Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
19. Oktober 2025Wird KI zur Blase?
19. Oktober 2025Weg mit der Erbschaftsteuer
18. Oktober 2025Meins oder Deins?
18. Oktober 2025Aufstand des Gewissens
14. Oktober 2025Charisma und Macht
14. Oktober 2025Baby-Mangel
06. Oktober 2025»Wir schaffen das«
06. Oktober 2025Weg mit dem Weltkulturerbe
19. August 2025Nahbarkeit
19. August 2025Schuld und Schulden
05. August 2025
Booster-Boomer
Wie die Reichen Wohnraum für andere schaffen
In Hofheim am Taunus werden schicke Mehrfamilienhäuser gebaut. Der Quadratmeter einer solchen Wohnung kostet um die 8500 Euro.
Trägt das zur Linderung unserer Wohnungsnot bei? Und entsteht hier »bezahlbarer Wohnraum«? Viele Zeitgenossen würden das als blanken Hohn bezeichnen. Eher wäre es der Beweis des Gegenteils: Im Umkreis großer Städte können nur noch die Reichen sich Wohnraum leisten.Alles hängt von der Definition von »bezahlbarem Wohnraum« ab, einem Kampfbegriff im politischen Streit um die Wohnungsnot in Deutschland. Die schlichte – vermutlich vielen abermals zynisch erscheinende – Definition wäre: Bezahlbarer Wohnraum zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen da sind, die bezahlen. Es hängt von der Zahlungsbereitschaft der Käufer ab, ob ihnen der Preis die gebotene Leistung wert ist.
Die Projektentwickler, die die Wohnungen in Hofheim an neue Eigentümer bringen wollen, vermelden eine hohe Nachfrage. Okay, es wäre ziemlich unklug, sie würden ihre Objekte schlechtreden. Hofheim ist ein Satellitenstädtchen von Frankfurt, gut mit Autobahn und Öffentlichen an die Mainmetropole angebunden, indes weniger nobel als Königstein oder Bad Homburg. Die Durchschnittspreise für Neubauten liegen laut »Immoportal« in Hofheim bei 5000 bis 7000 Euro. 8500 Euro sind absolutes Luxussegment.
Wer hat so viel Geld, wer kauft solche Wohnungen? Ich treffe Karl Greiner, einen Bekannten. Er ist Geschäftsführer und Miteigentümer der Firmengruppe Weiß, einer Immobilienfirma, und engagiert sich im Verband Freier Immobilienunternehmen. Greiner nennt seine Zielgruppe »Empty Nester«. Das sind Paare, deren Kinder aus dem Haus sind. Meine Annahme, dass es sich um Fünfzigjährige handele, ist falsch. Eher seien es 60– bis 80–jährige – also eine Kohorte der Babyboomer, geboren zwischen 1945 und 1965, die im Frieden gelebt haben und vom Wirtschaftswunder profitieren. Keine Multimillionäre, lediglich erfolgreiche Bürger, die ordentlich verdient und häufig noch geerbt haben. Man leistete sich ein großzügiges Haus mit Garten, sagen wir so um die 400 Quadratmeter.Das Haus wird zum Klotz
Gewiss, die »Kinder« sind schon länger aus dem Haus. Doch der Veränderungsprozess braucht Zeit. Lange soll alles aussehen wie früher: Jederzeit dürfen die erwachsenen Kinder nachhause kommen, das Jugendzimmer soll keinesfalls angetastet werden. So wollen es die Kinder, aber auch die Mütter. Das kann gut und gerne zehn Jahre dauern. Doch langsam wird den von den Kindern verlassenen Eltern das Haus zum Klotz, der Garten zur Plage – Freunde und Verwandte kriegen Unmengen an Obst oder Eingemachtem geschenkt. Nicht zu übersehen ist der Renovierungsbedarf, Stichwort »energetische Sanierung«. Irgendwann, meist an Weihnachten im Gespräch mit den Kindern, fällt dann die Entscheidung: »Wir wollen das Haus verkaufen.« Es ergeht ein Ultimatum an die Kinder, nun endlich das Jugendzimmer zu räumen. Vielleicht darf die erste Gitarre des Sohnes bleiben – im Keller der neuen Wohnung.
Aber was ist die Alternative? Das Schreckenswort für diese agile Generation 60plus heißt »betreutes Wohnen«. Viel zu früh! Das ist die Stunde von Karl Greiner und seinen Leuten. Sie bauen diese luxuriösen Mehrfamilienhäuser in Hofheim. Nachverdichtung in bereits als Bauland ausgewiesenen Gebieten der Stadt. Neues Bauland werde praktisch kaum mehr ausgewiesen: versiegelte Böden sind der Schrecken aller Klima- und Umweltschützer.
Die älter gewordenen Gutverdiener setzen sich jetzt kleiner, sagen wir von den bisherigen 400 auf 200 Quadratmetern. Das Heim spielt nicht mehr die ganz große Rolle; man ist ja viel unterwegs (Freunde besuchen, Reisen buchen). Auf der neuen Fläche gibt es feste und flexible Module, die viel über die Soziologie und Psychologie dieser Generation verraten. Pflicht sind zwei getrennte Schlafzimmer mit je eigenem, direkt zugänglichem Bad. Dazwischen das Ankleidezimmer. Pflicht ist ein weiteres Schlafzimmer, abermals mit Bad. Man kann es Kinder- oder Gästezimmer nennen. Es wird aber auch die polnische Pflegerin aufnehmen, sollte das später (oder früher) erforderlich werden. Natürlich gibt es einen offenen Wohn- und Essraum; geschlossene Küchen gelten als altmodisch.
Sauna oder Bibliothek
Kür sind weitere Räume: Die Körperbetonten kriegen ihren Fitnessraum mit angeschlossener Sauna. Die eher intellektuellen Käufer leisten sich eine Bibliothek oder ein Musikzimmer; irgendwo muss der Flügel ja hin. Ist das Budget groß genug, gibt es ein Penthouse mit Dachgarten. Für die Erdgeschosswohnungen bietet sich ein kleiner Kräutergarten an, Erinnerungsposten an das Grundstück von früher. Aufzug versteht sich von selbst – man wird ja nicht jünger.
Das alles, wie gesagt, kostet rund 1,6 Millionen Euro. Die finanzieren sich durch den Verkauf des doppelt so großen Anwesens. Hohe Zinsen und Tilgung, Grund für den derzeitigen Rückgang der Bautätigkeit, sind für diese Generation kein Thema. Sie zahlen den vollen Kaufpreis sozusagen aus der Westentasche. Mit etwas Glück wirft der Verkauf einen Schnaps mehr ab als die 1,6 Millionen Neukosten.
Doch hilft diese das zur Linderung des Wohnungsproblems in Deutschland? Hier kommt der sogenannte Sickereffekt ins Spiel (anderswo auch »Trickle down« genannt). Der geht so: Haushalte, die durch Kauf eine neu gebaute Eigentumswohnung beziehen, machen anderswo ein Haus frei. Dorthin rücken Familien ein, denen mit größeren Kindern und wachsendem Haushalteeinkommen die bisherigen Wohnungen zu klein geworden sind. Sie verbessern ihren »Wohnwert«, ihren sozialen Status und machen ihrerseits Wohnungen frei, in die junge ManagerInnen am Anfang ihres Berufslebens mit ihren kleinen Kindern ziehen. Am Ende der Sickerkette – den Begriff finde ich nicht wirklich glücklich – ziehen ehemalige Studenten in der ersten Berufsphase ein.
So leisten die Reichen etwas, das die Wohnungsbau-Turbos und Booster heutiger und früherer Regierungen nicht vollbracht haben: Eine Ausweitung des Wohnangebots, ohne dass das dafür neues Bauland ausgewiesen und das Bürokratie-Monster gefüttert werden muss.
Bin ich der eigennützigen Ideologie meines Bekannten aufgesessen? Die gesammelte Linke hierzulande würde mir das vorwerfen; die Trickle-Down-Theorie ist seit ihrer Erfindung unter Beschuss. Zu meiner Verteidigung verschanze ich mich hinter einer Studie des ideologisch unverdächtigen wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags über »Sickereffekte im Wohnungsmarkt« aus dem Jahr 2022. Dort wird unter Bezug auf Metastudien zumindest die empirische Plausibilität des Sickereffekts nachgezeichnet. Ob das Wohnen dadurch erschwinglicher wird, bleibt fraglich. Aber niemand würde den Sickereffekt als einzigen oder gar Königsweg der Wohnungsmisere vermarkten wollen.
Rainer Hank
05. August 2025
Ein Lob des Stammtischs
Warum Trinken einen sozialen und ökonomischen Nutzen hat
Als Student habe ich in einem Stuttgarter Weinlokal gearbeitet, anfangs für fünf Mark die Stunde. Beim »Stetter« – es gibt ihn heute noch – konnte man vespern und ein Viertele für 1 Mark 70 trinken. Mittags kamen auch gerne die Angestellten und Beamten aus der Nachbarschaft vorbei. Zum Beispiel die Richter des nahegelegenen Amtsgerichts. Die tranken ihre drei Viertele Trollinger – jeder drei, wohlgemerkt -, um anschließend wieder Recht zu sprechen.
Wenn ich die Geschichte von den Amtsrichtern erzähle, ernte ich ungläubige Verwunderung. Aber so war es, kein Jäger-Latein; meine mitbedienenden Kommilitonen können es bezeugen. Zur Verteidigung der Herren muss man erwähnen, dass der einfache Wein in den Vorklimawandelzeiten der 60er und 70er Jahre 9,5 oder maximal 10 Prozent Alkohol enthielt, keine 14 Prozent wie heute üblich.
Später dann, in meinen journalistischen Anfangsjahren, gehörte Alkohol zum Arbeitsalltag. Irgendjemand hatte immer etwas zu feiern, entweder nach Redaktionsschluss oder schon bei der Konferenz morgens um 11 Uhr 30. Wenn es nichts zu feiern gab, wurde ein Anlass gesucht. Ob der ritualisierte Satz »Früher wurde mehr gesoffen« damals stimmte oder einfach nur die Begründung lieferte, es müsse alsbald eine Flasche geöffnet werden, vermag ich nicht zu sagen. Trinken gehörte zum sozial guten Ton. Sich zu verweigern, verlangte eine große Ich-Stärke.
Abstinenz der Generation Z
Heute ist es (fast schon) umgekehrt. Da sitzen sie nun alle vor ihren Wassergläsern. »Still oder Medium?« ist die einzige Alternative. Statistiken gibt es zuhauf. In Deutschland ist der Prokopfverbrauch von reinem Alkohol – also nur statistisch, niemand trinkt reinen Alkohol – von 15,1 Litern im Jahr 1980 auf unter 10 Liter im Jahr 2021 zurückgegangen. Regelmäßiges Trinken (mindestens einmal in der Woche) unter 18– bis 25–jährigen ist stark rückläufig. Im Jahr 2023 gaben 38,8 Prozent der Männer und 18,2 Prozent der Frauen in der Gruppe der Millennials und Generation Z an, regelmäßig Alkohol zu trinken. Immer noch viel, könnte man sagen, aber deutlich weniger verglichen mit vor zwanzig Jahren: 59 beziehungsweise 27,7 Prozent waren es da.
Selbst in England und in Japan, wo traditionell Saufen nach Dienstschluss zum üblichen Ritual zählt, geht der Alkoholkonsum zurück. Das »Sober Movement« in Großbritannien warnt vor den schädlichen Folgen des Trinkens. Die Pflicht, nach der Arbeit mit den Kollegen zu trinken (»Nomikai«) besteht in Japan schon lang nicht mehr. 2022 hat Japans Regierung sogar eine Kampagne gestartet (»Sake Viva«), um junge Leute dazu zu bringen, mehr Alkohol zu trinken – gesundheitsschädlich, aber fiskalisch nützlich, um rückläufige Steuereinnahmen zu stoppen.
Trendsetter ist wie häufig Kalifornien. Der Gesundheitskult der Silicon-Valley-Milliardäre ist absolut. Elon Musk hat längst schon einen Bann über Alkohol ausgesandt. Von Sam Altman, Chef und Gründer von Open AI (»ChatGPT«), der auf einer Farm im Napa Valley, einer berühmten Weingegend, wohnt, gibt es zumindest das Gerücht, er gönne sich in Ausnahmesituationen ein Gläschen lokalen Wein; Belege dafür habe ich nicht gefunden.
Seit Ernährungspapst Bas Kast (»Warum ich keinen Alkohol mehr trinke«) uns die letzten Hoffnungen auf die kardiologisch positive Wirkung eines Gläschens Rotwein am Abend genommen hat – selbstverständlich »auf Basis neuester Studien« – wagt niemand mehr, eine Lanze für das kontrollierte Trinken oder gar die bacchantische Ausschweifung zu brechen.
Trinker subventionieren die Abstinenzler
Ich auch nicht. Allenfalls die schüchterne Rückfrage darf erlaubt sein, ob ein 90jähriger Asket wirklich ein besseres Leben hatte als ein 85–jähriger Genusstrinker. Ob also die fünf Jahre zusätzlichen Lebens den Verzicht wert waren.
Fragen lässt sich indessen mit dem britischen »Economist« nach den volkswirtschaftlichen und sozialen Kosten der kollektiven Abstinenz – gemäß der utilitaristischen Devise »Wo es einen Nutzen gibt, da gibt es auch einen Schaden«. Beginnen wir mit den Restaurants. Sie verdienen am Ausschank von Bier, Wein, Negroni oder Aperol Spritz deutlich mehr als mit Schnitzel oder einer veganen Bowl. Für eine Halbe Bier vom Fass muss der Wirt der Brauerei zwischen 50 und 80 Cent zahlen. Auf seiner Getränkekarte findet sich das Bier zu einem Preis von 3 Euro 50 bis 5 Euro. Das ist eine Marge von 500 bis 800 Prozent. Finanziell noch dankbarer sind die harten Drinks (Vodka, Gin, Rum, Cocktails): da lässt sich rasch ein Multiplikator von 800 bis 1500 erzielen.
Kurzum: Die Wasser- und Safttrinker in der Bar oder beim Burger-Brater werden von den Bier- und Weintrinkern quersubventioniert; sie sind ökonomisch gesehen Trittbrettfahrer und könnten sich dafür wenigstens bei ihren Süffelfreunden bedanken. Weniger Alkohol ist natürlich auch ein Problem für die Winzer, Brauereien und ihre Beschäftigten, die ihren Arbeitsplatz verlieren. Gut, die sollen dann halt woanders unterkommen, oder sie bleiben, sofern wie beim Fall Bionade aus einer ehemaligen Brauerei eine Saftbude wird. Konversion ist allenthalben angesagt!
Auch das Mitleid mit dem Fiskus hält sich in Grenzen, dem gut zwei Milliarden Alkohol- und Steuereinnahmen entgehen, wenn nur noch Wasser und Sirup getrunken würde. Die Sektsteuer (gut einen Euro pro Flasche Schaumwein) war ohnehin nie als Buße für Trinker gedacht, sondern zur Finanzierung der Kriegsflotte im Ersten Weltkrieg erfunden. Das könnte bald wieder relevant werden.
Gravierender als die fiskalischen und ökonomischen sind die sozialen Kosten der Abstinenz. Alkohol fördert nachweislich den sozialen Zusammenhalt – darin bestand über Jahrhunderte der Nutzen des Stammtisches in der Eckkneipe. Einschlägig ist eine Studie der Universität Oxford (Robert Dunbar & Kollegen) von 2024, wonach zwei »Boys Nächte« pro Woche der sozialen und individuellen Gesundheit der jungen Männer förderlich sind: Sozialer Zusammenhalt entstehe durch sportliche Aktivitäten, das Geplänkel unter Männern – »oder schlicht durch das ein oder andere Bierchen mit Freunden am Freitagabend«. Am Stammtisch würden glücksbringende Endorphine ausgeschüttet, die Resilienz fördern und Stress abbauen. Gut, bei notorischen Trinkern kam es am späteren Abend regelmäßig zu Schlägereien, was bestenfalls zu Aggressionsabbau beitrug, auf lange Sicht aber den sozialen Nutzen in gesellschaftlichen und gesundheitlichen Schaden wendete.
Ich weiß schon: Das harte Kartell der Abstinenzler wird sich durch mein Verhältnismäßigkeitskalkül nicht drausbringen lassen. Güterabwägung ist nicht ihr Ding. Mir geht es lediglich darum, an Harald Juhnkes leichtsinnige Definition des vollkommenen irdischen Glücks zu erinnern: »Keine Termine und leicht einen sitzen.« Nun ja, er ist dann nur 75 Jahre alt geworden, genießt aber seither hoffentlich das vollkommene himmlische Glück.
Rainer Hank
02. August 2025
Lokomotive des Fortschritts
Was wären aus uns geworden ohne die Eisenbahn!
Welches ist die bedeutendste Erfindung der Menschheit? Viele würden sagen: Das Rad. Andere könnten auf die Erfindung des Feuers oder der Schrift verweisen. Da gibt es wohl kein objektives Kriterium. Ich will heute die Eisenbahn als Kandidatin ins Gespräch bringen, die natürlich das Rad voraussetzt. Das hängt damit zusammen, dass es für mich als Kind nichts Tolleres gab als meine Märklin-Eisenbahn, viel toller als die Matchbox-Autos.
Mein Vorschlag hängt damit zusammen, dass demnächst ein Jubiläum ansteht: Am 27. September 1825 fuhr die erste Dampflokomotive samt 36 angehängten Waggons die 40 Kilometer lange Schienenstrecke von Stockton in Nordostengland nach Port Darlington. Die Lok trug den sinnigen Namen »Locomotion No.1«; ihr Erfinder war der britische Ingenieur George Stephenson (1781 bis 1848). Es sollte zehn Jahre dauern, bis in Deutschland am 7. Dezember 1835 die »Adler« von Nürnberg nach Fürth fuhr.
Genial war die Erfindung der Eisenbahn in mehrfacher Hinsicht. Es war eine technische Innovation, die weitreichende wirtschaftliche Auswirkungen zur Beschleunigung der industriellen Revolution und also auf den heutigen Wohlstand der Menschheit hatte. Die Schiene war zugleich der erste Großversuch einer sogenannten Netzökonomie; so funktioniert unter anderem auch unser heutiges Internet. Schließlich ist die Erfindung der Eisenbahn ein gutes Beispiel dafür, dass der Fortschritt (genauso wie der Rückschritt) von den Zeitgenossen in aller Regel nicht erkannt oder gar ablehnend aufgenommen wird – seine segensreiche Wirkung erst den Nachkommen klar wird. Darum vor allem soll es hier gehen.
Dampfloks waren nicht neu
Schienen, auf denen Wägen von Menschen oder Pferden gezogen wurden, gab es schon vor 1825. Dampfloks gab es ebenfalls vorher schon: doch waren die Schienen noch aus Holz oder aus Gusseisen; beides taugte wenig. Erst die Verwendung von Schmiedeeisen und später dann von gewalztem Stahl machte den Schienenverkehr nachhaltig und dauerhaft erschwinglich. Das Pferd – über Jahrhunderte das natürliche Transportmittel – war langsamer als die Lokomotive und zu teuer. Erfunden wurde die Eisenbahn als Transportmittel für Güter; doch als unbeabsichtigte Nebenwirkung kamen auch die Menschen auf den Geschmack am Reisen. Für die 400 Kilometer lange Strecke von London nach Newcastle brauchte das Pferd damals drei Tage, der Zug einen Tag, konnte aber vielfach größere Lasten nebst Personen befördern. Heute nimmt der Zug diese Stecke in zweieinhalb Stunden.
Gleichwohl gab es größte Widerstände gegen die Dampflokomotive. Auf der Strecke Liverpool-Manchester wollte man zunächst ganz auf Lokomotiven verzichten, weil diese nicht in der Lage seien, Steigungen zu überwinden. Stattdessen sollte die Strecke mit ortsfesten Dampfmaschinen und mit Pferden betrieben werden. George Stephenson hatte die kühne Idee, einen Wettbewerb zu veranstalten, um die Überlegenheit der Dampflok zu beweisen. Stephenson setzte zugleich selbst die Spielregeln etwa hinsichtlich der Mindestgeschwindigkeit (16 km/h) fest, was seiner eigenen zusammen mit seinem Sohn Robert entwickelten Lok mit Namen »The Rocket« (Rakete) einen Vorteil im Wettbewerb verschaffte.
Dieses berühmte »Rennen von Rainhill« (»Rainhill Trials«) zog sich vom 6. bis zum 14. Oktober 1829. Die »Rocket« konnte als einzige der Kandidaten die Teststrecke bewältigen und die Stephensons erhielten den Zuschlag, für die Linie Liverpool-Manchester acht Lokomotiven zu bauen. Aufgrund dieses Erfolgs bauten sie sechs Jahre später auch den »Adler« für Deutschland. Erfinder- und Unternehmergeist des Familienunternehmens zahlten sich für die Pioniere aus: Vater und Sohn Stephenson wurden die ersten Millionäre des industriellen Zeitalters, arme Leute indes im Vergleich mit späteren Eisenbahn-Tycoons wie George Hudson (»The Railway King«) in England oder Cornelius Vanderbilt in USA.
Dass sich die Verlierer des technischen Fortschritts mit Händen und Füßen gegen die Eisenbahn wehrten, ist verständlich. Zu ihnen zählten neben den Kanalschiffern oder den Fuhrleuten die Betreiber der sogenannten Turnpikes. Das waren privat finanzierte und gegen Gebühren zu nutzende Straßen. Zu ihnen zählten auch Grundbesitzer, deren Begüterungen von den Schienen durchschnitten wurden. Letztere ließen sich mit guten Verkaufspreisen überzeugen, erstere konnten im Wettbewerb nicht mithalten, weil die Schiene der Straße zur Bewegung schwerer Lasten überlegen war.Geschwindigkeitsschock
In Wolfgangs Schivelbuschs »Geschichte der Eisenbahnreise« von 1977 kann man nachlesen, wie die Eisenbahn nicht nur einen technischen Fortschritt, sondern zugleich einen kulturellen Bruch bedeutete. Die Geschwindigkeit – lächerlich im Vergleich mit einem heutigen ICE oder TGV – bereite Schwindel und verursache unkontrollierbare sexuelle, hieß es: Schäden für das menschliche Nervensystem wurden befürchtet. Sozial bedrohlich und moralisch bedenklich sei auch, dass Menschen unterschiedlicher Klassen und unterschiedlichen Geschlechts in ein und demselben Abteil beisammensäßen. Anfangs freilich mussten die Passagiere der dritten Klasse in England mit Plätzen auf dem Dach der Waggons Wind und Wetter in Kauf nehmen.
Zu allem Überfluss kam dann noch eine Spekulationskrise in den vierziger Jahren. Wie anderswo, war auch in Großbritannien die öffentliche Hand bis zum späten 19. Jahrhundert viel zu finanzschwach, um teure Infrastrukturprojekte voranzutreiben. Die frühen Eisenbahnen wurden privat finanziert und privat betrieben. Teilweise waren parallele Strecken miteinander im Wettbewerb, was sich auf Dauer als keine so gute Idee erwies. Viele Kleinanleger hatten erstmals an der Börse investiert, häufig ihr ganzes Erspartes, womöglich Aktien auch noch auf Kredit gekauft. Als sich dann viele Strecken als unrentabel erwiesen oder gar nicht gebaut wurden, platzte die Blase. Erst nach 1870 wurden Eisenbahnstrecken verstaatlicht, getragen von der Einsicht, dass Schienennetze »natürliche Monopole« sind, die reguliert gehörten. Der Regulierer darf dann Slots für miteinander im Wettbewerbs stehende Betreiber vergeben.
Lässt man diese lange Geschichte kurz Revue passieren, so erscheint es am Ende als ein Wunder, dass sich die Eisenbahn überhaupt gegen all diese massiven Widerstände durchgesetzt hat. Als Zeitgenosse hätte man vermutlich nicht darauf gewettet. Als Nachgeborener ist man froh, dass Unternehmer und Ingenieure wie die Stephensons für den Fortschritt gekämpft haben. Wer den Beginn dieser Revolution in Großbritannien mitfeiern will, kann sich auf »sdr200.co.uk« über die Fülle der geplanten Veranstaltungen informieren. Zur Einstimmung empfiehlt sich die Folge über George und Robert Stephenson der berühmten Podcastserie »In our time« auf BBCRadio4.
Rainer Hank
02. August 2025
Mordversuch im Kapitalistenmilieu
Ein Versuch über Macht, Monopole und Moral
Marinus van Reymerswalde (1490 bis 1545) war ein flämischer Maler. Ich bin ihm vergangene Woche in Antwerpen im Wohnhaus von Nikolaus Rockox begegnet, einem reichen Bürger der Stadt, der der Nachwelt ein Museum mit beeindruckender Kunstsammlung vermacht hat. Reymerswaldes Gemälde »Der Geldgeber« greift ein damals populäres Thema auf: Geldwechsler, Geldverleiher und Steuereintreiber hatten keinen guten Ruf. Nie war man sicher, ob sie einem den richtigen Wechselkurs berechneten. Eher konnte man sicher sein, dass sie dem Schuldner Wucherzinsen abzupressen suchten. Der Geldgeber in Reymerswaldes Gemälde zieht bedrohlich wirkende Grimassen. Sein Geschäftsraum sieht nicht gerade ordentlich aus. Der Betrachter soll gewarnt sein: Der Mann wird uns aus Habgier übers Ohr hauen.
Antwerpen im 16. Jahrhundert ist eine Wiege des Kapitalismus. Die Forschung nennt diese Periode die »glorreichen Jahren« der Stadt, deren Bedeutung man sich ungefähr so vorstellen muss, wie heute die Rolle von London, New York, Hongkong oder Shanghai. Antwerpen war das Zentrum einer globalisierten Welt, wo sich die Händler aus aller Herren Länder trafen und ihre Waren (edle Gewürze, wichtige Rohstoffe, Textilien, Edelmetalle, Wein) tauschten. Bei van Remyerswalde kann man sehen: Neben dem Handelskapitalismus wurde der Finanzkapitalismus (Wechselbriefe und Kredite) immer wichtiger. Und Reymerswaldes zeitgenössisches Gemälde zeigt auch: Kapitalismus und Kapitalismuskritik gehen immer schon Hand in Hand, sind gleichzeitige und nicht konsekutive Phänomene.
Dazu eine kleine Geschichte: Am 22. Januar 1545 begab sich Gilbert van Schoonbeke zur neuen Börse von Antwerpen. Diese gab es erst seit 1531, nachdem die alte zu klein und zu wenig repräsentativ geworden war: Eine (auch heute noch zu besichtigende) architektonisch bemerkenswerte spätgotische Halle mit Säulenumgängen und einem Turm, von dem aus man ein- und ausfahrende Schiffe beobachten konnte. Hier trafen sich Händler, Bankiers, Wechsler und Reeder aus ganz Europa. So eben auch van Schoonbeke, ein flämischer Unternehmer und Stadtentwickler, der maßgeblich an der Modernisierung Antwerpens beteiligt war.
Bloß eine Ohrfeige?
Es wurde schon dunkel, als van Schoonbeke die Börse verließ. Kurz hinter deren Tor lauerten ihm zwei finstere Gestalten auf, die dem Mann mit einem Schwert den Schädel spalten wollten. Schoonbekes Diener eilte zu Hilfe, ohne die Gefahr abzuwenden. Letztlich, so erzählt man, habe Schoonbeke sein fester Hut gerettet und den Schlag der Waffe abgefedert.
Eine Affäre im Kriminellenmilieu? Mitnichten. Eher im Kapitalistenmilieu. Schoonbeke witterte hinter den Angreifern einen alten Rivalen, den aus Pistoia stammenden Kaufmann, Intriganten und Finanzspekulanten Gaspar Ducci (1492 bis 1577). Dieser, so wird berichtet, habe die beiden Schergen angewiesen, sich Schoonbeke vorzuknöpfen: »Macht ihn fertig«. Auslöser des Konflikts war offenbar van Schoonbekes Weigerung, Ducci beim Wiegen seiner Alaun-Ladungen steuerliche Ausnahmen zu gewähren. Ducci reagierte gekränkt, schwor Rache und setzte das Gerücht in die Welt, er habe eine Affäre mit Schoonbekes Frau.
Überraschenderweise hatte der Mordanschlag keine rechtlichen Folgen. Ducci und seine Komplizen erschienen nicht vor dem Antwerpener Gericht, sondern suchten Schutz bei Maria von Ungarn, der Statthalterin der spanischen Niederlande. Diese übertrug den Fall an den Rat von Brabant, wo Ducci angab, er habe Schoonbeke lediglich eine »Ohrfeige« verpassen wollen. Das Verfahren wurde eingestellt. Ducci warnte Schoonbeke in mafiöser Manier, seine Männer seien weiterhin in der Stadt unterwegs.
Alaun, muss man nachschlagen, ist ein Kalium-Aluminium-Salz, das unter anderem als Beizmittel in der Textilindustrie begehrt war und ein Machtmittel im Handel bedeutete. Ducci hatte vom spanischen Kaiser Karl V. das Monopol auf Alaun erhalten. Zudem betätigte Ducci sich in allerlei Finanzgeschäften. Den ersten Reibach seiner Karriere hatte er mit Spekulationen auf den Wechselkurs zwischen Silber und Gold gemacht, was diverse Kollegen in den Ruin getrieben hatte. Auch hier hatte Maria von Ungarn ihm den Rücken gestärkt. Denn Ducci hatte erfolgreich für die Regentin Steuern eingetrieben. Dem Kaiser und dem französischen und englischen König verschaffte er ebenfalls Geldmittel. Im Gegenzug erhielt er nicht nur das Monopol auf Alaun, sondern auch die Erlaubnis, Pastellfarben und Wein auch dann aus Frankreich zu importieren, wenn der Kaiser gerade Krieg gegen das Land führte. Der Forscher Hugo Soly, der 2022 eine Monografie über Schoonbeke und Ducci veröffentlicht hat, bescheinigte letzterem die Gabe »kreativen Bankings«, ein Begriff, der unter anderem in der Finanzkrise 2008 wieder zu Ehren kam.
Frühkapitalismus als Monopolkapitalismus
Die kriminelle Schmonzette des Jahres 1545 sagt viel aus über die Welt der frühen Neuzeit. Erstens: Es waren Kaufleute und Finanzjongleure, Leute wie van Schoonebek und Gaspar Gucci, die Antwerpen und die europäischen Königshäuser reich gemacht haben. Zweitens und ökonomisch verstörend: Der Frühkapitalismus des 16. Jahrhunderts war ein Monopolkapitalismus von Gnaden politischer Macht und kein freier Markt. Monopole sind eine Art Brandmauern gegen den Wettbewerb, die die wirtschaftlichen Akteure vor den Konkurrenten schützen. Wer hier Erfolg haben will, muss mit den Mächtigen paktieren, Netzwerke und Informationsvorsprünge zu nutzen wissen.
Cum grano salis könnte man sagen, Donald Trumps Spätkapitalismus habe sich am flämischen Frühkapitalismus des 16. Jahrhunderts ein Vorbild genommen: Wer sich dem Präsidenten unterwirft, ihn gar mit viel Geld versorgt (Elon Musk), wird mit Privilegien, Export- oder Importerlaubnissen und Monopolstellungen im US-Reich belohnt. Deals zwischen politisch und wirtschaftlich Mächtigen sind damals wie heute an der Tagesordnung.
Monopolisten können überhöhte Preise setzen; denn diese werden nicht vom Wettbewerb begrenzt oder bestritten. Die Macht der Monopolisten wurde von den Herrschenden gestützt, deren Staaten und deren Luxus zu finanzieren die Monopolisten im Gegenzug die Pflicht und das Privileg hatten, wofür sie fürstlich entlohnt wurden. Das kritisierten Zeitgenossen wie Marinus von Reymerswalde als willkürlich und ungerecht, brandmarkten es als Todsünde der Habgier mit entsprechender Androhung von Höllenstrafen.
Der Antikapitalismus des 16. Jahrhunderts kritisierte den Monopolkapitalismus moralisch und nicht ökonomisch. Die ökonomische Kritik der Verknüpfung von politischer Macht und wirtschaftlichen Monopolen kam erst zwei Jahrhunderte später von Aufklärern wie Adam Smith und David Hume. Der Freihandel ist in seiner Wirkung dem Moralisieren überlegen. Er hatte es damals so schwer wie heute.Rainer Hank
31. Juli 2025
Gesichert linksextrem
Wäre die Abschaffung des Kapitalismus verfassungsfeindlich?
Diese Woche will ich mich als inoffizieller Mitarbeiter dem deutschen Verfassungsschutz andienen und ergründen, ob man die Partei »Die Linke« als »gesichert linksextrem« bezeichnen kann.
Beginnen wir mit dem Rapper Mc Smook. Von dem gibt es einen Freestyle-Song mit dem Titel »Heidi Reichinnek«. Dort finden sich folgende Zeilen: »Gib’s den Armen, nimm’s den Reichen weg – wenn ich denke, will ich denken wie Heidi Reichinnek – yes, ich argumentiere die ganze rechte Scheiße weg.« Zur Erinnerung: Heidi Reichinnek ist ein Jungstar der Partei und inzwischen Fraktionsvorsitzende, die maßgeblich die Rückkehr der Linken in den Bundestag mit 8,5 Prozent verantwortet. Der Rap wurde beim letzten Bundesparteitag der Linken zu einer Art Parteihymne, quasi neben der alten Internationale (»Völker hört die Signale«). Reichinnek präsentiert ihr Parteiprogramm gerne als Rap auf TikTok & Co. Es sind solche Sachen, die nach Ansicht der Parteienforscher den überraschenden Erfolg bei den jungen Leuten begründen.
Wäre ich nicht IM des Verfassungsschutzes, sondern Seminarleiter an der Uni würde ich dem Song des Rappers einige poetische Qualitäten hinsichtlich Rhythmus und Reim abgewinnen: Das Schema »Reichen weg«/«Reichinnek«/«Scheiße weg« hat schon was, wie es überhaupt nicht ohne Witz ist, dass eine Politikerin, die die Armen befreien will, die Reichen in ihrem Namen trägt.
Doch als IM muss ich auf die Inhalte achten. Und da besteht kein Zweifel, dass Reichinnek es ernst meint. Klassenkampf müsse wieder auf die Tagesordnung. Die Marktwirtschaft ist aus ihrer Sicht eine Bedrohung der Demokratie. In einem Interview mit der »Neuen Osnabrücker Zeitung« sagte Reichinnek: »In den heutigen Zeiten muss man radikal sein. Der Sozialstaat wird immer weiter ausgehöhlt, der Reichtum von wenigen explodiert. Auch dadurch ist die Demokratie ernsthaft bedroht. Wer das verhindern will, der darf den Kapitalismus nicht stützen, er muss ihn stürzen.«
Demokratischer Sozialismus?
Das Ziel sei ein »demokratischer Sozialismus«, so Reichinnek. Wie der aussieht, lässt sie offen. Ex negativo wird einiges zwingend sein: Enteignung der Reichen, Abschaffung des Privateigentums, staatliche Planung statt marktlicher Steuerung von Angebot und Nachfrage. Reichinnek sagt, sie wolle nicht zurück zur DDR, aber wohin sie dann will – Korea, Venezuela, Kuba, Albanien – ist offenbar noch nicht entschieden. China würde es gewiss nicht werden, das wäre ihr mit Sicherheit zu kapitalistisch. Eher Russland. Oder wahrscheinlich ein ganz neuer Sozialismus, den es bislang in der Geschichte noch nicht gab. So haben noch immer alle kommunistischen Revolutionäre das Festhalten an der Idee des Sozialismus trotz seines historischen Versagens begründet. Insofern kann Reichinnek sich in eine lange antikapitalistische Tradition stellen von Karl Marx über Rosa Luxemburg bis Thomas Piketty. Ideenhistorisch interessierten Lesern empfehle ich dazu das neue Buch von John Cassidy: »Capitalism and its Critics« (Farrar, Straus and Giroux).
Nun kann ich den IM-Bericht an meinen Führungsoffizier beim BND abschicken. Ich brauche keine tausend Seiten wie meine Kollegen für ihren Bericht über die AfD. Aufgrund meines Materials habe ich keinen Zweifel, dass man die Linke als »gesichert linksextrem« bezeichnen kann. Sie will unsere Eigentumsordnung abschaffen und den Kapitalismus »stürzen«. Umsturz als revolutionäres Programm ist der Aufruf zu einer anderen Gesellschaftsordnung. Unser Wohlstand und unsere freiheitliche Ordnung verdanken sich maßgeblich unserer marktwirtschaftlichen Ordnung. Ihre Abschaffung ist ein Programm der gesellschaftlichen Verarmung.Ich muss davon ausgehen, dass die Linke ihr Umsturzprogramm ernst meint. Jedenfalls habe ich keine Hinweise, dass die Programmatik lediglich metaphorisch gemeint ist oder getragen von der Annahme, nichts werde so heiß gegessen wie gekocht. Antikapitalismus ist hierzulande intellektuell seit langem salonfähig, Rechtsextremismus ist es nicht.
So weit so klar. Die Linke verfolgt linksextreme Ziele, nicht nur im Teilen, sondern an der Spitze der Partei. Weniger klar ist, ob ein solcher Systemwechsel gegen die Verfassung verstieße, jedenfalls solange er mit parlamentarischen Verfahren einher ginge, sagen wir einer absoluten Mehrheit für die Linke im Bundestag oder einer Mehrheitskoalition aus Linke und SPD. Das deutsche Grundgesetz verpflichtet den Staat nicht eindeutig auf eine kapitalistische Wirtschaftsordnung. Das liegt daran, dass man in den späten vierziger Jahren bis weit in Kreise der Union mit einem demokratischen Sozialismus liebäugelte, etwa in dem berühmten Ahlener Programm der CDU. Der quasi sozialistische Passus »Eigentum verpflichtet« (Artikel 14, Abs. 2) erinnert an diese Offenheit. Das Bundesverfassungsgericht hat noch in den fünfziger Jahren von einer »wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes« gesprochen. Andererseits gibt es eine Reihe von Verfassungsartikeln, die auf eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung mit Privateigentum und privater Handlungsfreiheit hindeuten. Ganz explizit wird die »Soziale Marktwirtschaft« im Artikel 3 des Vertrags von Lissabon garantiert, den die EU-Staaten im Jahr 2009 geschlossen haben.Parteiverbote taugen nichts
Sollte man aus Angst vor einer demokratischen Reichinnek-Revolution das Grundgesetz vereindeutigen und die Verpflichtung zu Kapitalismus, Marktwirtschaft, Privateigentum und Vertragsfreiheit dort verankern – also implizit auch das Recht, steinreich werden zu dürfen ohne Angst vor Enteignung? Dann hätte man eine Handhabe für einen Verbotsantrag der Partei »Die Linke«. Das wäre nur konsequent und analog zu vielen derzeitigen Bestrebungen, die »liberale Demokratie« vor der »elektoralen Demokratie« zu schützen. Nennen wir dies die Strategie des brandmauerns, die sich aus der Angst vor den Wählern speist: der Angst vor der unvernünftigen Plebs.
Davon würde ich abraten. Sollten die Deutschen mit Mehrheit beschließen, den Kapitalismus abzuschaffen, wäre das eine Dummheit sondergleichen, für die das Volk den Preis seiner Verelendung zahlen müsste. Demokraten sind darin frei, mit Mehrheiten dummes Zeug zu beschließen. Das kann und sollte ihnen ihre Verfassung nicht verbieten. Die zunehmende liberale Einhegung der Mehrheitsdemokratie, stets und ausschließlich gut gemeint aber demokratisch problematisch, vermag ihr Ziel nicht wirklich zu erreichen, hat, ganz im Gegenteil, zu einem Erstarken des Populismus (nach rechts wie nach links) geführt. Darauf hat der Siegener Politikwissenschaftler Philip Manow jüngst hingewiesen. Demokraten müssen sich schon die Mühe machen, zu argumentieren und im Diskurs mit den Andersdenkenden für Freiheit, Kapitalismus und Marktwirtschaft zu kämpfen. Schaffen sie das nicht, würde auch das Grundgesetz sie nicht schützen.
Rainer Hank
