Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
15. November 2024Zwangsarbeit
05. November 2024Totaler Irrsinn
18. Oktober 2024Arme Männer
14. Oktober 2024Christlicher Patriotismus
08. Oktober 2024Im Paradies der Damen
28. September 2024Von der Freiheit träumen
28. September 2024Reagan hätte nie für Trump gestimmt
10. September 2024Das Ende der Ampel
27. August 2024Streit ist das Wesen der Demokratie
27. August 2024Lauter Vizepräsidentinnen
16. Mai 2019
KinderkreuzugWas Greta Thunberg mit fanatischen Kindern aus dem Mittelalter zu schaffen hat
Zu Greta Thunberg, der sechzehnjährigen Klimaaktivisten aus Schweden, fällt mir nichts ein. So dachte ich – bis jüngst ein Bekannter das Wort vom »Kinderkreuzzug« in die Runde warf. Greta, so sollte das wohl heißen, führe einen Kreuzzug zur Rettung des Klimas, ähnlich fanatisch wie jene Kinder, die sich im Jahr 1212 zu Tausenden aus Deutschland und Frankreich aufgemacht hatten zur Befreiung Jerusalems von den Muslimen – eines der merkwürdigsten Ereignisse des europäischen Mittelalters.
Das Fanatische an Greta ist ja gerade das Nicht-Empathische und Anti-Charismatische ihrer Erscheinung. Wie viele Autisten handelt sie hoch-moralisch, obwohl oder womöglich gerade weil ihr die Gabe der Einfühlung in andere abgeht. Sie lässt sich im Kampf für das Gute nicht irritieren vom Verständnis für die Schwachheit der CO2–ausstoßenden Kreatur. Greta macht die Erfahrung, dass sie etwas bewirken kann: Ihre politische Mission, so beschreibt es die Familie, wirkt auf sie selbst antidepressiv und quasi therapeutisch. Treffsicher benennt sie das Glaubwürdigkeitsdefizit der Politiker: Sie sagen das Eine und machen das Andere. Sie reden laut gegen den Klimawandel, weil das bei den Leuten gut ankommt, scheuen sich aber konkret zu werden, weil dann auch über die Kosten gesprochen werden müsste. Das derzeitige Gewürge um die CO2–Steuer zeugt davon. Für Politiker sind Ziele Gift, bei denen die Kosten kurzfristig anfallen, während der Nutzen erst langfristig sich einstellt.
Greta lässt das nicht durchgehen. Sie antwortet auf Politikversagen mit Hypermoralisierung, die etwas Gnadenloses hat. Hypermoralisierung tendiert zu Vereinfachung und unfairer Schuldzuweisung: »Es gibt doch nur ein paar hundert Firmen, die für den gesamten CO2–Ausstoß stehen«, sagt Greta. Ein »paar wenige reiche Männer« hätten Tausende Milliarden damit verdient, dass sie den ganzen Planeten zerstören. Greta irritiert, fasziniert, und stößt zugleich ab. »Ich will, dass ihr in Panik geratet.«
Eine religiöse Erweckungsgemeinschaft
Ist das ein Aufruf zum Kreuzzug? Man kann es so sehen, sollte es sich freilich mit dem Begriff Kinderkreuzzug in keiner Weise leicht machen. Mein Gesprächspartner, der den Begriff in die Runde warf, ist weder ein Rechtspopulist noch ein Klimaleugner, der die von Menschen gemachte globale Erwärmung bestreitet. Der Mann hat eine ziemlich linke Vergangenheit und würde sich heute wohl der bürgerlich-liberalen Mitte zuordnen, darin verwandt dem ehemaligen Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust, der ebenfalls mit dem Begriff »Kinderkreuzzug« hantiert. Die Massenbewegung der »Fridays for Future« komme ihm vor wie ein »moderner Kinderkreuzzug« oder wie eine »beinahe religiöse Erweckungsgemeinschaft«, meinte Aust kürzlich. Man braucht sich dieser Debatte nicht versagen, bloß weil die AfD inzwischen Umwelt und Klima als Themen zur Erweiterung ihres migrations- und europapolitisch eingeengten Geschäftsmodells entdeckt hat. Der AfD-Einwand kommt als Totschlagargument immer mehr in Mode, so dass man am Ende auf die AfD eine Wut bekommt, weil sie dadurch erlaubte Spielzüge dem liberalen Diskurs entzieht.
Doch wie weit trägt der Vergleich mit dem Kinderkreuzzug von 1212? Einer seiner Helden ist der fünfzehnjährige Stephan aus dem französischen Dorf Cloyes. Die Quellen beschreiben ihn als redegewandt und ausgestattet mit der Gabe, in kurzer Zeit zahlreiche Halbwüchsige zu begeistern für seine Idee, das Heilige Land von den Sarazenen, den islamisierten Völkern des Orients, zu befreien. In Paris betrachtete man Stephan als echten »Seher«. Er wurde vom König empfangen und predigte in Saint-Denis, der berühmtesten Abtei Frankreichs. Die Begeisterung für Stephans Unternehmen soll wie ein Lauffeuer um sich gegriffen haben, so sein Biograph Thomas Ritter. Stephan betrachtete sich als von Gott erwählt und berief sich auf die Erscheinung eines »Fremden«, in dem er Jesus von Nazareth erkannt haben will. Anders als ihre kreuzfahrenden Vorgänger widersetzten sich die Kinder des frühen 13. Jahrhunderts dem Kampf mit Waffen. Statt mit Schwertern rückten sie mit Posaunen los, die an die Einnahme von Jericho erinnern sollten. Ihre »Unschuld«, ein verbreiteter Topos, war die stärkste Waffe dieser Kinder.
Religiöser und ökologischer Fanatismus sind – trotz acht Jahrhunderten Abstand – offenbar nicht sehr weit auseinander. Diejenigen, die von den Kreuzzüglern für ihr religiöses oder ökologisches Versagen angegriffen werden, wanzen sich flugs an sie heran. Kein Politiker traut sich heute noch, etwas gegen Greta und ihrer Freunde zu sagen. Der letzte, der das versucht hat, war FDP-Chef Christian Lindner. Es ist ihm nicht gut bekommen. Jetzt heißt die Devise: Durch lautes Zustimmen sich wegducken. Ganz so wie Papst Innozenz III. (1198 bis 1216) in Rom, der beim Erhalt der Kunde von den Kinderkreuzzügen gesagt haben soll: »Diese Kinder beschämen uns. Während wir schlafen, ziehen sie fröhlich aus, um das Heilige Land zu erobern.« Die Kinder kritisieren das Versagen der Eliten – und die Eliten haben nichts Eiligeres zu tun als ihnen Recht zu geben.
Welterlöser oder dumme Jungs?
Das ist noch nicht alles an Gemeinsamkeiten. Der Berliner Historiker Michael Menzel macht in einem spektakulären Aufsatz über die »Kinderkreuzzüge in geistes- und sozialgeschichtlicher Sicht« (In: Deutsches Archiv für die Erforschung des Mittelalters, 1999) darauf aufmerksam, dass schon die Zeitgenossen in zwei unversöhnliche Lager gespalten waren. Während die einen in den Kindern die Welterlöser sahen, von Gott zu ihrer heilgeschichtlichen Tat auserwählt, sahen andere in ihnen nichts als »stulti pueri«, dumme Jungs und Mädels, die sinnlos in Richtung Meer laufen. Das klingt uns Heutigen vertraut. Am Ende errang das Lager der Bewunderer den rhetorischen Sieg. Kindliche Armut schlägt kirchlichen Reichtum. Kindlichkeit, Unschuld und Armut sind Bilder und Metaphern, die offenbar bis heute stark wirken und die konkurrierende Einschätzung fanatischer, verführter, unreifer Apokalyptiker schlägt. Die Kinder haben es geschafft, dass ihre Umwelt sie als willenlose Instrumente Gottes darzustellen vermochte.
Aus dem Vergleich folgt am Ende mehr als die bekannte Einsicht, dass der Gesinnungsethiker stets und unmittelbar mehr Gefolgschaft erhält als der Verantwortungsethiker. Bei genauer Betrachtung nämlich wird aus dem polemischen Etikett »Kinderkreuzzug« ein Wettstreit der Rhetoriken mit positiv lobendem Überhang: Unter dem Titel »Kinderkreuzzug« erschien im Jahr 1968 bei rororo ein von dem Sexualwissenschaftler Günter Amendt herausgegebener Band mit dem Untertitel »Beginnt die Revolution in den Schulen?«, der es bis 1971 auf über 50000 Exemplare gebracht hatte. Es ging darum, wie aus der »antiautoritären Bewegung« eine »sozialistische Schülerbewegung« werden könne, sozusagen als Avantgarde der Achtundsechziger. Dass er das Kampfwort vom »Kinderkreuzzug« mit Emphase positiv verwandte, war dem Herausgeber noch nicht einmal einer Begründung pflichtig. So zwingend ist offenbar der Charme von Naivität und Unschuld, höher als alles ökonomische Räsonnement. Wir wäre es, den erwartbar in Hollywood bald gedrehten Film zur Klima-Bewegung »Fridays for Future or The Children’s Crusade« zu betiteln?
Rainer Hank
10. Mai 2019
Marktwirtschaft gehört nicht ins GrundgesetzDenn dann gäbe es hierzulande plötzlich viele Verfassungsfeinde
Das ökonomische und moralische Grundprinzip des Marktes lautet: Wir sind nicht auf Wohlwollen, Nächstenliebe oder Mitleid des Bäckers, Metzgers oder Hausbesitzer angewiesen, wenn wir Brötchen, Leberwürste oder Mietwohnungen begehren. Es ist in unser aller Interesse, auf das Profitinteresse des Kapitalisten zu setzen anstatt auf seine Menschenfreundlichkeit. Denn das garantiert, dass er uns aus Eigeninteresse Brötchen, Würste und Wohnraum bietet. Noch besser ist, wenn es in einer Stadt nicht nur einen, sondern mehrere Bäcker, Fleischer und Immobilieneigentümer gibt: der Wettbewerb unter ihnen garantiert, dass Waren und Dienstleistungen für uns Menschen tendenziell besser und billiger werden. Wer sich vom Gemeinwohl abhängig macht, liefert sich der Gnade anderer aus oder der Diktatur von Kevin Kühnerts & Co. Wer auf Eigenliebe baut, tritt anderen frei und gleichberechtigt gegenüber. »Nur ein Bettler zieht es vor, hauptsächlich vom Wohlwollen seiner Mitbürger abzuhängen«, heißt es bei Adam Smith.
Adam Smith hat Recht. Das lehrt die theoretische Vernunft und der praktische Erfolg der Marktwirtschaft, die unseren Wohlstand sichert und mehrt. Viele Menschen in Deutschland (und anderswo) sehen das anders. Sie finden es nicht in Ordnung, dass Immobilienbesitzer mit dem Wohnraum anderer Menschen ihren Lebensunterhalt bestreiten und Fabrikbesitzer (Aktionäre) aus dem Verkauf von Autos für sich Profit ziehen. Adam Smith ist nämlich anstößig und entzieht sich bei vielen einer Prima-Facie-Plausibilität. Umfragen zeigen, dass die Menschen in Deutschland auch 70 Jahre nach dem genialen Ludwig Erhard bis heute mit der sozialen Marktwirtschaft stark fremdeln – im Osten mehr noch als im Westen, aller Freiheits- und Wohlstandsgewinne seit der Wiedervereinigung zum Trotz. Selbst die affirmativen Aussagen zur Sozialen Marktwirtschaft sind mit Vorsicht zu genießen: Die Leuten denken dabei nicht an das für alle Menschen segensreiche Profitinteresse des Kapitalisten, sondern an die sozialpolitische Umverteilungsmaschine des Staates. Kurzum, sie verwechseln die soziale Marktwirtschaft mit einer milden Form des Sozialismus – und finden das auch noch gut.Wie also soll man die Akzeptanz der Marktwirtschaft fördern, wo zwar ihre Erfolge evident und ihre Alternativen (DDR, Venezuela, Kuba, Nordkorea) kaum überzeugend sind, die Widerstände gegen den Markt aber gleichwohl sich hartnäckig halten? Unzählige Aktionsgemeinschaften, Initiativen etcetera machen es sich seit Jahren zur Aufgabe, mit Eselsgeduld für die Marktwirtschaft zu werben, nicht zuletzt in den Schulen, wo nach wir vor der Einfluss linker Sozialkundelehrer dominiert. FAZ und FAS tuten seit ihrer Gründung ebenfalls in das marktwirtschaftliche Horn. Aber die Sache bleibt mühsam.
In der vergangenen Woche gab es nun eine von dem Münsteraner Ökonomieprofessor Ulrich van Suntum angeschobene Debatte, die Soziale Marktwirtschaft – passend zum siebzigjährigen Jubiläum – in das Grundgesetz (GG) zu schreiben. Van Suntum will den unseligen Artikel 15 der Bonner Verfassung streichen, der die Möglichkeit der Vergemeinschaftung von Grund, Boden und Produktionsmitteln vorsieht. Stattdessen soll dort eine positive Verpflichtung auf die Marktwirtschaft stehen: »Bund, Länder und Kommunen sind in ihren wirtschaftspolitisch relevanten Entscheidungen und Maßnahmen grundsätzlich den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft verpflichtet.« Dem Aufruf haben sich eine Reihe prominenter Ökonomen angeschlossen, darunter der neue Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft Gabriel Felbermayr und die früheren Chefs des Ifo-Instituts und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Hans-Werner Sinn und Klaus F. Zimmermann. Die Argumente: Gerade weil das Bewusstsein dafür zu verblassen droht, in welchem Maße Wohlstand und Freiheit von der Sozialen Marktwirtschaft geprägt wurden und jene Generation langsam ausstirbt, die diese Erfahrung selbst gemacht hat, gehöre die Soziale Marktwirtschaft in der Verfassung verankert. Auf der Internetplattform des Ökonomen Carl Christian von Weizsäcker wird darüber nun seit Tagen mit guten Pro- und Contra-Argumenten debattiert.Der Bart ist dran
Die Debatte verdient breit und über den akademische Zirkel hinaus geführt zu werden. Tatsächlich verhält sich das Grundgesetz zur Frage der Wirtschaftsordnung neutral. Von Marktwirtschaft ist dort nirgends die Rede, wohl aber – dem antikapitalistischen Geist der späten vierziger Jahre entsprechend – von Gemeinwirtschaft. Implizit aber werden im GG die institutionellen Grundpfeiler einer Marktwirtschaft – Privateigentum und persönliche Freiheitsausübung – ausreichend gestärkt. Erst Artikel 3 des 2009 in Kraft getretenen Lissabon-Vertrags verpflichtet die Mitgliedsländer der Europäischen Union auf das Ziel der »sozialen Marktwirtschaft«. Ein entsprechender GG-Artikel würde hieran anschließen.
So wichtig es ist, die himmelhohe moralische und ökonomische Überlegenheit des Profitstrebens zu verteidigen, so problematisch finde ich die Idee, die Verpflichtung auf eine bestimmte Wirtschaftsordnung in die Verfassung zu schreiben. Sollten die Deutschen ein Parlament wählen (vielleicht reicht dafür schon Rot-rot-grün?), das es den Unternehmen hierzulande verbietet, Profite zu machen, wäre das eine Dummheit sondergleichen, für die das Volk den Preis seiner Verelendung zahlen müsste. Aber Demokratien sind darin frei, mit Mehrheiten dummes Zeug zu beschließen. Das kann und sollte ihnen ihre Verfassung nicht untersagen. Die Älteren unter uns erinnern sich noch an Zeiten, in denen ein unguter Meinungsterror alle öffentlichen Aussagen darauf abgeklopft hat, ob sie der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (kurz: FDGO) widersprechen könnten. Eine marktwirtschaftliche Gesinnungsprüfung ist einer freien Gesellschaft unwürdig. Am Ende würden breite Bevölkerungskreise von Karlsruhe als antimarktwirtschaftliche Verfassungsfeinde geoutet – und Kevin Kühnert ginge als Märtyrer für den Sozialismus in die Geschichte ein. Das hilft der Marktwirtschaft nicht. Und liberal ist es obendrein auch nicht. Wenn die Marktwirtschaft im GG aber gar nicht so streng gemeint sein soll, wie Adam Smith sie gedacht hat, dann bleibt alles hübsch unverbindlich – und die Verfassungsänderung kann man sich schenken.Der Bart ist ab
So wirkt der Einfall, die Marktwirtschaft in den Verfassungsrang zu hieven, am Ende eher hilflos: Eine nachvollziehbare Aktion von Intellektuellen in der Tradition von Platons Philosophenregierung, die kontraproduktiv ausgehen könnte. Müsste sie nicht das Vorurteil nähren, die deutschen Ordnungspolitiker seien habituell dogmatisch und wollten ihr Besserwissen (nichts anderes als eine Form »anmaßenden Wissens«) aus Schwachheit nun sogar in die Verfassung heben? Man kann nicht alles, was einem an linken und rechten Populismus missfällt, unter dem Label »Selbstbindung« von der Verfassung verbieten lassen. Verfassungen setzen der Willkür demokratischer Mehrheiten Grenzen der Unverfügbarkeit. Das ist gut. Man sollte sie nicht autoritär überfrachten.
Rainer Hank
10. März 2019
Auf den Teller statt in die TonneEine kleine Fastenmeditation über die Verschwendung. Und über den Sinn und Unsinn des aufwendig eingeführten Mindesthaltbarkeitsdatums.
Die Haltbarkeit des Waldfrüchtejoghurts, der vergangene Woche aus der hinteren Ecke unseres Kühlschranks auftauchte, war bereits am 6. Februar abgelaufen, also vor gut einem Monat. Trotz des abschreckenden Datums und mangels vernünftiger Frühstücksalternativen habe ich den Joghurt gegessen.
Und, was soll ich sagen: Das Milchprodukt schmeckte wunderbar frisch. »Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner will die Bürger am Kühlschrank abholen«, habe ich jüngst irgendwo gelesen. Bei mir hat das funktioniert. Wir beide, Frau Klöckner und ich, sind jetzt sozusagen Küchenfreunde.
Jeder Bürger in Deutschland wirft im Jahr durchschnittlich 55 Kilo Lebensmittel weg, beklagt Frau Klöckner. Mit der Initiative »Zu gut für die Tonne« soll die Menge der weggeworfenen Lebensmittel bis 2030 halbiert werden. »Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist nicht das Verfallsdatum«, sagt Klöckner.
Ich verstehe bloß nicht, warum die Politik erst aufwendig die Kennzeichnungspflicht für Lebensmittel mit Mindesthaltbarkeitsdaten einführt, um uns hinterher einzuschwören, wir sollten diese Daten bloß nicht allzu ernst nehmen. Immerhin 14 Millionen Euro lässt sich die Politik den Kabinettsbeschluss »Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung« kosten, was, unbeabsichtigt, ein Beispiel für Politikverschwendung ist: Erst gibt es Verordnungen, dann gibt es »Strategien« zur Durchsetzung der Nichtbeachtung von Verordnungen. Wir schlagen vor, derartige Rechtskapriolen im Aktenordner »Kafka-Bürokratie« abzulegen.
Gewissensbisse
Warum dürfen wir eigentlich keine Lebensmittel wegwerfen, ein Gebot, das uns seit Kindertagen eingebrannt wird? Schon die Frage klingt frivol. »Angesichts von mehr als 800 Millionen hungernden Menschen besteht Anlass zum Handeln«, sagt Julia Klöckner, meine neue Kühlschrankfreundin, über ihren Aufruf zum Aufessen. Das macht auf der Stelle ein schlechtes Gewissen: Wir leben hier in Luxus und werfen unsere Lebensmittel achtlos weg, wo die Hungernden in den armen Ländern froh wären, sie hätten etwas zu essen, um zu überleben. Es sei genug für alle da, heißt es, wenn wir es nur richtig verteilten. Bereits heute sei es möglich, mit der täglich weltweit produzierten Menge an Kalorien alle Erdenbürger zu versorgen, schreibt die Hilfsorganisation »Brot für die Welt«: Wir müssten die Kalorienträger nur gleichmäßig verteilen.
Damals in unserem katholischen Kindergarten bei Schwester Lucila (Betonung auf der ersten Silbe) stand am Eingang ein kleines »Negerlein« aus Keramik (oder war es Plastik?). Steckten wir Kinder ein Zehnpfennigstück in den Schlitz, nickte die Figur zum Dank, weswegen es, heute völlig unakzeptabel, »Nicknegerlein« genannt wurde.
Keine Ahnung, was mit dem Geld von uns Kindern passierte. Hunger und Armut in der Welt hat es jedenfalls erkennbar nicht reduziert. So ist es auch mit meinem Waldfrüchtejoghurt. Wenn ich ihn aufesse, anstatt ihn wegzuwerfen, werde zwar ich, aber kein einziger Hungernder in Afrika satt. Dass wir das trotzdem glauben, hängt mit dem religiös begründeten Respekt vor der Nahrung (»Unser täglich Brot gib uns heute«) zusammen und der Vorstellung, das Welternährungsproblem könne man in der gleichen Weise lösen, wie die Mutter den Sonntagskuchen auf die Familienmitglieder aufteilt.
Was Wassersparen wirklich bringt
Wie mit dem Hunger, so ist es auch mit dem Durst. Wir müssten Wasser sparen, damit andernorts die Trockenheit gelindert und die Felder bewässert werden könnten, heißt es. »Können Sie sich vorstellen, wie viele Tonnen Handtücher weltweit jeden Tag umsonst gewaschen werden?«, lese ich in jedem Hotelbadezimmer auf der Welt. »Handtücher auf dem Boden bedeutet: Bitte waschen. Handtücher auf dem Haken bedeutet: Bitte nicht waschen, ich benutze sie weiter.«
Das wirkt. Es lindert aber allenfalls die Kostenprobleme der Hotellerie. Unseren Umweltproblemen und der globalen Wasserknappheit ist damit jedoch nicht beizukommen. Noch schlimmer: Die Hysterie des Wassersparens, von der vor allem die Deutschen seit Jahren gepackt sind, hat zwar keine Auswirkungen auf den Durst der Menschheit, belastet dafür aber die Kanalisation erheblich, weil die Rinnsale des Abwassers nicht mehr ausreichen, um die Kanäle ausreichend durchzuspülen. Die Wasserwerke müssen dann mit aufbereitetem Trinkwasser nachhelfen.
Wasser ist genügend da, selbst wenn die Weltbevölkerung sich weiter vermehrt. Und Wasser geht nie verloren, es verändert nur seinen Aggregatzustand, wird ständig von der Natur recycelt.
Nicht völlig von der Hand zu weisen ist indes, auch wenn das direkte Wassersparen außer der Beruhigung unseres Gewissens keine positiven Effekte hat, dass wir womöglich indirekt Wasser sparen können, wenn wir unsere Ernährung umstellen. Wissenschaftler sprechen vom »Wasserfußabdruck«. Dabei geht es um das in unserer Nahrung gebundene Wasser, das bei der Herstellung von Agrarprodukten aller Art in unterschiedlichem Ausmaß »verbraucht« wird.
Tausende Liter Wasser für jedes Kilo Kakaobohnen
Ganz übel ist zum Beispiel die Avocado, die seit Jahren weltweit in großen Mengen auf die Teller kommt. Huhn und Rindfleisch sind es ohnehin. Und auf Platz eins rangiert laut der Plattform »Water Footprint Network« die Schokolade: Hier braucht es 20.000 Liter Wasser, um ein Kilogramm Kakaobohnen zu produzieren.
Wäre also der Verzicht auf Süßigkeiten und die Substitution von Avocados durch weniger Wasser verzehrende Tomaten in der Fastenzeit ein Beitrag zur Lösung der Welternährungsprobleme? Das könnte man so sehen, käme nicht sofort ein gravierender Einwand in den Sinn: Unsere Verzichtsstrategie würde zwar tatsächlich Wasser sparen und zudem große Begeisterung in den holländischen Tomatenplantagen auslösen. Aber ganz ohne Wasser wächst leider nichts. Und was ist mit den armen Avocado- und Kakaoproduzenten, deren Umsätze durch unser Fastenopfer schrumpfen? Sie würden auf unsere Verzichtsmoral pfeifen.
Die Moral des Verzichts, der Gleichverteilung in der Familie und unseres katholischen Kindergartens lösen das Welthungerproblem nicht. Durch Schädlinge, Unkrautkonkurrenz und Pflanzenkrankheiten (Pilze) verkommen in der »Dritten Welt« mehr Lebensmittel als in der »Ersten Welt«. Durch fehlende Berieselungsanlagen, mithin durch fehlendes Geld und fehlende Technik, versickert und verdampft viel zu viel kostbares Wasser, das auf Obst- und Gemüseplantagen nötig wäre.
Den Hunger und den Durst der Menschheit werden wir nur mit technischen Investitionen in die industrielle Landwirtschaft, mit rechtsstaatlichen Institutionen in den armen Ländern und mit einer guten Ausbildung der Bauern besiegen, wie die F.A.Z.-Serie »Race to Feed the World« im vergangenen Jahr eindrucksvoll gezeigt hat. Verzicht und Barmherzigkeit sind wichtig als Ethos in der Familie. Global aber helfen der Menschheit nur Marktwirtschaft und Kapitalismus. Dass auch deren Erfolge einen Preis haben, nämlich Schäden für Klima und Artenvielfalt, ist die bittere Konsequenz. Man kann nicht alles haben, so lautet unser daraus abgeleiteter Spruch für die Fastenzeit 2019.
Rainer Hank
24. Februar 2019
Datenschutz ist wichtiger als Eigentumsrechte an DatenIn der digitalen Welt bringt Eigentum nicht viel. Der Datenschutz ist wichtiger. Daten sind eben doch kein Öl.
Ständig produziere ich Daten, meist ohne irgendeine Absicht. Daten sind Futter für allerlei Algorithmen, die mich zu kennen vorgeben: Weil ich mich zuletzt für eine Biographie über Elisabeth Förster-Nietzsche interessiert habe, die böse Schwester des großen Philosophen, meint Amazon, ich würde sicher gerne auch eine Hermann-Hesse-Biographie lesen wollen. Dabei konnte ich Hesse noch nie leiden.
Völlig unerklärlich ist mir auch, warum Amazon Prime meint, ich müsse dringend »Und täglich grüßt das Murmeltier« streamen, bloß weil ich mir kürzlich die letzte Staffel von »Mozart in the Jungle« (sehr lustig!) angesehen habe.
Was ist der Wechselkurs für Daten?
Auch ich habe inzwischen kapiert, dass wir im Minutenrhythmus unzählige Daten hinterlassen, von denen viele wertlos, andere aber offenkundig sehr wertvoll sind für Unternehmen, die damit ihr Geld verdienen. Von Youtube oder Facebook bekomme ich dann mehr oder weniger maßgeschneiderte Werbung.
Aus meinen Daten entwickeln sich aber auch ganz nützliche Dinge: Sollten außer mir noch andere Leute im Frankfurter Nordend gleichzeitig bei einer Online-Apotheke Sinupret bestellen, könnte das ein Frühindikator dafür sein, dass sich in unserem Viertel eine späte Winter- oder voreilige Frühjahrsgrippe auszubreiten droht.
Daten seien die neue Währung, hören wir ständig. Aber es fehlen die Wechselkurse. Wüssten wir, was unsere Daten wert sind, dann hätten wir Preise als Verrechnungseinheiten. Jedermann könnte für sich entscheiden, was ihm die Weitergabe von Daten wert ist. Manche würden viele Daten verkaufen, weil sie sich dadurch noch bessere maßgeschneiderte Dienste und Angebote erhoffen und sie sogar ein bisschen Geld verdienen könnten. Andere würden das nicht wollen – und Google und Co, erst recht aber unser Möchtegern-Überwachungsstaat müsste sich daran halten.
Nötig wäre ein Preis- und Eigentumsregime der Datenwirtschaft. Denn so könnte es gelingen, den neuen Datenkapitalismus in die gute alte Marktwirtschaft zu integrieren. Zugleich wäre das ein Beitrag, die aufgeregte Debatte zu entapokalyptisieren, indem man sie rationalisiert.
Der Traum der digitalen Gemeindewiese
Kein Wunder, dass die Idee einer Ordnung des Dateneigentums viele fasziniert, auch mich. Eigentum verschafft das Recht, mit etwas nach Belieben zu verfahren (es zu nutzen, zu veräußern, zu zerstören). Ohne den Schutz des Eigentums, sagen die Ökonomen, kommen Märkte zum Erliegen und verarmen Völker.
Müsste nicht das Daten-Eigentum sogar noch besser geschützt werden als die Sachgüter, da es dabei ja um kreativ verwertbare Informationen geht? All jene anarchischen Netz-Propheten, die davon schwärmen, im Internet sollte alles kostenlos sein, träumen den Traum einer digitalen Gemeindewiese: Auf der Allmende der Sharing Economy wollen sie sich an meinen Daten vergreifen, ohne mir für mein Eigentum Geld zu bezahlen.
Daten sind kein Öl
Klingt alles logisch, oder? Nicht ganz. Nachdenklich stimmt, dass neuerdings ausgerechnet liberale Juristen und Ökonomen, denen der Schutz der Eigentumsordnung über alles geht, gute Argumente gegen ein »Dateneigentum« haben. Daten sind eben nicht das »Öl des 21. Jahrhunderts«. Sie haben ganz andere Eigenschaften als materielle Güter.
Ein praktisches Beispiel: Wenn ich auf der Autobahn mein Navigationsinstrument im Auto anschalte, sehe ich in Echtzeit, dass die A66 nach Wiesbaden wieder einmal total überlastet ist. Vom Navi bekomme ich Umleitungsvorschläge. Dieses nützliche Wissen gibt es, weil mittels GPS Unmengen von Daten ausgewertet wurden, die von den Autos oder den mobilen Geräten ihrer Fahrer stammen.
Und nun? Wie sollen die vielen »Eigentümer« dieser Daten ermittelt und entlohnt werden? Wer sind überhaupt diese Eigentümer? Skeptisch macht, dass vor allem die Automobilhersteller mit den Füßen scharren und privilegierte Eigentumsrechte für sich beanspruchen. Warum? Im vernetzten Auto kann ständig alles gemessen werden: meine Fahrweise, meine bevorzugten Strecken und so weiter. Warum sollen die Autohersteller diese Daten für sich exklusiv auswerten dürfen?
Erstickungsgefahr
Ein Privateigentum an solchen Maschinendaten wäre nicht ungefährlich, weil dadurch neue Marktmacht entstünde und der Wettbewerb der Nutzung solcher Daten erstickt würde. Besser, man lässt solche Daten ungehindert zirkulieren. Marktmächtige Akteure könnten sonst noch mächtiger werden, befürchtet Reto Hilty, Direktor am Münchner Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb: »Die Vorstellung, dass Daten einem Erzeuger (dem Autofahrer) oder einem Hersteller (BMW oder Daimler) rechtlich gehören, macht keinen Sinn.«
Doch nicht nur bei Maschinendaten, sondern auch bei personenbezogenen Daten sollte man mit Eigentumsrechten vorsichtig sein. Diese Daten, sagt der Ökonom Achim Wambach, Vorsitzender der Monopolkommission, sind gar nicht im strengen Sinn »meine« Daten, sondern in der Regel aus einer sozialen Beziehung heraus entstanden. Amazon glaubt zu wissen, dass ich mich für Hermann Hesse interessiere. Was aber gar nicht stimmt. Soll ich nun Geld von Amazon für eine Falschinformation erhalten, die ich noch nicht einmal aktiv weitergegeben habe? Das ergibt keinen Sinn.
Der Geist der Güter
Sachgüter und sogenannte Immaterialgüter (»geistiges Eigentum«, Patente, Daten) haben offenbar weniger miteinander zu tun als gedacht. Der »Geist« steckt nicht genauso in einem Buch, wie mein Schreibtischstuhl in meinem Arbeitszimmer steht. Der Grund: Daten sind nicht exklusiv und nicht rivalisierend. Ein Leser, der diese Kolumne interessant findet und ihren Inhalt weitererzählt, bewirkt nicht, dass mir meine Gedanken abhandenkommen. Bei meinem Schreibtischstuhl wäre das anders.
Die Nutzung von Daten generiert keine negativen, sondern positive Externalitäten: »Die Gedanken anderer können nur durch Denken aufgefasst werden«, schreibt G.W.F. Hegel, ein deutscher Philosoph, in seiner »Rechtsphilosophie«. Digitale Güter können unbegrenzt produziert und reproduziert werden. Es gibt keine Knappheitsprobleme wie bei Sachgütern. Am Ende würde es womöglich den Fortschritt eher hemmen als fördern, wenn für Daten eine Art von Patentschutz eingeführt würde.
Und nun? Bin ich ohne Eigentumsrechte am Ende schutzlos den Digitalunternehmen ausgeliefert, die mit meinen Daten ihren Reibach machen? Nein, so ist es nicht. Für meine personenbezogenen Daten gibt mir die Datenschutzgrundverordnung das Recht, selbst zu bestimmen, was über mich gesammelt wird, ohne dass dadurch Eigentumsrechte begründet würden. Und natürlich braucht es ein strenges Urheberrecht, damit zum Beispiel diese Kolumne nur dann nachgedruckt werden darf, wenn die F.A.Z. (und der Autor) dafür Geld bekommen.
Folgt man dem Ökonomen Achim Wambach, wäre es der klügere Weg, die Bedingungen zu schärfen, unter denen Konzerne Daten erheben und nutzen dürfen – und gleichzeitig die Transparenz weiter zu erhöhen, damit jeder weiß, welche Gegenleistung in Form von Informationen er genau erbringt, wenn er ein Angebot nutzt. Zugangs- statt Eigentumsrechte, heißt die Devise. Der Verzicht auf Eigentumsrechte bedeutet nicht Rechtlosigkeit. Das ist zumindest einigermaßen beruhigend.
Rainer Hank