Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
25. Juni 2025Vom New Deal zum Real Deal
08. Juni 2025Geld her!
27. Mai 2025Wer stoppt Trump?
10. Mai 2025Ein Herz aus Stammzellen
14. April 2025Lauter Opportunisten
07. April 2025Die Ordnung der Liebe
29. März 2025Streicht das Elterngeld
17. März 2025Der Kündigungsagent
17. März 2025Hart arbeiten, früh aufstehen
04. März 2025Kriegswirtschaft
07. April 2025
Die Ordnung der LiebeWarum nicht alle Menschen zu Brüdern und Schwestern werden können
Dass alle Menschen Brüder werden, ist bekanntlich die große Hoffnung Friedrich Schillers. In einer frühen Fassung der »Ode an die Freude« von 1785 wird die Idee allseitiger Verbrüderung sogar als Hoffnung auf eine klassenlose Gleichheit konkretisiert: »Bettler werden Fürstenbrüder.« Die Zeile durchweht der Geist der französischen Revolution, die von »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« träumt: Seid umschlungen Millionen.
Dass alle Menschen Brüder werden, ist ein schöner Gedanke (auch wenn Brüder nicht immer in friedlicher Harmonie miteinander leben). Doch es ist eben auch ein illusorischer Gedanke. Schon Beethoven hatte Zweifel, ob die universale Verbrüderung möglich wäre, wie er im September 1795 in einem Brief an einen Freund schreibt, auf den mich der Kölner Staatsrechtler Otto Depenheuer aufmerksam macht: »Wann wird der Zeitpunkt kommen, wo es nur Menschen geben wird? Das werden wir nicht sehen, da werden wohl noch Jahrhunderte vorübergehen.«
JD Vance, der vorlaute amerikanische Vizepräsident, wird den Brief Beethovens mutmaßlich nicht kennen. Aber auch er bezweifelt, dass die Utopie einer allseitigen Brüderlichkeit zur konkreten Maxime für die Flüchtlingspolitik werden könne. Seid umschlungen Millionen, davon haben sich die meisten Einwanderungsländer inzwischen verabschiedet. Doch nach welchen Kriterien sollen wir entscheiden, um wen wir uns vorrangig kümmern sollen?
Als Gewährsmann nimmt JD Vance den Kirchenlehrer Augustinus (354 bis 430) in Anspruch, der sich für eine klare Rangordnung der Nächstenliebe ausgesprochen habe. »Du liebst deine Familie, dann liebst du deinen Nachbarn, dann liebst du deine Gemeinschaft, und dann liebst du deine Mitbürger in deinem eigenen Land.« Und erst dann könne man sich um den Rest der Welt kümmern. Das, so Vance, sei die augustinische Lehre einer »Ordnung der Liebe« (»ordo amoris«), die eben priorisiere, wer von den Nächsten einem näher und wer ferner sein solle. Der Heilige Augustinus, das muss man wissen, ist für Vance nicht irgendein Heiliger. Ihm verdankt er nach eigener Aussage die Motivation zur Konversion: von einer lockeren Zugehörigkeit zu einer evangelikalen Pfingstkirche zu einem strengen Katholizismus, den er allein deshalb bevorzugt, weil er »alt« ist und die ewigen Werte der Familie, der Moral und Tugendhaftigkeit hochhält. Es wird kein Zufall sein, dass auch Augustinus ein Konvertit war.
Priorisierung bei knappen Ressourcen
Die Idee des Ordo Amoris formuliert das Gebot der Nächstenliebe als ökonomische Theorie: Wenn die Ressourcen begrenzt sind – und Ressourcen sind immer knapp! – muss man priorisieren. Das ist im Gesundheitswesen nicht anders als in der Flüchtlingspolitik. Wir können nicht die ganze Welt retten. Und schon gar nicht gleichzeitig.
Erwartbar fiel der Rest der Welt sogleich über JD Vance her. Nach dem Motto, alles was im Umkreis von Trump gesagt wird, kann nur Blödsinn sein. Doch JD Vance ist nicht blöd. Sieht man allerdings genauer hin, dann plädiert Augustinus zwar für eine Bevorzugung der Nahen in der Liebe. Aber für die enge Ideologie der Familie, wie sie im rechten amerikanischen Katholizismus vertreten wird, kann der Ordo Amoris nur mit Biegen und Kneten in Anspruch genommen werden. Deshalb noch einmal Augustinus wörtlich: »Alle Menschen sind in gleicher Weise zu lieben. Da man aber nicht für jedermann sorgen kann, so muss man vornehmlich für jene sorgen, die einem durch die Verhältnisse des Ortes, der Zeit oder irgendwelcher anderer Umstände gleichsam durch das Schicksal näher verbunden sind.«
Gewiss ist man mit seiner Herkunftsfamilie durch das Schicksal besonders verbunden, was eine besondere Verpflichtung zur Sorge impliziert. Aber eben nicht nur. Andererseits verbietet es sich aus dieser Perspektive, Millionen Hilfsbedürftiger aus der Ferne in unsere Nähe einzuladen (»Pullfaktor«), um sie mit unserer Liebe zu umschlingen. Thomas von Aquin (1225 bis 1274), ein Kirchenlehrer des Mittelalters, hat den Ordo Amoris als Ordo Caritatis präzisiert (den Unterschied zwischen Amor und Caritas vernachlässigen wir hier). Natürlich müssten wir uns als Erstes um jene kümmern, die uns räumlich am nächsten seien. Das aber könne je nach den verschiedenen Erfordernissen der Zeit, des Ortes und der jeweiligen Angelegenheit variieren. »Denn«, so Thomas, »in bestimmten Fällen sollte man beispielsweise einem Fremden in äußerster Not eher helfen als dem eigenen Vater, wenn dieser nicht in einer so dringenden Not ist.«
Auf diese Weise wird auch das Missverständnis korrigiert, der Auftrag, den Nächsten zu lieben, bedeute, alle Menschen zu lieben. Nicht jeder ist mein Nächster, würde Thomas sagen: Aber jeder kann mein Nächster werden. Oder noch einmal anders: Zwar gilt das Liebesgebot universal, was einen aber zugleich nicht von der Aufgabe entbindet, nach Präferenzregeln zu fragen, wer wem gegenüber primär beizustehen habe.
Charity begins at home
Der Ordo Amoris und die katholische Lehre der Subsidiarität weisen eine verblüffende Ähnlichkeit auf mit der Schule der sozialen Marktwirtschaft, die gerne auch Ordo-Liberalismus genannt wird. Insbesondere Wilhelm Röpke, ein viele Jahre in Genf lehrender protestantischer Wirtschaftswissenschaftler, vertrat die Auffassung, Nächstenliebe müsse zuhause beginnen: »Charity begins at home«. Kümmere Dich zuerst um die Dir Nahestehenden, bevor Du gleich die ganze Welt zu retten Dich anschickst. Oder in einem anderen Bild Röpkes: Wenn wir ein Haus bauen, beginnen wir auch nicht mit dem Dachstuhl, sondern mit den Fundamenten. Mit dieser Richtschnur offenbart der Ordoliberalismus zweifellos seine konservativen Wurzeln, gehört doch das Denken in Ordnungen in die aus christlicher Tradition sich speisende ständisch-konservative Tradition der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, in der die Gründer der Sozialen Marktwirtschaft ihre formative Phase hatten. Es geht ihnen um den Respekt vor der von Gott gesetzten Ordnung im Unterschied zu den von Menschen gemachten Normen. Hier angekommen sind die Unterschiede zwischen JD Vance und Wilhelm Röpke auf einmal gar nicht mehr so groß.
Dafür, diese Nähe offenbart zu haben, müsste man JD Vance eigentlich dankbar sein, den es gewiss schütteln würde, würde man ihn einen Liberalen nennen. Macht man freilich Halt vor dem reaktionären Naturrecht, dann bleibt als positiver Ertrag des Denkens über den »Ordo Amoris« eine Präferenzethik der Nähe, die das fraglos vorhandene schlechte Gewissen entlasten kann, das uns angesichts des vielen Elends in der Welt regelmäßig befällt. Dieses schlechte Gewissen wird aber nur oberflächlich ruhig gestellt durch eine Gesinnungsethik des »Seid umschlungen Millionen«.
Rainer Hank
29. März 2025
Streicht das ElterngeldDer Sozialstaat ist nur gut, wenn er effizient ist
Wie kommt es bloß, dass mir in diesen Tagen immer wieder Vorschläge von Ökonomen in den Sinn kommen, bei Wahlen der Volksvertreter (auch) das Los entscheiden zu lassen. Auf diese Weise könne korrigiert werden, dass Politiker vor der Wahl Versprechungen machen, die sie hinterher wieder kassieren – und die Falschen an die Macht kommen. Sowohl im alten Athen wie auch in Venedig bei der Wahl der Dogen hat man mit dem Zufallsentscheid als demokratischem Prinzip gute Erfahrungen gemacht.
Okay, das wird sich jetzt nicht so schnell ändern lassen. Dass aber seit dem 23. Februar die Grünen für eine disziplinierte Haushaltspolitik kämpfen und damit fast wörtlich so argumentieren, wie die Union vor der Wahl, ist schon gewöhnungsbedürftig. Hätten die Bürger das geahnt, das Ergebnis für die Grünen wäre signifikant anders ausgefallen. An der Macht hätten freilich auch die Grünen das Füllhorn in die Hand genommen, während die Union in der Opposition so getönt hätte wie vor der Wahl.
Egal ist es nicht, womit man anfängt bei der Reform des Staates: Ausgabenorgien oder harte Einschränkungen. Wer als Erstes 500 Milliarden Euro für Infrastruktur locker macht, hat sich damit eine Lizenz erteilt, den Sozialstaat weiter auszubauen, anstatt ihn effizienter zu gestalten. Merz I (vor der Wahl) hatte versprochen, erst zu reformieren, Einsparpotentiale zu identifizieren und erst danach – wenn nötig – Schulden zu erhöhen. Merz II (nach der Wahl) macht es exakt umgekehrt – mit dem Verweis auf das Erpressungspotential der SPD und mit dem sturen Ziel, auf alle Fälle Kanzler zu werden – whatever it takes. »Zeitenwende« wird übersetzt als Erlaubnis, fiskalpolitisch in die Vollen zu gehen. »Zeitenwende« soll keinem Bürger etwas abverlangen. Wehtun ist verboten.
Kriterium für Einsparungen müsste sein: Wie zielführend und wie effizient ist die derzeitige Regelung? Effizienz vor Geld. Ich hätte da einen besonders unbeliebten Reformvorschlag: Schafft das Elterngeld ab! Die Idee kam vor ein paar Wochen vom Ifo-Chef Clemens Fuest, der das Elterngeld als »nice to have« bezeichnete, will sagen: kann wegfallen. Nachdem die Empörung überkochte, hat Fuest seinen Vorschlag nicht mehr oder nur noch schmallippig wiederholt – und sich merkwürdigerweise für die 500 Milliarden Infrastrukturschulden ausgesprochen, obwohl er die gar nicht gut findet.
Nice to have
Das Elterngeld ist nice to have. Mehr nicht. Es ist unverhältnismäßig teuer, erreicht die selbstgesetzten Ziele nicht, oder nur sehr unzureichend und privilegiert die Besserverdiener.
Elterngeld gibt es seit 2007. Es ist eine Hinterlassenschaft von Ausgabenweltmeisterin Ursula von der Leyen, die einmal als Bundesfamilienministerin angefangen hat. Der Staat zahlt Müttern und Vätern zwischen 65 und 67 Prozent des Nettoeinkommens, mindestens 300 höchstens 1800 Euro für längstens 14 Monate. Das sind im besten Fall 25.200 Euro für die reicheren Familien – und summiert sich auf inzwischen acht Milliarden Euro jährlich im Bundeshaushalt (vor drei Jahren waren es noch sechs Milliarden). Das ist mit Abstand der größte Posten im Familienhaushalt, der sich insgesamt auf 12 Milliarden Euro beläuft.
Für so viel Geld müsste die Gesellschaft eigentlich viel rausbekommen. Doch gefehlt. Völlig versagt die Leistung beim Ziel, die Geburtenrate zu erhöhen. Die lag 2007 bei 1,37 stieg dann tatsächlich bis auf 1,59 im Jahr 2017, ist aber inzwischen auf 1,35 zurückgefallen – somit 27 Jahre nach Einführung des Elterngelds »schlechter« als am Anfang. Über die Gründe der enttäuschenden Fertilität praktisch überall auf der Welt gibt es haufenweise Studien. Eines steht fest: Staatsgeld zeugt keine Kinder.
Wenn das Elterngeld schon keine zusätzlichen Kinder gebracht hat, hat es dann zumindest mehr Frauen in Arbeit gebracht? Da ist das Ergebnis durchwachsen. 2003 lag der Anteil der Frauen an allen Erwerbstätigen bei 44,9 Prozent, inzwischen sind es 46,5 Prozent. Den größten Sprung machten allerdings Frauen zwischen 55 und 64 Jahren. Und es bleibt dabei: Frauen arbeiten mit oder ohne Elterngeld immer noch sehr häufig Teilzeit. Der Anteil der Vollzeitbeschäftigten hat sich seit es Elterngeld gibt gerade einmal um 0,3 Prozent verbessert. Nun kann man auch geringe Beschäftigungsverbesserungen dem Elterngeld zugute schreiben. Doch gäbe es haushaltsschonender viel effizientere Wege,
dass mehr Frauen sich entscheiden zu arbeiten: Zum Beispiel die Abschaffung des Ehegattensplittings. Wetten wir, das Schwarz-Rot das Thema schweigend meidet?Dass das Elterngeld trotz fehlender »kausaler Evidenz« (Lars Feld) außerordentlich beliebt ist, wundert nicht, wird es doch inzwischen vielfach als eine Art staatliches Grundgehalt für geleistete Care-Arbeit angesehen. Eine Art Lohn für gut ausgebildete Mütter und Väter, die bereit sind, ihren Beitrag zur Steigerung gesellschaftlicher Produktivität zu leisten. Lässt man sich auf diese Logik ein, muss man zwingend für eine Erhöhung der Leistungen optieren. 1800 Euro auf 18 Stunden Kinderbetreuung an 30 Tagen gibt einen Stundenlohn von 3 Euro 33. »Viel zu wenig«, tönt es aus der von Jutta Allmendinger angeführten IG Väter und Mütter. Das zeigt: Die Einführung und Verstetigung neuer familienpolitischer Leistungen führt einen Kulturwandel herbei, der die Staatsbedürftigkeit von Besserverdienern als völlig natürlich und legitim erachtet.
Vom Aufstieg und Niedergang der Nationen
Wenn – leider Gottes – die Verteidigungsausgaben dauerhaft dramatisch erhöht werden müssen und wenn zugleich ein bleibend großer Bedarf an Investitionen in die Infrastruktur gegeben ist, führt kein Weg an sozial- und familienpolitischen Einschränkungen vorbei, um den Weg in den Pleitestaat zu stoppen. Das Reizthema Elterngeld ist nur ein Beispiel. Ich habe in einer vorigen Kolumne in Anlehnung an Vorschläge des Sachverständigenrats dafür plädiert, die Renten von der Lohnentwicklung zu entkoppeln und lediglich die Inflation auszugleichen. Das ergäbe in allen Jahren mit Reallohnverbesserungen deutliche Einsparmöglichkeiten bei den Staatszuschüssen zur Rentenkasse. Es gibt erst recht angesichts demographischer Kalamitäten kein gutes Argument dafür, den sich in Lohnerhöhungen spiegelnden Produktivitätsfortschritt an die nicht mehr Arbeitenden umzuverteilen – wohl wissend, dass dies eine Rücknahme der Dynamisierung der Renten wäre, dem Wirtschaftswunderstolz der Adenauerjahre.
Politiker aller Parteien versprechen vor der Wahl mit markigen Worten deutliche Reformen. Dass die Versprechen eingelöst werden, verhindern die Lobbys der Rentner- und der Elterngewerkschaften. Den Rest der Blockade übernehmen der vielen anderen Subventionsempfänger. »Vom Aufstieg und Niedergang der Nationen« heißt ein 1982 erschienenes Buch des Ökonomen Mancur Olson. Darin steht, wie es weitergeht.
Zum Elterngeld (»Luxus oder unverzichtbar?«) gibt eine kontroverse Diskussion zwischen der FAZ-Redakteurin Johanna Dürrholz und mir beim FAZ-Podcast für Deutschland.
Rainer Hank
17. März 2025
Der KündigungsagentWarum man nicht immer authentisch sein braucht
In Japan gibt es spezielle Agenturen, die Angestellten die Kündigung bei ihrem Arbeitgeber abnehmen. Darüber habe ich kürzlich in der Financial Times gelesen. Japaner gehen nicht zu ihrem Boss und sagen: »Hiermit kündige ich« oder verfassen ein Schreiben an die Personalabteilung, in dem sie mitteilen, zum nächstmöglichen Zeitpunkt das Unternehmen verlassen zu wollen. Sondern sie mandatieren einen Dienstleister, der für sie den gesamten Prozess abwickelt: Ausschließlich die vertretende Agentur kommuniziert mit dem Arbeitgeber, regelt die arbeitsrechtlichen Dinge, den Zeitpunkt des Ausscheidens und klärt, wann das Diensthandy und der Dienstwagen zurückgegeben wird. Das machen die natürlich nicht umsonst. Der Service kostet im günstigen Fall umgerechnet 150 Euro pro Kündigung.
Nun könnte man sagen: Andere Länder, andere Sitten. Oder man könnte mit der Theorie der Arbeitsteilung argumentieren: Wenn es Headhunter gibt, die einem einen Job vermitteln, darf es auch Spezialisten geben, die einem dabei helfen, den Job wieder loszuwerden. Doch das Verhalten bleibt – aus dem fernen Westen betrachtet – kurios und irrational. Warum geben Leute in Japan Geld für eine Dienstleistung aus, eine Formalie, die sie ohne zusätzliche Kosten selbst übernehmen könnten? In Europa oder USA kommt, soviel ich weiß, niemand auf die Idee, sich einen Kündigungsagenten zu nehmen.
Tatsächlich ist eine Kündigung eben nicht »kostenlos«. Jedenfalls ist das in Japan so, wo andere kulturelle Normen gelten. Erwartet wird – oder wurde jedenfalls lange Zeit -, dass man möglichst ein Leben lang treu beim selben Arbeitgeber bleibt, diesem dafür dankbar ist und klaglos bis in die Nacht hinein schuftet. Wer kündigt, fühlt sich schuldig. Und fürchtet, er könnte den Konflikt der Trennung allein nicht durchhalten. Sein Boss könnte ihn womöglich überreden, zumindest noch bis zum Ende des laufenden Projekts zu bleiben, um die Kollegen nicht im Stich zu lassen. Oder, schlimmer noch, der Vorgesetzte könnte die Gründe für die Kündigung erfragen – und dann müsste der Untergebene ihm ehrlich ins Gesicht sagen, dass er sich nicht gut behandelt fühlt. So eine Blöße will niemand sich geben, die dem Höhergestellten einen Gesichtsverlust zumutet.
Die Kosten der Kommunikation
»Zu kommunizieren hat für Japaner hohe Kosten«, erklärt Daisuke Kanama, ein Ökonomieprofessor, der ein Buch über die »leise kündigende Jugend« Japans geschrieben hat. Im Vergleich mit den Kommunikationskosten der Kündigung sind 150 Euro Delegationsgebühren zur Vermeidung dieser Gewissensqual günstig. Man zahlt für die Vermeidung von Kommunikation und Konfrontation. Und entledigt sich des Risikos, mit moralischen Appellen oder persönlich bedrängender Kritik zur Revision seiner Absicht genötigt zu werden. Im Lichte dieser Gewissensüberlegungen wird die Entstehung eines Marktes von Kündigungsagenturen plötzlich eine rationale Angelegenheit. Auch wenn diese Agenturen sich derzeit noch in einer rechtlichen Grauzone bewegen, wie die Financial Times schreibt.
Unter der Perspektive rationaler Kosten-Nutzen-Erwägungen scheint mir das Verhalten der Japaner plötzlich gar nicht mehr so fernöstlich kurios zu sein, wie es auf den ersten Blick daherkommt. Im Westen profitieren Unternehmensberatungen wie McKinsey & Co. seit vielen Jahrzehnten vom menschlich verständlichen Wunsch der Vermeidung direkter Kommunikations- und Konfrontationskosten. Ist es nicht einfacher, der Belegschaft und den Gewerkschaften zu sagen, der Berater habe dringend empfohlen, die Zahl der Mitarbeiter um zehn Prozent zu reduzieren, um international konkurrenzfähig zu bleiben? Der Vorstand ist fein raus, nach dem Motto: Da kann man nichts machen.
Im Preis der Dienstleister ist quasi ein Aufschlag für die Rolle des »Bad Guy« oder wahlweise des »Sündenbocks« enthalten. Unpopuläre Entscheidungen werden externalisiert. In der betriebswirtschaftlichen Literatur ist der Mechanismus längst untersucht. »Moral Licencing« heißt der Prozess, durch den sich Vorstände reinwaschen können, wenn sie externe Berater hinzuziehen. Von den Externen gibt es nicht nur nüchterne Analysen, sondern auch Narrative, die die Rationalisierung als »alternativlos« darstellen.
Das Problem ist nur, dass »Moral Licencing« kein Zaubermittel ist. Die Mitarbeiter merken die Absicht und reagieren verstimmt. Da geben die Chefs viel Geld aus für das Ziel, Geld zu sparen. Das sieht zumindest vordergründig paradox aus, weil es nicht leicht fällt nachzuweisen, dass sich die für Beratung ausgegebene Summe in künftigen Bilanzen rechnen wird.
Institutionen entlasten
Externalisierer leben mit dem moralischen Makel der Verlogenheit, zumindest der absichtsvollen Unaufrichtigkeit. Dahinter verbirgt sich ein philosophischer Grundsatzstreit. Das Pathos der Aufklärung verlangt Ehrlichkeit und Direktheit der Kommunikation. »Sei authentisch!«, so geht der moralische Imperativ. Gegen diese Authentizitätszumutung gibt es eine lange Tradition in der sogenannten philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts, die mit den Namen Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen verbunden ist. Diese Denker vertreten die Auffassung, der Mensch sei ein »Mängelwesen«, weil ihm die angeborenen Instinkte abgehen, mit denen sich die Tiere durch das Leben bewegen. Doch gerade diese Schwäche haben die Menschen zu einer Stärke umgewidmet. Sie können den Mangel kompensieren, indem sie sich Institutionen zimmern, die das scheinbar instinktreduzierte Unvermögen ausgleichen. Kultur, Technik – und vor allem die Institutionen des Marktes wären so gesehen hilfreiche Krücken, eine Errungenschaft menschlicher Fortschrittsgeschichte.
Scheler, Plessner, Gehlen gelten als »konservativ«. So habe ich es in den siebziger Jahren an der Universität gelernt. »Progressiv« dagegen waren die Helden der kritischen Theorie Adorno, Horkheimer und deren Nachfolger. Doch was heißt schon konservativ und progressiv? Die Klischees verschwimmen rasch, so kann man es in einem gerade bei Klett-Cotta erschienenen Buch von Thomas Wagner über »Die großen Jahre der Soziologie« nach 1945 nachlesen, in dem Gehlen und Adorno als Protagonisten auftreten. Der Vorwurf der Unaufrichtigkeit allemal billig.
Zurück nach Japan. Es scheint mir nicht nur mehr als verständlich zu sein, dass die Japaner sich die Gewissensbisse verursachenden Qualen einer Kündigung ersparen wollen und dafür Geld zu zahlen bereit sind. Es ist zudem eine wunderbare Leistung des Marktes, dass für dieses Bedürfnis auch ein Angebot entsteht und Dienstleister diese Arbeit übernehmen. Und am Ende kann man dabei zugucken, wie gesellschaftliche Evolution funktioniert: Die starre Kultur lebenslanger Beschäftigung in einem Unternehmen mit unzumutbar aufopfernden Loyalitätszumutungen wird sich lockern. Ein Gewinn an Freiheit für die Menschen.
Rainer Hank
17. März 2025
Hart arbeiten, früh aufstehenWarum eigentlich haben Morgenstunden Gold im Mund?
In einem der vielen Quadrelle vor der Wahl traf die BSW-Vorsitzende Sahra Wagenknecht auf Dorothee Bär, stellevertretende Vorsitzende der CSU. Es ging um das Bürgergeld. Einig waren sich die beiden Politikerinnen, dass sich für Menschen, »die hart arbeiten und früh aufstehen«, ihr Einsatz finanziell lohnen müsse. Und dass es die hart arbeitenden und früh aufstehenden Menschen empöre, wenn andere sich im Bürgergeld einrichten – ohne zu arbeiten.
Das Argument ist geläufig und einleuchtend. Werden Anreize zu arbeiten durch üppige Angebote staatlicher Unterstützung (Bürgergeld, garantiertes Grundeinkommen) unterlaufen, bekommen wir ein Gerechtigkeitsproblem. Und ein ökonomisches obendrein, weil die Deutschen derzeit zu wenige Wochenstunden und Lebensjahre arbeiten – ein Grund für die anhaltende Wachstumsschwäche des Standorts.
Aber müssen wir dafür unbedingt früh aufstehen? Ist etwa die Arbeit eines Spätaufstehers weniger wert als der Einsatz des Frühaufstehers? Sind Arbeitsethos und Produktivität ans Frühaufstehen gebunden? Arbeiten die Südeuropäer, die bekanntlich später anfangen, weniger hart als wir Mitteleuropäer? Ihre Wirtschaft wächst derzeit schneller als die unsrige. Haben die Menschen in der DDR, die häufig schon um 6 oder 7 Uhr auf der Arbeit waren, mehr Wohlstand geschaffen als ihre bundesrepublikanischen Nachbarn, die später anfingen? Dann müssten wir etwas verpasst haben.
Klar, der Frühaufsteher ist eine feste Redewendung. Morgenstund› hat Gold im Mund und der frühe Vogel frisst den Wurm. Aber warum eigentlich? Der Langschläfer gilt als faul, wenig produktiv, wenig leistungsmotiviert. Wer rastet, der rostet.
Gräbt man nach den historischen Wurzeln stößt man auf Preußens Tugenden der Disziplin, Ordnung und Pünktlichkeit. Soldaten, Beamte und Arbeiter wurden getrimmt, früh aufzustehen und den Tag strukturiert zu beginnen. Die Industriearbeiter des 19. Jahrhunderts mussten lernen, sich dem Takt der Maschine anzupassen. Das Fließband im Dreischichtbetrieb schläft nie. Nur die Aristokratie kam spät zum Frühstück; wie das ausging wissen wir seit der Französischen Revolution.
Zeit ist Geld
Der prominenteste Frühaufsteher-Versteher ist Max Weber. In seiner »Protestantischen Ethik« kommt er auf den Rat eines alten Geschäftsmannes an einen jungen Kollegen zu sprechen. Der beginnt mit dem Urwort des Kapitalismus »Zeit ist Geld«. Der Langschläfer bringt es zu nichts, soll das heißen. Vernimmt der Gläubiger morgens um Fünf nicht den Hammerschlag des Handwerkers, wird er nervös: Denn er muss muss befürchten, der Schuldner werde seinen Kredit nicht bedienen können.
Fleiß, Disziplin und Askese, all das, was uns nach Max Weber reich werden ließ, hat offenbar einen Zeitindex. Richard Baxter (1615 bis 1691), ein protestantischer Pfarrer und puritanischer Erbauungsschriftsteller aus England, hatte eine theologische Begründung parat, warum Zeitverschwendung die erste und schwerste aller Sünden sei. Die Zeitspanne des Lebens sei unendlich kurz und kostbar, um die eigene Berufung zu entfalten. Zeitverlust durch Geselligkeit, faules Gerede, Luxus, selbst länger als für die Gesundheit nötig zu schlafen (6 bis 8 Stunden immerhin waren erlaubt) seien »sittlich absolut verwerflich«, so der Pfarrer.
Das mündet bei Baxter in das Bonmot, man müsse früh aufstehen und früh zu Bett gehen: »Early to bed and early to rise makes a man healthy and wise«. In einer Zeit, der das christliche Sündenbewusstsein verloren gegangen ist, stellt die Verführbarkeit von üppiger staatlicher Alimentierung eine große Gefahr dar. Das ist es, was Bär und Wagenknecht eint. Eingeräumt wird unausgesprochen, dass die Motivation, früh am Morgen schon Leistung erbringen zu müssen, nicht selbstverständlich ist und deshalb nicht durch negative Anreize gefährdet werden darf. Anfällig dafür ist nicht nur der Morgenmuffel.
Ich vermute – ohne besondere Empirie vorweisen zu können -, dass die Anzahl der Menschen, die Mühe haben, morgens aus dem Bett zu kommen, größer ist als die Zahl jener, die morgens munter auf der Matte stehen. Es wundert nicht, dass gegen den asketischen Imperativ der frühen und harten Arbeit, früh schon sich Widerstand regte. Da sind zunächst jene Leistungstotalverweigerer, die gar nicht aufstehen. Ihr Held ist der Grieche Diogenes in seiner Tonne, dem der großen Alexander – mit Sicherheit ein Frühaufsteher – einen Gefallen tun möchte: »Geh mir aus der Sonne«, so die subversive Antwort des Diogenes. Dies begründete eine Ethik der Faulheit (vornehm Muße genannt), die sich von theologischen Verdammungsurteilen, eine Todsünde zu begehen, nicht einschüchtern ließ. In diese Tradition gehören Figuren wie der lebensuntüchtige Oblomow, Gontscharows Held, der lieber seine Tagträume pflegte als früh zur Arbeit aufzubrechen.
Tags schlafen, nachts arbeiten
Die weniger radikale Spezies der Morgenverächter will ich Partialverweigerer nennen. Sie arbeiten zwar, bestreiten aber, dass Morgenstund Gold im Mund habe. So eine Haltung muss man sich leisten können, weswegen sie – abermals ohne Empirie behauptet – unter Intellektuellen und Universitätsprofessoren verbreiteter ist als bei den Facharbeitern am Band von Mercedes. Zu Meisterschaft brachte es der Philosoph Hans Blumenberg, der prinzipiell nur des Nachts schrieb mit der plausiblen Begründung, da werde er nicht von lästigen Telefonanrufen gestört. Der Historiker Heinrich August Winkler, so erzählt man sich, macht nie Termine vor 12 Uhr mittags, weil er die Nacht durcharbeitet. Hat es seinem Output geschadet? Eher nicht, wenn ich auf die dicken Bände über »Deutschlands Gang in den Westen« schaue, die in meinem Bücherregal stehen.
So wurde dann auch der puritanische Spruch, man solle früh zu Bett zu gehen und früh aufstehen, früh als mörderisch verballhornt: Early to rise and early to bed makes a man healthy, wealthy and dead. Als ich jüngst an einem Werktag mitten in einer Sitzungswoche in Berlins Politpromicafé Einstein um acht Uhr morgens zum Frühstück kam, blieb ich mehr als eine halbe Stunde lang der einzige Gast.
Soll man daraus schließen, Politiker seien faul? Keinesfalls. Sie beherzigen lediglich eine andere Verballhornung des puritanischen Imperativs, die sich zwar nicht reimt, aber ebenfalls wahr ist: »Early to bed and early to rise and you never meet any prominent people«. Diese Abwandlung stammt von dem amerikanischen Schriftsteller Carl Sandburg und macht aufmerksam, dass es für erfolgreiche Networker der Politik keinen Feierabend geben kann. Die Politiker müssen dann eben morgens ihren Schlaf nachholen, was ein Fehler sein mag: Denn die Lobbyisten Berlins schlafen nicht und spinnen auch schon morgens ihre Intrigen.
Rainer Hank
04. März 2025
KriegswirtschaftWer soll das alles bezahlen?
So langsam glauben wir es. Europa und Deutschland müssen für ihre Verteidigung selbst sorgen. Und dies in Zeiten, in denen die Bedrohung aus Putins Russland so real und gefährlich ist wie nie seit dem Kalten Krieg. Bedenklich oft sagen kluge Leute inzwischen, wir stünden am Vorabend eines dritten Weltkriegs. Amerika habe seine Schuldigkeit getan, sagt Präsident Trump sinngemäß. Jeder wird sich künftig selbst der Nächste sein müssen.
Wir haben in Deutschland 35 Jahre lang, also seit dem Fall des Kommunistischen Reiches, »defunding the Bundeswehr« betrieben, sagt der an der London School of Economics lehrende Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl: Wir haben nicht nur militärisch, sondern im Gleichschritt damit auch finanziell abgerüstet. Im Jahr 1994 zählte die Bundeswehr 361.000 Soldaten, heute sind es 181.000.
Nach der »Zeitenwende« und dem hundert Milliarden Euro schweren Sondervermögen für die Bundeswehr hat sich nichts Nennenswertes geändert. Was der Bundeswehr zugesprochen wurde, hat man an anderer Stelle wieder gekürzt. Vom Rest wurde viel Geld für die Ukraine verwendet. Am Ende ist für unsere Verteidigungsfähigkeit – Boris Pistorius spricht von »Kriegstüchtigkeit« – nicht sehr viel geblieben. »Unsere Bundeswehr steht heute nicht viel besser da als die Reichswehr in der Weimarer Republik unter dem Versailler Vertrag«, sagt der Historiker Ritschl: Mit dem einzigen Unterschied – dieses Mal war alles freiwillig.
Jetzt muss plötzlich alles schnell gehen. Und sehr üppig werden: Zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), drei Prozent, fünf Prozent sind geboten. Wer bietet mehr? Ein Prozent beläuft sich bezogen auf das derzeitige BIP auf gut 40 Milliarden Euro. Wer soll das bezahlen?
Not kennt kein Gebot. Wirklich?
Woher kommt eigentlich die Kopplung der Verteidigungsausgaben an die Wirtschaftsleistung? Selbstverständlich ist das nicht. Gewiss, man könnte argumentieren, wer viele Menschen, viele Wohnhäuser und viele Fabriken schützen muss, müsse mehr Geld einsetzen als ein kleines Land. Als Maß käme alternativ auch die Höhe des Risikos und der Bedrohung durch einen Aggressor infrage. Dann müsste Deutschland – näher an Putin dran – prozentual mehr Geld einsetzen als, sagen wir, Irland. Aber das würde den Solidaritätsgedanken der Nato und der Europäischen Union vollends zermalmen.
Not kennt kein Gebot, so hören wir es allenthalben. Das heißt: Wer bislang noch an der Schuldenbremse festhalten wollte, müsse spätestens jetzt einsichtig werden und kapitulieren. Eine disziplinierte Haushaltspolitik nützt nachkommenden Generationen nichts, wenn die Menschen tot sind – so der moralische Erpressungshammer. Vermutlich geht es weniger um Moral und die nachfolgenden Generationen als den (verständlichen) Wunsch, alles möge so bleiben wie wir es gewohnt sind. Da bietet sich der Rückgriff auf die Staatsverschuldung durch Ausgabe von Kriegsanleihen an. Dann merkt es keiner. Vermeintlich.
Es ginge auch anders. Das lehrt ein Blick in die deutsche Nachkriegsgeschichte, den die Ökonomen Lars Feld, Veronika Grimm und Volker Wieland in einer für die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« erstellten Studie präsentieren. Nach der Wiederbewaffnung seit Mitte der Fünfziger Jahren und während den heißen Jahren des Kalten Krieges (Kubakrise), als der Westen einen Dritten Weltkrieg fürchtete, beliefen sich die deutschen Verteidigungsausgaben auf jährlich vier bis fünf Prozent des BIP. So blieb das mehr oder weniger bis 1990. Erst danach gingen die Ausgaben deutlich zurück auf nur noch gut ein Prozent. Den Deutschen war diese »Friedensdividende« gerade recht; sie mussten die Wiedervereinigung finanziell stemmen.
Hätte man die Verteidigung damals über mehr Schulden finanziert, müsste Anfang der sechziger Jahre die Staatsverschuldung nach oben geschnellt sein. Aber so ist es nicht. 1960 betrug die Schuldenquote Deutschlands nach Angaben des Internationalen Währungsfonds 18,4 Prozent; 1945 waren es mit 17,8 Prozent kaum weniger. Heute beträgt die Verschuldung gut 60 Prozent, was geschichtsvergessene Politiker gerne »wenig« nennen. Damals war man der Meinung, Verteidigung sei eine Daueraufgabe, die über die Einnahmen aus Steuern finanziert werden müsse. Wenn wir heute mit guten Gründen der Meinung sind, Kriegstüchtigkeit sei – leider – eine Daueraufgabe, so müsste das Geld konsequenterweise auch aus dem Steueraufkommen genommen werden. Sollten höhere Steuern aus Gründen der Gerechtigkeit und der Konjunktur als unzumutbar erachtet werden, bliebe nur, Staatsausgaben an anderer Stelle zu kürzen.
Boomer können verzichten
Wie kommt es, dass Deutschland sich in den sechziger Jahren vergleichsweise hohe Verteidigungsausgaben leisten konnte? Grob gesagt, liegt es an einer anderen Priorisierung. Verteidigungsfähigkeit war dem Staat damals sehr wichtig, »das Soziale« spielte noch nicht die dominante Rolle, die es heute spielt. Am ehesten ähnelt der Staat Israel und sein heutiger Haushalt der Welt Deutschlands im Kalten Krieg. Dort gibt man über fünf Prozent des BIP für die Verteidigung aus. Der Anteil der Militärausgaben an den Gesamtausgaben lag 2022 in Israel bei 13 Prozent gegenüber zwei Prozent in Deutschland. Größter Ausgabenposten hierzulande ist, wie gesagt, der Sozialhaushalt, der 69 Prozent aller öffentlichen Mittel absorbiert. In Israel haben die Sozialausgaben lediglich einen Anteil von 41 Prozent. Dabei ist die Staatsquote Israels niedriger als in Deutschland. Es stimme gerade nicht, dass hohe Rüstungsausgaben nur durch höhere Schulden finanzierbar sind, sagt der Präsident des Ifo-Instituts, Clemens Fuest: Trotz des viel höheren Militärbudgets, lag die Schuldenquote Israels 2023 bei 61 Prozent – ungefähr so hoch wie hierzulande.
Wer also soll das bezahlen? Zum Beispiel wir Boomer, finde ich. Werden wir deshalb abschließend persönlich. Ich habe in den siebziger Jahren den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert und Zivildienst geleistet, weil ich von einer friedlichen Welt ohne Panzer geträumt habe. Der Traum ist nicht wahr geworden. Doch meine Generation hat siebzig Jahre lang in Frieden gelebt (der USA und der Nato sei Dank). Ich möchte, dass auch die nachfolgenden Generationen in Frieden leben. Dafür muss jetzt aufgerüstet werden, getreu dem in unserem Lateinunterricht gelernten Grundsatz »si vis pacem para bellum«. Würden wir von Frieden und Wirtschaftswunder Privilegierten uns damit begnügen, dass unsere Renten künftig »lediglich« an die Inflation angepasst, aber von der Lohnentwicklung entkoppelt würden, würde auf die Jahre eine erkleckliche Summe frei. Vielleicht kann das mal eines der Leibniz-Institute ausrechnen. Unser »Opfer« hielte sich in Grenzen: Real bliebe uns die Kaufkraft erhalten; das Rentenniveau freilich würde sinken. Das würde das Finanzierungsproblem des künftigen Friedens nicht lösen, aber lindern.
Rainer Hank