Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 19. Oktober 2025
    Wird KI zur Blase?

    Jeff Bezos und John Elkann in Mailand Foto Italian Facts

    Dieser Artikel in der FAZ

    Und wäre das schlimm? Hören wir, was Jeff Bezos meint

    Manchmal bin ich die depressive Miesepeterei leid, die sich bei uns breit gemacht hat. Die Klage über den überbordenden Sozialstaat und die einfallslose Industrie ist ja richtig. Durch permanentes Beweinen wird nichts besser: die Lage bleibt mies, bloß die Stimmung wird noch schlechter. Statt kraftstrotzender Rhetorik (Friedrich Merz) wären endlich kraftvolle Reformen nötig.

    Wo also bleibt das Positive? Dafür empfehle ich eine Diskussion zwischen John Elkann und Jeff Bezos aus Anlass einer Tech Konferenz in Turin von Anfang Oktober. Man kann sich das bei Youtube ansehen. Elkann ist Enkel und Erbe von Gianni Agnelli, dem legendären Fiat-Patriarchen. Bezos, nun ja, ist Gründer und Chairman von Amazon – mit einem geschätzten Privatvermögen von rund 250 Milliarden Dollar.

    »Europa hat seine Dynamik verloren«, sagt Bezos. Und dann sagt er: »Ich werde nie in Rente gehen.« Schön, so was zu hören. Und ein erster Kontrapunkt zur aktuellen Debatte über die Erhöhung des Rentenalters, wo schon eine Verlängerung auf 70 Jahre von vielen als Angriff auf die persönliche Integrität empfunden wird. Wir sind halt ein Volk der Dachdecker, die ständig vom Dach zu fallen Angst haben. Die Amerikaner dagegen sind ein Volk der Erfinder: Nachdem wir die Erde zu einem besseren Planeten gemacht haben, wenden wir uns dem Weltall zu, um unsere Erde zu einem noch besseren Planeten zu machen. Sagt Bezos. Ein bisschen zugespitzt ist das, ich weiß, aber falsch ist es nicht.

    Warum hat Bezos, inzwischen 61 Jahre alt, keine Lust, in Rente zu gehen? Finanzielle Gründe werden es wohl kaum sein. »Weil wir in einem goldenen Zeitalter leben« sagt er: Noch nie in der Geschichte habe es bessere Zeiten gegeben. Auch das ist für die Apokalyptiker dieser Tage harter Tobak – die sehen unsere Welt permanent vor dem Untergang (Klimawandel, Atomkrieg, Artenvielfalt). Bezos› Beispiele heißen dagegen: Künstliche Intelligenz, Robotik – und eben völlig neuen Chancen, die der Weltraum bietet. Der Mond sei ja ziemlich nah, findet der Amazon-Mann, der mit »Blue Origin« sein eigenes Weltraumunternehmen betreibt.

    Der Absturz der Amazon-Aktie

    Aus heutiger Sicht ist die Geschichte von Amazon eine lineare Erfolgsgeschichte. Bezos hat die Firma 1994 gegründet, dreißigjährig, kein blutjunger Studienabbrecher wie Facebook-Gründer Mark Zuckerberg. Aber es gab Rückschläge. Bezos erinnert an das Jahr 2000, da brach die Amazon-Aktie innerhalb eines sehr kurzen Zeitraumsan einem in kurzer Zeit von 113 auf 6 Dollar ein. Schuld daran war die sogenannte Dotcom-Blase der neuen Internet-Unternehmen, die rasend schnell platzte. Der Nasdaq-Index, in dem die amerikanischen Technologie-Unternehmen gelistet sind, verlor binnen eines Jahres 77 Prozent seines Höchststands.

    In der New Economy-Krise hatten auch hierzulande viele privaten und institutionellen Anleger viel Geld verloren. Und dafür den Kapitalismus im Allgemeinen und die Börse im Besonderen verantwortlich gemacht. Es dauerte Jahre, bis die Deutschen wieder Zutrauen zu Aktien gefunden haben.

    Bezos, obwohl selbst Opfer, deutet die damalige Blase positiv. »In Zeiten der Begeisterung von einer neuen Technologie kriegen alle Firmen Geld von den Investoren.«. sagt er: Es sei schwer, die Spreu vom Weizen zu trennen. Der Schweizer Bankier Konrad Hummler wagte damals einen frivolen Vergleich: Man müsse viele Spermien losschicken, um eine einzige Eizelle zu befruchten. So verlaufe auch die wirtschaftliche Evolution. Im Vorhinein weiß niemand, welche Geschäftsidee sich durchsetzen wird. Es geht um Versuch und Irrtum, was von den Investoren Risikofreude verlangt und die Fähigkeit, Rückschläge auszuhalten.

    Bezos insistiert zu Recht darauf, dass der Zusammenbruch der Internetaktien gerade kein Zusammenbruch des Geschäftsmodells Internet bedeutet habe. Die meisten der kalifornischen »Magnificent Seven« wurden in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts gegründet. In der Krise blieben die Aktionäre weg, kurzzeitig, die Amazon-Kunden wurden immer mehr.

    Der Vergleich mit dem Boom der künstlichen Intelligenz (KI) liegt nahe. Die KI-Konzerne schwimmen im Geld. Im Vergleich dazu waren die Internet-Startups des Jahres 2000 Schnäppchen. Prognosen zufolge investieren KI-Unternehmen allein in diesem Jahr rund 400 Milliarden Dollar, um KI-Modelle ans Laufen zu verbessern. Die Marktkapitalisierung aller börsennotierter KI-Firmen wird auf rund 20 Billionen Dollar geschätzt.

    Die Lehre des Großvaters

    Jeff Bezos rubriziert die Dotcom-Blase und die KI-Blase »industrielle Blasen«. Beide Male werden die Finanzströme von realen Entwicklungen getragen, die einen enormen Fortschritt für die menschliche Zivilisation bedeuten. Bei KI erahnen wir das erst langsam. Das Internet ist uns längst selbstverständlich geworden.

    Bezos grenzt die »Industrie-Bubbles« von den »Banking Bubbles« ab. Darunter fällt zum Beispiel die sogenannte Subprime-Krise des Jahres 2008, in der viele Gläubiger weltweit ihre Kredite abschreiben mussten, mit denen Immobilien finanziert wurden, denen plötzlich kein Gegenwert entsprach. »Industrie-Blasen« dienen dem Fortschritt der Menschheit. »Bank-Blasen« taugen für nichts. Mir fällt das Diktum des ehemaligen US-Notenbankpräsidenten Paul Volcker, wonach die einzige nützliche Finanzinnovation dieser Jahre die Erfindung des Geldautomaten gewesen sei – und selbst der wird bald überflüssig, wenn alles bargeldlos abläuft. Schon vor bald fünfzig Jahren machte der Ökonom Charles Kindleberger in seinem Klassiker über die Finanzkrisen (»Manias, Panics, and Crashes«) die Unterscheidung zwischen »industrial« und »banking bubbles«.

    Zurück zum Gespräch zwischen John Elkann und Jeff Bezos. Die kommen auf ihre Kindheit zu sprechen. Elkann sagt, für sie beide seien die Großväter sehr wichtig gewesen. Für den Nachfahren des großen Gianni Agnelli bedarf das keiner besonderen Begründung. Für Bezos, Enkel eines Farmers in den Südstaaten Amerikas, eigentlich schon.

    Bezos Geschichte geht so: Auf einer Autofahrt mit den Großeltern im Jahr 1974, Jeff war zehn Jahre alt, habe man im Radio eine Werbekampagne gegen das Rauchen gehört mit der Warnung, jeder Zug an einer Zigarette verkürze das Leben um zwei Minuten. Der schlaue Junge errechnete auf dem Rücksitz, dass die Großmutter, eine Kettenraucherin, durch ihre Qualmerei sieben Lebensjahre verloren habe.

    Die Großmutter bricht in Tränen aus. Der Großvater hält das Auto an, steigt mit dem Jungen aus und gibt ihm folgenden Rat: »It’s harder to be kind than to be clever«: Es sei schwerer, freundlich zu sein als klug zu sein. Klugheit ist ein Geschenk, für das man nichts kann. Freundlichkeit ist eine bewusste Entscheidung. Eine typisch amerikanische Geschichte. Klar. Aber trotzdem wahr.

    Rainer Hank

  • 19. Oktober 2025
    Weg mit der Erbschaftsteuer

    Wer wird das einmal erben? Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Es geht um das Aufstiegsversprechen

    Von Ludwig Erhard (1897 bis 1977) stammt der kategorische Imperativ der sozialen Marktwirtschaft. Er heißt: »Wohlstand für alle.« Eine Gesellschaft, die sich dem Ziel sozialer Gerechtigkeit verpflichtet weiß, muss seiner Bevölkerung den Aufbau von Vermögen so leicht wie möglich machen. An diesem Punkt verbindet sich das Aufstiegsversprechen – »die Kinder sollen es einmal besser haben«- mit dem Ziel der Chancengleichheit: alle Klassen der Gesellschaft sollen die gleichen Chancen haben. Es darf keine Privilegien für bestimmte Schichten (Adel, Fabrikanten, Spekulanten) geben.

    Sofern man sich auf diese Grundsätze verständigen kann, müsste daraus eigentlich folgen: Die Bürger beim Vermögensaufbau zu behindern, indem man ihnen das von ihnen erarbeitete Vermögen wieder wegnimmt, ist keine gute und vor allem keine Idee der Gerechtigkeit. Denn es demotiviert enorm. Wenn Eltern ihren Kindern Vermögen hinterlassen, damit sie es besser als sie selbst haben, müsste der Staat diesen Erfolg prämieren und nicht bestrafen. Die Erbschaftsteuer ist aber eine Strafsteuer.

    Das wird sofort deutlich, wenn man ein kleines Gedankenexperiment macht. Menschen, die ihr ganzes Vermögen noch rechtzeitig vor ihrem Tod verjuxen – was wir ihnen weder moralisch ankreiden noch fiskalisch prämieren wollen – können dieses Geld nach Gutdünken abschlagsfrei verteilen: Kreuzfahrten buchen, Ferienhäuser kaufen, Dreisterne-Restaurants testen, teure Partnerinnen aushalten). Sie haben das Geld bereits versteuert und Einkommen-, Körperschafts- oder Kapitalertragsteuer darauf bezahlt. Sobald sie aber ihren wirtschaftlichen Erfolg an die Nachkommen weitergeben, müssen diese abermals Steuern bezahlen. Sollten sie Menschen beschenken, mit denen sie nicht verwandt sind, die sie aber für bedürftig halten, langt der Fiskus umso unverschämter zu.

    Die Legitimation für die Erbschaftsteuer besorgt der Staat sich durch einen Taschenspielertrick, indem er nämlich die Perspektive vom Erblasser auf die Erben wechselt und denen vorwirft, ihre Erbschaft sei leistungsloses Vermögen und deshalb wohlfeile Beute für den Fiskus. Als ob Vermögen nur gerecht wäre, wenn es durch eigene Leistung erworben wurde. Dass das Erbe Ausweis der Leistung der Erblasser war, die damit genau die Absicht des Vermögensaufbaus für ihre Nachkommen verknüpften, fällt durch den Taschenspielertrick des Staates unter den Tisch.

    Fiskalische Gier

    Mit sozialer Gerechtigkeit hat die Erbschaftsteuer somit nichts zu tun. Oder sagen wir es anders: Das Label »soziale Gerechtigkeit« camoufliert die fiskalische Gier, die sich das Geld dort holt, wo etwas zu holen ist. Das belegt die aktuelle Debatte. Nachdem Schwarz-Rot sich über beide Ohren am Kapitalmarkt verschuldet hat und das Geld jetzt offenbar immer noch nicht reicht, erwägt man jetzt, die Erben zu schröpfen. Das Argument, mehr oder weniger gleichlautend von Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) und CDU-Fraktionschef Jens Spahn gebraucht, ist lausig: Auch die Reichen müssten etwas zur Finanzierung des Sozialstaats beitragen. Aber wer finanziert den Sozialstaat denn bisher, wenn nicht die Reichen? Die Armen wohl kaum; die sollen ja profitieren.

    Wie geht Wohlstand für alle? Anfrage an Charlotte Bartels. Die Ökonomin ist Professorin für Finanzwissenschaft an der Universität Leipzig, kommt vom nicht gerade neoliberalen Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und beschäftigt sich seit langem mit den Mechanismen des langfristigen Vermögensaufbaus und der Vermögensverteilung in Deutschland und anderen Ländern. An den Studien war auch Moritz Schularick, der Chef des »Kiel Instituts für Weltwirtschaft« beteiligt.

    Hier die Antwort, grob zusammengefasst: Das Wohlstands- und Aufstiegsversprechen über einen langen Zeitraum wird hierzulande eingelöst. Während im späten 19. Jahrhundert ein Prozent der Bevölkerung fünfzig Prozent des Vermögens auf sich vereinte, hat sich dieser Anteil inzwischen auf 26 Prozent halbiert. Wenn das kein Erfolg in Sachen Gerechtigkeit ist! Die Mechanik der Vermögensverteilung funktioniert bis heute so, dass steigende Immobilienpreise zu einem Vermögenswachstum der Mittelschicht führen, die einen großen Teil ihres Portfolios dort investiert haben: Immobilienpreiswachstum wirkt also tendenziell nivellierend. Sparen, also Konsumverzicht, trägt zusätzlich zum Vermögensaufbau der Mittelschichten bei.

    Das zeigt: Mehr Gleichheit stellt man am besten nicht durch Umverteilung her, indem man den Menschen etwas wegnimmt (Erbschaftsteuer). Langfristig effektiver und moralisch überzeugender ist es, möglichst viele Menschen dazu befähigen, reich zu werden. Das zeigt sich auch, wenn man auf die Entwicklung der Kapital- und Unternehmensvermögen schaut: Wachsen diese Vermögen schneller als die Immobilienvermögen, so nimmt die Vermögensverteilung einer kleinen Oberklasse mit großem Betriebsvermögen wieder zu. In den Jahren zwischen 1993 und 2018 konnte die Mittelschicht mit ihrem wachsenden Immobilienvermögen gegen die gleichfalls wachsenden Unternehmensvermögen ansparen und eine höhere Rendite für sich erzielen.

    Die Mitte wächst

    Wer diese nivellierende Wirkung der Preisentwicklung als Treiber eines Wohlstand-für-alle-Programms nutzen will, müsste zugleich die Kapitalbildung der Mittelschichten jenseits des Immobilienvermögens unterstützen. Hier zeigt sich, dass die geltende Erbschaftsteuer nicht nur generell, sondern auch immanent ungerecht ist. Denn sie verschont die Fabrikanten. Es ist nicht in Ordnung, dass Unternehmenserben von der Steuer befreit werden, wenn sie die Belegschaft und Firma eine bestimmte Zeit erhalten. Das Argument, andernfalls müssten sie die Fabrik verkaufen, was der Wirtschaft und den Beschäftigten schade, ist fadenscheinig. Geschwister, die ihr Elternhaus erben, sind häufig auch genötigt, das Haus zu veräußern, um alle Erben auszuzahlen. Es gibt genügend gute Vorschläge, das bestehende Steuerrecht gerechter zu machen, indem man die Sätze für alle deutlich senkt, dann aber auch die Fabrikbesitzer verpflichtet, Steuern zu zahlen. Dann hätten alle Schichten die gleichen Voraussetzungen, ihr Vermögen zu mehren. Diese Asymmetrie könnte Schwarz-Rot rasch korrigieren. Aber darum geht es Klingbeil & Co. gar nicht: So wollen mehr Geld, nicht mehr Gerechtigkeit.

    Gerechter, wie gesagt, wäre es, die Erbschaftsteuer ganz zu streichen, Kapitalbildung breiter Schichten zu fördern – durch eine Senkung der Kapitalertragssteuer – und staatlicherseits statt immer mehr Einnahmequellen zu suchen, Ausgaben (soziale und andere Subventionen) zu kürzen. Kanzler Friedrich Merz hat das einmal versprochen. Er drückt sich davor, das Versprechen einzulösen.

    Rainer Hank

  • 18. Oktober 2025
    Meins oder Deins?

    Mein Eimerchen, Dein Eimerchen. Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum der Neo-Merkantilismus viele Freunde hat

    Wenn ich Ihnen, liebe Leserin dieser Kolumne, zehn Euro gebe, dann mache ich einen Verlust und Sie einen Gewinn. Wenn es eine Chef-Stelle im Unternehmen zu besetzen gibt, dann kann nur einer gewinnen. Der andere hat das Nachsehen und steht als Loser da.

    Des einen Gewinn ist des anderen Verlust. In der Spieltheorie nennt man das ein Nullsummenspiel. Die Theorie ist unmittelbar plausibel. Man braucht weder Mathematik noch Ökonomie studiert zu haben, um sie zu verstehen. Sie bezieht ihre Wahrheit aus jedermanns Alltagserfahrung.

    Ökonomen widersprechen gleichwohl. Wenn es um den internationalen Handel geht, so sagen sie, gewinnen durch offene Märkte und freien Handel alle Beteiligten. Statt Nullsumme versprechen sie eine Win-Win-Erfahrung. Damit haben sie recht. Aber sie müssen gegen die unmittelbare Intuition ankämpfen. Wirtschaftstheorie ist in vielen Fällen kontraintuitiv. Je älter ich werde, umso mehr bin ich davon überzeugt, dass es diese kontraintuitiven, dem »gesunden Menschenverstand« widersprechenden Aussagen sind, die dafür verantwortlich sind, dass unsere konkrete Welt womöglich die beste aller möglichen Welten ist, aber sie gleichwohl besser sein könnte – wenn die ökonomischen Gesetze nicht nur für Ökonomen, sondern auch für den Rest der Menschheit eine unmittelbare Plausibilität hätten.

    Machen wir Beispiele für die Verführung durch die Intuition. Dabei ist der gesunde Menschenverstand in vielen Fällen deckungsgleich mit dem Verstand der Politiker. Wie sollte es in einer Demokratie auch anders sein. Wenn es eine Mietpreisbremse gibt, dann werden die Wohnungen nicht mehr teurer, sagt die Intuition – und wundert sich darüber, dass sich der Wohnungsmarkt nicht entspannt. Wenn es einen hohen Mindestlohn gibt, dann sichert das gut bezahlte Jobs, sagt der normale Menschenverstand – und wundert sich darüber, dass die Arbeitslosigkeit steigt. Wenn ich Geld spare, dann sichert das mein späteres Wohlergehen, sagt die Intuition – und wundert sich darüber, dass die Wirtschaft in die Krise gerät, wenn niemand mehr Geld ausgibt. Und das Ersparte schrumpft.

    Die Liste könnte fortgesetzt werden. Das Paradox entsteht dadurch, dass die unbeabsichtigten Wirkungen des Gutgemeinten nicht ins Kalkül einbezogen werden und/oder dass, was für eine einzelne Person plausibel ist, nicht zwingend auch für alle gut ist.

    Win-Win oder Nullsummen-Spiel?

    Womit wir wieder beim Handel der Nationen angekommen sind. Dort hat die Nullsummentheorie eine große und lange Tradition. Sie heißt Merkantilismus. Der Merkantilismus ist die wirtschaftspolitische Denkschule des gesunden Menschenverstands. Er war die herrschende ökonomische Theorie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in allen entwickelten Staaten Europas und Nord- wie Südamerikas. Und er könnte es bald wieder sein.

    Die Theorie geht, grob gesagt, so: Exporte sind für ein Land gut. Importe sind schlecht. Handelsüberschüsse müssen politisch gefördert werden. Dafür gibt es mehrere Instrumente. Zölle bremsen die Einfuhr und bringen Staatseinnahmen, Subventionen sollen die heimische Industrie stärken. Dahinter steht der Gedanke, dass der Wohlstand eines Landes sich bemisst am Reichtum aus Gold und Silber, den man durch den Export einnimmt. Das nannte man »Bullionismus« (von englisch: Barren). Die Edelmetallbestände spiegeln den wahren Reichtum eines Landes, so dachte man.

    Konsequent waren aus dieser merkantilistischen Sicht auch Imperialismus und Kolonialismus. Denn dann wird der Heimatmarkt vergrößert. Die Kolonien liefern Rohstoffe, müssen also nicht mehr importiert werden. Zugleich sind die Kolonien ein wichtiger Absatzmarkt für die im Mutterland hergestellten Produkte.

    Das, wie gesagt, ist lediglich eine grobe Skizze des Merkantilismus. Sie wurde von dem großen schottischen Ökonomen Adam Smith in seinem Werk über den »Wohlstand der Nationen« von 1776 nach allen Regeln der Kunst zerpflügt und (eigentlich) beerdigt. Wohlstand entsteht durch freien Handel und internationale Arbeitsteilung, so Smiths These. Kooperation nützt allen Handelspartnern. Win Win ist dem Nullsummenspiel überlegen. Wenn ein Land auf Autarkie setzt, wird es langfristig verarmen. Reich bleibt allenfalls das Königshaus, das den Menschen verschwiegen hat, dass die Gold- und Silberschätze nur den Reichtum der Eliten, nicht aber den Wohlstand der Nation messen. Wenn Merkantilisten auf Zölle setzen, setzen sie einen Handelskrieg in Gang, der schnell in einen militärischen Krieg überzugehen droht.

    Die Theorie des Freihandels ist dem Merkantilismus nicht nur theoretisch überlegen, sondern auch praktisch. Die größten Wohlstandsgewinne entstanden in Zeiten des Freihandels. Etwa im späten 19. Jahrhundert. Oder im späten 20. Jahrhundert, als China sich der Marktwirtschaft geöffnet hatte. Merkantilismus mag kurzfristig Erfolge bringen – etwa bei nachholender Entwicklung. Langfristig ist er ein Weg in die Armut.

    Schwachstellen des Liberalismus

    Und doch ist der Merkantilismus nicht auf dem Friedhof der Fortschrittsgeschichte gelandet. Sondern derzeit so präsent wie seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr. Das liegt, wie gesagt, an seiner intuitiven Überlegenheit. Mit Merkantilismus (Zölle, Subventionen für die heimische Industrie) lassen sich Wahlen gewinnen. Mit Merkantilismus lassen sich neomonarchische und neokoloniale Träume verwirklichen – siehe Donald Trump: »Der Staat bin ich.«

    Die Aktualität des Merkantilismus lebt davon, dass der Liberalismus immer schon eine Schwachstelle hatte: Und das ist seine Blindheit für das Phänomen der Macht. Freihandel unterstellt, dass wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten von Nationen im Interesse aller Marktteilnehmer sind. Sie werden keine Kriege anzetteln, denn dann würden sie die Quelle ihres Wohlstands unterminieren. Der wirtschaftliche Wettbewerb ist sein (einziges) Entmachtungsinstrument. Handel als pazifizierende und machtreduzierende Strategie. Davon lebt der Liberalismus.

    »Naiv«, so tönt es heute aus den Sprachrohren der Propagandeure des geoökonomischen Merkantilismus. Tatsächlich haben die Freihändler die Bedeutung der politischen Macht unterschätzt. Der Liberalismus kennt nur wohlgesonnene Handelspartner, die sich freiwillig in Abhängigkeit begeben haben zum wechselseitigen Nutzen. Der Merkantilismus dagegen kalkuliert mit der politischen Macht. Die kennt Freund und Feind, ist bereit auf Wohlstand zu verzichten im Interesse nationaler Überlegenheit und/oder Sicherheit.

    Im Nullsummenspiel der Macht kann nur einer den Krieg gewinnen, den Handelskrieg wie den militärischen Krieg. Dass mag plausibel sein. Es ist gleichwohl falsch, wie wir aus vielen Kriegserfahrungen wissen. Wer an das Nullsummenspiel glaubt, landet meist in einer lose-lose Situation. Deshalb ist die Welt derzeit so gefährlich.

    Rainer Hank

  • 18. Oktober 2025
    Aufstand des Gewissens

    Bartolemé de las Casas, OP (1484 bis 1566) Foto wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Bartolomé de Las Casas Kampf für die Rechte der Indios

    Wer hat das Recht auf wirtschaftliche, politische oder militärische Intervention? Wer bestimmt, was »zivilisiert« oder »barbarisch« ist? Die Rechtfertigungsrhetorik für gewaltsame Interventionen (zum Beispiel gegen »Barbaren«) hat sich seit dem 16. Jahrhundert kaum verändert. Modern formuliert äußert sie sich heute etwa im »Kampf für Demokratie« oder gegen den »Werteverfall« der westlichen Welt.

    Der marxistische Soziologe Immanuel Wallerstein bezeichnet diese hegemoniale Haltung in seinem Traktat über die »Barbarei der anderen« (2006) als »Universalismus der Mächtigen«. Dies lässt sich historisch zurückverfolgen, etwa zur spanischen Eroberung der Neuen Welt, und manifestiert sich heute weiterhin in globalpolitischen Einsätzen westlicher Staaten. Vermeintlich moralische Argumente verschleiern wirtschaftliche oder machtpolitische Interessen, so der Verdacht.

    Soll man deshalb die Idee des moralischen Universalismus aufgegeben – etwa die Annahme allgemeiner Menschenrechte oder die Idee des Marktes als zivilisierter Form der Wohlstandsmehrung und einem zynischen Relativismus anhängen nach dem Motto, jedes Volk solle nach seiner eigenen Façon glücklich oder unglücklich werden?
    Machen wir ein historisches Beispiel. Im spanischen Weltreich gab es in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine Kontroverse auf höchstem intellektuellem Niveau über die Legitimation der Eroberung der neuen Welt, die angemessene Form der Evangelisierung der indigenen Völker Südamerikas (genannt Indios) und die Natur der Menschen mit ihren Kulturen und Religionen. Es beteiligten sich an dieser Diskussion die klügsten Köpfe der Zeit (zumeist waren es Mönche des Dominikanerordens).

    Zur Erinnerung: Vor der »Entdeckung« Lateinamerikas durch Christopher Columbus im Jahr 1492, dem Beginn der Neuzeit, wird die Bevölkerung des Kontinents auf 40 bis 60 Millionen Menschen geschätzt. Um das Jahr 1600, also hundert Jahre später, waren davon noch sechs bis acht Millionen »übrig«. Dies war das Ergebnis von Massakern, Kriegen, Seuchen, Hunger und Arbeitszwang. Legitimiert wurde die imperiale Eroberung als Auftrag zur Ausbreitung des Christentums und der Bekehrung der Heiden.

    Diskurs über die Eroberungen

    Eine kolonialethische Debatte wurde vom spanischen Königshaus nicht etwa unterdrückt, sondern explizit gefördert, woraus sich vermuten lässt, dass man Gewissensbisse angesichts des – in heutiger Sprache – Genozids in Südamerika hatte und der Diskurs das Gewissen beruhigen sollte. Man muss sich das so vorstellen, als hätten Hitler und Göbbels 1944 an den besten Universitäten über die Wannseeprotokolle und die Vernichtung des europäischen Judentums wissenschaftliche Symposien veranstalten lassen.
    Ich konzentriere mich zur Veranschaulichung auf die sogenannten Valladolid-Debatte der Jahre 1550 bis 1551. Protagonisten waren auf beiden Seiten hoch gebildete Theologen: Dem spanischen Humanisten, Philosophen und Hofchronisten Karls V. Juan Ginés de Sepúlveda (1490 bis 1573) stand der Dominikanerpater und Historiker Bartolomé de Las Casas (1484 bis 1566) gegenüber.

    Sepúlveda führte vier zentrale Argumente an zur Legitimation der Eroberung und gewaltsamen Missionierung der Indios, für die er jeweils biblische und philosophische Belege ins Feld führten. Las Casas trat an, ihn zu widerlegen. Das erste Argument Sepúlvedas behauptet, die Indios seien »Barbaren« und von Natur aus Sklaven. Es stützt sich auf Aristoteles Lehrstück über die »Halbmenschen« und seine Theorie der »natürlichen Sklaverei«: Das seien Menschen, die von Natur aus nur zur körperlichen Arbeit taugen und aus Mangel an Vernunft nur dadurch am menschlichen Leben teilhaben können, dass sie als Sklaven ihren vernunftbegabten Herren dienen. Sodann war Sepúlveda der Auffassung, der »Götzendienst« und die Praxis der Menschenopfer bei den Indios offenbare deren moralische Unterlegenheit und rechtfertige Krieg. Denn Menschenopfer verstießen gegen das Naturgesetz. Drittens gebe es eine Pflicht zur Verteidigung Unschuldiger, die von den Indios als Menschenopfer getötet werden. Viertens erleichtere die gewaltsame Unterwerfung der indigenen Völker die Ausbreitung des Christentums. Das letztgenannte Argument kann sich auf den Kirchenlehrer Augustinus berufen.

    Las Casas plädierte in seiner Entgegnung für einen Perspektivenwechsel. Er sah sich als Verteidiger der Rechte aller Völker und des Gebots ihrer friedlichen Missionierung. Gegenüber den Spaniern gab sich Las Casas als Ankläger, der eine Wende der Mentalität und Politik einforderte. Las Casas bestritt die Theorie der »natürlichen Sklaven«. Auch die Indios seien »freie Menschen« (»hombres libres por naturaleza«) mit Vernunft, Kultur und Gesetzen ausgestattet. Kulturelle Unterschiede begründeten keine Unterlegenheit. Unglaube sei, zweitens, kein legitimier Kriegsgrund. Glaubensfragen müssten durch Predigt, nicht durch Zwang entschieden werden. Auch eine angebliche Pflicht zur Verteidigung der »Opfer« der Indios lässt er nicht durchgehen. Krieg bringe stets mehr Tod und Leid als er verhindere. Schließlich hält Las Casas Zwang als Mittel der Bekehrung für unerlaubt; echter Glaube setze Zustimmung des freien Willens voraus.

    Moralischer Universalismus?

    Die Debatte kannte historisch keinen Sieger; Sepúlvedas Position wurde nicht zur offiziellen Rechtsnorm Spaniens erklärt. Las Casas Schriften indes kamen später auf den Index. Fraglos ging er als der moralische Held aus der Debatte hervor; der Soziologe Hans Joas sieht darin in seinem neuen Buch über den Universalismus einen »Aufstand des Gewissens«.

    Aus heutiger Sicht liest sich der Streit wie eine Vorwegnahme des Konflikts zwischen universalisierbaren (westlichen) Macht- und Moralansprüchen und der Anerkennung gleichwertiger kultureller Selbstbestimmung. Eine radikale postkoloniale These würde heute auch Las Casas widerspreche. Diese Theorie behauptet, dass die europäische Kultur einen biblisch-stoischen Kern enthält, der universalisierbar sei. Dieser moralische Universalismus offenbart sich in der postkolonialen Lesart als Camouflage imperialer und kolonialer Unterdrückungsansprüche, lediglich etwas humaner präsentiert.

    Wenn Gesellschaften dazu neigen, der Barbarei zu verfallen (und das Christentum nicht mehr universalisierbar wäre), müsste als Substitut ein »Gesellschaftsvertrag« alle Völker zu Humanität und Moralität verpflichten, meinte der Ethnologe Claude Lévy-Strauss in einem berühmten Vortrag aus dem Jahr 1992. Das war die Zeit des Glaubens an eine regel- und vernunftgeleitete global friedliche Weltordnung. Davon sind wir heute meilenweit entfernt. Es wäre schon viel gewonnen, käme es zu einem »Aufstand des Gewissens«.
    (Bartolomé de las Casas«Verteidigung der Völker der Neuen Welt« von Las Casas gibt es jetzt lateinisch/deutsch und üppig kommentiert und eingeleitet von Mariano Delgado im Verlag frommann-holzboog.)

    Rainer Hank

  • 14. Oktober 2025
    Charisma und Macht

    Wer hat mehr Charisma? Merkel oder Trump? Foto Archiv

    Dieser Artikel in der FAZ

    Was unterscheidet Donald Trump von Angela Merkel?

    Von Napoleon Bonaparte heißt es, er sei ein mittelmäßiger Reiter gewesen. Kein Betrachter der berühmten Napoleon-Darstellung von Jacques-Louis David käme auf diese Idee: Dort sieht man Napoleon in Uniform mitten in einer erhabenen Gebirgslandschaft auf einem in die Höhe steigenden Pferd. Der Held ist in eine prächtig rote Uniform mit wehendem Umhang gekleidet, ein energischer Arm zeigt nach oben: Vorwärts! Während das Pferd wild aufbäumt, wirkt Napoleon unerschütterlich ruhig, fast unbewegt. Im Vordergrund, auf der linken Seite des Gemäldes, sind in Großbuchstaben drei Namen in den Fels geritzt: »ANNIBAL« »KAROLUS MAGNUS« und darüber »BONAPARTE«. Napoleon reiht sich in die Linie großer Heerführer ein.

    Nichts davon entspricht der historischen Wahrheit. Napoleon hatte 1800 die Alpen überquert, um die Österreicher in Italien zu schlagen – und zwar auf einem Maultier, nicht auf einem Pferd. Und, wie gesagt, er war ein mittelmäßiger Reiter. Das Gemälde ist propagandistisch: Es zeigt nicht, was war, sondern was sein sollte – eine mythische Führerfigur, der selbst Naturgewalten bezwingt. Überlebensgroße wird er inszeniert: kühn, ruhig, überlegen – trotz Sturm, Tier, Terrain. Seine Gestik der erhobenen Hand erinnert an Führergestalten wie Moses, Hannibal oder Karl dem Großen.

    Das Bild dient als Charismainszenierung. Diese Deutung entnehmen ich dem schönen Buch von David A. Bell – Men on Horseback: The Power of Charisma (2020): Anders als viele meinen, ist Charisma keine angeborene oder vom Heiligen Geist verliehene Gabe, sondern wird symbolisch konstruiert. Jacques-Louis David war darin Meister. Führer wie Napoleon konnten revolutionäre Bewegungen in autoritäre Systeme überführen. »Helden« in der Nachfolge von Napoleon, wie etwa der Befreier Südamerikas Simon Bolivar, ließen Davids Bild für sich bis in die kleinsten Details kopieren. George Washington, Peter der Große und Friedrich der Große taten das Gleiche.

    Von Napoleons Pferd ist es nur ein kleiner Schritt bis zur Einsicht: Charisma kann man lernen – mehr als eine gewisse Minimalbegabung braucht es nicht. Das zwingt zur einer Korrektur der berühmten Definition Max Webers, der Charisma als eine »außeralltägliche Qualität einer Persönlichkeit« beschreibt, »um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder zumindest spezifisch außeralltäglichen Kräften oder Eigenschaften ausgestattet angesehen« werde. Wer will kann sich den TED-Talk der Sozialpsychologin Amy Cuddy über »Gesten der Macht« (Power Poses) ansehen. Dort sieht man, wie es uns gelingen kann, durch eine einfache Verhaltensänderung von einer machtlosen zu einer machtvollen Haltung den Cortisolausstoß (beruhigend) zu drosseln und die Testosteronproduktion (kämpferisch) anzuregen. Kurz (und amerikanisch) gesagt heißt das: Übe vor dem Spiegel so lange eine machtvolle Haltung ein, bis Du Dich selbst von Deiner Bedeutsamkeit überzeugt hast und sei Dir sicher, dass Deine Körpersäfte sich anpassen werden. Charisma fällt nicht vom Himmel.

    Charisma kann man lernen

    Zum Geschäftsmodell ausgebaut wurde die Konstruktion von Charisma von der amerikanischen Autorin Olivia Fox Cabane. Sie will Führungskräften helfen, ihre Wirkung auf andere Menschen zu optimieren. Cabane gibt Kurse und hält Vorträge an den Elite-Universitäten Harvard, Yale, Stanford und MIT sowie bei den Vereinten Nationen. In ihrem Bestseller The Charisma Myth: How Anyone Can Master the Art and Science of Personal Magnetism (2012) vertritt sie die These, jeder Mensch könne durch mentale Techniken und Körpersprachen-Strategien charismatisch wirken – unabhängig von Aussehen, Status oder Persönlichkeit.

    Cabanes drei zentralen Begriffe der Charisma-Produktion heißen Präsenz (völlige Aufmerksamkeit im Moment, wirklich »da sein«), Macht (Ausstrahlung von Status und Selbstsicherheit) und Wärme (Wohlwollen, dem Gegenüber positive Absichten vermitteln). »Pausiere erst zwei oder drei Sekunden, bevor Du mit Deinem Vortrag beginnst«, predigt sie. Damit schindet man Eindruck. Körpersprache zähle mehr als viele Worte. Das Ganze freilich müsse mit einer Botschaft verbunden werden, zum Beispiel »Make America great again«. Oder eben »Ich bin der neue Hannibal, der die Alpen überquert.«

    »Charisma zählt in unserer Welt leider mehr als Intelligenz, Integrität oder Kompetenz«, sagt Cabane. Wenn wir die Charisma-Formel zu dechiffrieren lernen, sind wir den scheinbar genialen Naturbegabungen weniger hilflos ausgeliefert, so lautet das Versprachen von Olivia Fox Cabane. Das hat seinen Preis. Für eine Jahrescoaching berechnet sie ein Minimum-Honorar von 250 000 Dollar, lese ich in der Financial Times.

    Wir wissen nicht, ob Donald Trump zu den Klienten von Frau Cabane zählt. Am Geld würde es kaum scheitern. Wie Napoleon nimmt auch Trump für sich in Anspruch, eine Art revolutionärer Anführer zu sein. Trumps Körpersprache, das wurde oft beschrieben, ist schon besonders: Er nutzt konsequent eine Gestik, die mit den Power Poses kompatibel ist. Dazu zählen raumgreifend-imperiales Stehen, Hände in den Hüften oder breit ausgestreckt, das sogenannte Zeigefinger-Karate bei Reden und die nach unten geöffneten Hände (»down-power«), die sagen sollen: Ich habe die Lage im Griff.

    Das Prä der Populisten

    Ich bin nicht der Erste, dem aufgefallen ist, dass Populisten sich besser als Charismatiker machen als liberale Demokraten. Das ist quasi ein Vertrag auf Gegenseitigkeit. Die Anhänger lieben ihre charismatischen Führer, die Führer kümmern sich empathisch um das Volk, von dem sie gewählt werden wollen. Die Bindung kommt über emotionale Reize verbunden mit »volksnahen« Rhetoriken zustande. Dazu braucht man sich nur die Auftritte von Donald Trump, Hugo Chavez, Javier Milei, Jeremy Corbin, Marine Le Pen oder Georgia Meloni (»io sono Giorgia«) ansehen.

    Die Politiker der Mitte sind offenbar weniger begabt. Die kurz angebundenen Auftritte von Olaf Scholz waren zum Einschlafen; die berühmte Raute der Kanzlerin Angela Merkel stammt gewiss nicht aus dem Charisma-Inventar von Olivia Fox Cabane. Beim Reden neigte Merkel sich eher leicht nach hinten, so als wolle sie auf Distanz zu ihrem Auditorium gehen. Donald Trump springt seine Zuhörer geradezu an, wirkt dann aber auch wieder fast wie versteinert – als sei er in Kontakt mit höheren Mächten.
    Sollen Demokraten von den populistischen Charismatikern lernen? Diese Empfehlung geben derzeit viele. Falsch wäre es sicher nicht. Charisma ist gegenüber gut und böse unempfindlich. George Washington zum Beispiel wäre ein positives Vorbild; Willy Brandt gewiss auch.

    Gleichwohl: Ein liberal-demokratischer Populismus ist so etwas wie ein Widerspruch in sich. In einem liberalen Rechtsstaat ist zu viel Charisma immer problematisch.

    Rainer Hank