Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 12. April 2024
    Brüsseler Imperialisten

    CO2–Speicher und Artenvielfalt: Der Regenwald Foto Cyle Cleveland/unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie man in den Regenwald hineinruft, so schallt es heraus

    Alles hat seine Geschichte. Auch der deutsche Wald. Den gibt es nämlich erst seit dem Jahr 1800. Gut, früher gab es auch schon Wälder. Bloß dass sich niemand um sie gekümmert hat, der Wald also kein Ort menschlichen Erlebens war. Erfunden haben den Wald die deutschen Romantiker und die deutschen Forstwirte. »O schöner, grüner Wald, Du meiner Lust und Wehen andächtiger Aufenthalt«, so dichtete Joseph von Eichendorff. Ludwig Tieck hat in seiner Novelle vom »Blonden Eckbert« (1796) ein neues Wort geprägt, das sogar im Englischen Karriere gemacht hat: die »Waldeinsamkeit« (wie zweihundert Jahre später dann das »Waldsterben«). »Im Wald, im Wald! da konnt› ich führen/Ein freies Leben mit Geistern und Tieren«, heißt es in Heinrich Heines »Waldeinsamkeit« (1851).

    Als Ort der Sehnsucht, der Angst und des Rückzugs hat sich der Wald seither belebt: Mit Hexen, Nixen, Vögeln, Klettergärten – und Förstern. Als Heinrich Cotta, der Begründer der Forstwirtschaft, 1817 seine »Anweisung zum Waldbau« verfasste, konnte er weder wissen, dass seine Bemühungen, dietter und Dürren.

    Ja, Sie haben richtig gelesen: Früher war weniger und nicht mehr Wald als heute. Jedenfalls hierzulande und auch im Rest von Europa. Allen Klagen über Entwaldung, Trockenheit und Borkenkäfern zum Trotz geht es uns waldmäßig ziemlich gut. Die große Entwaldung nach 1800 war vor allem dem Bedarf des Bergbaus und des Hüttenwesens geschuldet und zugleich Folge des wachsenden Exports von Holz im frühen 19. Jahrhundert. Dazu gibt es übrigens auch ein Wald-Märchen: »Das Kalte Herz« von Wilhelm Hauff. Der Einstieg ins Kohlezeitalter markiert dann den Übergang zur Ausbeutung der »unterirdischen Wälder«. Damit soll bekanntlich demnächst Schluss sein.

    Ich speise mein Waldwissen aus einem Besuch der lehrreichen Wälder-Ausstellung, die man noch bis zum 11. August gleich an drei Orten in und um Frankfurt besuchen kann: Im Senckenberg-Museum (Naturkunde), im Romantikmuseum (Dichtung und Musik) und im Sinclair-Haus in Bad Homburg (Malerei). Die Ausstellung ist sehr zu empfehlen zum Beispiel an Wochenenden wie dem vergangenen Osterfest, wo es im echten Wald zu kalt und zu nass war.

    Entwaldungsfreie Lieferketten

    Inzwischen, wie gesagt, brauchen wir uns um den deutschen Wald nur wenig Sorgen zu machen: Er wächst! Ein Drittel der Fläche ist Wald. Problematischer sieht es in den tropischen Regenwäldern aus, die dem Anbau von Soja, Kaffee oder Kakau weichen müssen, durch Ölpalmen ersetzt werden oder als Weidefläche zur Rinderzucht dienen. Das schadet dem Klima, mindert die Artenvielfalt und kostet indigenen Stämmen ihren angestammten Lebensraum.

    Aus diesem Grund gibt es jetzt die EU-Verordnung zu entwaldungsfreien Lieferketten, abgekürzt EUDR (EU-Deforestation-Regulation). Sie verbietet den Handel von Rohstoffen und Produkten, die eine Entwaldung oder Waldschädigung verursachen und lastet den Nachweis dafür den hiesigen Unternehmen an. Es um Soja, Palmöl, Holz (Zeitungspapier), Kaffee, Kakao, Naturkautschuk (Automobilindustrie) und Rinder.

    Die Verordnung ist seit Juli 2023 in Kraft und muss spätesten im Dezember dieses Jahres umgesetzt werden. Sie ist ein Musterbeispiel für Brüsseler Bürokratisierung, enthält 62 detaillierte Vorschriften: alle Importprodukte müssen sich zu den betroffenen Grundstücksflächen zurückverfolgen lassen. Dabei geht es nicht nur um den Nachweis, dass dafür kein Baum gefällt werden musste. Hiesige Marktteilnehmer müssen in einer Sorgfaltserklärung auch bestätigen, dass die Produkte gemäß der »einschlägigen Rechtsvorschriften des Erzeugerlandes hergestellt« worden sind. Dazu zählen Vorschriften zur Landgewinnung, Arbeitnehmerrechte und völkerrechtlich geschützte Menschenrechte. Geldstrafen bei Verstößen können bis zu vier Prozent des EU-weiten Gesamtumsatzes eines Unternehmens betragen.

    Und was sagt der »globale Süden«, dem die Entwaldungs-Verordnung doch zugutekommen soll: Klima und Artenschutz, Wahrung von Menschen-, Kinder- und Arbeitnehmerrechten? Die Begeisterung hält sich, vorsichtig gesprochen, in Grenzen. Von »regulatorischem Imperialismus« spricht der Wirtschaftsminister Indonesiens in einem Interview mit der New York Times. Der Süden müsse die Zeche dafür zahlen, dass die wohlhabenden Staaten im Norden jahrzehntelang die Abholzung ihrer Wälder in Kauf genommen hätten und jetzt die Gutmenschen spielen. Nicht zuletzt für kleine Produzenten seien die bürokratischen Vorschriften zur Dokumentation ihrer Waldflächen nicht zu stemmen. Das zwinge sie dazu, ihr Land zu verkaufen. Massenhafte Verarmung werde die Folge sein. Lokale Zwischenhändler mixten traditionell die Rohstoffe verschiedener Erzeuger, deren Herkunft sich schon vor Ort schwer nachvollziehen lasse, geschweige denn am Ende der Lieferkette.

    Neo-Imperialismus plus Protektionismus

    Der Vorwurf des Neo-Imperialismus trifft die EU nicht zu Unrecht. Er paart sich mit dem Verdacht des Protektionismus zum Schutz der europäischen Landwirtschaft. Wenn Palmöl durch die Bürokratiekosten zu teuer wird, eröffnet dies Chancen für pflanzliches Öl aus der EU-Landwirtschaft. »Ist Neokolonialismus erlaubt, wenn er sich als klimapolitisch gute Tat geriert?«, so die polemische Reaktion von Ländern in Südostasien. Vor allem Indonesien und Malaysia hat der Palmöl-Boom der vergangenen Jahre einen Weg aus der Armut und zu Wohlstand gewiesen. Bis zu 4,5 Millionen Menschen sind in diesen Ländern neu in Lohn und Brot gekommen. Ihre Regierungen wehren sich jetzt dagegen, dass das Entwaldungsprogramm der EU zu ihrem Verarmungsprogramm wird.

    Was soll man machen? Anmaßend finde ich den Anspruch des »reichen Nordens«, die Produktionsbedingungen im »globalen Süden« diktieren zu wollen. Aus dem Verbot von Deforestation wird De-Globalisierung, was am Ende zu Verarmung im Süden und schwindendem Wohlstand im reichen Norden führt.
    »Für die Transformation müssen alle Opfer bringen«, entgegnen die Klima-Moralisten, geben sich als Freunde neuer Waldeinsamkeit, bürden dem Süden die Kosten auf – und verschweigen, dass es bessere, wenngleich auch nicht perfekte klimapolitische Instrumente gibt als den »regulatorischen Imperialismus«. Zum Beispiel einen freiwilligen »Klimaclub« aller transformationswilligen Staaten, die einen einheitlichen CO2–Preis vereinbaren und die Kosten der Transformation gerechter verteilen. Viele Ökonomen werben dafür schon lange. Bislang ohne Erfolg.

    Rainer Hank

  • 12. April 2024
    Götter unter Menschen

    Neid und Bewunderung liegen eng beieinander Foto Danilo Capece/unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Die Reichen können es niemandem recht machen.

    Alan Rufus war ein Krieger von Wilhelm dem Eroberer. Zum Lohn für seine Teilnahme an der Schlacht von Hastings verlieht Wilhelm seinem Gefolgsmann zahlreiche Städte nebst Gütern. Vor seinem Tod im Jahr 1093 soll sich der Ertrag aus diesen Besitztümern auf sieben Prozent des damaligen Bruttoinlandsprodukts in England belaufen haben. Das machte Rufus zu einem der reichsten Männer, die England je hatte. Geschätzt in Preisen des Jahres 2023 wären das 242 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Bernard Arnault, Eigentümer des französischen Luxuskonzerns LVMH und gemäß der Forbes-Liste heute der reichste Mann der Welt, bringt es 2023 »lediglich« auf ein Vermögen 211 Milliarden Dollar.

    Reichtum fasziniert die Menschen. Zugleich treten sie den Reichen mit Misstrauen entgegen. Dies entnehme ich einer gerade erschienenen Monografie über die Reichen in der westlichen Welt seit dem Mittelalter (mit Exkursen in die Antike). Sein Autor ist der italienische Wirtschaftshistoriker Guido Alfani (»As Gods among men«, Princeton University Press). Dass sie sich »wie Götter unter Menschen« aufführen, nimmt man den Reichen übel: Was immer sie machen, sie machen es falsch.

    Die Reichen sind bekanntlich immer die anderen. Niemand will reich sein; denn dann läuft er Gefahr, Neid und Missgunst zu erregen. Guido Alfani hat eine brauchbare Arbeitsdefinition: Reich ist, wer ein Vermögen auf sich vereint, das zehn Mal so groß ist wie das Medianvermögen. In Deutschland lag 2023 das Medianvermögen eines Haushalts bei 106.000 Euro (was im Vergleich mit anderen europäischen Ländern gar nicht so viel ist). Reich wäre man somit ab einem Vermögen von gut einer Million Euro. Das wären dann die 1,5 Millionen Euro-Millionäre, die es in Deutschland derzeit gibt oder, bezogen auf 80 Millionen Einwohner, die »oberen zwei Prozent«. Weltweit liegt der Anteil der Reichen bei zehn Prozent. So gesehen ist Deutschland bezogen auf die Reichendichte eher ein armes Land.

    Paul McCartney vor Taylor Swift

    Dass die Reichen geeignete Objekte für Voyeure sind, dafür sprechen die beliebten Reichen-Rankings. Auch unter den Reichen selbst, so heißt es, genießen sie Aufmerksamkeit. Niemand will gerne absteigen. Ob es Taylor Swift wurmt, dass sie mit einem Vermögen von 1,1 Milliarden Dollar immer noch nicht an Paul McCartney (1,2 Milliarden) rankommen? Gut, sie ist 34 Jahre alt und hat noch Zeit. Reichenlisten gibt es inzwischen sogar für literarische Figuren (»Forbes fictional 15«). Da rangiert Dagobert Duck mit 65 Milliarden Dollar auf Platz Eins, gefolgt von dem Drachen Smaug aus dem »Herrn der Ringe« von J.R.R. Tolkien (54 Milliarden): Gierig hortet er Goldschätze über Goldschätze, was ihn immerhin zum reichsten Drachen der Weltliteratur macht.

    Stigmatisierend wirkt bis heute die theologische Tradition des Mittelalters nach. Danach ist, wer reich ist, per se ein Sünder. Denn Reichtum ist Folge von Habgier und führt zu Verschwendung. Und dies zählt als Todsünde, was wiederum das Schicksal ewiger Verdammnis nach sich zieht. Schön ist das nicht, bringt nicht nur lebenslange Gewissensbisse, sondern auch die permanente Angst vor dem fünften Kreis der Hölle. Dorthin, in die sumpfigen, stinkenden Gewässer des Flusses Styx, werden die Reichen nach ihrem Tod von Dantes Göttlicher Komödie verbannt.

    Die gesellschaftliche Ächtung ist derart vernichtend, dass man sich fragt, warum es überhaupt Reiche auf der Welt gibt. Die beste Antwort darauf stammt von Donald Trump. In seinem Buch »The art of the deals« von 1987 schreibt er: »Der Punkt ist, dass Gier keine Grenze kennt.« Offenbar gibt es einen Reichtums-Trieb der menschlichen Natur, der stärker ist als alle gesellschaftliche oder theologische Abwertung und gesellschaftliche Ächtung.

    Grundsätzlich gibt es zwei Spielarten, wie man mit seinem Reichtum umgehen kann. Die einen zeigen demonstrativ, was sie haben und sonnen sich im Luxus ihrer Rolex-Uhren (extensiver Konsum), die anderen verbergen ihr Vermögen vor der Welt (extensives Sparen). Doch, wie gesagt: Wie man es macht, macht man es falsch. Demonstrativer Konsum war im Mittelalter gesetzlich beschränkt. Denn er erregte sozialen Neid. Minutiös wurde in sogenannten Luxusgesetzen geregelt, wie ausladend eine Kindstaufe gefeiert werden durfte, wie teuer die Geschenke der Taufpaten, wie kostbar die Kleider der Gäste und was es zu essen geben durfte. Verstöße wurden mit Geldstrafen geahndet, die häufig in Kauf genommen wurden, womit aus der Strafe ökonomisch eine Art Steuer wird, die Teile des Reichtums staatlich abschöpft.

    Wohltaten gegen Höllen-Qualen

    Wer Neid und Strafsteuer vermeiden will, kann seinen Reichtum verbergen und sein Geld sparen. Das freilich führt bei guter Anlagestrategie und in friedlichen Zeiten dazu, dass die Reichen nur noch reicher werden, was die soziale Ungleichheit vergrößert. Womit wir bei Umverteilungsfantasien landen. Erst recht dann, wenn der Reichtum gar nicht auf eigener Leistung, sondern wie häufig auf anstrengungslosem Besitztum (vulgo: Erbschaft) beruht. Einen Mittelweg zwischen beiden Wegen wird mir aus dem pietistischen Schwaben berichtet: Man verbirgt seine Sammlung der Porsches und Bentleys in den Tiefgaragen unter der Obhut des Chauffeurs. Und fährt selbst mit Straßenbahn oder Lastenrad.

    Vielfältig sind die Strategien der Reichen, sich gegen Missgunst und Fegefeuer-Drohung zu wappnen. Im Mittelalter empfahl der Klerus, Geld den Armen zu schenken, was einen Ablass für die in der Hölle Schmorenden erbrachte und zugleich das eigene schlechte Gewissen entlastete. Stiftungen und Mäzenatentum sind ein bewährtes Mittel, einen Beitrag für das Gemeinwohl zu leisten und uns sich zugleich als Wohltäter gut zu fühlen. Doch merke: Wie man es macht, macht man es falsch. Reiche Stifter haben viel Macht, was ihnen übelgenommen wird, auch wenn sie viel Gutes tun. Bill Gates kann ein Lied davon singen. Besser kommt bei seinem Mitmenschen an, wer Staat und Kommunen direkt finanziert. Ohne den Reichtum seiner Bürger wäre Siena nie so schön geworden. Ohne das Geld der französischen Aristokratie gäbe es die Gärten Versailles nicht. Cosimo de Medici rettete Florenz mit seinem Geld vor dem finanziellen Bankrott. Der Bankier John Pierpont Morgan griff während einer heftigen Finanzkrise im Oktober 1907 dem amerikanischen Staat finanziell unter die Arme: Die Reichen, eine Art »lender of last resort« für Pleitestaaten. Sind sie nicht willig, werden sie extra besteuert oder – gängige Praxis in Zeiten nationaler Not – zum Kauf von Zwangsanleihen zur Kriegsfinanzierung genötigt. Merkwürdig, dass hierzulande noch niemand vorgeschlagen hat, auf diese Weise die marodierende Bundeswehr zu sanieren.

    Ginge es uns normal Sterblichen in einer Welt ohne die Superreichen besser? Im Gegenteil: wir wären alle viel ärmer.

    Rainer Hank

  • 27. März 2024
    Demokratie wird überschätzt

    Ist das Demokratie? Foto Albert Welti »Die Landsgemeinde« (1910) Bundeshaus Bern

    Dieser Artikel in der FAZ

    Zu kämpfen gilt es für Liberalismus und nationale Souveränität

    Angst geht um in Deutschland. Es heißt, die Demokratie sei in Gefahr. Im Herbst sind Wahlen in drei Bundesländern: Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Überall gewinnen sogenannte extreme Parteien viel Zustimmung. Auf der Plattform »wahlrecht.de«, Stand 18. März, kommt die AfD in Thüringen auf 31 Prozent, das »Bündnis Sahra Wagenknecht« (BSW) kriegt 17 Prozent, die Linke 15 Prozent. Die SPD schrumpft auf 6 Prozent; Grüne und FDP rangieren an oder unter der Schwelle von 5 Prozent.
    Solche Parteipräferenzen sind tatsächlich neu für Deutschland. Man kann auch sagen: Sie sind erschreckend. Mit Ausnahme der Union (20 Prozent in Thüringen) spielen sogenannte bürgerliche Parteien keine Rolle. Stattdessen streiten sich extreme (manche sagen: extremistische) Parteien aus dem rechten und linken Spektrum um die Macht: 63 Prozent der Wählerinnen und Wähler – Stand heute – würden ihre Stimme einer dieser Parteien geben.

    Soll man daraus folgern, die Demokratie sei in Gefahr? Ich verstehe das Argument nicht. Und zwar umso weniger, je lauter dieser »Wir retten die Demokratie«-Diskurs tönt. Was sich in den drei Bundesländern zeigt, das ist doch gerade Demokratie, ob es einem passt oder nicht. Jedenfalls ist mir nicht zu Gehör gekommen, dass die Wahlbürger dort in irgendeiner Form mit Zwang oder unsittlichen Wahlgeschenken verführt werden oder es gar zu Versuchen des Wahlbetrugs kommen könnte. So gesehen sind Sahra Wagenknecht und Björn Höcke Demokraten. Man kann sie auch Populisten nennen. Aber was ist damit gewonnen? Lediglich eine Tautologie, die besagt, dass in einer Demokratie die Herrschenden sich die Zustimmung zum Regieren bei den Beherrschten (also beim Populus, abschätzig auch Plebs genannt) abholen müssen. Und dass die Herrschenden ihre Macht zum Glück nur auf Zeit innehaben, sie also spätestens nach vier Jahren auch wieder abgewählt werden können.

    Die Demokratie wäre erst dann in Gefahr, wenn – sagen wir Sahra Wagenknecht oder Björn Höcke – ihre demokratisch erworbene Macht dazu missbrauchen würden, die Demokratie selbst abzuschaffen. Und sich als Diktatoren installierten. Das kann, wer mag, ihnen unterstellen. Beweise dafür gibt es nicht. In anderen Ländern (Niederlande, Polen, Italien) haben die Rechtspopulisten das gerade nicht getan. Mit Verweis auf das Jahr 1933 und die Nationalsozialisten zu sagen, hierzulande sei das anders, halte ich für ein völkisches Argument, das der plumpen Annahme einer Wiederholung von Geschichte aufsitzt. Und dabei noch nicht einmal an den 1945 entwickelten deutschen Sonderweg der »wehrhaften Demokratie« glaubt, welche die demokratische Teilhabe der Bürger im Vergleich zu anderen Ländern stark begrenzt: Volksabstimmungen fürchten wir hierzulande wie der Teufel das Weihwasser; Verfassungsschutz und Verfassungsgericht haben eine viel größere präventive Macht als anderswo. Insofern steht die gefestigte Populismusbegrenzungsmacht unseres Staates in einem merkwürdigen Kontrast zum weit verbreiteten Gefühl einer bedrohten Demokratie. »Mehr Gelassenheit wagen«, so müsste ein daraus sich ableitender Imperativ lauten.

    Die »schweigende Mehrheit« ist eine linksgrüne Minderheit

    Der Demokratiebegriff wird aufgeladen und übertrieben ideologisch besetzt, wenn eine selbsternannte »schweigende Mehrheit« das Monopol aufs Demokratischsein für sich beansprucht – unterstützt von öffentlichem Rundfunk, Ampelpropaganda und teuer alimentierten Demokratieforschungsprogrammen an Stiftungen und Netzwerken zu Rettung des »sozialen Zusammenhalts«. Das mag als kommunikativer Trick der Gemeinwohlrhetorik durchgehen, redlich ist es nicht.

    Eine gerade von der Universität Konstanz veröffentlichte Umfrage wollte wissen, wer die Demonstranten sind, die seit Jahresanfang als »schweigende Mehrheit und Mitte« die Demokratie verteidigen wollen. Das Ergebnis: 61 Prozent von ihnen hatten bei der vergangenen Bundestagswahl die Grünen gewählt, 65 Prozent ordnen sich »links der Mitte« ein, weitere fünf Prozent »linksaußen«. Auf den Marktplätzen des Landes demonstriert mithin nicht die »schweigende Mitte«, sondern eine linksgrüne Minderheit – so das Ergebnis der Forscher in Konstanz. Das ist völlig in Ordnung, sollte aber nicht kaschiert werden. Im Übrigen möchte auch ich nicht in einem (Bundes)land leben, in dem Sarah Wagenknecht und/oder Björn Höcke regieren. Denen aber das Demokratischsein abzusprechen oder sie als »formal demokratisch« zu denunzieren, könnte sich am Ende rächen.
    Was aber ist dann gefährdet, wenn es nicht die Demokratie ist? Es sind die »liberalen Institutionen« und die »nationale Souveränität«. Beides hängt zusammen und bedeutet: Der Streit muss »inhaltlich« werden und darf sich nicht damit begnügen, von Demokratierettung zu faseln. Liberale Institutionen verlangen unter anderem ein Bekenntnis zu Marktwirtschaft, zu einer globaler Freihandelsordnung, zu Rechtsstaatlichkeit, zu Minderheitsschutz und sozialer Teilhabe (auch für Migranten, wenn sie bereit sind, sich zu integrieren). Man sage nicht, das laufe auf das Gleiche hinaus wie das Bekenntnis zur Demokratie. Im Gegenteil: Liberale Institutionen begrenzen die Reichweite der Demokratie. Das Verfassungsgericht schützt die Schuldenbremse gegen Parlament und Regierung. Der Minderheitenschutz weist demokratische Mehrheitsmacht in die Schranken, verhindert, dass die Mehrheitsdemokratie zu einem illiberaler Zwangsapparat wird

    Liberalismus vs. Populismus

    Nationale Souveränität bedeutet, dass weder die Fiskalpolitik noch die Migrations- oder Sozialpolitik an transnationale, also europäische Institutionen delegiert werden dürfen. Weil diese dafür nicht legitimiert sind. Die Gefährdung der nationalen Souveränität sind eine zentrale Ursache für den Erfolg des rechten und linken Populismus. Die AfD entstand nicht zufällig in den Jahren der Eurokrise, als es darum ging, dass Deutschland womöglich haften muss für den fiskalischen Schlendrian südlicher Euroländer. BSW von Sahra Wagenknecht entstand nicht zufällig in einem Moment, als es darum ging, ob die Leistungen des deutschen Sozialstaats gleichzeitig und in vollem Umfang auch Migranten offenstehen sollen.

    Liberalität und Souveränität dürfen gerade nicht gegeneinander ausgespielt werden. Philip Manow, ein inspirierender Sozialwissenschaftler, hat dazu unter dem Titel »Unter Beobachtung« ein neues Buch geschrieben, das demnächst bei Suhrkamp erscheint. Darin geht es (auch) um eine Verhältnisbestimmung zwischen Liberalismus und Populismus. Zu stärken gilt es einen liberalen Universalismus: Das ist eine Staats- und Wirtschaftsverfassung, die das demokratische Existenzrecht rechter und linker Populisten verteidigt und zugleich darauf insistiert, dass individuelle Freiheiten nicht von (demokratischen) Mehrheitsentscheidungen platt gemacht werden dürfen.

    Rainer Hank

  • 19. März 2024
    Lob des Streits

    Sieht so der Fortschritt aus? Fotomontage: Die WELT

    Dieser Artikel in der FAZ

    Zu viel Harmonie in der Ampel ist schädlich

    Die Ampelregierung ist in keiner guten Verfassung. Dem will ich nicht widersprechen. Widersprechen will ich der gängigen Einschätzung, das liege daran, dass die Koalitionäre ständig streiten. Ohne Streit, finde ich, wäre alles schlimmer. Das beweist die sogenannte Rentenreform, die in dieser Woche von der Ampel präsentiert wurde. Doch dazu später.

    Viele meinen, eine Koalitionsregierung gleiche einem Sandkasten, wo Kinder spielen und sich ihre Förmchen auf den Kopf hauen. Da ruft der kleine Robert: »Der Christian ist böse und ärgert mich.« Dann muss die Mutter (oder Vater Olaf) kommen, die Streithähne auseinanderbringen und mit strenger Miene anhalten, sich fürderhin gut zu vertragen. Bekanntlich geht das nur eine Weile gut, und schon kurz danach gibt es wieder Tränen. Vom Sandkastenmodell geprägt sind nicht nur viele Kommentatoren in den Medien. Auch die Bevölkerung straft streitende Parteien regelmäßig ab, was Umfragen belegen. Selbst die Regierungsakteure unterwerfen sich diesem Schema: »Die FDP nervt«, heißt es dann. Wahlweise kann Nerverei als ideologische Verbohrtheit oder Prinzipienreiterei der jeweils anderen Partei denunziert werden.

    Streit ist schlecht, Harmonie ist gut. Wirklich? Eine Ampelkoalition ist eben kein Kindergarten, finde ich. Gerade deshalb muss nicht nur am Kabinettstisch, sondern öffentlich gestritten werden.

    Das Kindergartenmodell verkennt die Logik politischer Koalitionen. Erst recht, wenn diese von Parteien gestellt werden, die auf konträren normativen Überzeugungen gründen und auch aus diesem Grund von ihren Anhängern gewählt werden. Die normative Landkarte sieht ungefähr so aus: Aus der SPD, die früher einmal für die Emanzipation der arbeitenden Klasse gekämpft hat, ist inzwischen eine Partei der Besitzstandswahrung und Sozialstaatsausweitung geworden – koste es, was es wolle: Mindestlohn, Bürgergeld, Kindergrundsicherung, Rentnerbeglückung. Intellektuell eher dürftig, finanziell dagegen üppig.

    Skeptizismus vs Paternalismus

    Den Grünen und Liberalen geht es um Prinzipielles. Daraus kann man natürlich den Schluss ziehen, dass sich Parteien mit allzu unterschiedlichen Positionen nicht zu einer Regierung paaren sollen. Dass die Programme zwischen Grünen und Liberalen keine gemeinsame Schnittmenge böten, war zum Beispiel eine Auffassung, die der ehemalige FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle regelmäßig vertreten hat und deshalb riet, die Hände von einer Ampel zu lassen. Christian Lindners Satz, es sei besser, nicht zu regieren, als schlecht zu regieren, war von der Überzeugung gespeist, Jamaika werde scheitern, wenn sich Christdemokraten mit Grünen verbünden und die FDP über den Tisch ziehen..
    Doch nun regiert eine Ampel im Wissen um die Unterschiede und mit der Erfahrung, dass diese Unterschiede durch Formelkompromisse (»Wir sind die Fortschrittskoalition«) nicht verschwinden. Auch die zynische Idee, dann eben die Anhänger aller regierenden Parteien zu alimentieren – für die einen gibt es den Tankrabatt (FDP), für die anderen das 9–Euro-Ticket (Grüne) und für die Dritten einen Zuschuss zu Hartz IV (SPD) – ist auf Dauer, weil zu teuer, keine Lösung. Dann bleibt nur der Streit. Und das ist gut so; denn Streit ist bekanntlich seit Heraklit der Vater aller Dinge und Quelle des Fortschritts.

    Machen wir es konkret an drei aktuellen wirtschaftspolitischen Streitfällen: der Schuldenbremse, dem Klimawandel und dem Lieferkettengesetz. Die normativen Grundlagen einer liberalen Partei gehen zurück auf »optimistischen Skeptizismus« der europäischen Aufklärer. Die waren nicht generell gegen Staatsschulden, wussten aber, dass die Praxis des Schuldenmachens noch von jeder Regierung missbraucht werde. Eine Schuldenbremse ist somit eine Art Selbstbindung gegen die Verführbarkeit, den starken Maxe zu markieren. Die normativen Grundlagen der Grünen möchte ich »avantgardistischen Paternalismus« nennen. Eine Regierung hat demnach in gewisser Hinsicht Vorbildfunktion für die Bürger, die sie zwar nicht zu ihrem Glück zwingen kann, denen sie aber den Weg zum Besseren weisen möchte. Schulden brauche es, um Investitionen in eine bessere Zukunft zu finanzieren. Nachfolgende Generationen würden sich über die ihnen überwälzte Schuldenlast nicht beschweren, sondern dankbar sein dafür, dass ihre Eltern ihnen eine bessere Welt hinterlassen haben.

    Dieser Gegensatz begründet nicht nur unterschiedliche Haltungen zur Staatsverschuldung, sondern auch zum industriepolitischen Interventionismus etwa in der Klima- und Transformationspolitik. Die FDP findet die Annahme anmaßend, Politiker verfügten über privilegiertes Wissen, und setzen lieber auf Preisanreize durch den Markt. Grüne und SPD glauben, dass der Staat unternehmerisch tätig sein müsse, weil der Markt blind sei für soziale oder klimapolitische Ziele. Solch unterschiedliches Apriori führt dazu, dass die FDP auf Emissionshandel und den CO2–Preis setzt, während die Grünen gerne mit Geboten und Verboten (Heizungsgesetz) hantieren.

    Harmonie kommt teuer

    Avantgardistischer Paternalismus der Grünen und ein soziales Herz der SPP sind auch eine Motivation für das Lieferkettengesetz. Danach gebietet es die Moral, dass Unternehmen die sozialen und ökologischen Fertigungsbedingungen ihrer Waren bis an den Ursprung in den Textilfabriken Bangladeschs verantworten müssen. Aufklärerischer Skeptizismus dagegen ist getragen von Erfahrungswissen, wonach moralische Überforderung häufig unbeabsichtigte Konsequenzen hat: Wenn Unternehmen ihre Fertigung in Bangladesch einstellen, weil sie die Auflagen des Lieferkettengesetzes nicht erfüllen können, dann führt das womöglich zur Abschaffung von Kinderarbeit, aber zugleich zur Zunahme von Kinderarmut.

    Man kann sagen, die normativen Überzeugungen innerhalb der Ampel sind so viele Meilen voneinander entfernt, dass dies nur zur Blockade führt. So sieht es immer wieder aus, wobei die FDP die Rolle des Dauerblockierers einnimmt, die Grünen als weltfremden Utopisten daherkommen und die SPP mal hü mal hott sagt. Alle Rollen kosten Stimmen, wie wir sehen.

    Aber war wäre die Alternative? Das zeigt die sogenannte Rentenreform. Die SPD setzt eine systemsprengende »Reform« durch, welche die künftigen Beitragszahler schröpft und die berenteten Babyboomer finanziell privilegiert. Die FDP, die gerade noch ein Moratorium für die Sozialausgaben gefordert hat, schweigt. Die Grünen, die sich gerne als Anwälte der Jungen im Generationenvertrag geben, schweigen ebenfalls. Offenbar wollte man nicht schon wieder über Prinzipien streiten – und der SPD einen Gefallen tun.
    Daraus folgt: Wenn die Ampel nicht streitet, dann lügen die Akteure sich und den Bürgern etwas in die Taschen. Vor allem wird es für die Bürger teuer. Mit Streit wäre das nicht passiert.

    Rainer Hank

  • 05. März 2024
    Tugend-Terror

    Veronika Grimm Foto: Sachverständigenrat

    Dieser Artikel in der FAZ

    Der Fall Veronika Grimm und die Compliance-Industrie

    »Compliance« heißt das Zauberwort, das lange schon durch die Wirtschaft geistert. Seinen Durchbruch hatte der Begriff im Jahr 2006: Damals waren Milliardenbestechungen bei Siemens aufgeflogen. Mangelndes Unrechtsbewusstsein im Unternehmen – erst recht an dessen Spitze – führte dazu, dass seither die Befolgung von Regeln im Fokus der Aufmerksamkeit steht: dafür zu sorgen, dass keine Bestechungsgelder an Beamte autoritärer Regime gezahlt werden, obwohl das dort womöglich Usus, nach deutschem Recht aber eine Straftat ist.

    Ursprünglich stammt das Wort Compliance aus der Medizin: Wenn der Arzt verschreibt, eine Pille täglich vor dem Abendessen einzunehmen, dann verhält sich derjenige regelkonform (»compliant«), der täglich vor dem Abendessen seine Pille auch einnimmt. Compliance dient somit der Durchsetzung einer Selbstverständlichkeit, die aber nicht selbstverständlich ist, weil der Mensch verführbar ist – zum Beispiel von Geldzahlungen.

    Seit dem Fall Siemens haben die meisten größeren Unternehmen Compliance-Systeme eingerichtet. Bei Siemens selbst ist die Compliance-Abteilung auf mehrere hundert Mitarbeiter angewachsen. Die Deutsche Bank hat nach diversen kleineren und größeren Skandalen unter dem Schlagwort »Kulturwandel« die gesamte Belegschaft zu Compliance-Workshops verdonnert – allein aus Angst, dass vielleicht der Staatsanwalt am nächsten Morgen auf der Matte steht. Compliance ist ein »Verfahren zur Privatisierung staatlicher Aufgaben«, erklärt mir Regina Michalke, die Strafverteidigerin meines Vertrauens. Für nicht wenige internationale Großkanzleien und Wirtschaftsprüfer ist Compliance zu einem einträglichen Arbeitsbeschaffungsprogramm geworden.

    Ein Aufsichtsratsmandat bei Siemens Energy

    Inzwischen sieht es so aus, als ziehe das Compliance-Regime demnächst auch in den deutschen Sachverständigenrat (»Fünf Weise«) ein. Aus meiner Sicht ist das keine gute Nachricht. Anlass ist der Fall Veronika Grimm. Zur Erinnerung: Veronika Grimm, eine der »Weisen«, die die Regierung in Fragen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung beraten, ist vergangene Woche in den Aufsichtsrat der Firma Siemens Energy gewählt worden. Die Ökonomieprofessorin, Fachfrau für Energiefragen, hat sich von der Bundesregierung, der sie ihren Job im Rat verdankt, vorab bestätigen lassen, dass ihr Aufsichtsratsmandat nicht anstößig sei. Auch Siemens Energy sieht kein Problem. Grimms Ratskollegen indes finden ihr neues Mandat gar nicht gut und versuchten Regierung, Siemens und die deutsche Öffentlichkeit gegen sie aufzuhetzen suchten: Es liege ein eklatanter Verstoß gegen Compliance vor, weil die Mitgliedschaft in beiden Gremien einen Interessenkonflikt nach sich ziehe. Der Verdacht, der Compliance-Vorwurf diene als moralisches Vehikel, eine politisch ungeliebte Kollegin zu mobben, liegt nahe, interessiert in meinem Zusammenhang aber nicht.

    Halten wir fest: Veronika Grimm hat sich nach Ansicht der zuständigen Stellen »compliant« verhalten, legal und regelkonform; für den Sachverständigenrat gibt es sogar ein eigenes Gesetz, gegen das sie nicht verstößt. Das reicht den Kolleginnen im Rat aber nicht. Für ihren Aufstand nutzen sie einen klassischen Trick, wonach, was legal ist, noch lang nicht legitim sei. Legal ist, was im Gesetz steht. Legitim, ist, was sich gemäß Anstand und Sitte gehört, oder als moralisch geboten gilt. »Legitimität« ist wesentlich vager und deshalb zeitgeistanfälliger als die Rechtskonformität (»Legalität«), die man im Gesetz nachlesen kann.

    Dreimal dürfen Sie raten, wie es weitergeht. Die »Vier Weisen« werden sich, ermuntert vom Wirtschaftsminister und beraten von den besten Anwälten, ein eigenes Compliance-Regime geben, das Vorschriften weit über das Gesetz hinaus macht. Also zum Beispiel so: Keine Aufsichtsratsmandate, keine Vorstandsposten ohnehin, auch sonst keine Berührung mit der realen Welt der Wirtschaft. Transparenz aller von den Jahresgutachten generierten Vorträge nebst Honorarangabe (womöglich mit Obergrenze). Und natürlich äußerste Vorsicht beim Kontakt mit Journalisten.

    Da sieht man, wohin der Compliance-Taumel führt: Professoren im gut möblierten Elfenbeinturm soll es verwehrt sein, sich ein Erfahrungswissen anzueignen, das ihnen neben der Kenntnis von Zahlen und Figuren samt randomisiertem Laborwissen etwas über die »praktische« Seite der Wirtschaft vermittelt. Analog dürfen heute schon Parlamentarier keinen Kontakt mit Lobbyisten haben, weil die per se Unanständiges im Schilde führen. Dass das Gespräch mit Verbandsfunktionären Politikern bei ihrer Urteilsbildung auch nützen könnte, scheint für die Lobby-Control-Mafia nicht vorstellbar.

    Aus Managern werden Zombies

    Man kann mit Compliance eben auch Schaden anrichten durch Verhinderung von Informationsaustausch oder Kappung von Kontakten. Aus lauter Angst, einen Fehler zu machen, werden Manager zu Zombies. Bloß kein Risiko eingehen und ja nicht zur eigenen Verantwortung stehen – man steht dann ja stets mit mindestens einem Bein im Compliance-Kerker.

    Mehr noch: Der Compliance-Kult führt zu einer grandiosen Bürokratisierung. Deutsche und europäische »Lieferkettengesetze« wollen den Unternehmen aufbürden, an jedem Glied der globalen Kette transparent zu machen, ob es dabei nach moralischen, ökologischen und gesetzlichen Regeln (auch ferner Länder) korrekt zugeht. So wird Compliance zum Antiglobalisierungs-Programm. Aus Schiss hat der Finanzsektor im vorletzten Jahr 326.123 Verdachtsanzeigen wegen Geldwäsche gestellt, von denen am Ende gerade einmal 739 zu einer Sanktion, zumeist zu einem Strafbefehl geführt haben. So viel zur Verhältnismäßigkeit. Diejenigen, die solche Bürokratiemonster vorschreiben, sind nicht selten dieselben, die bei der nächsten Brandrede die Bürokratie zum zentralen Hemmschuh der deutschen Wirtschaft erklären.

    Bedenklich ist der Mentalitätswandel, den die Compliance-Manie anrichtet. Einzelfallsouveränität wird gegen generalisierende Vorschriften getauscht. Es kann durchaus sein, dass es im Einzelfall bei Veronika Grimm zu Interessenkonflikten zwischen Rat und Aufsichtsrat kommt. Eine verantwortlich handelnde Frau wird das zu wägen wissen und sich, sollte es kritisch sein, der Stimme enthalten oder den Beratungen fernbleiben. Eine Compliance-Bibel erspart erwachsenen Menschen den konkreten Konflikt um den Preis einer Entmündigung und generellen Unterstellung von Verantwortungsunfähigkeit.

    Ach übrigens: Hat der Tugend-Terror der Compliance seit Siemens zu etwas Gutem geführt? Sind die Manager und Managerinnen jetzt weniger korrupt oder kriminell? Meine Strafverteidigerin kann da nur lachen. Wie war das mit Cum-Ex? Wie war das mit Wirecard? Die beste Compliance verhindert nicht, dass ganze Unternehmen kriminell werden und die Aufsichtsbehörden Persilscheine ausstellen.

    Rainer Hank