besser: die Lage bleibt mies, bloß die Stimmung wird noch schlechter. Statt kraftstrotzender Rhetorik (Friedrich Merz) wären endlich kraftvolle Reformen nötig.

    Wo also bleibt das Positive? Dafür empfehle ich eine Diskussion zwischen John Elkann und Jeff Bezos aus Anlass einer Tech Konferenz in Turin von Anfang Oktober. Man kann sich das bei Youtube ansehen. Elkann ist Enkel und Erbe von Gianni Agnelli, dem legendären Fiat-Patriarchen. Bezos, nun ja, ist Gründer und Chairman von Amazon – mit einem geschätzten Privatvermögen von rund 250 Milliarden Dollar.

    »Europa hat seine Dynamik verloren«, sagt Bezos. Und dann sagt er: »Ich werde nie in Rente gehen.« Schön, so was zu hören. Und ein erster Kontrapunkt zur aktuellen Debatte über die Erhöhung des Rentenalters, wo schon eine Verlängerung auf 70 Jahre von vielen als Angriff auf die persönliche Integrität empfunden wird. Wir sind halt ein Volk der Dachdecker, die ständig vom Dach zu fallen Angst haben. Die Amerikaner dagegen sind ein Volk der Erfinder: Nachdem wir die Erde zu einem besseren Planeten gemacht haben, wenden wir uns dem Weltall zu, um unsere Erde zu einem noch besseren Planeten zu machen. Sagt Bezos. Ein bisschen zugespitzt ist das, ich weiß, aber falsch ist es nicht.

    Warum hat Bezos, inzwischen 61 Jahre alt, keine Lust, in Rente zu gehen? Finanzielle Gründe werden es wohl kaum sein. »Weil wir in einem goldenen Zeitalter leben« sagt er: Noch nie in der Geschichte habe es bessere Zeiten gegeben. Auch das ist für die Apokalyptiker dieser Tage harter Tobak – die sehen unsere Welt permanent vor dem Untergang (Klimawandel, Atomkrieg, Artenvielfalt). Bezos› Beispiele heißen dagegen: Künstliche Intelligenz, Robotik – und eben völlig neuen Chancen, die der Weltraum bietet. Der Mond sei ja ziemlich nah, findet der Amazon-Mann, der mit »Blue Origin« sein eigenes Weltraumunternehmen betreibt.

    Der Absturz der Amazon-Aktie

    Aus heutiger Sicht ist die Geschichte von Amazon eine lineare Erfolgsgeschichte. Bezos hat die Firma 1994 gegründet, dreißigjährig, kein blutjunger Studienabbrecher wie Facebook-Gründer Mark Zuckerberg. Aber es gab Rückschläge. Bezos erinnert an das Jahr 2000, da brach die Amazon-Aktie innerhalb eines sehr kurzen Zeitraumsan einem in kurzer Zeit von 113 auf 6 Dollar ein. Schuld daran war die sogenannte Dotcom-Blase der neuen Internet-Unternehmen, die rasend schnell platzte. Der Nasdaq-Index, in dem die amerikanischen Technologie-Unternehmen gelistet sind, verlor binnen eines Jahres 77 Prozent seines Höchststands.

    In der New Economy-Krise hatten auch hierzulande viele privaten und institutionellen Anleger viel Geld verloren. Und dafür den Kapitalismus im Allgemeinen und die Börse im Besonderen verantwortlich gemacht. Es dauerte Jahre, bis die Deutschen wieder Zutrauen zu Aktien gefunden haben.

    Bezos, obwohl selbst Opfer, deutet die damalige Blase positiv. »In Zeiten der Begeisterung von einer neuen Technologie kriegen alle Firmen Geld von den Investoren.«. sagt er: Es sei schwer, die Spreu vom Weizen zu trennen. Der Schweizer Bankier Konrad Hummler wagte damals einen frivolen Vergleich: Man müsse viele Spermien losschicken, um eine einzige Eizelle zu befruchten. So verlaufe auch die wirtschaftliche Evolution. Im Vorhinein weiß niemand, welche Geschäftsidee sich durchsetzen wird. Es geht um Versuch und Irrtum, was von den Investoren Risikofreude verlangt und die Fähigkeit, Rückschläge auszuhalten.

    Bezos insistiert zu Recht darauf, dass der Zusammenbruch der Internetaktien gerade kein Zusammenbruch des Geschäftsmodells Internet bedeutet habe. Die meisten der kalifornischen »Magnificent Seven« wurden in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts gegründet. In der Krise blieben die Aktionäre weg, kurzzeitig, die Amazon-Kunden wurden immer mehr.

    Der Vergleich mit dem Boom der künstlichen Intelligenz (KI) liegt nahe. Die KI-Konzerne schwimmen im Geld. Im Vergleich dazu waren die Internet-Startups des Jahres 2000 Schnäppchen. Prognosen zufolge investieren KI-Unternehmen allein in diesem Jahr rund 400 Milliarden Dollar, um KI-Modelle ans Laufen zu verbessern. Die Marktkapitalisierung aller börsennotierter KI-Firmen wird auf rund 20 Billionen Dollar geschätzt.

    Die Lehre des Großvaters

    Jeff Bezos rubriziert die Dotcom-Blase und die KI-Blase »industrielle Blasen«. Beide Male werden die Finanzströme von realen Entwicklungen getragen, die einen enormen Fortschritt für die menschliche Zivilisation bedeuten. Bei KI erahnen wir das erst langsam. Das Internet ist uns längst selbstverständlich geworden.

    Bezos grenzt die »Industrie-Bubbles« von den »Banking Bubbles« ab. Darunter fällt zum Beispiel die sogenannte Subprime-Krise des Jahres 2008, in der viele Gläubiger weltweit ihre Kredite abschreiben mussten, mit denen Immobilien finanziert wurden, denen plötzlich kein Gegenwert entsprach. »Industrie-Blasen« dienen dem Fortschritt der Menschheit. »Bank-Blasen« taugen für nichts. Mir fällt das Diktum des ehemaligen US-Notenbankpräsidenten Paul Volcker, wonach die einzige nützliche Finanzinnovation dieser Jahre die Erfindung des Geldautomaten gewesen sei – und selbst der wird bald überflüssig, wenn alles bargeldlos abläuft. Schon vor bald fünfzig Jahren machte der Ökonom Charles Kindleberger in seinem Klassiker über die Finanzkrisen (»Manias, Panics, and Crashes«) die Unterscheidung zwischen »industrial« und »banking bubbles«.

    Zurück zum Gespräch zwischen John Elkann und Jeff Bezos. Die kommen auf ihre Kindheit zu sprechen. Elkann sagt, für sie beide seien die Großväter sehr wichtig gewesen. Für den Nachfahren des großen Gianni Agnelli bedarf das keiner besonderen Begründung. Für Bezos, Enkel eines Farmers in den Südstaaten Amerikas, eigentlich schon.

    Bezos Geschichte geht so: Auf einer Autofahrt mit den Großeltern im Jahr 1974, Jeff war zehn Jahre alt, habe man im Radio eine Werbekampagne gegen das Rauchen gehört mit der Warnung, jeder Zug an einer Zigarette verkürze das Leben um zwei Minuten. Der schlaue Junge errechnete auf dem Rücksitz, dass die Großmutter, eine Kettenraucherin, durch ihre Qualmerei sieben Lebensjahre verloren habe.

    Die Großmutter bricht in Tränen aus. Der Großvater hält das Auto an, steigt mit dem Jungen aus und gibt ihm folgenden Rat: »It’s harder to be kind than to be clever«: Es sei schwerer, freundlich zu sein als klug zu sein. Klugheit ist ein Geschenk, für das man nichts kann. Freundlichkeit ist eine bewusste Entscheidung. Eine typisch amerikanische Geschichte. Klar. Aber trotzdem wahr.

    Rainer Hank

  • 19. Oktober 2025
    Weg mit der Erbschaftsteuer

    Wer wird das einmal erben? Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Es geht um das Aufstiegsversprechen

    Von Ludwig Erhard (1897 bis 1977) stammt der kategorische Imperativ der sozialen Marktwirtschaft. Er heißt: »Wohlstand für alle.« Eine Gesellschaft, die sich dem Ziel sozialer Gerechtigkeit verpflichtet weiß, muss seiner Bevölkerung den Aufbau von Vermögen so leicht wie möglich machen. An diesem Punkt verbindet sich das Aufstiegsversprechen – »die Kinder sollen es einmal besser haben«- mit dem Ziel der Chancengleichheit: alle Klassen der Gesellschaft sollen die gleichen Chancen haben. Es darf keine Privilegien für bestimmte Schichten (Adel, Fabrikanten, Spekulanten) geben.

    Sofern man sich auf diese Grundsätze verständigen kann, müsste daraus eigentlich folgen: Die Bürger beim Vermögensaufbau zu behindern, indem man ihnen das von ihnen erarbeitete Vermögen wieder wegnimmt, ist keine gute und vor allem keine Idee der Gerechtigkeit. Denn es demotiviert enorm. Wenn Eltern ihren Kindern Vermögen hinterlassen, damit sie es besser als sie selbst haben, müsste der Staat diesen Erfolg prämieren und nicht bestrafen. Die Erbschaftsteuer ist aber eine Strafsteuer.

    Das wird sofort deutlich, wenn man ein kleines Gedankenexperiment macht. Menschen, die ihr ganzes Vermögen noch rechtzeitig vor ihrem Tod verjuxen – was wir ihnen weder moralisch ankreiden noch fiskalisch prämieren wollen – können dieses Geld nach Gutdünken abschlagsfrei verteilen: Kreuzfahrten buchen, Ferienhäuser kaufen, Dreisterne-Restaurants testen, teure Partnerinnen aushalten). Sie haben das Geld bereits versteuert und Einkommen-, Körperschafts- oder Kapitalertragsteuer darauf bezahlt. Sobald sie aber ihren wirtschaftlichen Erfolg an die Nachkommen weitergeben, müssen diese abermals Steuern bezahlen. Sollten sie Menschen beschenken, mit denen sie nicht verwandt sind, die sie aber für bedürftig halten, langt der Fiskus umso unverschämter zu.

    Die Legitimation für die Erbschaftsteuer besorgt der Staat sich durch einen Taschenspielertrick, indem er nämlich die Perspektive vom Erblasser auf die Erben wechselt und denen vorwirft, ihre Erbschaft sei leistungsloses Vermögen und deshalb wohlfeile Beute für den Fiskus. Als ob Vermögen nur gerecht wäre, wenn es durch eigene Leistung erworben wurde. Dass das Erbe Ausweis der Leistung der Erblasser war, die damit genau die Absicht des Vermögensaufbaus für ihre Nachkommen verknüpften, fällt durch den Taschenspielertrick des Staates unter den Tisch.

    Fiskalische Gier

    Mit sozialer Gerechtigkeit hat die Erbschaftsteuer somit nichts zu tun. Oder sagen wir es anders: Das Label »soziale Gerechtigkeit« camoufliert die fiskalische Gier, die sich das Geld dort holt, wo etwas zu holen ist. Das belegt die aktuelle Debatte. Nachdem Schwarz-Rot sich über beide Ohren am Kapitalmarkt verschuldet hat und das Geld jetzt offenbar immer noch nicht reicht, erwägt man jetzt, die Erben zu schröpfen. Das Argument, mehr oder weniger gleichlautend von Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) und CDU-Fraktionschef Jens Spahn gebraucht, ist lausig: Auch die Reichen müssten etwas zur Finanzierung des Sozialstaats beitragen. Aber wer finanziert den Sozialstaat denn bisher, wenn nicht die Reichen? Die Armen wohl kaum; die sollen ja profitieren.

    Wie geht Wohlstand für alle? Anfrage an Charlotte Bartels. Die Ökonomin ist Professorin für Finanzwissenschaft an der Universität Leipzig, kommt vom nicht gerade neoliberalen Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und beschäftigt sich seit langem mit den Mechanismen des langfristigen Vermögensaufbaus und der Vermögensverteilung in Deutschland und anderen Ländern. An den Studien war auch Moritz Schularick, der Chef des »Kiel Instituts für Weltwirtschaft« beteiligt.

    Hier die Antwort, grob zusammengefasst: Das Wohlstands- und Aufstiegsversprechen über einen langen Zeitraum wird hierzulande eingelöst. Während im späten 19. Jahrhundert ein Prozent der Bevölkerung fünfzig Prozent des Vermögens auf sich vereinte, hat sich dieser Anteil inzwischen auf 26 Prozent halbiert. Wenn das kein Erfolg in Sachen Gerechtigkeit ist! Die Mechanik der Vermögensverteilung funktioniert bis heute so, dass steigende Immobilienpreise zu einem Vermögenswachstum der Mittelschicht führen, die einen großen Teil ihres Portfolios dort investiert haben: Immobilienpreiswachstum wirkt also tendenziell nivellierend. Sparen, also Konsumverzicht, trägt zusätzlich zum Vermögensaufbau der Mittelschichten bei.

    Das zeigt: Mehr Gleichheit stellt man am besten nicht durch Umverteilung her, indem man den Menschen etwas wegnimmt (Erbschaftsteuer). Langfristig effektiver und moralisch überzeugender ist es, möglichst viele Menschen dazu befähigen, reich zu werden. Das zeigt sich auch, wenn man auf die Entwicklung der Kapital- und Unternehmensvermögen schaut: Wachsen diese Vermögen schneller als die Immobilienvermögen, so nimmt die Vermögensverteilung einer kleinen Oberklasse mit großem Betriebsvermögen wieder zu. In den Jahren zwischen 1993 und 2018 konnte die Mittelschicht mit ihrem wachsenden Immobilienvermögen gegen die gleichfalls wachsenden Unternehmensvermögen ansparen und eine höhere Rendite für sich erzielen.

    Die Mitte wächst

    Wer diese nivellierende Wirkung der Preisentwicklung als Treiber eines Wohlstand-für-alle-Programms nutzen will, müsste zugleich die Kapitalbildung der Mittelschichten jenseits des Immobilienvermögens unterstützen. Hier zeigt sich, dass die geltende Erbschaftsteuer nicht nur generell, sondern auch immanent ungerecht ist. Denn sie verschont die Fabrikanten. Es ist nicht in Ordnung, dass Unternehmenserben von der Steuer befreit werden, wenn sie die Belegschaft und Firma eine bestimmte Zeit erhalten. Das Argument, andernfalls müssten sie die Fabrik verkaufen, was der Wirtschaft und den Beschäftigten schade, ist fadenscheinig. Geschwister, die ihr Elternhaus erben, sind häufig auch genötigt, das Haus zu veräußern, um alle Erben auszuzahlen. Es gibt genügend gute Vorschläge, das bestehende Steuerrecht gerechter zu machen, indem man die Sätze für alle deutlich senkt, dann aber auch die Fabrikbesitzer verpflichtet, Steuern zu zahlen. Dann hätten alle Schichten die gleichen Voraussetzungen, ihr Vermögen zu mehren. Diese Asymmetrie könnte Schwarz-Rot rasch korrigieren. Aber darum geht es Klingbeil & Co. gar nicht: So wollen mehr Geld, nicht mehr Gerechtigkeit.

    Gerechter, wie gesagt, wäre es, die Erbschaftsteuer ganz zu streichen, Kapitalbildung breiter Schichten zu fördern – durch eine Senkung der Kapitalertragssteuer – und staatlicherseits statt immer mehr Einnahmequellen zu suchen, Ausgaben (soziale und andere Subventionen) zu kürzen. Kanzler Friedrich Merz hat das einmal versprochen. Er drückt sich davor, das Versprechen einzulösen.

    Rainer Hank

  • 18. Oktober 2025
    Meins oder Deins?

    Mein Eimerchen, Dein Eimerchen. Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum der Neo-Merkantilismus viele Freunde hat

    Wenn ich Ihnen, liebe Leserin dieser Kolumne, zehn Euro gebe, dann mache ich einen Verlust und Sie einen Gewinn. Wenn es eine Chef-Stelle im Unternehmen zu besetzen gibt, dann kann nur einer gewinnen. Der andere hat das Nachsehen und steht als Loser da.

    Des einen Gewinn ist des anderen Verlust. In der Spieltheorie nennt man das ein Nullsummenspiel. Die Theorie ist unmittelbar plausibel. Man braucht weder Mathematik noch Ökonomie studiert zu haben, um sie zu verstehen. Sie bezieht ihre Wahrheit aus jedermanns Alltagserfahrung.

    Ökonomen widersprechen gleichwohl. Wenn es um den internationalen Handel geht, so sagen sie, gewinnen durch offene Märkte und freien Handel alle Beteiligten. Statt Nullsumme versprechen sie eine Win-Win-Erfahrung. Damit haben sie recht. Aber sie müssen gegen die unmittelbare Intuition ankämpfen. Wirtschaftstheorie ist in vielen Fällen kontraintuitiv. Je älter ich werde, umso mehr bin ich davon überzeugt, dass es diese kontraintuitiven, dem »gesunden Menschenverstand« widersprechenden Aussagen sind, die dafür verantwortlich sind, dass unsere konkrete Welt womöglich die beste aller möglichen Welten ist, aber sie gleichwohl besser sein könnte – wenn die ökonomischen Gesetze nicht nur für Ökonomen, sondern auch für den Rest der Menschheit eine unmittelbare Plausibilität hätten.

    Machen wir Beispiele für die Verführung durch die Intuition. Dabei ist der gesunde Menschenverstand in vielen Fällen deckungsgleich mit dem Verstand der Politiker. Wie sollte es in einer Demokratie auch anders sein. Wenn es eine Mietpreisbremse gibt, dann werden die Wohnungen nicht mehr teurer, sagt die Intuition – und wundert sich darüber, dass sich der Wohnungsmarkt nicht entspannt. Wenn es einen hohen Mindestlohn gibt, dann sichert das gut bezahlte Jobs, sagt der normale Menschenverstand – und wundert sich darüber, dass die Arbeitslosigkeit steigt. Wenn ich Geld spare, dann sichert das mein späteres Wohlergehen, sagt die Intuition – und wundert sich darüber, dass die Wirtschaft in die Krise gerät, wenn niemand mehr Geld ausgibt. Und das Ersparte schrumpft.

    Die Liste könnte fortgesetzt werden. Das Paradox entsteht dadurch, dass die unbeabsichtigten Wirkungen des Gutgemeinten nicht ins Kalkül einbezogen werden und/oder dass, was für eine einzelne Person plausibel ist, nicht zwingend auch für alle gut ist.

    Win-Win oder Nullsummen-Spiel?

    Womit wir wieder beim Handel der Nationen angekommen sind. Dort hat die Nullsummentheorie eine große und lange Tradition. Sie heißt Merkantilismus. Der Merkantilismus ist die wirtschaftspolitische Denkschule des gesunden Menschenverstands. Er war die herrschende ökonomische Theorie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in allen entwickelten Staaten Europas und Nord- wie Südamerikas. Und er könnte es bald wieder sein.

    Die Theorie geht, grob gesagt, so: Exporte sind für ein Land gut. Importe sind schlecht. Handelsüberschüsse müssen politisch gefördert werden. Dafür gibt es mehrere Instrumente. Zölle bremsen die Einfuhr und bringen Staatseinnahmen, Subventionen sollen die heimische Industrie stärken. Dahinter steht der Gedanke, dass der Wohlstand eines Landes sich bemisst am Reichtum aus Gold und Silber, den man durch den Export einnimmt. Das nannte man »Bullionismus« (von englisch: Barren). Die Edelmetallbestände spiegeln den wahren Reichtum eines Landes, so dachte man.

    Konsequent waren aus dieser merkantilistischen Sicht auch Imperialismus und Kolonialismus. Denn dann wird der Heimatmarkt vergrößert. Die Kolonien liefern Rohstoffe, müssen also nicht mehr importiert werden. Zugleich sind die Kolonien ein wichtiger Absatzmarkt für die im Mutterland hergestellten Produkte.

    Das, wie gesagt, ist lediglich eine grobe Skizze des Merkantilismus. Sie wurde von dem großen schottischen Ökonomen Adam Smith in seinem Werk über den »Wohlstand der Nationen« von 1776 nach allen Regeln der Kunst zerpflügt und (eigentlich) beerdigt. Wohlstand entsteht durch freien Handel und internationale Arbeitsteilung, so Smiths These. Kooperation nützt allen Handelspartnern. Win Win ist dem Nullsummenspiel überlegen. Wenn ein Land auf Autarkie setzt, wird es langfristig verarmen. Reich bleibt allenfalls das Königshaus, das den Menschen verschwiegen hat, dass die Gold- und Silberschätze nur den Reichtum der Eliten, nicht aber den Wohlstand der Nation messen. Wenn Merkantilisten auf Zölle setzen, setzen sie einen Handelskrieg in Gang, der schnell in einen militärischen Krieg überzugehen droht.

    Die Theorie des Freihandels ist dem Merkantilismus nicht nur theoretisch überlegen, sondern auch praktisch. Die größten Wohlstandsgewinne entstanden in Zeiten des Freihandels. Etwa im späten 19. Jahrhundert. Oder im späten 20. Jahrhundert, als China sich der Marktwirtschaft geöffnet hatte. Merkantilismus mag kurzfristig Erfolge bringen – etwa bei nachholender Entwicklung. Langfristig ist er ein Weg in die Armut.

    Schwachstellen des Liberalismus

    Und doch ist der Merkantilismus nicht auf dem Friedhof der Fortschrittsgeschichte gelandet. Sondern derzeit so präsent wie seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr. Das liegt, wie gesagt, an seiner intuitiven Überlegenheit. Mit Merkantilismus (Zölle, Subventionen für die heimische Industrie) lassen sich Wahlen gewinnen. Mit Merkantilismus lassen sich neomonarchische und neokoloniale Träume verwirklichen – siehe Donald Trump: »Der Staat bin ich.«

    Die Aktualität des Merkantilismus lebt davon, dass der Liberalismus immer schon eine Schwachstelle hatte: Und das ist seine Blindheit für das Phänomen der Macht. Freihandel unterstellt, dass wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten von Nationen im Interesse aller Marktteilnehmer sind. Sie werden keine Kriege anzetteln, denn dann würden sie die Quelle ihres Wohlstands unterminieren. Der wirtschaftliche Wettbewerb ist sein (einziges) Entmachtungsinstrument. Handel als pazifizierende und machtreduzierende Strategie. Davon lebt der Liberalismus.

    »Naiv«, so tönt es heute aus den Sprachrohren der Propagandeure des geoökonomischen Merkantilismus. Tatsächlich haben die Freihändler die Bedeutung der politischen Macht unterschätzt. Der Liberalismus kennt nur wohlgesonnene Handelspartner, die sich freiwillig in Abhängigkeit begeben haben zum wechselseitigen Nutzen. Der Merkantilismus dagegen kalkuliert mit der politischen Macht. Die kennt Freund und Feind, ist bereit auf Wohlstand zu verzichten im Interesse nationaler Überlegenheit und/oder Sicherheit.

    Im Nullsummenspiel der Macht kann nur einer den Krieg gewinnen, den Handelskrieg wie den militärischen Krieg. Dass mag plausibel sein. Es ist gleichwohl falsch, wie wir aus vielen Kriegserfahrungen wissen. Wer an das Nullsummenspiel glaubt, landet meist in einer lose-lose Situation. Deshalb ist die Welt derzeit so gefährlich.

    Rainer Hank