Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 14. April 2020
    Die gute Hirtin Angela

    Die Herde folgt ihrem Hirten Foto: unsplash/Leo foureaux

    Dieser Artikel in der FAZ

    Die Kanzlerin und der deutsche Polizeistaat

    Zanderfilet mit geschmortem Fenchel und Knoblauch-Kartoffelstampf hat Christian Jürgens uns in seiner Kochkolumne jüngst vorgeschlagen. Jürgens ist Chefkoch des legendären Restaurants »Überfahrt« in Rottach-Egern am Tegernsee, auf den Mann ist Verlass. Sein Zander-Rezept eigne sich hervorragend für große Gruppen, schreibt Jürgens, er habe es oft für die Großfamilie am Karfreitag zubereitet. Das war der Moment, an dem ich innerlich zusammenzucke: Große Gruppen? Das geht doch gar nicht, durchfährt es mich. Ich komme ins Grübeln: Oder ist das gemeinsame Essen in der Großfamilie noch erlaubt, wenn die Verwandtschaftsbeziehung hinreichend eng ist? Da müsste man noch einmal im staatlich erlassenen Corona-Manual nachschlagen. Ich ahne, Großfamilie wird wohl auch verboten sein.

    Soweit ist es also gekommen: Innerhalb von drei Wochen ist uns der Abstandhaltereflex zur zweiten Natur geworden. Statt uns das Wasser im Mund zusammenlaufen zu lassen bei der Vorstellung von konfiertem Zander, werden Furcht und Angst mobilisiert. Es ist die Wiedergeburt autoritärer Persönlichkeitszüge aus dem Geiste von Corona. Der »autoritäre Charakter«, schreibt der Philosoph Erich Fromm, zeichnet sich durch Unterwürfigkeit und Konformitätsverhalten aus, ein Verhalten der Anpassung, hinter welchem Angst und Aggression nur schwer sich verbergen können.

    Wir hatten es tatsächlich gewagt, in der Karwoche – natürlich nur zu zweit – von Frankfurt aus einen kleinen Ausflug in den nahe gelegenen Rheingau zu machen, um eine Stunde lang dort spazieren zu gehen. Die Sache verlief äußert corona-korrekt: Fünf Meter Abstand zu allen Fremden waren gesichert, keine Gefahr sich nähernder Radler, denn die waren polizeilich verboten. Als wir zum Auto zurückkamen klebte unter dem Scheibenwischer eine Tempotuch mit der Botschaft mutmaßlich eines Einheimischen: »Bleibt bitte zuhause!« Die Bitte ist die höfliche Form der Drohung: das nächste Mal stechen wir euch die Reifen ein. Präzise lässt sich hier die Entstehung der Fremdenfeindlichkeit beobachten; Xenophobie ist die Schwester der Angst. Ihr Inhalt ist irrational: Als ob wir böse urbane Viren in die reine Luft des Rheingaus verpusten würden.

    Kollateralschaden der Pandemie

    Man muss es wohl als Kollateralschaden der Pandemiebekämpfung ansehen: Die massiven Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten (Gewerbefreiheit, Reisefreiheit, Versammlungsfreiheit, Glaubensfreiheit) schreiben sich ohne Murren in unser Fühlen und Verhalten ein. Wir wollen alles richtig machen, ermahnen die anderen, wenn sie es falsch machen und entdecken befremdet einen kleinen, bislang unbekannten Denunzianten in uns. Wer das auch nur mit skeptischer Distanz beschreibt, bekommt, im wahrsten Sinn des Wortes, das Totschlagargument zu hören: Schließlich gehe es jetzt um Leben und Tod. Und da sollten wir froh sein, dass der Staat sich um uns kümmere.
    Dem Staat als Kümmerer entspricht der Bürger als Untertan. Im Diskurs über die Staatsaufgaben, der sogenannten Staatszwecklehre, rangiert der Kümmer- oder Obrigkeitsstaat historisch am Anfang: Es ist ein Polizeistaat, ein Begriff, der von 16. bis zum 18. Jahrhundert einen durchaus positiven Klang hatte, ging es doch um die gute Verwaltung der »Polis«. Die »gute Policey« bezieht sich auf die Aufgabe des Staates, für Ordnung im Gemeinwesen zu sorgen. Dazu gehört es, sich um Sicherheit, Wohlfahrt, Nützlichkeit und Glückseligkeit der Bürger zu kümmern, zu deren Durchsetzung es dann auch Staatsdiener – »Polizisten« – braucht, welche hoheitliche Aufgaben wahrnehmen. Es ist der Anspruch einer weitgehenden Allzuständigkeit des Staates, der als Garant des kollektiven und individuellen Wohls sich versteht. Die Polizei, so erklärt der Jurist Johann Heinrich Gottlob Justi (1720 bis 1771), ist dasjenige, was es dem Staat gestattet, seine Macht zu vermehren und seine Gewalt in vollem Umfang auszuüben. Die Polizei soll die Leute in einen glücklichen Zustand bringen und erhalten, wobei das Glück als Überleben, Leben und besseres Leben verstanden wird. Einen Unterschied zwischen kollektivem und individuellem Wohl und Nutzen kennt der Polizeistaat nicht – weil ihm die Vorstellung bürgerlicher Freiheit fremd ist.

    Fast will es scheinen, als ob der Einbruch einer archaischen Seuche, gegen die es weder Therapie noch Impfung gibt, und der gleichzeitige Rückfall des Staates in eine seiner Frühformen einander auf merkwürdige Weise korrespondieren. Eine Pandemie bekämpft man am besten mit dem Polizeistaat, wird uns suggeriert: Der soziale Abstand muss polizeilich überwacht werden. Es geschieht alles nur zu unserem Besten.

    Foucaults Pastoralmacht

    Der französische Philosoph Michel Foucault hat zur Beschreibung der Wirkung des Polizeistaats den schönen Begriff der Pastoralmacht eingeführt, ein Begriff, an den man gerne an diesem Osterfest erinnern mag. Der Pastor ist der »gute Hirte« seiner Herde, für deren Wohl er verantwortlich ist: ein kurzes Sonnenbad auf einer Parkbank hat Landspastor Markus Söder uns deshalb jetzt erlaubt. Der Hirte sammelt, führt und leitet seine Schafe. Die Rolle des Hirten besteht darin, das Heil seiner Herde sicherzustellen. Zielgerichtetes Wohlwollen nennt Foucault die Aufgabe des Hirten: Dafür muss er sogar ausnahmsweise die Herde verlassen und sich auf die Suche nach einem einzelnen verlorenen Schaf zu begeben. Das Verhältnis zwischen Hirte und Herde ist alles andere als äußerlich: Seine Fürsorge schreibt sich tief in das kollektive Verhaltensgewissen der Herde ein.
    Die nun schon so lange regierende deutsche Kanzlerin hat in ihrer letzten Phase eine zu ihr eigentlich gar nicht passenden Rolle gefunden: Sie ist die »gute Hirtin« dieses Osterfestes 2020. Sie sagt uns, was wir zu tun und zu lassen haben und warum es nur zu unserem Besten ist. Sie tadelt uns, ermahnt uns, in der Disziplin nicht nachzulassen, lobt uns aber auch, wenn wir uns korrekt verhalten. Die Drohung mit der bösen Policey überlässt die Bundes-Pastorin den Männern in den Gauen, Markus Söder oder Armin Laschet.
    Es ist müßig zu fragen, ob es eine der Freiheit kompatiblere Politik gegeben hätte, die Pandemie zu bekämpfen als die des Polizeistaates. Man darf der guten Hirtin auch attestieren, dass ihre pragmatische Rhetorik uns deutlich lieber ist als die Kriegsmetaphorik aus Frankreich oder den Vereinigten Staaten. Gleichwohl sollten wir uns nicht einreden lassen, der Polizeistaat sei in der Krise alternativlos. Das ist er nicht, er ist womöglich nicht einmal besondere effizient. Paul Romer, ein Ökonom an der New York University, schlägt zum Beispiel massenhafte Tests vor: Jeder der negativ ist, würde auf der Stelle in die Freiheit entlassen; das gesellschaftliche Leben könnte rasch weitergehen.
    Alles kommt jetzt darauf an, den Polizeistaat schnell wieder in Richtung des freiheitlichen Rechtsstaats zu verlassen. Denn das Schlimmste an der autoritären, fürsorglich daherkommenden Pastoralmacht ist, dass sie die autoritären Anteile unseres Selbst kitzelt. Dabei heraus kommt eine Melange von Angst, Aggression und beflissenem Untertanengeist, Züge, die uns aufs Äußerste unangenehm sind. Und die sich auf keinen Fall verfestigen sollen.

    Rainer Hank

  • 07. April 2020
    Beten hilft nicht

    Die Pest in Tournai 1349 Quelle: Bridgeman Images

    Dieser Artikel in der FAZ

    Was unsere Gesundheit mit dem Kapitalismus zu tun hat

    Als im April 1348 die Pandemie auch in Katalonien angekommen war, verfasste der Arzt Jacme d’Agramont eine kleine Schrift mit dem Titel »Maßnahmen zum Schutz vor der Pest«. Die Fachwelt war sich einig darüber, dass die Ursachen der tödlichen Krankheit nicht nur einer himmlischen Feindschaft zwischen Mars und Jupiter zuzuschreiben seien, sondern auch als Folge des sündhaften Lebens der Menschen verstanden werden müsse: Zur Strafe hat Gott die Luft vergiftet. Deshalb hält der Mediziner d’Agrament es für unerlässlich, dass die Menschen jetzt rasch ihre Sünden beichten und beten, um den Allmächtigen versöhnlich zu stimmen. Zusätzlich ordnete der Arzt eine ganze Reihe weltlicher Vorbeugemaßnahmen an: so wenig wie möglich trinken und essen; Aal, Ente und Spanferkel sollten gänzlich gemieden werden. Gewarnt wird auch vor Bädern und vor Sex, weil dadurch die Poren der Haut geöffnet würden und die vergiftete Luft in den Körper eindringen könne.

    Spencer Strub, ein Mediävist, der an der Harvard Universität unterrichtet, hat vergangene Woche in der »New York Times« an Jacme d’Agramont erinnert, um zu zeigen: Die traumatische Erfahrung kollektiver Verwundbarkeit gehört zur Menschheitsgeschichte. Was auch dazu gehört ist die Versuchung, einen Sündenbock zu finden, der die Seuche angeschleppt hat. Im Mittelalter galten »Fremde, Prostituierte, Juden und die Armen« als Kandidaten. Heute bezichtigen Amerika und China einander, für die Corona-Pandemie verantwortlich zu sein. Man muss wohl skeptisch bleiben gegenüber der romantischen Vorstellung dieser Tage, die Pandemie löse vor allem eine Welle der Solidarität aus. Sie löst mindestens gleichzeitig auch Egoismus, Nationalismus und Wellen des Autoritarismus aus.

    Aufstieg mit der industriellen Revolution

    Die Strukturähnlichkeiten traumatischer Pandemie-Erfahrungen in der Geschichte können indessen nicht die großen Unterschiede zwischen damals und heute einebnen. Im Mittelalter war die Nähe zwischen Magie, Medizin und Scharlatanerie groß. Heute fällt es selbst in der katholischen Kirche nur noch wenigen ein – dem Churer Bischof Marian Eleganti zum Beispiel -, die Corona-Krise als Strafe Gottes zu labeln und eine umgekehrte Korrelation zwischen Infizierten und frommen Gläubigen zu behaupten. Gründe zu beten mag es auch in unserer säkularen Welt geben, die Zuständigkeit für Seuchen freilich ist an Virologen und Epidemiologen übergegangen: Ein Segen für die Menschheit.

    Dass es so kam verdanken wir einem evolutiven Prozess, der gespeist wird aus wissenschaftlicher Neugierde, medizinischem Erfolg und kapitalistischer Fortschrittsdynamik. Der Konnex ist leicht zu erkennen, wirft man einen Blick auf die Daten und Kurven, die der in Oxford arbeitende deutsche Ökonom Max Roser auf seiner Internetseite »Our world in data« bereithält. Es ist nämlich keinesfalls so, dass der medizinische Fortschritt linear seit dem Mittelalter über uns gekommen wäre. Grob gesagt waren die meisten Menschen auf der Welt bis zum Jahr 1800 bettelarm, sie hatten eine geringe Lebenserwartung (wenn sie nicht schon gleich bei der Geburt starben) und waren ständig krank und in schlechter Verfassung. Bloß eine kleine Oberschicht konnte sich ein schönes, gesünderes und angenehmes Leben leisten. Erst mit der industriellen Revolution, der Einführung des Kapitalismus auf breiter Front im 19. Jahrhundert, änderte sich alles radikal. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Europa lag im Jahr 1800 bei 40 Jahren, heute hat sie sich verdoppelt. Zugleich haben sich die Unterschiede der Lebenserwartung zwischen Arm und Reich innerhalb eines Landes deutlich verringert. Je wohlhabender ein Land ist, desto mehr Gesundheit leistet man sich.

    Volksgesundheit – oder: unser physiologisches Kapital

    Kurzum und vielleicht ein bisschen pauschal: Der Kapitalismus hat Arme reich und Kranke gesund gemacht. Man kann es auch ein bisschen differenzierter sagen, schaut man sich die Forschungen des Ökonomen William Fogel an. Der Wissenschaftler hat 1993 den Nobelpreis gewonnen und 2011, im Alter von 85, unter dem Titel »The changing Body« ein Buch über die Beziehung von Kapitalismus und Körper geschrieben: Die Fortschrittsgeschichte besserer Ernährung, guter medizinischer Versorgung, einfallsreicher Ingenieurskunst (nicht zuletzt der Erfindung der Kanalisation, die die Cholera zum Verschwinden brachte) und wirtschaftlichen Wachstums war es, die diesen grandiosen Verbesserungsschub für die Gesundheit der Menschen ermöglicht hat. Impfen, anfangs sehr teuer, wurde immer günstiger und für viele erschwinglich. Man ist geneigt, die Gesundheit ausschließlich als individuelles Gut zu betrachten, das sich aus genetischer Prägung, persönlichem Lebensstil und achtsamer Ernährung ergibt. Dabei wird übersehen, wie sehr die »Volksgesundheit« sich seit 200 Jahren für alle verbessert hat. Robert Fogel nennt dies unser »physiologisches Kapital«, die kollektive körperliche Grundausstattung, bei der sich der wachsende Wohlstand am Ende auch in der Verbesserung des genetischen Codes niederschlägt.

    Was hat die Erinnerung an die medizinisch-kapitalistische Dynamik der vergangenen zweihundert Jahre mit unserer heutigen Krise zu tun. Nicht wenig, wie ich finde. Wenn jetzt häufig gesagt wird, man müsse den Shutdown mit all seinen Konsequenzen in Kauf nehmen und dürfe dagegen nicht den wirtschaftlichen Schaden aufrechnen, dann mag das okay sein: denn Gesundheit gilt als unser höchstes Gut und kranke Menschen nützen auch der Wirtschaft nichts. Doch Gesundheit ist nichts, was vom Himmel fällt, sondern verdankt sich einer wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte, die auch künftig nicht abbrechen darf. Derzeit zeigt sich nicht nur, dass Ärzte und Kliniken vielerorts am Limit ihrer Möglichkeiten sind, sondern es zeigt sich auch, welch Gewaltiges sie bis zu diesem Limit leisten: Die medizinische Versorgung lebt von engagierten Ärzten, Schwestern und Pflegern, die auf modernste technische Ressourcen in den Krankenhäusern und die dafür nötigen Finanzmittel zurückgreifen können. Der Rationalität der »Schulmedizin« können wir vertrauen. Gewiss ist es nötig, auf die Knappheiten (Betten, Beatmungsgerät, Mundschutz, Desinfektionsmittel) hinzuweisen. Darüber sollte aber nicht vergessen werden, was alles in Fülle und zugleich flächendeckend da ist – nicht vom Himmel gefallen, sondern als Frucht unseres Wohlstands.

    Dass Pandemien nicht nur Schicksal des »finsteren« Mittelalters sind, damit haben viele nicht gerechnet (wenn sie nicht gerade Ärzte sind). Zu sagen, dass Pandemien Folge der globalisierten Weltwirtschaft sind, ist Nonsens, fungiert womöglich als heutiger Sündenbock. Der Begriff Quarantäne stammt aus dem italienischen »quaranta giorni«: 40 Tage lang musste ein Schiff mit pestverdächtigen Passagieren außerhalb des Hafens von Venedig ankern, bis man die Fremden – dann vermutlich »herdenimmun« – in die Stadt gelassen hat. Das spielte sich im 14. Jahrhundert ab, und man hätte auch damals mit gutem Grund sagen können, das den ganzen östlichen Mittelmeerraum umspannende venezianische Reich sei verantwortlich gewesen für die gefährliche Seuche. Aber, wie gesagt, damals hatte man andere Sündenböcke im Visier: die Feindschaft zwischen Saturn und Jupiter oder die bösen Laster der Menschen.

    Rainer Hank

  • 31. März 2020
    Homeschooling als Modell

    Schule zuhause

    Dieser Artikel in der FAZ

    Bringt Corona unser Schul-Monopol zu Fall?

    Gut, dass das Mädchen nicht mich, sondern ihre Patentante gefragt hat: Die nämlich, altphilologisch sattelfest, hatte keine Mühe, den grammatischen Unterschied zwischen Vokativ und Hortativ aus dem Ärmel zu schütteln. Ich wäre einfach nur blamiert und auch jetzt noch überfordert, pädagogisch zielführend das Problem zu lösen – obwohl auf »lateinlehrer.de« eigentlich alles gut erklärt wird: Fugiamus!, lasst uns fliehen! Ein klarer Fall von Hortativ und zudem in diesen Corona-Zeiten unser aller Grundgefühl.
    Ein ganzes Volk von Eltern, Großeltern (per Telefon) und Patentanten ist gerade dabei, zu Hauslehrern umzuschulen. Jedenfalls im Zweit- oder Drittberuf. Die Corona-Kleingruppe zuhause macht den zivilisatorischen Fortschritt rückgängig, demzufolge Arbeitsteilung sich als Motor der Effizienz erwiesen hat. Noch vor einem Monat wäre das Beschulen der Kinder durch die Eltern als krimineller Akt strafrechtlich verfolgt worden. Jetzt gilt es als ein Ausdruck von Solidarität im Rahmen der neuen Stay-at-Home-Kultur. »Wir sind in nur einer Vormittagsstunde mit dem von der Lehrerin vorgegebenen Stoff durch«, erzählt ein Vater stolz, der tagesabwechselnd mit seiner Frau den Unterricht der Grundschul-Zwillinge übernimmt. Zuhause muss man nicht warten, bis auch alle ADHS-Zappelphilippe in der letzten Reihe die Matheaufgaben heraus haben.

    Ein bundesweiten Großversuch zum Homeschooling – so etwas hat es hierzulande noch nie gegeben und hätte es in normalen Zeiten auch niemals gegeben. Jetzt zeigt sich: Im Zeitalter digitaler Unterstützung durch Tutorials, Nachhilfeplattformen und Lehrermaterialien funktioniert das Lernen zuhause viel besser als früher in der analogen Welt. Es wäre nicht das Schlechteste, falls man Corona irgendetwas abgewinnen wollte, würden die Erfahrungen der temporären Schulschließung dazu genutzt, über den deutschen Schulzwang kritisch nachzudenken.

    Der deutsche Sonderweg

    Dass hierzulande ein staatliches Bildungsmonopol existiert, dass es also ausschließlich vom Staat ausgebildeten Lehrern an staatlichen Schulen (oder vom Staat lizensierten Privatschulen) erlaubt ist, Kinder mit Mathe & Co. aufs Leben vorzubereiten, ist ein deutscher Sonderweg. Die meisten anderen Länder der Welt sind weniger rigoros. Es gibt sogar Staaten, in denen es ein Verfassungsrecht ist, dass Eltern selbst ihre Kinder unterrichten, wenn sie es wollen. In Kanada erhalten sie bis zu 1000 Dollar monatlich vom Staat. Das soll für Chancengleichheit mit den steuerfinanzierten staatlichen Schulen sorgen.

    Der deutsche Sonderweg hat – wie meist – historische Gründe. Besonders rigoros geht es erst seit dem Reichsschulpflichtgesetz von 1938 zu. Nach dem zweiten Weltkrieg hat man dann darauf bestanden, dass staatliche Schulbeamte dafür bürgen, dass Kinder im Geiste einer liberalen Demokratie und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung erzogen werden, ein Gedanke, der auch noch den berühmt-berüchtigten Radikalenerlass von 1972 trägt.

    Heute argumentiert man nicht mehr demokratietheoretisch, sondern gerechtigkeits- und chancengleichheitspolitisch: Im Vordergrund der Debatten um den Unterrichtsausfall während Corona steht die Sorge, die Schere zwischen Bildungsbürgerkindern und Kindern aus sogenannten bildungsfernen Schichten könne sich weiten. Akademikereltern hat eine Lehrerin eigens geraten, nicht allzu viel mit den Kindern zu rechnen – das müsse sie hinterher ausbaden, wenn diese zu weit fortgeschritten wären. Ob die ehrgeizigen Eltern sich daranhalten, bleibt abzuwarten. Im Zentrum steht die Egalisierungsfunktion der Schule. Hinzu kommt die Sozialisierungsfunktion: In der Schulklasse, abseits des familiären Milieus, sollen Kinder soziales Lernen üben.

    Interessant ist, dass die Qualität schulischer Bildung nicht als Argument für das staatliche Monopol benutzt wird. Das immerhin ist konsequent. Hätte die rigorose staatliche Schulpflicht Auswirkungen auf den Lernerfolg, müsste Deutschland in den Pisa-Tests ganz vorne mit dabei sein – was offenkundig nicht der Fall ist. In Finnland, dem Pisa-Musterland, ist Home Schooling legal. Vorgeschrieben ist dort nur die Bildungspflicht, die durch staatliche Prüfungen, aber nicht durch staatlichen Unterricht nachgewiesen wird.

    Schlag nach bei Wilhelm vom Humboldt

    Nun muss man die Egalisierungs- und Sozialisierungsfunktion der Schule gar nicht bestreiten, um den hiesigen Bann familiärer Beschulung zu missbilligen. Ursprünglich sollte der Schulzwang lediglich verhindern, dass bildungsunwillige Eltern ihre Kinder zum Kartoffelausbuddeln und Getreideernten missbrauchen, anstatt sie in den Unterricht zu schicken. Doch warum wird es allen Eltern verboten? Das gerade hierzulande immer hochgehaltene Prinzip der Subsidiarität besagt: Der Staat muss erst dann einschreiten, wenn die Privaten versagen. Er muss Kinder nur dann vor ihren Eltern, wenn er befürchtet, ihnen würde Bildung vorenthalten oder aber die Kinder würden auf gefährliche Weise indoktriniert.

    Warum halten wir uns nicht an Wilhelm von Humboldt, der hierzulande doch als eine Art Bildungspapst gilt? Humboldts nicht genug zu empfehlende Frühschrift von 1792 mit dem schönen Titel »Ideen zu einem Versuch, die Gränzen (sic!) der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen« billigt dem Staat zwar das Recht und die Pflicht zu, im Interesse der Freiheit der Bürger für äußere und innere Sicherheit zu sorgen. Aber von einer Pflicht öffentlicher Erziehung will der Bildungsreformer nichts wissen: »Soll die Erziehung nur Menschen bilden, so bedarf es des Staates nicht«, schreibt Humboldt. Im Gegenteil: Staatliche Beschulung führe dazu, dass die Eltern die Verantwortung für die Aufzucht der Kinder an den Staat delegieren, wofür sie einen hohen Preis zahlen: Statt zu freien und gebildeten Menschen wird die Jugend zu Staatsbürgern, mithin zu Untertanen gemacht. Staatlich bestallte Lehrer, behauptet Humboldt frech, seien vor allem auf die nächste Beförderung fixiert, während das Wohl privater Erzieher vom Erfolg ihrer Arbeit abhänge.
    Während ich mich also derart in das furiose Plädoyer fürs Home Schooling hineinschreibe, geht ein Erfahrungsbericht eines engagierten Vaters per Mail in meinem Home Office ein: »Es war furchtbar heute, ich musste gegen die rebellische Stimmung beim Addieren und Subtrahieren drakonische Strafen androhen (doch keine »Schnitzel Wiener Art« zum Mittagessen, und natürlich auch kein Fernsehen heute), was wiederum zu Tränenausbrüchen bei den Kindern und schlechtem Gewissen bei mir führte. Lesen ging dann nach dieser Krise viel besser. Weshalb ich jetzt doch zum Schnitzelklopfen schreite: Versöhnung. Aber die Fernsehserie bleibt gestrichen!« Was will man entgegnen? Home Schooling bedeutet ja nicht, dass die Eltern selbst zu nervenkranken Paukern werden müssen. Sie könnten Fachkräfte beschäftigen wie damals die Gontards in Frankfurt, die den Tübinger Dichter und Denker Friedrich Hölderlin angestellt haben (was bekanntlich ein Liebesdrama nach sich zog). Aber an all das ist in Corona-Zeiten natürlich nicht zu denken. Und selbst später dürfte es am Geld – und an der Knappheit von Hauslehrern und Hofmeistern scheitern.

    Rainer Hank

  • 23. März 2020
    Was heißt hier Solidarität?

    Wie den Virus integrieren?

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über den Altruismus in Zeiten von Corona

    Es war ein heißer Julitag des Jahres 1974 in Griechenland, als plötzlich und unerwartet die Militärdiktatur gestürzt wurde. Der frühere Ministerpräsident Konstantinos Karamanlis sollte aus dem Exil zurückkommen und wurde auf dem Syntagma-Platz von Athen erwartet. Vor dem Parlament kam eine riesige Menschenmenge zusammen. In den Stunden zuvor hatte die Militärjunta Dutzende Lastwagen mit Soldaten und Lautsprechern durch die Straßen fahren lassen. »Bürger von Athen!«, brüllten die Bewaffneten: »Bleibt zu Hause!« Doch die Demonstranten ließen sich nicht einschüchtern. Die Demokratie siegte, die Diktatur hatte verloren.

    Nicholas Christakis, der als kleiner Junge mit seiner Mutter auf dem Syntagma-Platz demonstriert hat, ist heute ein Professor für Evolutionsbiologie an der Universität Yale. Kürzlich ist sein neues Buch »Blueprint« erschienen, das davon handelt, was uns als Menschen eint. Es beginnt mit der Erinnerung an die Demo in Athen. Was Christakis sagen will: Menschen sind schon von ihrer genetischen Disposition her soziale Wesen. Sie existieren in der Gruppe. Wenn sie friedlich und solidarisch auftreten, vermögen sie es sogar, die Bösen vom Thron zu stürzen. Es hat gute Gründe, dass in vielen Verfassungen freiheitlich-demokratischer Gesellschaften die Versammlungsfreiheit ein Grundrecht ist.

    Es herrscht der Ausnahmezustand

    Man muss die positive Macht von Demonstrationen nicht romantisieren – Massen können bekanntlich auch viel Schlimmes anrichten. Doch die kleine Geschichte aus Athen verdeutlicht: Solidarität braucht den öffentlichen Raum und die Erfahrung menschlicher Nähe. Ihr pathetisches Emblem hierzulande ist die Lichterkette vieler Menschen mit Kerzen in den Händen. Im stillen Kämmerlein kann man nicht gut solidarisch sein. Das, so scheint es mir, ist ein Grundproblem dieser Corona-Wochen, wo wir aus guten Gründen aufgerufen werden, solidarisch zu sein, man uns aber nicht auf die Straßen und Plätze lässt, erst recht nicht in die Hospize und Hospitäler, um denen, die unsere Solidarität besonders nötig haben, unser Mitgefühl durch unsere Nähe zu zeigen. Der Aufruf, solidarisch sein, bleibt abstrakt in Zeiten des Ausnahmezustands, in denen das öffentliche Leben lahmgelegt und das Recht der freien Versammlung faktisch außer Kraft gesetzt ist. Fast scheint es, als ob sich diese Paradoxie in den Corona-Partys in den öffentlichen Parks zeigt, wo Menschen, die doch nur einander nah sein wollen, das Schlimmste anrichten: die Ausbreitung des Virus zu beschleunigen, anstatt den Prozess zu drosseln.

    Gewiss, man kann Leute, die kiloweise Mehl oder Konserven hamstern, unsolidarisch nennen, weil sie ihren Mitmenschen Lebensmittel entziehen. Aber vielleicht reicht es auch, solches Verhalten einfach nur als ungehörig oder meinetwegen egoistisch zu schelten. Kurzum: Ich bin skeptisch, ob uns die Beschwörung einer Ethik der Solidarität in diesen schweren Zeiten weiterhilft. Das merkt man nicht zuletzt daran, dass auch Politiker ihren Aufruf zur Solidarität stets mit einer Drohung verbinden: Wenn ihr euch nicht freiwillig sozial isoliert, dann verordnen wir eine Ausgangssperre. Wie man in Bayern seit gestern sieht, ist das ernst gemeint. Solidarität – wahrlich eine »große Idee« (Heinz Bude) – lebt davon, dass sie gerade nicht angeordnet werden kann. Staatlich befohlen ist sie noch nicht einmal halb so viel wert.

    Solidarität und soziale Distanz: ein Widerspruch

    Alena Buyx, eine an der TU München lehrende Medizinethikerin, die auch Mitglied des deutschen Ethikrates ist, kommt in ihrem 2016 zusammen mit einer Ko-Autorin verfassten Buch über das Solidaritätsprinzip in der Medizin (Campus Verlag) zu dem Schluss, dass die bei Pandemien nötigen Maßnahmen allenfalls teilweise als »solidarische Praktiken« eingeordnet werden können. Es gehe stattdessen schlicht um die Pflicht staatlicher Institutionen, ihre Bürger zu schützen. Das hat wenig mit Solidarität zu tun und schon gar nicht mit Kampf oder gar Krieg gegen ein Virus, das nicht zu besiegen ist, sondern – ganz im Gegenteil – integriert werden muss in das menschliche Immunsystem. Natürlich brauchen solche staatlichen Maßnahmen die Akzeptanz in der Bevölkerung. Dabei geht es dann um Einsicht der Vernunft in das Notwendige. Mag sein, dass die Opfer sozialer Distanzierung einigen leichter fallen, wenn sie sie Solidarität nennen, um ihnen eine altruistische Funktion zu geben.

    Dass Solidarität nicht zielführend ist, zeigt sich besonders bedrückend, wenn es um die Priorisierung knapper medizinischer Ressourcen geht. Gewiss hätten wir gerne, dass allen Kranken sofort jedwede medizinische Versorgung zuteil wird. Aber das geht schon unter normalen Bedingungen nicht. Priorisierung, im schlimmsten Fall Rationierung der medizinischen Leistungen könnten nötig werden; wir beobachten diese Katastrophe gerade mit großem Mitleid in Italien. Auch hierzulande gibt es heute schon Priorisierung, wenn die Krankenhäuser angewiesen sind, »normale« Operationen auf die Zeit nach der Pandemie zu verschieben. »Harte Rationierung« auf alle Fälle zu verhindern, also die Zuteilung intensivmedizinischer Leistungen unter Bedingungen absoluter Knappheit, das steckt ja gerade hinter der Pflicht, soziale Kontakte zu vermeiden. Zugleich wird das medizinische Angebot laufend ausgeweitet (auch mit Hilfe der Bundeswehr) und auf die Erfordernisse der Pandemie fokussiert.

    Doch auch wenn diese Anstrengungen hierzulande erfolgreich sind, führt kein Weg an der ökonomischen Einsicht vorbei, dass es bei medizinischen Ressourcen immer um Fragen der Verteilung und Prioritätensetzung gehe, sagte die Ethikprofessorin Alena Buyx dieser Tage in einem Interview. Das von Empathie gespeiste Solidaritätsprinzip würde verlangen, demjenigen zuerst zu helfen, der die Hilfe am nötigsten braucht. Doch viele Pandemiepläne und Leitfäden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall haben vernünftige Gründe dafür, nach dem »größtmöglichen Nutzen für viele« die Hilfe zu priorisieren. Im Klartext heißt das: Schwerstkranke mit den geringsten Überlebenschancen werden erst dann behandelt, wenn ausreichend Ärzte und Logistik für alle zur Verfügung stehen. Unserer solidarischen Intuition läuft das zutiefst zuwider: Menschenleben solle man nicht gegeneinander aufrechnen, heißt es. Aber der Realismus der Knappheit von Ressourcen und Zeit verlangt, die Augen nicht zu verschließen, sondern Kriterien einer Ethik der Priorisierung zu entwickeln. Dass Geld, also das Zuteilungsprinzip knapper Ressourcen auf Märkten, keine Rolle spielen darf, versteht sich von selbst. Auch abstrakte Altersregeln, wonach etwa Patienten über 60 Jahren nachrangig behandelt werden, hält Alena Buyx für problematisch. Ihr Kriterium lautet: Es kommt auf den klinischen Zustand der Kranken an und deren »ability to benefit«, also der Chance, von der Behandlung zu profitieren. Sie würden dann – geheilt – das Intensivbett rasch wieder für andere Kranke frei machen.
    Das alles sind ethisch äußerst sensible Überlegungen für Entscheidungen, die ein Höchstmaß an Verantwortungsgefühl verlangen, deren Kriterien aber nicht selten kontraintuitiv sind. Ich fürchte, dass gerade deshalb der Appell an die intuitive Solidarität nicht nur nicht weiter, sondern auch in die Irre führt.

    Rainer Hank

  • 23. März 2020
    Warum klappt der Bildung-Aufstieg nicht?

    Woher kommt die Motivation zum Lernen?

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über Scham und Verrat in der Familie

    Viele Vorbilder, insbesondere Sportler und Musiker, suggerieren, es sei das vollkommende irdische Glück, so zu werden wie Lukas Podolski, Mesut Özil oder Bushido – nach dem Motto »vom Gettokid zum Gangsta-Rappa«. Dieses Glücksmodell legt nahe, man könne reich und berühmt werden, aber gleichzeitig Sprache, Auftreten und Habitus beibehalten. Es ist die Hoffnung, alles schaffen zu können, ohne etwas ändern zu müssen.

    Kommt also daher der Ansporn zum sozialen Aufstieg? Kaum. Der Weg vom Gettokid zum Gangsta-Rappa ist ein Märchen, klingt schön, kommt selten vor und hat nichts zu tun mit dem typischen Klassenaufstieg von unten nach oben. Das ist die These des neuen Buches »Mythos Bildung« des Soziologen Aladin El-Mafaalani: Erfolgreiche Bildungsaufsteiger haben an irgendeinem Punkt ihrer Biographie das eigene Denken und Handeln problematisiert und aus sich selbst den Wunsch entwickelt, etwas in ihrem Leben zu verändern. Es geht ihnen in der Regel nicht um Geld und Macht, ja nicht einmal um sozialen Aufstieg. Halbwüchsige sind ja auch keine kleinen Soziologen, die über soziale Mobilität nachdenken, sondern, wenn es gut geht, Jugendliche, die Spaß und Neugier am Lernen entwickeln und erfahren haben, dass sich ihnen dadurch neue Welten eröffnen.

    Bildungsaufsteiger sind wie Migranten

    Wo es kein Aufstiegsmotiv gibt, da kann es auch keinen Aufstiegsplan geben. Aufsteiger erklimmen jeweils nur die nächste Sprosse der Leiter. Der Weg ist unsicher und wird von Ängsten begleitet. El-Mafaalanis eigene Biografie liest sich wie der Beweis für seine These: Als Kind syrischer Eltern in Deutschland geboren, hat er zunächst sechs Jahre lang als Lehrer im Schuldienst gearbeitet. Zudem war er Mitarbeiter im nordrhein-westfälischen Integrationsministerium. Heute ist El-Mafaalani Professor für »Erziehungswissenschaft und Bildung in der Migrationsgesellschaft« an der Universität Osnabrück. Sein Buch »Das Integrationsparadox – Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt« (2018) wurde rasch zum Bestseller: Konflikte entstehen nicht, weil die Integration von Migranten und Minderheiten fehlschlägt, sondern – ganz im Gegenteil – weil sie zunehmend gelingt. »Gesellschaftliches Zusammenwachsen erzeugt Kontroversen und populistische Abwehrreaktionen – in Deutschland und weltweit«, behauptet El Mafalaani.

    Dass Integration in ein neues soziales Milieu psychische Kosten verursacht, ist die Erfahrung aller Bildungsaufsteiger. Sie sind eben auch eine Art von Migranten. Bildungsmigration braucht den Willen zur Veränderung und hat ihren Preis: Aufsteiger machen die Erfahrung von Trennung, Entfremdung, Scham und Schuld aus dem Herkunftsmilieu und brauchen die Fähigkeit zu Flexibilität und Anpassung an neue Umgebungen, die ihnen gleichwohl die erhoffte Zugehörigkeit nicht leicht machen. Man sitzt zwischen allen Stühlen.

    Besser als Soziologen es können wird diese Erfahrung von der französischen Autorin Anni Ernaux beschrieben, deren Bücher gerade neu bei Suhrkamp ins Deutsche übersetzt werden. Ihre Erzählung: Der Vater stirbt, was der Erzählerin Anlass wird, dessen Leben aufzuschreiben. Geburt um die Jahrhundertwende, kurzer Schulbesuch, Bauer, dann bis zum Todesjahr 1967 Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens in der Normandie. Sein Leben ist die Geschichte von gesellschaftlichem Aufstieg und der Angst, wieder nach unten abzurutschen. Dass die Tochter eine höhere Schule besucht, macht den Vater stolz, aber zugleich entfernen sie sich voneinander. Für die Autorin wird die Erzählung zu einer Geschichte des Verrats: an ihren Eltern und dem Milieu, in dem sie aufgewachsen ist, gespalten zwischen Zuneigung und Scham, zwischen Zugehörigkeit und Entfremdung.

    Annie Ernaux berichtet von der stetigen Angst, fehl am Platz zu sein. Die Frage, die einen verfolgt, lautet: »Was werden die Leute dazu sagen?« Das Schlimme ist, dass genau diese Frage den Gebildeten und Erfahrenen als spießig und typisch kleinbürgerlich erscheint. Für alle Aufstiegskinder ist sie aber Kompass und zugleich Ausweis der Tatsache, nicht dazuzugehören. Denn dann wäre man ja souverän, bräuchte nach der Meinung der Leute gar nicht zu fragen. Für ein Fest der Schule weist die Direktorin an, zu diesem Anlass »sollte die Tochter Abendgarderobe tragen«. Mutter und Tochter hatten keine Ahnung, was sie wohl damit gemeint haben könnte. Das ist schrecklich, zugleich bringt es aber noch einmal eine Nähe zwischen den beiden Frauen. Schlimm sei, »die Scham, nicht zu wissen, was wir zwangsläufig gewusst hätten, was wir waren, nämlich unterlegen.«

    »Soziale Paten« können helfen

    Ich vermute, dass das Wissen um genau solche Scham-Kosten des Aufstiegs verantwortlich ist für die hartnäckig sich haltenden Bildungsungleichheiten. Zwar hat die Einkommensmobilität hierzulande zuletzt wieder Tempo gewonnen, wie Patrick Bernau vergangene Woche in der F.A.S. berichtete. Doch Einkommens- und Bildungsmobilität sind zwei Paar Stiefel: Von hundert Akademikerkindern nehmen in Deutschland 74 ein Hochschulstudium auf. Bei Kindern aus Nichtakademikerfamilien sind es gerade einmal 21. Bildungsexpansion einerseits – also die seit dem Bildungsreformer Georg Picht in den sechziger Jahren ausgerufene Massenbewegung zum Besuch von höheren Schulen und Universitäten – und verfestigte Bildungsungleicheit andererseits hört sich wie ein Widerspruch an, ist es aber nicht: Wenn ein Kind aus unteren Schichten eine Gymnasialempfehlung erhält, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass es die Eltern auch wirklich an einem Gymnasium anmelden, weniger als 40 Prozent, in den ärmsten Familien sogar gerade 20 Prozent. In den mittleren sozialen Milieus sind es 40 bis 80 Prozent, in den oberen Schichten gar 90 bis hundert Prozent. Bekommt ein Kind keine Gymnasialempfehlung, so ist die Reaktion darauf ebenfalls vom sozialen Milieu abhängig: Eltern aus unteren Schichten schicken das Kind nicht aufs Gymnasium, in den reichen und gebildeten Familien landen am Ende trotz der fehlenden Empfehlung rund 60 Prozent auf der höheren Schule.

    Eine liberale Gesellschaft ist auf Chancengleichheit gebaut. Dass über lange Jahrzehnte die Wahrscheinlichkeit des Bildungsaufstiegs für Kinder aus unteren Schichten deutlich schlechter ausfällt als in der Mittel- und Oberschicht, ist eine Ungleichheit, die einem nicht gerecht vorkommt. Was kann man tun? Am Geld kann es nicht liegen – seit Jahren werden immer mehr Finanzmittel in das Bildungssystem gepumpt. Viele Bildungsforscher plädieren für ein besser integriertes Schulsystem und für spätere Trennung zwischen Hauptschülern und Gymnasiasten. Über diese Frage wird seit Jahren ein erbitterter Glaubenskrieg geführt.
    Aladin-El Mafaalani bringt »soziale Paten« ins Spiel: Sie sind eine Art Mentoren, die unterstützend und korrigierend an die Stelle der Eltern treten. Früher übernahmen Pfarrer diese Aufgabe. Heute können es die Eltern oder Großeltern der Freundin sein, die einem anderen Milieu angehören. Solche Paten bringen konkrete Einblicke in die neue soziale Welt und senken die Kosten des Wechsels. Lehrer oder andere pädagogische Fachkräfte taugen als soziale Paten eher weniger, findet El-Mafaalani. Das ist ein bisschen enttäuschend.

    Rainer Hank