Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 27. August 2024
    Streit ist das Wesen der Demokratie

    Sieht doch ganz harmonisch aus, oder? Foto Bundespresseamt

    Dieser Artikel in der FAZ

    Doch leider weiß die Ampel nicht, wie das geht

    Die Ampel streitet. Das ist keine überraschende Meldung. Sondern der Normalfall der aktuellen Regierungskoalition. Die Sommerwochen waren geprägt von einem Haushaltsstreit um Milliardeneinsparungen, bei denen jedes Ressort der Meinung war, am besten sei es, das Nachbarressort würde sparen. Noch besser natürlich wäre es, man dürfe mehr Schulden machen. Dann müsste keiner sparen. Inzwischen verharren die Koalitionäre in einer Mischung aus Lethargie und Depression.
    Streit kommt bei den Bürgern schlecht an. Wenn Regierungen sich streiten, verlieren sie an Zustimmung in den Umfragen der Meinungsforscher. Das ist verständlich, rührt vermutlich aus unserer Kindheit. Wenn Kinder sich streiten, schimpfen die Eltern. Die FDP-Koalitionäre benähmen sich »wie bockige Kinder«, heißt es. Kommentatoren erinnern den Kanzler an seinen Satz: »Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch.« Na, so was, und jetzt haut er nicht auf den Tisch, der Schwächling. »Wir brauchen einen starken Politiker an der Spitze, keine endlosen Debatten und Kompromisse«, sagen 60 Prozent der Bürger in Ost-, aber auch 49 Prozent der Leute in Westdeutschland. So steht es in der jüngsten Allensbach-Umfrage für die FAZ vom 22. August.

    Der Wunsch nach »Führung« durch einen starken Mann offenbart ein merkwürdiges Demokratieverständnis. Man könnte es den autoritären Charakter nennen. Machertypen sind gefragt, die sagen, wo es lang geht und dafür sorgen, dass alle an einem Strang ziehen. Es sind dieselben Stimmen, die uns täglich mit besorgter Miene davor warnen, die Populisten von AfD oder BSW wollten die Demokratie abschaffen und den Autoritarismus oder gar den Faschismus einführen, die von den derzeit regierenden Demokraten Autoritarismus fordern und den Konflikt als Kleinkinderei kritisieren.

    Den »autoritären Charakter« gibt es auch bei Demokraten

    Wer die liberale Demokratie verteidigen will, muss den Konflikt verteidigen und sich über den Streit freuen. Kompromissfindung ist mühselig. Doch so funktioniert das politische System. Um Mehrheiten zu bilden, braucht es Koalitionen unterschiedlicher Parteien mit unterschiedlichen ideologischen Ausrichtungen. Man könnte eine Koalition eine Institution zur Internationalisierung von Opposition innerhalb eines Regierungsbündnisses nennen. Dass der FDP regelmäßig vorgeworfen wird, sie verhalte sich wie die Opposition in der Regierung, wäre, so gesehen, systembedingt und systemgewollt. Und nicht einer destruktiven Lust an der Blockade geschuldet. Wer die binnenkoalitionäre Opposition nicht will, muss ein Mehrheitswahlrecht einführen (wie in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten). Da nimmt sich der Sieger alles und kann durchregieren. Das wollten die Deutschen ja gerade nicht, weil sie ihre Neigung zum Autoritären zu kennen und sich durch ein Verhältniswahlrecht gegen ihre historische Charakterschwäche schützen wollten.

    Koalitionen sind teuer. Je mehr Parteien eine Koalition bilden, umso kostspieliger wird es am Ende für den Steuerzahler. Denn jeder der Koalitionäre muss seiner Wählerklientel beweisen, dass er etwas für sie herausgeholt hat. Sonst hätte die Stimme an der Wahlurne keine Rendite abgeworfen und man könnte das nächste Mal gleich die anderen wählen.

    So viel zur politischen Theorie. Jetzt zur politischen Praxis der Ampel. Mein Eindruck ist, dass das rot-grün-gelbe Bündnis bei seinem Gründungsakt selbst nicht wusste oder nichts davon wissen wollte, dass Koalitionen zu Konflikt und mühsamer Kompromissfindung verdammt sind. Zum Beweis reicht ein Blick in den Koalitionsvertrag (144 Seiten!), in dem es von Konsenspathos nur so trieft. »Mehr Fortschritt wagen«, so lautete das Motto, mit dem man Deutschland und den Deutschen eine Art Paradies auf Erden versprach. Die Dreiparteientruppe meinte, sich den Konflikt sparen zu können, um gleich mit dem Weltverbessern zu beginnen.

    Dumm nur, dass sich rasch herausstellte, dass man unterschiedliche Vorstellungen hatte, wie die Welt zu verbessern sei. Der SPD war es vor allem um den weiteren Ausbau des ohnehin schon üppigen Sozialstaats zu tun. Bürgergeld (in Wirklichkeit Stütze ohne Gegenleistung), Kindergrundsicherung, Rentenversprechen ohne Rücksicht auf demographische Finanzierungsnot), satte Mindestlöhne: Vorhaben, die viel Geld kosten und selbst durch die »Zeitenwende« keiner Korrektur unterzogen werden durften. Weltverbesserung mit dem Kopf durch die Wand.

    Getoppt wurde das von den notorisch zur Bürgerbevormundung neigenden Grünen: Eine CO2–neutrale Welt, möglichst übermorgen, braucht weder klimaneutralen Atomstrom noch Gas oder Kohle. Eine schöne neue Welt, flächendeckend überzogen von E-Autos, Fahrrädern und Wärmepumpen. Teuer, aber wer wird kleinkrämerisch übers Geld reden.

    Die FDP stimmt erst zu und widerrurft später

    Im Konsensdusel des zauberhaften Anfangs hat die FDP unterschrieben, was sie eigentlich nicht wollen konnte, nämlich all die von SPD und Grünen versprochenen Wohltaten. Und dazu einen Haushaltstrick zur Umgehung der Schuldenbremse mitgetragen, den später das Verfassungsgericht kassiert hat. Darüber hinaus hat die FDP auch in Brüssel ziemlich viel ordnungspolitischen Unsinn mitgetragen (Lieferkettenverordnung, Renaturierungsgesetz).

    Als die FDP mit Blick auf ihre Wähler endlich aufwachte und zu opponieren begann, wargen die teuren Beschlüsse meist schon auf dem Weg vom Kabinett ins Parlament. Dass dies kognitive Dissonanzen zu erkennen gibt, die von Rot und Grün in der Koalition liebevoll-boshaft ausgespießt werden, nimmt nicht Wunder. Die Widersprüche ermöglichen es, die Liberalen als eine Blockadetruppe öffentlich zu geißeln, die sich von der Fortschrittspolitik angewandt habe. In Wirklichkeit hätte sich die FDP nie dafür hergeben sollen, eine Politik des üppigen Sozialstaatsausbaus und der überteuerten Klimatransformation Fortschritt zu heißen. Sie hätte besser nie den üppigen Subventionen an die Großindustrie zugestimmt, die den Standort nicht stärken, sondern seine Schwäche offenbaren. Erst mitmachen und hinterher mosern – schwierig.

    Zurück zum Streit. Die parlamentarische Opposition kann sich Fundamentalwiderstand leisten, muss es womöglich tun, um auf dem Weg zur Entmachtung der Regierung ihre Alternativen deutlich zu machen. Opposition innerhalb in einer Koalition kann nicht darin bestehen, an Maximalpositionen trotzig festzuhalten oder – wie im Fall der FDP – mal hü mal hott zu sagen. Denn dann gerät der Fluchtpunkt des Konflikts aus dem Blick: Die Kompromissfindung.

    Nicht dass sie streitet, ist das Problem dieser Regierung. Sondern, dass sie schlecht streitet. Und dass sie zu spät mit dem Streit angefangen hat. Jetzt ist nichts mehr zu retten. Aus der »Übergangsregierung« (Omid Nouripour) ist eine Untergangsregierung geworden.

    Rainer Hank

  • 27. August 2024
    Lauter Vizepräsidentinnen

    Chief irgendwer officer Foto SCY/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Titel sind wichtiger als man denkt

    Der wichtigste Direktor der Stuttgarter Bank, in der ich aufgewachsen bin, hieß von Varnbüler. Als Kind habe ich ihn nie zu Gesicht bekommen, nur sein Büro nach Feierabend, wenn ich mit meinem Vater, dem Hausmeister, durch die Räume der Bank streunen durfte. Dass Herr von Varnbüler – für mich hatte er keinen Vornamen – der wichtigste Mann der Bank war, sah man schon daran, dass sein Büro das größte im ganzen Haus war. Sein Schreibtisch auch.

    Es gab auch noch andere Direktoren in der Bank. Die waren auch wichtig. Das hörte ich daran, wie achtungsvoll mein Vater von ihnen sprach. Er sagte immer »der Direktor Dölger«. Nie hätte er gesagt, »der Dölger«. Auch nicht, wenn wir unter uns waren. So habe ich als Kind gelernt, dass Hierarchien in einer Firma wichtig sind. Und dass man die Wichtigkeit der Menschen am Titel erkennt, den einer hat. Es gab auch Prokuristen. Das klang geheimnisvoll, obwohl die, glaube ich, nicht so wichtig waren.

    Die Erinnerung aus der Kindheit kam mir, als ich kürzlich in der FAZ las, dass der DWS, die Fondgesellschaft der Deutschen Bank, Titel wiedereinzuführen beabsichtigt. Mir war ehrlich gesagt entgangen, dass man die im Jahr 2020 abgeschafft hatte. Es sollten »hierarchische Barrieren« eingerissen werden. Ein »agiles« Unternehmen, wie man das zu nennen pflegt, wolle Leistung betonen. Ohne Titel könnten sich Mitarbeiter auf Augenhöhe begegnen. Das scheint offenbar nicht gut angekommen zu sein. Und zwar gerade bei den Mitarbeitern selbst, denen man eigentlich etwas Gutes tun wollte, was sicher auch damit zusammenhängt, dass die DWS nicht nur die Titel, sondern auch Beförderungen abgeschafft hat, mit denen automatisch Gehaltserhöhungen verbunden waren. Plötzlich, wie gesagt, sollte ausschließlich die Leistung das Gehalt bestimmen.

    13 Joblevel sind auch keine Alternative

    Die DWS war übrigens nicht allein. Auch der Versicherungskonzern Axa hat in der Schweiz Titel abgeschafft, weil die als »Statussymbole« nicht mehr zeitgemäß seien. Stattdessen gibt es dort jetzt 13 Joblevel. Da wäre ich dann also auf Level 7 wichtiger als der Kollege auf Level 6, aber weniger wichtig als Kollege Level 8: »New Work« heißt so etwas heutzutage. Für mich klingt es eher nach Brave New World von Aldous Huxley. Bei der DWS jedenfalls kommen sie jetzt wieder zum »Director« zurück. Besonders gerne genommen werde der »Managing Director«, mit dem eine Bereichsleitung verbunden ist, die direkt unter dem Vorstand angesiedelt ist.
    Anders als in meiner Kindheit sind die Titel in deutschen Unternehmen heutzutage englisch. Mein Vater wäre jetzt kein Hausmeister mehr, sondern ein »Facility Manager«. Ob ihm das recht wäre? Als mir vor Jahren als junger Journalist ein Interview mit einem Vice President angeboten wurde, war ich stolz und dachte, das müsse der zweitwichtigste Mann des Konzerns sein. Meine Enttäuschung war groß, als ich hörte, dass es in diesem Unternehmen 30 Vice President gibt.

    Mit der Titel-Inflation differenzieren sich die Titel. Und man muss die Übersetzung kennen. Ein »senior vice president« ist ein Angestellter im mittleren Management. Ein »assistant vice president« hat vor drei Jahren die Universität verlassen. Und ein »associate vice president« hat gerade das Alphabet gelernt, spottete der »Economist«. Wenn man jemanden unter den Vizepräsidenten besonders auszeichnen will, sollte man ihn mindestens zum »Senior executive vice president« befördern. So ist es bei einer Inflation: Wert und Bedeutung von Titeln verfallen im Maße ihrer personalpolitischen Vermehrung.

    Der amerikanische Präsident hat nur eine einzige Vizepräsidentin. Auch die war vier Jahre lang unwichtig. Ich habe zufällig mitbekommen, wie Kamala Harris die Ankunft eines amerikanischen Mammutbaums in einem botanischen Garten Singapurs mit ihrer Anwesenheit aufwerten durfte. Dass es jetzt so aussieht, als werde sie demnächst die Welt erlösen und die Demokratie retten, hat jedenfalls nichts damit zu tun, dass sie Vizepräsidentin ist. Bei uns in Berlin haben wir zwei Vizekanzler. Das weiß kaum einer: Der Senior »Vice Chancellor« heißt Robert Habeck. Der »Associate Vice Chancellor« heißt Christian Lindner. Dass die beiden wichtig sind, sieht man daran, dass sie sich streiten. Dass sie sich streiten hat vor allem damit zu tun, dass sie verschiedenen ideologischen Ampel-Fraktionen angehören. Mit ihrem Amt als Vize-Kanzler hat es nichts zu tun.

    Vorbild aller Hierarchien ist entweder das Militär oder die Verwaltung. In Österreich hieß es lange Zeit »Ja grüß Gott, Frau Medizinalrat«, wenn man die Gattin desselben begrüßte. Einer aktuellen Serviceseite »Wie Sie Titel in Österreich richtig verwenden« entnehme ich, dass das so etwas heute nicht mehr üblich sei. Aber Professoren am Gymnasium und Doktoren sollte man schon so ansprechen: 70 Prozent der Österreicher legen Wert auf Titel und benutzten sie auch, heißt es auf der Seite.

    Chefkorrespondenten sind auch nicht mehr, was sie mal waren

    In einer inzwischen üblichen allgemeinen Duz-Kultur wird der Doktor kaum überleben. In Amerika orientieren sich die Unternehmen am Militär, weshalb es in der Hierarchie von Offizieren nur so wimmelt – eine ähnliche Vervielfachung wie bei den Vizepräsidenten.Es gibt nicht nur den CEO, den »Chief Executive Officer« (in Deutschland hieß er früher »Vorstandsvorsitzer«[sic]), sondern auch den CIO, den Chief Innovation Officer, als ob man Innovation militärisch befehlen könne. Mir persönlich gefällt der CDEIO besonders gut: Das ist der Chief Diverstiy, Equity and Inclusion Officer. Lauter Chefs. Vorlage für die Konstruktion Chief plus Officer ist, wie gesagt, das amerikanische Heer, wo es für jede Division einen kommandierenden Officer gibt, lese ich. Mir fällt dazu immer nur Officer Krupke ein. Das ist jener Polizei-Sergeant aus der West Side Story, den die Jugendgangs so wunderbar nachäffen. Sein Vorgesetzter heißt übrigens Lieutenant Schrank.

    Sagen wir es so: Titel abschaffen bringt nichts. Man braucht sie, um nach außen und innen zu signalisieren, wofür jemand zuständig ist, und wer Ober und wer Unter ist. Das Machtgefälle verschleiernd nennt man das »wer an wen berichtet«. Außerdem taugen Titel als Epauletten. Das kommt ebenfalls aus dem Militär und bezeichnet die Schulterklappe an einer Uniform. Unternehmen verteilen Epauletten, wenn sie kein Geld für Gehaltserhöhungen haben, aber jemanden symbolisch aufwerten wollen, sei es, um zu verhindern, dass er zur Konkurrenz abwandert, oder um ihn anzuwerben, obwohl gar keine Abteilungsleiterstelle (altmodischer Begriff) frei ist. Mich wollte mal vor Jahren ein Medienunternehmen als Chefkorrespondent einstellen. Zum Glück habe ich in letzter Minute gemerkt, dass ich weder Korrespondent (New York, Rio, Tokio) würde, noch irgendein Chef wäre. Da gefällt mir der Titel »FAS-Kolumnist« doch viel besser.

    Rainer Hank

  • 14. August 2024
    Wie umgehen mit Populisten?

    Populistin UND Demokratin: Giorgia Meloni Foto wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Im Zwispalt zwischen elektroaler und liberaler Demokratie

    Ampel-Regierung und Unionsopposition haben sich darauf geeinigt, das Bundesverfassungsgericht vor einem Angriff von Autokraten und Populisten zu schützen. Das wurde in der Öffentlichkeit ziemlich unisono als Stärkung der Demokratie kommentiert und als Vorsorge für den Fall, dass sich die politischen Mehrheitsverhältnisse in Deutschland ändern sollten – im Klartext: dass die AfD bei den kommenden Wahlen weiter an Stimmen zulegen könnte.

    Zweierlei fällt auf: Das Verfassungsgericht galt bislang als Bollwerk gegen die Versuchung von Politikern, mit ihren Mehrheiten zu machen, was ihnen in den Kram passt. Auch Demokraten sind nicht frei. Man denke an das Urteil zur Schuldenbremse, das die Verfassung durchgesetzt hat gegen Minister und Ökonomen, die das Urteil als juristische Knebelung der Demokratie ansehen. Und genauso ist es auch gemeint. Wenn das Verfassungsgericht solche Macht hat – warum muss es dann gestärkt werden? Womöglich ist der vorwegnehmende Akt in Wirklichkeit ein Ausdruck von Schwäche?

    Gravierender noch ist zweitens die Paradoxie, wonach es eine Stärkung der Demokratie sein soll, wenn eine Institution vor geänderten Mehrheitsverhältnissen – mithin vor der Demokratie – geschützt wird. Demokraten haben Angst vor demokratischen Wahlergebnissen, die dazu führen könnten, dass sie entmachtet werden. Ist Entmachtungschance nicht das Wesen der Demokratie?

    In Wirklichkeit geht es nicht um eine Stärkung der Demokratie, sondern um ihre Disziplinierung. Populisten sollen weniger Schaden anrichten können. Für die Befürchtung, dass sie das könnten, gibt es Gründe. Unredlich und unlogisch ist es, sich auf die Demokratie zu berufen. Denn vor der haben Ampel und Unionsopposition doch gerade Angst.

    Der Liberalismus hat viele Feinde

    Wenn es nicht um die Stärkung der Demokratie geht, sondern ihre Disziplinierung – man kann auch sagen ihre Schwächung –, worum geht es dann? Es geht um die Stärkung der Freiheit, also um Liberalität. Freiheit und Demokratie sind keine Synonyme, auch wenn das angesichts der ideologischen Überhöhung der Demokratie (als das Gute, Wahre, Schöne und Hochwertige) vielfach behauptet wird. Der Liberalismus hat viele Feinde, die Demokratie zählt dazu: Wenn das Volk mit Mehrheit entscheidet, kann die Freiheit (nicht nur die der unterlegenen Minderheit) auf der Strecke bleiben. Man muss sich also schon entscheiden, was man als obersten Wert ansieht: Freiheit und Liberalismus oder Mehrheitsprinzip und Demokratie. Ich wüsste, wofür ich mich entschiede, und will das heute aus der Ideengeschichte des Liberalismus heraus begründen.

    Liberalismus setzt sich ein für eine Gesellschaft, in welcher niemand Angst haben muss. »Abwesenheit von Angst«, sagt die amerikanische Philosophin Judith Shklar (1928 bis 1992), ist die fundamentalste Freiheit, die es gibt. Wer Angst hat, ist nicht frei. Despoten pflegen ihre Untertanen zu ängstigen. Wenn sie sich dabei auf Gott berufen, umso schlimmer. Denn Religion kann Menschen in große Angst versetzen. Insofern hat sich der philosophische Liberalismus seit der Aufklärung gegen Machtanmaßungen des Staates zur Wehr gesetzt, einerlei, wie theokratisch oder säkular er sich legitimiert. Später ging es dann darum, die Freiheit gegen die Verlockungen von Revolution und Reaktion zu sichern, also gegen links wie rechts. Folgenschwer wurde ein innerliberales Schisma, zu dem es Ende des 19. Jahrhunderts gekommen ist: Während die »fortschrittlichen« Liberalen die Armut der Arbeiter als größte Bedrohung der Freiheit ansahen und vom Staat für sie sozialen Ausgleich forderten, war für die »klassisch« Liberalen diese Staatsgläubigkeit bereits der erste Schritt in Richtung Sozialismus. Seither stehen sich Linksliberale (»Liberal«) und klassisch Liberale (»Libertarian«) gegenüber.

    Der Liberalismus gründete von Anfang an auf drei Säulen: auf politischer Freiheit, wirtschaftlicher Freiheit und auf eine Ethik der Freiheit. So kann man es in der Geschichte des Liberalismus nachlesen, die der britische Ideenhistoriker Alan S. Kahan gerade vorgelegt hat (»Freedom from Fear. An Incomplete History of Liberalism.« Princeton University Press). Politische Freiheitsrechte der Bürger müssen ergänzt werden durch wirtschaftliche Freiheit, die Eigentumsrechte und Verträge zwischen Marktteilnehmern sichert. Umstritten war stets, ob politische und wirtschaftliche Freiheiten durch ein ethisches Wertesystem ergänzt werden sollten, oder ob dies bereits ein ideologischer Übergriff wäre.

    Den Staat vom Einfluss der Massen befreien

    Dass die Demokratie die Freiheit bedroht, war den Liberalen (etwas bei Tocqueville oder J.S. Mill) stets bewusst. Besonders prominent kam die Gefahr den deutschen Ordo- oder Neoliberalen der »Freiburger Schule« in den Blick. »Der Staat muss die Stärke haben, sich selbst vom Einfluss der Massen zu befreien«, heißt es bei Walter Eucken. Der elitäre, antidemokratische Ton ist nicht zu überhören. Kein Wunder, dass Populisten aller Zeiten den Liberalismus (und nicht die Demokratie) als ihren Hauptfeind identifizierten. Mit der Demokratie haben sie weniger Probleme (Viktor Orbans »illiberale Demokratie«), mit dem Sozialismus auch nicht, blickt man auf die sozialpolitischen Programme von AfD oder BSW (»Bündnis Sahra Wagenknecht«).

    Im Kampf gegen den Populismus geht darum, wie und woher der Liberalismus wieder neue Überzeugungskraft gewinnen kann. Naheliegend, aber nicht ungefährlich ist der rechtsstaatliche Weg, immer mehr Institutionen vor Mehrheitsentscheidungen abzuschotten. Der Vorwurf der Populisten, damit wollten die Herrschenden vor allem ihre Macht sichern, ist nicht von der Hand zu weisen. Im Namen der Freiheit demokratische Freiheiten einzuschränken, ist heikel. Ohnehin wird das die Populisten nicht daran hindern, liberale Institutionen (Gerichte, unabhängige Notenbank, freie Presse) zu schwächen, wenn sie an der Macht sind. Nicht minder problematisch ist der Vorschlag, der Liberalismus müsse seine ethischen oder gar religiösen Grundlagen stärken, um die Populisten mit einem freiheitlichen Sinnangebot zu schlagen. Auch die Populisten bedienen sich der Religion als Legitimationsinstanz: Putin hat seine Popen, Maduro und Trump haben ihre evangelikalen Charismatiker. Ideologische Charismatik ist nicht die Stärke des liberalen Bekenntnisses. Zum Glück.

    Populismus ist eine demokratische Reaktion gegen den liberalen Legalismus. Der Liberalismus kann nicht mehr tun als für Freiheit zu werben gegen alle totalitären Ansprüche von Staaten, Partien und Religionen. Zur rechten Balance braucht es rechtsstaatliche Institutionen, die die Bürger vor paternalistischer, sozialistischer oder völkischer Hybris von Demokraten schützen.

    Rainer Hank

  • 14. August 2024
    Pro und Contra Wehrpflicht

    Fallschirmspringer Foto Guenther Dillingen/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Lasst das den Markt machen!

    Deutschland soll »wehrfähig« oder gar »kriegstüchtig« werden. Das ist die bittere, aber notwendige Konsequenz der »Zeitenwende« nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. Dass wir, Kinder des Kalten Kriegs, uns so etwas nicht vorstellen konnten und wir die damit verbundenen Debatten nur widerwillig führen, schert die Wirklichkeit nicht.

    Wie halte ich, Kriegsdienstverweigerer und »Zivi« des Jahres 1974, es mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht? Eine Mehrheit der Deutschen sei dafür, lese ich. Aber mit diesem Meinungsbild kann man wenig anfangen: Denn es sind die Älteren, die sich für eine Wehrpflicht aussprechen, aber selbst gar nicht betroffen wären. Auf Kosten der Jüngeren lassen sich leicht die Backen aufblasen. Die Jüngeren indes, die vom Kriegsdienst betroffen wären, sind mehrheitlich dagegen.
    Es geht um drei Themen. Die Bundeswehr hat ein Personalproblem. Nach der gegenwärtigen Bewertung der Aufgaben Deutschlands im atlantischen Bündnis, so Verteidigungsminister Boris Pistorius, wären 420.000 Frauen und Männer in den Streitkräften nötig. Derzeit gibt es aber nur 180.000 Soldatinnen und 60.000 Reservisten. Es fehlen also 180.00 Männer (und Frauen?). Zweitens geht es um bessere Resilienz Deutschlands gegen Terror, Cyberangriffe von Islamisten und weitere realistische Schrecklichkeiten. Drittens wird über eine Überwindung der von vielen beklagten Spaltung der Gesellschaft diskutiert, die ein Dienst an der Gesellschaft (zivil oder mit Waffen) leisten soll. Die Armee als »Schule der Nation« und der Sozialdienst als Einübung von Solidarität: »Haben Sie gedient?« soll wieder zu einer Frage der Ehre werden.

    Die Antworten der Politiker sind gespalten. Pistorius von der SPD, derzeit der Liebling aller Meinungsumfragen, schlägt einen Grundwehrdienst von sechs Monaten für eine Auswahl wehrpflichtiger Jahrgänge vor. Dazu soll es eine verpflichtende Erfassung geben, in der junge Männer ihre Bereitschaft und Fähigkeit zu einem Wehrdienst benennen müssen und junge Frauen dies tun können. Pistorius will also ein Mischmodell aus verpflichtend abgegebenen Daten und freiwilligem Dienst für junge Männer. Völlig freiwillig dagegen soll es für junge Frauen sein. Eine solche Diskriminierung fühlt sich in dieser woken Zeit merkwürdig an, folgt aber dem Grundgesetz, das davon ausgeht: Männer kämpfen, Frauen kochen und kriegen Kinder. Dabei ist noch gar nicht ausgemacht, wer eigentlich (negativ) diskriminiert wird: Männer, weil sie im Verteidigungsfall gezogen werden oder Frauen, weil man ihnen den Kampfesmut abspricht.

    Die Union geht einen Schritt weiter als der SPD-Mann Pistorius und tendiert dazu, ein verpflichtendes Dienstjahr von allen jungen Leuten zu fordern, welches sie in der Armee oder in zivilen Institutionen ableisten können. Das ist konsequent aus konservativem Geist gedacht (»Dienst am Gemeinwohl«), weshalb es in der Union inzwischen als Sündenfall gilt, dass ausgerechnet unter Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, einem CSU-Mann, im Jahr 2011 die Wehrpflicht ausgesetzt wurde.

    Hohe volkswirtschaftsliche Kosten

    Die Grünen, eher zurückhaltend, die FDP, eher forsch, können den Ideen der politischen Wettbewerber nicht viel abgewinnen. Eine Wehr- oder Dienstpflicht halten sie aus Gründen der Ökonomie und der Gerechtigkeit für nicht für wünschenswert. Die ökonomischen Gründe übernimmt die FDP aus einer aktuellen Studie des Ifo-Instituts. Demnach würde eine Wiedereinführung der Wehrpflicht volkswirtschaftliche Kosten in Milliardenhöhe verursachen. Das liegt daran, dass die Wehrpflichtigen erst später mit dem Aufbau von Humankapital beginnen, schlechter bezahlt werden und in Folge davon ihr Vermögensaufbau erschwert würde. Sollte ein gesamter Jahrgang eingezogen werden, wäre ein Rückgang der Wirtschaftsleistung um knapp 70 Milliarden Euro (1,6 Prozent des Bruttonationaleinkommens) zu befürchten. Das Ifo-Argument ist triftig, wird freilich von Pistorius mit dem naheliegenden »Totschlagargument« gekontert, dass ein Scheitern der Abschreckung – also ein Krieg – humanitär, aber auch volkswirtschaftlich noch viel teurer wäre als die Wiedereinführung eines Wehrdienstes. Gerecht ist ein Wehr- und Zivildienst nicht: Es sind immer nur wenige, die mit ihrem Körper für die Verteidigung des Landes einstehen. Sie werden zu einem höheren Risiko verpflichtet, während jene, die nicht dienen, in dieser Zeit mit geringerem Risiko besser verdienen.

    Ökonomen und Verteidigungsexperten plädieren für einen Marktlösung als Alternative zu einer Pflicht- mithin Zwangslösung. Die Debatte um eine Wehrpflicht habe Ablenkungsfunktion, so die Sicherheitsexperten Claudia Major. Der Bundeswehr fehle nicht nur Masse, sondern auch technische Expertise (Cyberexperten), weil sie auf dem Markt nicht konkurrenzfähig sei. Die Wehrpflichtdebatte lenke von anderen Missständen ab, von veralteter Ausrüstung bis zur Unternehmenskultur, so Frau Major. Daraus folgt: Die Armee muss für junge Menschen attraktiver werden, die sich dafür freiwillig melden. Das geht nur, wenn der »Sold« den am Markt gezahlten Preisen für entsprechende Qualifikationen gleichkommt oder ihn gar übertrifft. Das höhere Risiko für Leib und Leben könnte einen Aufpreis gegenüber den Gehältern in der zivilen Wirtschaft rechtfertigen, denke ich. Wie hoch dieser Aufpreis ist, weiß man im Vorhinein nicht. Er stellt sich im Wettbewerb heraus.

    Solche Anreize würden dann eben auch garantieren, dass Leistung, Qualifikationen und komparative Vorteile zählen, allemal bessere Lösungen als als junge Leute zu ziehen, die übergelaunt und wenig qualifiziert beim Bund gammeln. Fraglos würde die Marktlösung ebenfalls hohe Kosten verursachen, womöglich sogar höhere als die Dienstpflicht. Aber es ginge dabei gerechter zu: Denn nun müsste die Allgemeinheit der Steuerbürger unter Beweis stellen, dass und wieviel ihnen die Verteidigungsbereitschaft oder »Kriegstüchtigkeit« des Landes wert ist. Pekuniäre Anreize und institutioneller Wandel der Armee statt Zwang, Arbeitsteilung statt Naturalsteuer: Es sollen diejenigen zum Zuge kommen, die es wollen und es am besten können. Die anderen sollen dafür bezahlen.
    So spricht am Ende vieles für das Marktmodell der FDP. Ob auf diese Weise ausreichend Freiwillige (und spätere Reservisten) zusammenkommen, wird von Pistorius und Teilen der Militärwissenschaft bezweifelt. Ob sie recht haben, wissen wir nicht. Es wäre kein gutes Zeichen, könnte aber schon sein. Dann bleibt immer noch der Zwang als ultima ratio. Ein liberales Land muss auch in Zeiten der Bedrohung auf Freiheit und Freiwilligkeit setzen. Pflicht – und sei es nur die Registrierungsplicht – ist und bleibt allemal die schlechtere Lösung.

    Rainer Hank

  • 02. August 2024
    Nicht tot zu kriegen

    Zugehörigkeit Foto Pablo Reboliedo/unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum Ökonomen an die Religion glauben

    Süddeutschland war einmal ein katholisches Land. Von religiöser Pracht zeugen die barocken Klöster und Kirchen bis heute. Dazu gehörten geistliche Besitztümer mit Landwirtschaft, Handwerk und Industrie (Brauereien), die den frommen Eigentümern ein beachtliches Einkommen bescherten, was wiederum die Voraussetzung war, Bibliotheken zu unterhalten, Messen zu komponieren und Architekten oder Stuckateure aus der ganzen Welt beschäftigen.

    Das alles hatte sein jähes Ende im Jahr 1803, als die meisten geistlichen Fürstentümer durch den sogenannten Reichsdeputationshauptschluss säkularisiert wurden und die Besitztümer den weltlichen Territorialherren zugesprochen wurden als Entschädigung für die von Napoleon enteigneten linksrheinischen Gebiete. Profiteure in Süddeutschland waren zum Beispiel der Markgraf von Baden, der Kurfürst von Bayern oder der Herzog von Württemberg. Die katholische Kirche verlor ihre weltliche Macht. Mönche wurden arbeitslos, Wallfahrtsorte erlebten einen spirituellen und wirtschaftlichen Niedergang, von Klöstern abhängige Handwerker und Künstler fielen in Armut.

    Ein schwerer Schlag, von dem die katholische Kirche Deutschlands sich nicht wieder erholen würde, – sollte man denken. Doch schon Mitte des 19. Jahrhunderts boomte die Religion. Neu gegründete oder wieder in Betrieb genommene Klöster engagierten sich in der Krankenpflege, in Altenheimen, der Seelsorge und der Schulbildung. Die Kirche fand neue Einnahmequellen (Internate zum Beispiel) als Kompensation für die enteigneten geistlichen Besitztümer. Zwischen 1850 und 1950 erlebte der deutsche Katholizismus eine seiner größten Blüten in der Kirchengeschichte.

    Zufall? Nein, so lese ich es in einem faszinierenden Buch des britischen Ökonomen Paul Seabright, der an der Universität Toulouse lehrt. »The Divine Economoy« heißt das Buch. Die These: Religionen sind nicht tot zu kriegen. Der Forscher schreibt sine ira et studio; er argumentiert weder als Religionskritiker noch als Anwalt der Kirchen, sondern strikt als Wirtschaftswissenschaftler.

    Religion funktioniert wie eine Plattform – nur besser

    Weder Säkularisation (die Enteignung der kirchlichen Machtbasis), noch Säkularisierung (die Entzauberung einer Welt mittels philosophischer Aufklärung und Naturwissenschaft) haben es geschafft, der Religion den Garaus zu machen. Das liegt, ökonomisch gesprochen, an der Innovations- und Anpassungsfähigkeit der Kirchen, die all jene übersehen, die Religion als ein archaisches Relikt betrachten. Der Blick auf Europa und die Missbrauchspraxis der christlichen Kirchen trübt zudem den Blick. Zwar erleben Katholizismus und Protestantismus in Europa (mit Ausnahme Polens) tatsächlich einen dramatischen Niedergang. Dieser wird indessen zahlenmäßig überkompensiert durch den Zulauf, den die katholische Kirche in Afrika erlebt und die Evangelikalen und Pfingstkirchen in Südamerika oder in China. Ganz zu schweigen von der Attraktivität, die der Islam zwischen Indonesien und dem Maghreb auf die Menschen ausübt oder der staatlich geförderte Hinduismus in Indien. Das religiöse Geschäftsmodell ist robust und resilient.
    Wie funktioniert der religiöse Markt? Seabright startet seine Studie mit der Geschichte von Grace, einer vierundzwanzigjährigen jungen Frau in Accra (Ghana). Sie verdient ihr Geld – täglich eineinhalb Dollar – mit dem Verkauf von Trinkwasser an einer Straßenkreuzung. Zehn Prozent davon (zuzüglich weiterer Spenden) führt Grace an ihre protestantische Gemeinde ab, was bedeutet, dass sie sich wichtige medizinische Behandlungen für ihr Tante nicht mehr leisten kann, mit der sie in einer kleinen Wohnung in einem Slum zusammenlebt. Der Pastor der Gemeinde ist ostentativ reich. Er fährt einen Mercedes und trägt einen Gürtel mit einem überdimensionierten Dollarzeichen.
    Grace ist weder hörig noch unemanzipiert, noch handelt sie irrational. Sie geht gerne in die Kirche. Dort trifft sie Gleichgesinnte, mit denen sie beten, singen, essen und reden kann. Sie teilen die gleichen Werte und Rituale. Grace hofft, dass sie irgendwann einmal in der Gemeinde den Mann fürs Leben finden wird. Dort fühlt sie sich sicher, keinem Hochstapler oder Halunken auf den Leim zu gehen. Dort weiß der Mann, dass es sich gehört, am Sonntagmorgen gutgekleidet und pünktlich beim Gottesdienst zu sein. Und dass man seine Frau und seine Kinder anständig behandelt.

    Die Geschichte klingt romantisch, verklärt aber nichts. Nüchtern beschreibt der Ökonom die Angebotsseite der Religion als eine »Plattform«, die Menschen zum gegenseitigen Nutzen zusammenbringt. Die Kirche erfüllt dieselbe Funktion wie Tinder, aber sie leistet zugleich mehr: geschaffen wird ein Raum sozialer Zugehörigkeit. Die Gläubigen sind nicht nur »Konsumenten« auf der Plattform, die vom kirchlichen Angebot profitieren. Sie sind aktiv an der Herstellung und Weitergabe dieses Angebots beteiligt. Und sie zahlen für ein Gut, zu dem nur die Mitglieder der Kirche Zugang haben.

    Theologie ist weniger wichtig

    Mich überzeugt diese ökonomische Beschreibung der Religion. Der Inhalt des Glaubens, gar die theologische Lehre, ist zweitrangig, häufig sogar eher ein »Marketingnachteil«. Zwar sagen 31 Prozent der amerikanischen Katholiken, sie glauben an die Lehre der »Transsubstantiation«. Doch niemand verlangt von ihnen, dass sie sagen können, dass und wie die Hostie sich im Drama der Heiligen Messe in den Leib Christi wandelt. Die Beschlüsse der Konzilien der alten Kirche über die knifflige Beziehung zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist in der Trinität brauchen auch die meisten heutigen Theologen nicht mehr zu verstehen. Der Marketingnachteil wandelt sich gleichwohl in einen Vorteil der Zugehörigkeit und der Abgrenzung: Wir, die wir hier zusammenkommen, glauben Sachen, die unsre Umwelt nicht teilt. Viel überzeugender als theologische Glaubensinhalte sind ohnehin eher die packenden Erzählungen von Weihnachten, Exodus oder Kreuzigung. Zudem brauche es ein kirchliches Personal, das diese Erzählungen im Gottesdienst lebendig vorzutragen versteht.

    Lässt sich aus der politischen Ökonomie der Religionen eine Lehre ziehen, wie die christlichen Kirchen Europas wieder auf die Beine kommen? Eher nein. Die religiöse Plattform lebt mehr als die säkularen Plattformen vom Vertrauen der Nachfrager in das Personal der Plattform. Ist dieses erst einmal zerstört, kommt es nicht so schnell wieder zurück. Die enge politische und fiskalische Bindung der christlichen Kirchen an den deutschen Staat samt vieler Privilegien helfen auch nichts. Im Gegenteil. Durch den Staat gestützte, quasi monopolistische kirchliche Macht macht träge – wie alle geliehene Macht. Da geht es den hiesigen Kirchen nicht anders als dem von Uber attackierten Taxigewerbe. Mehr und nicht weniger Wettbewerb, eine radikale Trennung vom Staatskirchenrecht, wäre die Empfehlung des Ökonomen für die Rückgewinnung von kirchlicher Innovation. Wer glaubt, dass es so kommt, wird selig.

    Rainer Hank