Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
02. Januar 2025Das Evangelium nach Peter Thiel
02. Januar 2025Wer die Wahl hat
04. Dezember 2024Ein Hoch auf Pharma
04. Dezember 2024Mit Unsicherheit leben
15. November 2024Zwangsarbeit
05. November 2024Totaler Irrsinn
18. Oktober 2024Arme Männer
14. Oktober 2024Christlicher Patriotismus
08. Oktober 2024Im Paradies der Damen
28. September 2024Von der Freiheit träumen
02. Juni 2020
Lob der KleinstaatereiCorona macht die Kosten der Zentralisierung sichtbar
Fusionen von Staaten sind im internationalen Vergleich die Ausnahme und nicht der Normalfall. In der Nachkriegszeit hat sich die Zahl der Nationen fast verdreifacht – von 74 im Jahr 1946 auf 193 unabhängige Staaten heute. Da gibt es die Großen (China mit knapp 1,4 Milliarden Einwohnern) und Tuvalu (ein souveräner Inselstaat im Stillen Ozean mit 10 000 Bürgern). Verantwortlich für diese Vervielfältigung ist zum einen die Entkolonialisierung, zum anderen der Zerfall des ehemaligen Sowjetimperiums und dessen Folgen (die friedliche Teilung der Tschechoslowakei und das kriegerische Zerbrechen Jugoslawiens).
Die wundersame Vermehrung der Staaten ist vielen nicht präsent. Wir denken gerne, kleine Länder haben es schwer, größere Staaten sind Trumpf. Das Gegenteil ist richtig: Unter den reichsten Ländern dieser Welt mit den zufriedensten Menschen sind auffallend viele kleine Länder (Norwegen, Schweiz, Singapur). Als Staaten wie Slowenien, Montenegro oder Georgien sich für unabhängig erklärten, gaben viele Beobachter ihnen wenig Überlebenschancen. Jetzt halten sie sich schon seit bald dreißig Jahren.
An die Staatenvielfalt zu erinnern hat einen Anlass: Seit Ausbruch der Corona-Krise gibt es eine Erzählung, die besagt, Europa müsse viel enger zusammenrücken, um künftige Krisen solidarischer zu bewältigen als es jetzt geschehen sei. Als Kanzlerin Angela Merkel und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron vor zwei Wochen ihr 500–Milliarden-Euro-Wiederaufbauprogramm verkündeten, schwang diese Erzählung explizit mit. »Wir müssen ernsthaft über das sprechen, was Europa jetzt nicht ausreichend konnte und was die Zukunft der Europäischen Union ausmachen wird: Das kann ein sehr viel engeres Zusammenrücken einschließen«, sagte Angela Merkel und brachte künftige Vertragsveränderungen ins Spiel. Das von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zuletzt auf 750 Milliarden Euro großzügig aufgestockte sogenannte Wiederaufbauprogramm (was eigentlich wurde zerstört?), zu dessen Finanzierung die EU sich als Ganzes verschulden wird, ließe sich dann als vorweggenommene Fiskalunion interpretieren auf dem Weg von einem Staatenbund zu einem europäischen Bundestaat.Alberto Alesina über die optimale Staatsgröße
Wollen wir das wirklich? Vor dem Hintergrund der trendmäßigen Vervielfältigung der Staaten der Welt müsste zumindest die Frage der Legitimation dieses Fusionswegs beantwortet werden. Gewiss, die europäischen Staaten müssen nicht nachmachen, was alle anderen machen, aber sie müssten doch über die gängige historische Erklärung – Friedensprojekt – hinaus auch noch eine nüchtern ökonomische Antwort nach Nutzen und Kosten einer immer engeren Union geben.
Um die Frage nach dem Nutzen von größeren Staatsgebilden zu beantworten, bräuchte man Kriterien, die besser sind als das imperiale Bauchgefühl, wonach groß immer besser ist als klein. Die beste Kriteriologie stammt von dem Harvard-Ökonomen Alberto Alesina. Ich will heute an diesen großen Forscher erinnern: am vergangenen Samstag ist er, nur 63 Jahre alt, völlig überraschend nach einem Herzschlag in Cambridge/Mass. gestorben. Von Alesina stammen viele wichtigen, häufig provokanten Bücher (zum Beispiel über den Ertrag einer guten Austeritätspolitik). Er hat auch – auf Italienisch! – ein schönes Plädoyer geschrieben, dass und warum die Linken den Wirtschaftsliberalismus lieben müssten. Sein unter Politikwissenschaftlern mehr als unter Ökonomen rezipiertes Hauptwerk aber dreht sich um die optimale Größe eines Staats: The Size of Nations (2003).
Was ist die optimale Größe eines Staates? Für größere politische Einheiten sprechen Skaleneffekte: Die Bereitstellung öffentlicher Güter wird für die Bürger um so günstiger, je mehr Bürger dafür zahlen. Eine öffentliche Verwaltung, wenn sie effizient arbeitet, muss eine gegebene Zahl von Staatsdienern nicht erweitern, einerlei ob sie Steuern von fünf oder von fünfzehn Millionen Bürgern einzieht. Die Pro-Kopf-Kosten eines öffentlichen Gutes sinken also mit wachsender Staatsgröße. Ein größerer Staat kann mehr Sicherheit (ein größeres Heer, dickere Panzer, solideren Grenzschutz) anbieten, ebenfalls zu geringeren Preisen.
Gäbe es nur Größenvorteile, müssten alle Regierungen den Drang entwickeln, zum Weltreich zu werden. Das wäre dann eine ökonomische Legitimation des Imperialismus. Doch den Vorteilen der Größe stehen Kosten der Integration gegenüber. Je größer ein Staat, umso mehr nimmt seine innere Vielfalt und Heterogenität zu: Sprache, Rasse, Tradition, Einkommen können höchst unterschiedlich und ungleich verteilt sein, woraus sich für die innere Einheit eines Landes ein immer größeres Risiko ergibt. Arme Reichsteile verlangen nach Transfers und drohen mit Aufruhr und Austritt im Falle der Nichterfüllung. Reiche Teilregionen weigern sich, mit ihren Steuern dauerhaft die armen Landesteile zu finanzieren oder für die dazu nötigen Schulden zu haften. Auch sie drohen mit Austritt. Deshalb muss ein guter Staat einen Ausgleich aus Kosten und Nutzen hinkriegen: Seine optimale Größe wäre genau dann erreicht, wenn sich der Nutzen seiner Größe und die Kosten seiner Heterogenität die Waage hielten.
Jefferson ist besser als Hamilton
Nun ist die Gleichgewichtsformel Alberto Alesinas natürlich ein theoretisches Konstrukt einer idealen Welt. Geschichte und Politik sind dagegen ein lebendiger Prozess in einer realen Welt. Doch die Vervielfältigung der Staaten seit 1945 zeigt zumindest, dass viele Nationen intuitiv die Integrationskosten eher hoch, die Skaleneffekte eher geringer einschätzen. Der Brexit (»Take back control«) oder der Separatismus der Katalanen lassen sich als empirische Signale werten dafür, dass auch in der EU eine Opposition sich regt, der die Transferkosten zu hoch sind und die nicht bereit sind, noch mehr nationale Souveränität abzugeben. Als die kleineren Länder Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden am vergangenen Wochenende einen Gegenvorschlag zum Macron-Merkel-Paket präsentierten, war sogleich giftig von den »geizigen Vier« die Rede. Dabei hatten diese Länder nur Zweifel angemeldet, ob Schuldenvergemeinschaftung und Transfergeschenke wirklich zu mehr Integration führen. Dass alle Länder gleichermaßen unverschuldet Opfer von Corona wurden, ist zwar richtig. Doch für ihre sehr unterschiedliche fiskal- und wirtschaftspolitische Resilienz (Haushalt, Schuldenquote, Gesundheitssystem) sind sie sehr wohl selbst verantwortlich.
Es gibt nach Alberto Alesina zwei Visionen von Europa. Mit Blick auf den Prozess der amerikanischen Staatswerdung spricht er von einem Hamilton- und einem Jefferson-Weg. Über das nach Alexander Hamilton benannte Moment der Integration ist zuletzt viel geredet worden: Die Zentrale übernimmt die Schulden der Länder, und verlangt dafür mehr Kompetenzen. Am Ende stünden die Vereinigten Staaten von Europa mit Zentralregierung und Steuergewalt über alle EU-Bürger. Thomas Jefferson und erst recht die sogenannten Anti-Federalists vertraten die Gegenposition: Sie warben für einen dezentrale Union mit großer wirtschaftlicher Autonomie der Teilstaaten. Alberto Alesina, ein Italiener, der sich als leidenschaftlicher Europäer verstand, hat sich auf die Seite Jeffersons gestellt.
Rainer Hank
25. Mai 2020
EU-ImperialismusLeidenschaftliche Europäer können gefährlich sein
Corona-Zeit ist Bildungszeit. Alexander Hamilton jedenfalls kam in unserem Geschichts-Unterricht bei Herrn Maier am Stuttgarter Dillmann-Gymnasium nicht vor. Doch wer sich ein Urteil bilden will über einige Vorfälle der vergangenen Woche, der sollte sich um Hamilton kümmern. Geht es nach dem Willen von Emmanuel Macron und Angela Merkel, wird die EU sich mit einem 500 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds verschulden, für den alle Mitgliedstaaten gemeinsam haften. Das nennen einige jetzt – allen voran der deutsche Finanzminister Olaf Scholz – den Hamilton-Moment Europas.
Dieser Alexander Hamilton, einer der Gründerväter Amerikas, war ein famoser Bursche. 1755 als uneheliches Kind von der Tochter eines hugenottischen Auswanderers auf einer Insel in der Karibik geboren, brachte er es mit großer Begabung und ohne je eine öffentliche Schule besucht zu haben zu einem Stipendium am Kings College in New York (der heutigen Columbia Universität). Als Mitglied der Gruppe der Föderalisten war Hamilton Autor der sogenannten »Federalist Papers«, die in der Debatte um die amerikanische Verfassung dafür eintraten, Amerika von einem lockeren Staatenbund in einen starken Bundesstaat mit zentraler Finanzpolitik zu verwandeln. Föderalisten sind in Amerika eigentlich Zentralisten, aus europäischer Sicht eine Quelle permanenter semantischer Missverständnisse.
Als amerikanischer Finanzminister verfügte Hamilton im Jahr 1790, dass der Zentralstaat den amerikanischen Einzelstaaten alle Schulden abnahm, dafür aber auch entsprechende Kompetenzen beanspruchte. Das, so haben wir jetzt also gelernt, war die Geburtsstunde der Vereinigten Staaten von Amerika (USA). Und wenn die 500 Corona-Milliarden von Macron-Merkel unser »Hamilton-Moment« wären, dann erlebten wir jetzt gerade die Geburtsstunde der »Vereinigten Staaten von Europa« (USE). Dass eine Milliardenverschuldung zum Gründungsakt eines geeinten Europas würde, mutet allein schon nicht wirklich verheißungsvoll an.
Merkel unter dem Druck der Europäer
Geschichte muss sich nicht wiederholen. Aber Anreize wirken heute nicht anders als damals. Die Möglichkeit, Geld billig leihen zu können oder – wie jetzt – von Brüssel sogar geschenkt zu bekommen, wirkt verführerisch und regt Fantasien an, gemeinschaftlich verbürgtes Geld munter und ineffizient auszugeben. Politische Aussagen, der Merkel-Macron-Fonds sei ein einmaliger Akt in einer dramatischen Ausnahmesituation, dienen der Beschwichtigung. Katastrophen und Kriege waren häufig Vehikel für wirtschaftliche Paradigmenwechsel. Das kann man in einem schönen Aufsatz des Wirtschaftshistorikers Harold James nachlesen. Seit EU-Gründung sagen uns die Zentralisten, Europa brauche zu seiner Vollendung erst eine Währungsunion, dann eine Fiskalunion. Jetzt haben sie die dafür die Blaupause. Dass die deutsche Kanzlerin nach langem Widerstand weich wurde, ist für Harold James ein Beweis dafür, welchen Druck die Europäer in der Corona-Krise auf sie ausüben.
Vor einer durch Corona getriggerten Fiskalunion, welche die Schwelle vom Staatenbund zum Bundesstaat überschritten hätte, kann man nur warnen: Niemand, der diese Warnung ausspricht, sollte sich als schlechter Europäer beschimpfen lassen. Im Gegenteil: Es ist eine Warnung vor künftigem Hass und Zwietracht, wovon es in Europa seit der Finanz- und Eurokrise ohnehin schon viel zu viel gibt.
Diese Warnung hat nicht nur fiskalische, sondern auch demokratietheoretische Argumente auf ihrer Seite: Denn die demokratische Legitimation der EU ist bis heute sehr schwach, anders als die auf der Souveränität des Volkes beruhende Legitimation der Nationalstaaten. Der einzelne Bürger hat auf die europäische Politik wenig Einfluss, nicht zuletzt deshalb, weil bei den Wahlen zum europäischen Parlament nur nationale Parteien wählbar sind, die sich hinterher zu Fraktionen verbünden, deren Programme völlig intransparent sind. Auf dieses gravierende Demokratiedefizit hat der Rechtsgelehrte und ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm vergangene Woche in der F.A.Z. hingewiesen. Dass Brüssel, nach Kräften unterstützt vom Europäischen Gerichtshof, längst aufgehört hat, sich um seine demokratische Legitimation zu scheren, macht die Sache nur noch schlimmer: Vereinigte Staaten, geschaffen durch die fiskalische Hintertür, wären Nährboden für Populisten aller Länder.
Ist Europa wirklich ein Friedensprojekt?
Es trifft sich, dass dieser Tage im Kösel-Verlag ein schmaler Band des Soziologen Hans Joas erschienen ist unter dem Titel »Friedenprojekt Europa?«. Der Essay sei allen EU-Zentralisten und Hamilton-Freunden zur Lektüre empfohlen. Joas, kein Eiferer, hat schon bei früheren Gelegenheiten vor einer »Selbstsakralisierung« Europas gewarnt: Leidenschaftliche Europäer sind ihm nicht geheuer. Die europäische Idee, so Joas, hat sich immer schon im Spannungsfeld von Föderalismus und Imperialismus entwickelt. Den provokanten Begriff des Imperialismus verwendet der Soziologe neutral: Ein Imperiums kommt heraus, wenn man aus mehreren souveränen Staaten ein transnationales Gebilde schmiedet. Warum ein solcher »postnationaler Imperialismus«, den Joas zufolge auch der Philosoph Jürgen Habermas vertritt, besser sein soll als der gute alte Nationalstaat, leuchtet in der Tat nicht ein: Ein Deutschland-Nationalismus würde lediglich durch einen Europa-Nationalismus ersetzt: »Der normative Bezugspunkt muss für moralische Universalisten, ob für Aufklärer oder Christen oder andere, selbstverständlich jenseits des Nationalstaats, aber eben auch jenseits einer speziellen Föderation von Staaten liegen«, schreibt Joas.
Dass die Anhänger der Vereinigten Staaten von Europa den liberalen Fortschritt gepachtet hätten, während Freunde nationaler Souveränität hoffnungslose Reaktionäre wären, ist ein Narrativ, das dem Anspruch universaler Moral nicht standhält. Zu Recht erinnert Joas daran, dass die Sakralisierung Europas nicht erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bei Politikern wie de Gasperi, Schuman oder Monnet als »Friedensprojekt« in Mode kam, sondern auch die Nationalsozialisten sich in den vierziger Jahren einem »Europa-Rausch« hingegeben hatten, aus dem heraus Hitler »das Gefühl europäischer Solidarität« beschwören konnte. Die Guten haben kein Monopol auf die Idee eines europäischen Imperiums. Die Europa-Idee ist ziemlich robust gegenüber einer Vereinnahmung aus unterschiedlichen ideologischen und politischen Richtungen.
Ob die Völker der EU die Vereinigten Staaten von Europa wollen, wissen wir nicht. Um das herauszufinden müsste man, simple demokratische Regeln befolgend, die Menschen in diesen Staaten befragen – und sie gegebenenfalls darüber abstimmen lassen. Über das Vehikel der finanzpolitischen Vergemeinschaftung in einen imperialen Bundesstaat zu schlittern wäre weder demokratisch noch moralisch in Ordnung. Und es würde das fragile Gleichgewicht von Föderalismus und Imperialismus, welches seit langem zur Konstitution Europas gehört, gewaltig aus dem Lot bringen. Statt Europa zu stabilisieren, wäre eine weitere Erosion zu befürchten. Amerika ist in vielem ein Modell für uns; Alexander Hamiltons Schuldenunion sollte freilich nicht dazu zählen.
Rainer Hank
18. Mai 2020
Die Zentrale hat immer RechtVon Landräten, Verfassungsrichtern und Lateinlehrern
Dass Latein noch einmal in unserem Leben wichtig werden könnte, hätte Herrn Lenz gefreut. Denn natürlich hatten wir unseren Lateinlehrer mit seinen eigenen Sprüchen aufgezogen, damals in den sechziger Jahren am Stuttgarter Dillmann-Gymnasium, und Beweise gefordert dafür, dass hier fürs Leben (»non scolae sed vitae…«) gelernt werde. Jetzt brachte uns »ultra vires« ziemlich ins Schleudern, ein Ausdruck, der sich unübersetzt bereits im ersten Absatz der Pressemitteilung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) über das Staatsanleihen-Kaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) findet – und erkennbar ziemlich wichtig ist.
Der Kalauer, bei »vires« an Corona zu denken, verbietet sich. Aber an »Männer« mussten wir denken: »vir«, der Mann. Doch warum sollte es »gegen die Männer« sein, Anleihen zu kaufen? Das klingt schief. Ein Gespräch mit Freunden mit tatkräftiger Unterstützung ihrer lateinsicheren Tochter brachte schließlich Aufklärung: »ultra vires«, ein Akkusativ-Plural, kommt nicht von »vir«, sondern von »vis«, was »Kraft, Stärke, Gewalt« bedeutet: Die Richter finden also, was die EZB da mache, überschreite die Kräfte und Kompetenzen der europäischen Geldpolitiker.
Die Luxemburger Richter sind beleidigt
Das ultra-vires-Argument sollte man tatsächlich verstehen, um zu sehen, welche Zäsur das Urteil der Karlsruher Richter bedeutet. Kompetenzgemäß wäre das Handeln der EZB nämlich nur, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werde, sagen sie. Dass die Geldpolitik negative wirtschaftspolitische Folgen habe – schrumpfende Sparguthaben deutscher Bürger zum Beispiel – hätte in einer solcher Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt werden müssen und müsse nun nachgeholt werden, andernfalls dürfe die deutsche Bundesbank sich künftig nicht mehr an den Anleihekäufen beteiligen.
Inzwischen ist deutlich, dass Karlsruhe sich mit Gott und der Welt angelegt hat: Nicht nur mit der EZB, sondern erst recht mit den Richtern des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg und mit ganz Brüssel sowieso, angeführt von unserer Mustereuropäerin Ursula von der Leyen. »How dare you«, wie könnte ihr so frech sein, so schallt es seither aus dem europäischen Wäldern heraus: Die Luxemburger Richter stehen auf dem Standpunkt, nur sie allein hätten das Recht darüber zu befinden, ob eine europäische Institution wie die EZB kompetenzwidrig »ultra vires« handle oder nicht. Und aus Sicht des EuGH ist natürlich alles okay, was die EZB tut. Von der Leyen sekundiert mit dem Argument, wo kämen wir hin, wenn jetzt auch oberste Gerichte in Ungarn, Polen oder sonstwo in Osteuropa frech würden.
Wieder einmal zeigt sich nicht nur die vermurkste Architektur des Euro, sondern auch der Fluch des europäischen Zentralismus. Der EuGH benimmt sich, als sei er das oberste Gericht eines europäischen Bundestaates, demgegenüber alle nationalen Verfassungsinstanzen der EU-Mitgliedsländer nachgeordnete Behörden und zum Stillschweigen verurteilt wären, nachdem das oberste europäische Gericht geurteilt hat. Wir dulden keine nationalen Extrawürste, so heißt der dahinterstehende Befehl. Karlsruhe hingegen dreht den Spieß um: Das BVG versteht sich als Anwalt des deutschen Volkes. Dieses ist der Souverän, demgegenüber Brüssel lediglich eine abgeleitete Autorität hat. Die EU ist eben kein Bundesstaat wie die Vereinigten Staaten. Mag sein, dass so auch die Populisten in Osteuropa argumentieren. Aber das ist nicht das Problem des BVGs, denn in Deutschland leben wir in einem Rechtsstaat.
Subsidiarität ist nur noch ein inhaltsloses Wieselwort
Hier kommt nun noch einmal Herr Lenz, unser Lateinlehrer, ins Spiel. Denn was sich da gerade zwischen Karlsruhe und den europäischen Institutionen abspielt, kann man auch als Kampf um die Subsidiarität interpretieren. Dieser Begriff kommt von »subsidium«, meint »behelfsweise« und bedeutet, dass in einer Gemeinschaft jeder Einzelne für sich selbst verantwortlich ist und andere nur »subsidiär« für ihn einstehen sollen – eben dann, wenn sie sich nicht selbst helfen können. Dies besagt auch, dass Dezentralität Vorrang hat und höhere Ebenen erst gefragt sind, wenn die regionalen oder nationalen Ebenen überfordert sind. Subsidiarität spielt zwar als Begriff in den EU-Verträgen eine große Rolle, ist inzwischen aber zum rhetorischen Wieselwort von Sonntagsreden ziemlich auf den Hund gekommen. Stattdessen hat sich in Europa ein Zentralismus breit gemacht, der meint, es sei am besten, von oben nach unten durchzuregieren. Karlsruhe hat auch diesen Grundsatz der Subsidiarität in Erinnerung gerufen: nationale Parlamente als Anwälte der Bürger eines Landes können nicht einfach von europäischen Institutionen übergangen werden.
Während der Anti-Zentralismus hierzulande immer dann viel Unterstützung findet, wenn es gegen die Machtanmaßung aus Brüssel geht, ist der deutsche Föderalismus deutlich weniger beliebt, der doch auf demselben Prinzip von Subsidiarität und Non-Zentralismus fußt. Das lässt sich gerade jetzt beobachten an den Maßnahmen zur Corona-Eindämmung, was Sache der Länder und neuerdings der Landkreise ist. Das stößt bei den Leuten schnell auf Missfallen. Dann ist – in unterschiedlicher Metaphorik – von »Flickenteppich« und »Kleinstaaterei« die Rede und davon, dass es keine »Extrawürste« und keinen »Überbietungswettbewerb« geben dürfe. Dahinter steht die Ansicht, dass es in der Not einer starken Zentrale bedürfe, die sagen müsse, wo es lang geht.
»Die Zentrale weiß alles besser«, hat Kurt Tucholsky 1925 in der »Weltbühne« geschrieben: »Die Zentrale hat die Übersicht, den Glauben an die Übersicht und eine Kartothek. In der Zentrale klopfen dir die Männer auf die Schulter und sagen: Lieber Freund, Sie können das von Ihrem Einzelposten nicht so beurteilen! Wir in der Zentrale …« Wenn jetzt Landräte in Sonneberg in Südthüringen beurteilen sollen, was zu tun ist, wenn eine Obergrenze von fünfzig Corona-Infizierten überschritten wird, dann wird das ein spannendes Experiment im Kampf gegen unseren habituellen Zentralismus.
Föderal verfasste Staaten (etwa die Schweiz) stehen wirtschaftlich stets besser da als Zentralstaaten. Einiges spricht dafür, dass Länder, in denen mit der Coronakrise föderal und subsidiär angegangen wird, bessere Ergebnisse haben als zentralistische Staaten (Frankreich). Altersstruktur, Bevölkerungsdichte, Wirtschaftskraft – das alles unterscheidet sich von Stadt zu Stadt, macht aber in der Krise einen gehörigen Unterschied. Die Stärke des Föderalismus heißt: Lernfähigkeit, Anpassungsfähigkeit, regionale Robustheit. Macht der Landrat einen Fehler, müssen die anderen ihn nicht mitmachen. Macht Berlin einen Fehler, sind alle betroffen. Seien wir froh, dass wir das Heft des Handelns in der Pandemie nicht an Brüssel delegiert haben. Wenn es ernst wird, rettet uns nur der föderal verfasste Nationalstaat.
Das Urteil von Karlsruhe und die Dezentralisierung der Corona-Bekämpfung haben eine entscheidende Gemeinsamkeit: Sie korrigieren den Glauben an den Zentralismus und setzen auf nationale und föderale Autonomie. Zentralismus übersteigt unsere Kräfte, er ist »ultra vires«.
Rainer Hank
12. Mai 2020
Krieg und KriseWarum martialische Vergleiche mehr erklären als gedacht
Wir sind im Krieg! Für diesen Satz in der Corona-Krise ist der französische Präsident Emmanuel Macron arg gescholten worden, zumindest hierzulande. Auf den ersten Blick liegt Macron gewiss komplett falsch: Im Krieg gibt es klare Feinde, es gibt am Ende Sieger und Besiegte und schreckliche Zerstörung auf allen Seiten. Es gibt Täter und Opfer, Angreifer und Verteidiger. Das alles wird uns gerade an diesem Wochenende in Erinnerung gebracht, dem 75. Jahrestag der Kapitulation und Befreiung.
Falsch wäre es indessen, den Vergleich der Corona-Krise mit dem Krieg gänzlich ad acta zu legen. Bei näherem Hinsehen gibt es nämlich eine ganze Reihe auffälliger Gemeinsamkeiten. Den Sinn dafür hat uns Harold James geschärft. Der Mann ist Wirtschaftshistoriker, lehrt und forscht an der Universität Princeton und hat vor kurzem in der nicht genug zu lobenden Webinar-Serie seines Princeton-Kollegen Markus Brunnermeier über »Corona-Lektionen« der Kriegs- und Nachkriegszeiten 1918 und 1945 gesprochen. Wie heute wird auch in Kriegszeiten die normale Wirtschaft stillgelegt, nationale Grenzen werden für Menschen, Güter und Dienstleistungen dicht gemacht. Es gibt nur noch ein Thema, dem sich alles andere unterzuordnen hat. Der Staat setzt bürgerliche Freiheiten außer Kraft, gesellschaftliches Leben erstirbt. Dafür nehmen die Staatsschulden in Kriegen ungeheure Ausmaße an, ohne dass es daran nennenswert Kritik gibt. Im Gegenteil: Die Regierungen profitieren im Ansehen bei ihrer Bevölkerung, die Umfragewerte regierenden Partei gehen nach oben. »Rally-round-the-flag« nennt die Politikwissenschaft dieses Phänomen freiwilliger Bürger-Loyalität: In schweren Zeiten versammeln wir uns hinter unseren Führern. Das Parlament akklamiert, die Opposition verstummt.
Keiner weiß, wie lang es dauert
Harold James listet noch eine Reihe weiterer Gemeinsamkeiten auf zwischen Krieg und Pandemie. Besonders überzeugt hat mich die Beobachtung, dass die Menschen nicht wissen, wie lange der Krieg oder die Pandemie dauern, man nicht planen kann und dass genau diese Unsicherheit sich als psychisch zermürbend herausstellt. Durchhalteparolen und Drohszenarien aus Regierungskreisen haben das Ziel, die Menschen bei der Stange zu halten: Angstgetriebene Konformität allerorten. Viel Moral ist im öffentlichen Angebot, achtet man etwa auf die Solidaritäts- und Gemeinwohlrhetorik seit Ausbruch der Corona Krise.
Damit ist der Vergleich noch lange nicht erschöpft. Wirtschafts- und finanzpolitisch geht es darum, wie man nach dem Shutdown wieder in den Zustand der Normalität zurückfindet. Wenn es gut geht, sorgt ein ordentliches Wachstum in der Wiederaufbauzeit dafür, dass die Staaten aus ihren Schulden herauswachsen. Und wenn es gut geht, konsumieren die Menschen dann wieder freudig, anstatt sich in eine Deflation hinein zu sparen, während gleichzeitig eine umsichtige Geld- und Fiskalpolitik dafür sorgt, dass dies am Ende nicht in eine überschießende Inflation fließt. Wenn es schief geht, gibt es einen Schuldenschnitt und das Geld ist weg.
Der Oberbegriff für Krieg und Pandemie heißt Krise. Die FAZ-Dokumentation hat gezählt, dass der Begriff Krise in den führenden deutschen Medien im April 2020 noch häufiger auftaucht als im Krisenmonat des Zusammenbruchs von »Lehman Brothers« im September 2008. Doch was überhaupt ist eine Krise? Auch dafür habe ich eine hilfreiche Hörempfehlung: Petra Gehring, eine an der TU Darmstadt lehrende Philosophin, hat im Jahr 2017 eine Vorlesung gehalten zum Thema »Philosophische Krisendiagnosen im 20. Jahrhundert«, die man im Netz bequem nachhören kann. Gerade weil diese Vorlesung noch keine Kenntnis der Corona-Krise haben konnte, sind die Gedanken der Philosophin hilfreich.
Dabei zeigt sich: Der Begriff der Krise kommt ursprünglich aus der Medizin. Kranke Körper kommen früher oder später in die Krise, jenem Höhepunkt des Krankheitsverlaufs, in welchem sich der Ausgang der Sache entscheidet. Die Krankheit ist ein Prozess, an dessen fiebrigem Höhepunkt völlig in der Schwebe ist, wie alles enden wird: mit Heilung oder Tod. Die Krise selbst bringt die ganze Gesellschaft ins Fieber. Man kann das als Kurve zeichnen mit einem Scheitelpunkt: bezogen auf heute ist das jener Punkt, an dem die Zahl der Infizierten zurückgeht, R kleiner Eins wird – und alle aufatmen. An Corona können wir sozusagen die Urform einer Krise ablesen.
»Alles wird neu!«
Die Fieberkurve mit Scheitelpunkt wurde nicht nur in der Ökonomie das Modell für das Auf und Ab des Konjunkturzyklus, sondern auch in der Militärwissenschaft Vorbild für die Beschreibung von Kriegen als Krisen. Stets bleibt der Krisenbegriff ambivalent. Das zeigt die Floskel von der »Krise als Chance«; die auch heute wieder gerne genommen wird. Es wird dann die Zeit vor der Krise abgewertet (übertriebene Globalisierung, unmenschlicher Kapitalismus, Konsumismus, Egoismus), während das Gute der Krise darin bestünde, die »wahren« Bedürfnisse der Menschen offen zu legen, die Menschen zum »Eigentlichen« zu führen und überhaupt alles zum Besseren zu wenden. Es werde keine Normalität geben »wie vorher«, so tönt es jetzt aus den öffentlich-rechtlichen Fernsehgeräten, eine Drohung, die sich als Verheißung camoufliert.
»Alles wird neu!« heißt der Slogan dieser Krisen-Propheten, als dessen Ahnherrn Petra Gehring den Basler Historiker Jacob Burckhardt anführt. In Burckhardts berühmten »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« aus dem Jahr 1905 trägt ein großes Kapitel die Überschrift »Die geschichtlichen Krisen«. Dort findet man nicht nur die Übertragung der medizinischen Terminologie auf Krieg und Frieden, sondern auch genau jene Solidaritätsbeschwörung, die uns heute eingetrichtert wird. Bei Burckhardt wird daraus ungeniert ein Lob des Krieges. Der lange Friede habe eine »eine Menge jämmerliche Existenzen« hervorgebracht: »Sodann hat der Krieg, welcher so viel als Unterordnung alles Lebens und Besitzes unter einen monumentalen Zweck ist, eine enorme sittliche Superiorität über den bloßen gewaltsamen Egoismus des einzelnen: er entwickelt die Kräfte im Dienst eines Allgemeinen, welcher zugleich die höchste heroische Tugend sich entfalten lässt. Er allein gewährt den Menschen den großartigen Anblick der allgemeinen Unterordnung unter ein Allgemeines.«
Würde man die etwas altertümliche Rhetorik des Basler Historikers ein wenig aktualisieren und das Wort Krieg konsequent durch Corona-Pandemie austauschen, dann gehe ich die Wette ein: Man könnte Jakob Burckhardt quasi inkognito unter die vielen Texte von Politikern und Fernsehkommentatoren schmuggeln, die uns heute weismachen wollen, dass die Krise auf wundervolle Weise zeige, wie der Staat in der Lage sei, alle Wirklichkeit einem Gemeinwohlinteresse unterzuordnen. Diese Erfahrung soll nun auch die Grundlage für eine neue solidarische Gesellschaft in der Nach-Corona-Zeit abgeben. Geläutert durch Corona würden wir die jämmerliche Existenz unseres Vorkrisen-Egoismus überwinden.
Sollte es uns nicht zu denken geben, dass die jetzt dem Corona-Ausnahmezustand zugeschriebene kathartisch-heroische Kraft ihren Ursprung hat in der Kriegsverherrlichung des Krisen-Theoretiker des 20. Jahrhunderts?
Rainer Hank
04. Mai 2020
In der RisikogruppeDarf man den Wert eines Lebens in Geld beziffern?
»Willkommen in der Risikogruppe!«, das war meine Grußformel, die ich einem Freund anlässlich seines 60. Geburtstags vergangene Woche zurief. Nicht sehr feinfühlig, wir mir klar wurde. Wer will schon gerne ein Risiko sein, weder für andere noch für sich selbst. Wen immer ich derzeit aus meiner Kohorte spreche, hat daran zu knabbern. »Was mir der Coronakomplex antut, ist, dass er mich zum ›Senior› macht«, schreibt mir ein putzmunterer akademischer Emeritus: Die Politik wolle ihm Reisen zu Vorträgen oder Arbeitstagungen verbieten und ihm Berufsverbot erteilen, knurrt er. »Damit sie das kann, ernennt sie mich zum »Senior«, also überflüssig«, so der Emeritus.
Das alles ist eine gewaltige narzisstische Kränkung. Wir Alten – wie sich das schon anhört – rebellieren innerlich ununterbrochen. Die liebste Entlastungsübung geht so: Wir rechnen uns souverän aus der Risikogruppe raus. Denn biographisches Alter und biologisches Alter klaffen bekanntlich auseinander. »60 ist das neue 50«, so ungefähr jedenfalls geht das Spiel. Das alles, man muss es so klar sagen, sind mehr oder weniger hilflose Anstrengungen, die das Ziel haben, die sichtbare und zählbare Anwesenheit des Todes in den Hintergrund zu drängen. Aber wie soll man das nur schaffen, bei all den Statistiken zur »Übersterblichkeit«, mit denen wir täglich konfrontiert werden (von den Fernsehbildern der Särge ganz abgesehen).
Zwar bedroht die Corona-Pandemie die Menschheit als Ganze. Aber das Risiko nimmt mit dem Alter zu. All die Maßnahmen, die derzeit zur Abflachung der Infektionskurve unternommen werden, kommen – statistisch gesehen – mir mehr zugute als meiner fünfundzwanzigjährigen Nichte. Bislang waren wir gewohnt, die mit der steigenden Lebenserwartung verbundene demographische Entwicklung nahezu ausschließlich positiv zu interpretieren. Jetzt zeigt sich aber, dass dieser Gewinn an Lebenszeit für die Gesellschaft mit deutlich höheren Kosten und Unannehmlichkeiten verbunden ist.
Pandemie in Zeiten alternder Gesellschaften
Covid 19 sei die erste Seuche der Menschheitsgeschichte, die in eine Zeit fällt, in der mehr Menschen über 65 Jahre alt sind als unter fünf Jahren, schreibt Andrew Scott, ein Ökonom der London Business School. Wir sind mehr und wir leben länger. Das heißt einerseits, dass es viel mehr Menschen mit höheren Infektionsrisiken gibt als vor hundert Jahren und dass zugleich von den Maßnahmen sozialer und physischer Distanzierung, die jetzt überall vorgeschrieben sind, vor allem wir Älteren profitieren. Und dass dies der gesamten Gesellschaft mehr Geduld abverlangt als frühere Pandemien.
Corona, folgt man der Argumentation von Professors Scott, wird im Vergleich mit früheren Epidemien deutlich teurer und zwar ganz unabhängig von den billionenschweren Konjunktur- und Kreditprogrammen. Dies schlicht deshalb, weil mehr Alte gerettet werden müssen. Die Herleitung Scotts ist ein bisschen kompliziert, lohnt aber das Nachdenken: Im Jahr der Spanischen Grippe 1920 waren 8,5 Prozent der Bevölkerung älter als 60 Jahre; heute sind es 22 Prozent. Im Jahr 2050 werden es 28 Prozent sein. Weil nun das Risiko an Corona zu sterben mit dem Alter exponentiell wächst, nehmen im Umkehrschluss auch die Vorteile für die Älteren zu, die von einer erfolgreichen Politik der sozialen Distanz profitieren. Hätten wir heute eine Altersverteilung wie im Jahr 1920, würden die jetzt getroffenen Maßnahmen 580000 Leben retten, während heute 1,8 Millionen Menschen dem Tode entgehen.
Ökonomen schrecken vor nichts zurück und übersetzen die potenzielle Lebensrettung in Geld, indem sie jedem Leben einen statistischen Wert geben. Das klingt kalt, ist aber gleichwohl nicht abwegig. Natürlich gibt es keinen noch so hohen Geldbetrag, für den wir freiwillig unser Leben oder das eines geliebten Menschen hergeben würden. Doch darum geht es nicht. Wir stellen bei all unseren Handlungen selbst häufig ein Kalkül an, wissen zum Beispiel, dass Autofahren tödlich enden kann und machen es trotzdem bei (zumeist) vollem Risikobewusstsein. Um das Risiko tödlicher Autounfälle zu reduzieren, errichten die Kommunen Ampeln. Da man aber nicht an allen Kreuzungen Ampeln aufstellen kann, kommt man um eine Kosten-Nutzen-Analyse nicht herum, für die sich ein fiktiver Geldbetrag des Nutzens – genannt »Wert eines statistischen Lebens« – einsetzen lässt.
Solche Überlegungen spielen jetzt auch in der Corona-Krise eine Rolle. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat das vergangene Woche auf die ihm eigene Weise beschrieben: »Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig«. Die im Grundgesetz verankerte Menschenwürde schließe nicht aus, »dass wir sterben müssen«. Corona desillusioniert unsere Unsterblichkeitsphantasien.
Wir alten profitieren
Benutzt man den Wert eines statistischen Lebens in diesem Sinn, verliert die Rechnung ihren Zynismus. Andrew Scott, der Professor aus London, beziffert für Amerika den Wert der durch die Maßnahmen sozialer Distanzierung geretteten Menschenleben auf knapp acht Billionen Dollar. Die im Vergleich zu 1920 heute größere Anzahl älterer und länger lebender Menschen erfordert aber zugleich auch, dass der Shutdown dreimal so lang dauert als er 1920 für vergleichbare Ziele nötig gewesen wäre.
Was daraus folgt? Wir Alten sollten uns dreimal überlegen, wie laut wir die Einordnung als Risikogruppe beklagen. Denn objektiv profitieren wir überproportional – je älter umso mehr –, während der Löwenanteil der Kosten dafür von den Jüngeren geschultert werden muss. Statistisch gesehen tun die Jüngeren also mehr für mich als für sich.
Daraus könnte ein neuer Generationenkonflikt resultieren. Es bleibt ungenügend, die Jüngeren damit zu beschwichtigen, dass sie selbst auch einmal älter werden und im Fall einer abermaligen Pandemie dann auch von Jüngeren gerettet werden wollen. Das Argument der Gegenseitigkeit, das an den »Generationenvertrag« bei der gesetzlichen Rente erinnert, ist zwar richtig, aber etwas unfair, weil die hohen Kosten für die Jüngeren heute anfallen, während der künftige Nutzen erst später erzielt wird und noch dazu unsicher ist.Um einen drohenden Generationenkonflikt zu entschärfen, könnte es geraten sein, im weiteren Verlauf der Pandemie den Jüngeren mehr Freiheiten als den Älteren zu lassen. Es ließe sich die größere Freiheitsbeschränkung paternalistisch mit dem höheren Schutzbedürfnis der über Sechzigjährigen begründen, was dann als eine »gute« Diskriminierung kommuniziert werden könnte. Aber es wäre doch zugleich eine ziemlich dicke Entmündigung, wie sie bei kleinen Kindern, aber nicht bei vernünftigen Erwachsenen gerechtfertigt ist. Wäre es nicht besser, uns Alte selbst entscheiden zu lassen, welchen Risiken wir uns aussetzen wollen, natürlich bei Wahrung der Abstand- und Mundschutzregeln? Ethisch gibt es daran nichts auszusetzen: Wir müssen in Kauf nehmen, von Jüngeren angesteckt zu werden, sind aber unsererseits für die Jüngeren keine größere Gefahr als alle anderen Zeitgenossen.
Es gibt eben keinen absoluten Schutz vor dem Sterben. Jetzt nicht. Aber eben auch nicht, wenn Corona – hoffentlich bald – vorüber sein wird.
Rainer Hank