Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
02. Januar 2025Das Evangelium nach Peter Thiel
02. Januar 2025Wer die Wahl hat
04. Dezember 2024Ein Hoch auf Pharma
04. Dezember 2024Mit Unsicherheit leben
15. November 2024Zwangsarbeit
05. November 2024Totaler Irrsinn
18. Oktober 2024Arme Männer
14. Oktober 2024Christlicher Patriotismus
08. Oktober 2024Im Paradies der Damen
28. September 2024Von der Freiheit träumen
05. Juli 2022
Pack die Badehose einÜber das Schwimmbad als klassenlose Gesellschaft
In seinem legendären »Fragebogen« von 1966 stellt der Schriftsteller Max Frisch diese Frage: »Wenn Sie einen Menschen in der Badehose treffen und nichts von seinen Lebensverhältnissen wissen: Woran erkennen Sie den Reichen?«
Ein beliebtes Gesellschaftsspiel – bis heute auch in vielen Blogs – ist es, auf Frischs Frage Antworten zu sammeln. Es fällt auf, dass der eigentlich naheliegende Einfall, man könne einem nackten Körper nicht ansehen, ob der Mensch arm oder reich sei, von kaum jemandem in Betracht gezogen wird. Stattdessen gibt es an vorderster Stelle Mutmaßungen über einen »gepflegten und gelifteten Körper«, der Rückschlüsse auf das Vermögen von Frauen und Männern zulasse. Andere wollen den »Yachtschlüssel am Handgelenk« als Reichtumsindikator bemerkt haben. Wieder andere meinen, der Badehosen-Mensch müsse misanthropisch sein, übellaunig, weil »Leute, die Kohle haben, immer meckern«.
Vergangene Woche waren wir seit ewigen Zeiten mal wieder in einem Freibad. Was soll man bei so einer Hitze sonst machen? Das Bad heißt »Rheinuferpark« und liegt in Gailingen am Hochrhein, grob gesagt auf halber Strecke zwischen Bodensee und Schaffhausen. Auf der gegenüberliegenden Rheinseite in Diessenhofen ist Schweiz; da gibt es auch ein Freibad, das »Rhybadi« heißt. In den beiden Strandbädern, die zusammengehören, ist alles vom Feinsten: Saubere Umkleidekabinen und sanitäre Anlagen, Spielplätze und Planschbecken für die Kleinen, dazu ein schattiger Biergarten. Weil der Hochrhein ordentlich Strömung hat, braucht man sich mit leichten Schwimmbewegungen einfach nur flussabwärts treiben lassen, ein Mordsvergnügen, nahezu anstrengungslos. Eintrittsgebühren werden im Rheinuferpark nicht verlangt: wir waren sozusagen Gäste der Kommune – sehr großzügig, wie ich fand. Vielen Dank an dieser Stelle.So ein Badenachmittag weckt Jugenderinnerungen ans Stuttgarter Inselbad. Bilder, Geräusche, Gerüche: Das ausgelassene Kreischen der Kinder oder das Platschen beim Aufprall des Körpers vom Fünferturm. Das chlorige Wasser, die Pommes, das »Fürst Pückler-Eis« (Erdbeere, Vanille, Schokolade) – und die neugierigen Blicke der Mädchen, die sich mit meinen Blicken nicht kreuzen wollten. Die Schönheit der jungen Körpers brauchte man damals noch nicht mit Tattoos bedecken.
Immer schon war das Schwimmbad ein Sehnsuchtsort. Dort mischen sich Klassen und Berufsschichten, kreuzen sich kulturelle Milieus und soziale Kreise, notierte der philosophische Flaneur Siegfried Kracauer im Oktober 1932. Die »ähnliche Kleidung« verstärke den Eindruck der »Homogenität«. In der Badeanstalt vermöge niemand »sofort zu erraten, dass die Gäste allen möglichen Schichten und Parteien entstammen, niemand kann auf den ersten und auch zweiten Blick hin den Studenten vom Arbeiter unterscheiden«. Eine intime Anonymität erlaube es, »einander ausgiebig beobachten zu können«.
Wer einen Pool hat, braucht kein Schwimmbad, oder?
Max Frisch übrigens kannte sich mit Badeanstalten aus. In seinem Erstberuf als Architekt hatte er in den Jahren 1947 bis 1949 das Züricher Freibad »Letzigraben« erbaut. Ob ihn Kracauers Utopie – besser sollte man sagen »Idylle« – der »klassenlosen Badegesellschaft« überzeugt hätte, glaube ich nicht. Dabei kannte der Schweizer Dichter noch gar nicht die Berichte von den gewaltsamen Übergriffen in den deutschen Multikulti-Bädern: Nachrichten von Schlägereien und Attacken gegen Bademeister rufen inzwischen private Sicherheitsdienste (»Schwimmbadpolizei«) auf den Plan. Klassenlosen Kommunismus stelle ich mir anders vor.
So etwas mögen die Reichen nicht. Ob sie wirklich in ein öffentliches Freibad kommen? Wofür haben sie sich in ihren Gärten die aufwändigen Infinity-Pools bauen lassen. Wenn mein Blick mich nicht täuscht, befanden sich unter den Sonnenbadenden am Gailinger Rheinufer verschwindend wenige Millionäre. Wir erkennen im Schwimmbad den Reichen in der Badehose deshalb nicht, weil es im Schwimmbad keinen Reichen gibt.
Deutschland ist im internationalen Vergleich ein Eldorado der öffentlichen Schwimmgelegenheiten: Das ist die Frucht des Wirtschaftswunders. Im Jahr 1961 stellte ein »Verein von Freunden und Förderern des Sports« ein Programm zum Bau von »Stätten der Gesundheit, des Spiels und der Erholung« vor: In nur zehn Jahren wurden fast 3000 neue Frei- und Hallenbäder errichtet. Später kamen die großzügigen Spaßbäder in den neuen Bundesländern hinzu, wo es besonders luftig zugeht: In Brandenburg teilen sich 62 000 Bürger ein Schwimmbad; im Saarland sind es 142 000 auf gleichem Raum. Der Höhepunkt der Schwimmbadkonjunktur war um die Jahrtausendwende erreicht, als man in Deutschland über 6700 öffentliche Badeanstalten zählte.
Seither macht das Schlagwort vom »Bädersterben« die Runde. Til van Rahden, ein im kanadischen Montréal lehrender deutscher Historiker, dem ich auch den Hinweis auf Siegfried Kracauer verdanke, nahm kürzlich auf einer Konferenz in Mainz den Niedergang der Bäder zum Anlass, den Untergang der Demokratie als Lebensform auszurufen. Wehmütig rekonstruierte der Wissenschaftler den Tod des Offenbacher »Parkbades« – 1962 eröffnet, 1992 musste es wegen hoher städtischer Schulden einem Nobelhotel (was man darunter in Offenbach halt so versteht) weichen. Für Til van Rahden ist die »Offenbacher Bädertragödie« Symbol eines abhanden gekommenen demokratischen Gemeinsinns, was zur Folge habe, dass soziale und kulturelle Bindungen schleichend erodieren. Dies alles, weil die betuchten Bürger sich ihrer Pflicht zur Finanzierung der »demokratischen Allmende« verweigerten.
Egoistischer Altruismus
Statt zu klagen, dass die Reichen sich aus dem Staub machen, könnte man auch fragen, warum sie sich (durch die Steuerprogression bedingt) überhaupt an der Schwimmbad-Finanzierung beteiligen sollen, wo sie doch dank eigener Infinity-Pools davon gar keinen Nutzen haben. Dazu gibt es eine gute Begründung: Die von den Reichen überdurchschnittliche frequentierten städtischen Opern werden auch von den ärmeren Bürgern finanziert, die man bekanntlich dort eher selten trifft. Und: Die Reichen müssten ein egoistisches Interesse am Erhalt des sozialen Friedens haben. Wird dieser gestört, wären sie genötigt, wie in Amerika ihre Villen mit hohen Zäumen und privaten Sicherheitsdiensten schützen zu lassen, was mutmaßlich teurer käme als kommunale Schwimmbäder solidarisch mitzufinanzieren.
Doch keine Sorge. Das sogenannte Bädersterben gibt es zwar, es beläuft sich aber auf noch nicht einmal zehn Prozent binnen zwanzig Jahren. Immer noch gibt es hierzulande über 6000 öffentliche Bäder; und es kommen neue hinzu – siehe Gailingen am Hochrhein. Kein Grund also, das Siechtum der öffentlichen Daseinsvorsorge zu beklagen.
Rainer Hank
14. Juni 2022
Wann wirken Sanktionen wirklich?Ein Blick in die Geschichte der Wirtschaftskriege
Lassen sich Kriege ein für alle Mal aus der Weltgeschichte verbannen? Bislang ist das nicht gelungen. Allemal stehen sich nach großen Kriegen Realisten und Utopisten gegenüber. Die Realisten verhöhnten die Pazifisten als Illusionisten. Die Utopisten beschimpfen die Realisten als Zyniker, die nicht bereit sind, aus der Geschichte zu lernen und die Menschheit vor Leid und Zerstörung zu bewahren.
Wenn wir Kinder der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit an Pazifisten denken, denken wir an die Friedensbewegung, an Ostermärsche und den Kampf in den achtziger Jahren gegen den Nato-Nachrüstungsbeschluss. Doch es gab schon einmal, vor hundert Jahren, eine ganz andere Welt-Friedensbewegung: Deren Utopie bestand darin, militärische durch wirtschaftliche Waffen zu ersetzen. Diese Bewegung war davon überzeugt, dass es niemals gelingen würde, Konflikte zwischen Staaten gänzlich zu vermeiden. Und sie wusste, dass Verhandlungslösungen ohne Druckmittel wirkungslos blieben. Aber sie war der Ansucht, dass es humaner sei, einander mit wirtschaftlichen Waffen zu bekämpfen anstatt mit Panzern, Raketen und Kanonen. In den Worten eines britischen Bürokraten im Ersten Weltkrieg: »Bleistifte sind sauberere Instrumente als Bajonette«. Händler, Bankiers und Anwälte sollten die archaischen Krieger der Moderne ablösen; die Idee des Handelskriegs fußte auf dem Glauben des Wirtschaftsliberalismus im 19. Jahrhundert.
Das Produkt dieser »Friedensbewegung« war die Gründung des »Völkerbunds« am 10. Januar 1920. Die Gründungsstaaten glaubten, sie hätten ein neues und wirkmächtiges Zwangsmittel an der Hand, um künftige Kriege sogar zu verhindern. Wie nach dem Zweiten Weltkrieg die Strategie nuklearer Abschreckung (»Gleichgewicht des Schreckens«), so hegte der Völkerbund die Erwartung, allein die Androhung wirtschaftlicher Sanktionen würde potenzielle Aggressoren davon abhalten, andere Länder militärisch zu überfallen.
Das Druckmittel, dass der Völkerbund in das internationale Recht einführte, hieß »Sanktionen«. Nicht zuletzt ging es um Rohstoffe, vor allem Kohle und Öl, aber auch um den Entzug von Finanzmitteln. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson nannte Sanktionen im Jahr 1919 »etwas viel Ungeheuerlicheres als ein Krieg«. Denn die Bedrohung läge in der »absoluten Isolation« der Aggressoren, die dazu führe, dass ihnen recht bald jegliche militärische Kampfeskraft fehlen würde. Wirtschaftssanktionen, richtig angewandt, würden gewaltsame Kriege überflüssig machen, meinte Wilson. Eine Wirtschaftsarmee (»l’armee économique«) könnte eine militärische Armee ersetzen. Der grausame militärische Krieg sollte durch die Verwandlung in den Handelskrieg humanisiert werden.Wirtschaftssanktionen kosten viele Menschenleben
So unschuldig friedlich, wie Wilson meinte, war der Wirtschaftskrieg freilich nicht. Im Gegenteil. Das kann man der kürzlich erschienenen Studie des niederländischen Historikers Nicholas Mulder über Hoffnung und Scheitern der Wirtschaftssanktionen im 20. Jahrhundert entnehmen. Wirtschaftskriege, so der an der amerikanischen Cornell-Universität lehrende Forscher, hatten häufig sogar mehr Tote zur Folge als Militärschläge, weil viele »unschuldige« Menschen jämmerlich verhungern oder lebenslang an den Folgen der Unterernährung und Auszehrung leiden. 300 000 bis 400 000 Menschen hätten im Ersten Weltkrieg in Zentraleuropa ihr Leben verloren als Folge von Boykott und Sanktionen (hinzu kommen 500 000 durch Sanktionen um Leben gekommene Menschen im Osmanischen Reich), insgesamt eine weitaus größere Zahl verglichen mit jenen Toten, die durch Luftangriffe oder den Gaskrieg umkamen, schätzen die Historiker. Ein sauberer Krieg ist auch der Wirtschaftskrieg nicht. Der britische Ökonom John Maynard Keynes hatte früh vor wirtschaftlichen Strafaktionen gewarnt, von denen Freund und Feind betroffen wären und stattdessen dafür plädiert, »positive« Wirtschaftssanktionen, Hilfen zur Unterstützung der Opfer völkerrechtswidriger Aggression in Erwägung zu ziehen.
Hundert Jahre später sehen wir, dass die Hoffnungen von damals sich nicht erfüllt haben, der Wirtschaftskrieg könne den militärischen Krieg ablösen. Woran das liegt? Mulder bietet ein Bündel von Gründen an. Die bloße Androhung von Wirtschaftssanktionen entfalte einerseits ihre abschreckende Wirkung, führe aber als eine Art »unintendiertem Effekt« dazu, dass aggressive Diktatoren (Hitler oder Mussolini) sich wirtschaftlich autark zu machen suchten. »Blockadefestigkeit«, eine Art Resilienz gegen den Wirtschaftskrieg, so lautete das erklärte Ziel der Nationalsozialisten. Gerade der durchschlagende Erfolg der britischen Finanz- und Handelsblockade gegen Deutschland im Ersten Weltkrieg führte dazu, dass Hitlerdeutschland sich vorbereiten und mit dem Aufbau einer Autarkiewirtschaft reagieren konnten.
Hinzu kommt: Die Sanktionen wurden vielfach nicht allumfassend, hart und konsequent genug umgesetzt. Die Sanktionen der Völkergemeinschaft gegen Italien im sogenannten Abessinien Krieg (1935 bis 1941) – ein völkerrechtswidriger und besonders grausamer Krieg gegen Äthiopien und eigentlich einer der Erfolge der Embargopolitik des Völkerbunds – scheiterten daran, dass der Völkerbund sich nicht durchringen wollte, ein Öl-Embargo durchzusetzen. Kommt uns das bekannt vor? »Hätte der Völkerbund ihm das Öl abgestellt, wäre das eine Katastrophe gewesen«, soll Mussolini im Gespräch mit Hitler gesagt haben. Wenn überhaupt, haben Sanktionen gegen kleine Staaten Wirkung gezeigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es dann zwar immer mehr Sanktionsresolutionen als vor dem Krieg, freilich mit ständig nachlassender Wirkung.
Lässt sich aus der Geschichte des Wirtschaftskrieges im 20. Jahrhundert etwas für den Ukrainekrieg im 21. Jahrhundert lernen? In aller Vorsicht vielleicht dies: Vieles hängt am Boykott von russischem Gas und Öl. Der Westen hätte sich früher dazu durchringen sollen. Das scheiterte bekanntlich nicht nur, aber maßgeblich an Deutschland. Ein Erfolg des Energie-Boykotts wäre besonders durchschlagend, würden sich alle, also auch Indien, China und Afrika beteiligen. Das ist illusorisch, darf aber kein Grund dafür sein, dass der Westen sich rausmogelt oder wochenlang weiterdiskutiert. Dass die EU jetzt ein Öl-Embargo beschlossen hat, ist gut. Dass es erst in sechs Monaten greift, ist weniger gut.
Niemand sollte sich einreden, Wirtschaftssanktionen seien »milde« Waffen. Sie treffen vor allem die Zivilbevölkerung im Land des Aggressors – aber um deren Leid scheint Putin sich wenig zu scheren. Wirtschaftssanktionen treffen auch die Menschen im Land der Boykotteure. Wer den Wirtschaftskrieg will, muss wissen, dass er Wohlstandsverluste, Hunger und Tod vieler Menschen in Kauf nimmt. Anders als Woodrow Wilson hoffte, lässt sich der militärische Krieg nicht komplett durch den Wirtschaftskrieg substituieren. Russlands Krieg zeigt eben auch die Grenzen von Sanktionen.Rainer Hank
14. Juni 2022
Wer hat noch Burnout?Vom Kommen und Gehen einer Volkskrankheit
»Leidet eigentlich noch jemand an Burnout?«, frug mich kürzlich ein Freund: »Man hört gar nichts mehr.« Ich versprach ihm zu recherchieren.
Die kurze Antwort: Der Eindruck ist richtig. Burnout scheint auf dem Rückzug zu sein. Damit ist indes noch nicht viel gewonnen. Denn, was heißt das? Es könnte tatsächlich bedeuten, dass weniger Menschen an Burnout erkranken, weil wir insgesamt »resilienter« geworden sind. Es könnte auch sein, dass immer noch viele oder sogar mehr Menschen an Burnout leiden, aber die Ärzte die Diagnose Burnout weniger häufig stellen oder einen anderen, modischeren Begriff gefunden haben. Schließlich könnte es sein, dass die öffentliche Aufmerksamkeit, die bekanntlich sehr volatil ist, keine Lust mehr hat, sich um Burnout zu kümmern.
Also der Reihe nach. Erst einmal eine Definition und ein bisschen Statistik. »Burnout« (»Ausgebrannt«) wird von der Weltgesundheitsorganisation definiert als »Stress am Arbeitsplatz, den die Beschäftigten nicht erfolgreich verarbeiten können«. Symptome sind Energielosigkeit und Erschöpfung, eine zunehmende geistige Distanz, negative Haltung oder Zynismus zum eigenen Job sowie ein verringertes berufliches Leistungsvermögen. Offiziell gibt es die Diagnose im medizinischen Klassifikationssystem erst seit kurzem. Das Leiden selbst, so dünkt es mich, ist dagegen uralt.
Google-nGram-Viewer, eine Suchmaschine, die Unmengen von Daten digitalisierten Bücher durchkämmt und die ich gerne nutze, stellt für deutsche Texte einen Burnout-Höhepunkt im Jahr 2011 fest. Vor 1980 kommt der Begriff praktisch nicht vor; da sprach man wohl eher von Depression. Den steilsten Burnout-Anstieg sehen wir in den Jahren 2000 bis 2011, seither zeigt die Kurve wieder nach unten. Das Ergebnis deckt sich mit Daten der deutschen Betriebskrankenkassen, die ebenfalls einen Höchststand für das Jahr 2011 melden. Seit zehn Jahren nehmen die Fallzahlen ab.
Neben den statistischen gibt es literarische Indizien. Die Selbsterfahrungsliteratur, wo mehr oder minder Prominente ihr Burnout wahlweise pädagogisch oder exhibitionistisch beschreiben, scheint ebenfalls abzunehmen. Entweder schwindet der Mitteilungsdrang der von Burnout Betroffenen oder die Verlage sehen für das Thema keinen Markt mehr. Der Höhepunkt lag auch hier vor gut zehn Jahren. Damals, 2010, erschien zum Beispiel das Buch »Brief an mein Leben« der Publizistin (Uni-Professorin, Staatssekretärin, Wirtschaftswoche-Herausgeberin) Miriam Meckel. Meckels Bekenntnisschrift ist typisch für das Genre. Eine bekannte Frau, ehrgeizig, erfolgreich in jungen Jahren, spricht darüber, wie sie an ihrem eigenen und dem ihr von »der Gesellschaft« vorgegebenen Perfektionismus zerbricht: »Ich war fünfzehn Jahre um die Welt gereist, hatte gearbeitet, geredet, geschrieben, akquiriert, repräsentiert, bis der Arzt kam. Ich habe keine Grenzen gesetzt, mir selbst nicht und auch nicht meiner Umwelt, die zuweilen viel verlangt, mich ausgesaugt hat wie ein Blutegel seinen Wirt. Und das meiste von dem, was ich gemacht habe, hat mir tatsächlich Freude gemacht. Aber ich habe in alldem nicht die aristotelische Mitte finden können zwischen dem ‚Zuviel› und dem ‚Zuwenig›. Nun war ich plötzlich stillgelegt.« Es folgt ein Bekehrungserlebnis im Stil von Rilkes »Du musst Dein Leben ändern« und die Beteuerung, jetzt viel näher bei sich selbst zu sein. Dass alles sogleich wieder in einen Bestseller münden musste, spricht dafür, das Leistungsanspruch und Erfolgsdruck nicht gänzlich gewichen sein können.
Macht der Kapitalismus krank?
Wie also kam es zur rasanten Karriere des Burnouts und ihrem abruptem Ende? Eine beliebte Erklärung stammt von dem Soziologen Hartmut Rosa. Sie geht so: Der Kapitalismus befördert Verhältnisse, unter denen Burnout oder Depressionen zunehmen. Der Kapitalismus mache krank. »Wir haben es mit einer Form von Entfremdung zu tun; ein gutes Leben gelingt nur schwerlich unter diesen Bedingungen.« Burnout sei die Krankheit einer Gesellschaft, deren Verhaltensnormen nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründen, sondern auf Verantwortung und Initiative – und daraus resultiere die krank machende Überforderung.
Die These, wonach der Kapitalismus an Burnout schuld sei, weil die äußeren Lebens- und Arbeitsbedingungen auch das Innere der Menschen zersetzen, hat für viele eine Plausibilität. Nimmt man sie beim Wort, müsste der Kapitalismus in Deutschland in den Neunziger- und Nullerjahren besonders schlimm gewütet haben, während wir in der letzten Dekade eine gewisse Entspannung und Abkehr vom Turbokapitalismus sehen müssten. Davon kann keine Rede sein. Im Gegenteil: In den Nullerjahren hatten wir dank der Agenda-Reformen der rot-grünen Schröder-Regierung weniger Arbeitslose. Das Wirtschaftswachstum war trotz Finanzkriseneinbruch 2009 insgesamt robuster als im folgenden Jahrzehnt und die Ungleichheit der Einkommen (»die Schere«), die vielen Kritikern als Beweis für den schlimmer werdenden Kapitalismus gilt, weitet sich seit 2005 nicht mehr. Zugenommen haben stattdessen die Realeinkommen der Arbeitnehmer, nicht zuletzt, weil keine Inflation zu verzeichnen war. Es bleibt der paradoxe Befund, dass just zu einer Zeit mit signifikant mehr Burnout-Fällen der Kapitalismus sich relativ von seiner Schokoladenseite zeigte.
Das bestätigt die These des Frankfurter Soziologen Martin Dornes, wonach die Burnout-Zahlen keine Zunahme der Krankheit, sondern eine Zunahme ihrer Diagnose spiegeln. »In der Wirklichkeit hat sich die Häufigkeit seelischer Erkrankungen kaum geändert«, schreibt Dornes: »Was sich dagegen geändert hat, ist unsere Sensibilität und Aufmerksamkeit dafür, sowie die Bereitschaft, vormals undiagnostiziertes Leid in medizinische Diagnosen zu überführen.«
Die Behauptung, dass die Zunahme der Burnout-Diagnosen mit der krank machenden Entfremdung und Beschleunigung des Kapitalismus zu tun hat, könnte viel eher eine indirekte Folge des Umstands sein, dass zu Anfang der Nullerjahre Bücher auf den Markt kamen, die dem Kapitalismus die Schuld an Burnout gaben, wenngleich ohne Beleg, quasi ein Nebeneffekt soziologischer Prosa. Neben Hartmut Rosas Beschleunigungsbuch ist vor allem der Bestseller »Das erschöpfte Selbst« (1999) des französischen Soziologen Alain Ehrenberg zu nennen.
Und heute? Heute stehen ganz offensichtlich andere Sorgen im Vordergrund. In der Pandemie konnte man ohnehin nur an Covid erkranken, oder? Und es war die quälende Erfahrung der Einsamkeit im Homeoffice, die vielen zu schaffen machte – und nicht die Erschöpfung von der Arbeit und ihren unerträglichen Anforderungen. Und jetzt ist es die Angst vor einem Atomkrieg und das Erschrecken über die brutale Aggression Putins, der über Leichen geht, die auf die Seele drückt.
So war es schon einmal. Um die Jahrhundertwende 1900 sprach man nicht von »Burnout«, sondern von »Neurasthenie«. Nach 1914 war von Neurasthenie nicht mehr die Rede.
Rainer Hank
28. Mai 2022
SystemkollapsAuch ganze Zivilisationen können scheitern.
Die Warnung des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist deutlich: Zu rechnen sei mit wirtschaftlicher Stagnation, verbunden mit weltweiter Inflation. Schlimmer noch: Es droht die internationale Ordnung zusammenzubrechen, auf die 75 Jahre lang Verlass war. Diese Ordnung gründete auf Regeln, an die sich Staaten und ihre Wirtschaftsakteure halten, weil es ihnen zum Vorteil gereicht. Die globale Arbeitsteilung fußt auf grenzüberschreitendem Handel, sie lebt vom Bekenntnis zur (sozialen) Marktwirtschaft und weiß, dass Zölle und andere Handelsschranken den Wohlstand schmälern. Man kann dies das Grundgesetz der Globalisierung nennen, die seit der Konferenz von Bretton Woods 1944 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs viele Menschen aus der Armut befreit hat und ihnen Frieden und Freiheit brachte. Weltkriege, so lautete die gemeinsame Überzeugung, bedrohen Freiheit und Wohlstand und werden geächtet.
Die »Zeitenwende«, die wir gerade erleben, hebt diese Ordnung aus den Angeln: Wir leben an der Schwelle von einer regelbasierten zu einer machtzentrierten Weltordnung. Käme es so, wäre dies der Kipppunkt eines zivilisatorischen Rückfalls, der aus der Postmoderne direkt in die Archaik führte.
Freunde des Fortschritts mögen sich nicht vorstellen, dass solch ein Rückfall möglich werden könnte. Nicht nur, weil dies aller Rationalität widerspricht, sondern auch, weil die meisten Menschen heutzutage in ihrem Leben stets eine Entwicklung zum Besseren erlebt haben.
Nun wissen wir aus dem Schulunterricht, dass Untergänge vorkommen: 1914 brach eine liberale europäische Friedensordnung zusammen; es folgte ein kriegerisches 20. Jahrhundert. Das britische und das römische Imperium kollabierten, obwohl Generationen von Briten und Römern sich das vermutlich niemals hätten vorstellen können (und wollen).
Der Untergang Mykenes
Über die Ostertage war ich in Mykene – gelegen im Osten der griechischen Peloponnes in einer kargen, hügeligen Landschaft. Mykene – wir erinnern uns auch hier an den Schulunterricht – war nach Troia der zweite große Coup, den der deutsche Abenteurer Heinrich Schliemann (1822 bis 1890) landete. Im Jahr 1876 hatte er, ein glühender Verehrer Homers, in Mykene das Grab des Agamemnon entdeckt und nach erfolgreichen Grabungen riesige Schätze von Gold und Edelmetallen geborgen.
Dass Schliemann tatsächlich das Grab des homerischen Helden entdeckt hat, wird von den Gelehrten bestritten. Doch das ist nicht mein Thema. Mich fasziniert seit dem österlichen Rundgang durch Mykene nicht nur die globale Zivilisation zwischen 1500 und 11000 vor Christus, sondern mehr noch die Frage, warum diese globale Zivilisation plötzlich und gleich weltweit untergegangen ist. Als mykenische Kultur bezeichnen die Altertumsforscher die mediterrane Welt des Bronzezeitalters, welche die gesamte Levante-Küste umspannte: also nicht nur die Peloponnes, sondern auch die Ägäis, Kreta, Zypern, die heutige Türkei, den Libanon, Palästina und Ägypten. Überall gab es mächtige Paläste, die miteinander durch Handelsrouten verbunden waren. Eine Welt, die man als globale Gesellschaft beschreiben kann. Schon damals war die Peloponnes überzogen mit Millionen von Olivenbäumen. Das daraus gewonnene Öl wurde in großen Kannen bis nach Ägypten exportiert. Sogar eine eigene Schrift gab es in Mykene, welche die Forscher Linear-B-Schrift nennen und als eine Variante des Altgriechischen entziffern.
Um das Jahr 1200 v. Chr. kollabierte diese Kultur weltweit, allüberall. Erst 500 Jahre später kam es abermals zu einer kulturellen und wirtschaftlichen Blüte in der Region. Dazwischen liegen »dunkle Jahrhunderte«, wo die die Menschen vergessen zu haben schienen, was sie einmal gekonnt hatten. Sogar die Schrift war ihnen abhandengekommen.
Was war passiert? Die Forscher rätseln. Hypothesen sind in Umlauf. »Seevölker«, vermutlich Piraten, hatten die Städte überfallen und geplündert. Erdbeben, so meinen andere, waren eine Hauptursache des Niedergangs. Wieder andere verweisen auf den Klimawandel: Es gab eine globale Abkühlung verbunden mit längeren Dürreperioden oder großen Niederschlägen, was Hungersnöte nach sich zog. Schließlich könnten die sozialen Spannungen zugenommen haben, was zu revolutionären Aufständen geführt hätte.
Was stimmt? Eine inspirierende – und beängstigende – Deutung vertritt der amerikanische Archäologe Eric H. Cline. Er spricht von einem »Systemkollaps«, verursacht durch unterschiedliche Faktoren, die einen Dominoeffekt auslösten: »Es war eben nicht die Invasion der Seevölker, es war nicht die Serie von Erdbeben in Griechenland, es waren nicht die Dürren, die ganze Regionen unbewohnbar machten – es war vielmehr eine Verkettung von Katastrophen.« Kein einzelnes Ereignis hätte die Katastrophe auszulösen vermocht, die Gleichzeitigkeit aller Faktoren indes ergab einen »Multiplikatoreffekt«, welcher die gesamte Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft kollabieren ließ.Optimismus ist Pflicht
Ein Beispiel für diesen Dominoeffekt stammt von der britischen Historikerin Carol Bell. Zinn war in der späten Bronzezeit strategisch ähnlich bedeutend wie heute das Rohöl. Man brauchte es neben Kupfer zur Legierung von Bronze – nicht zuletzt also zur Herstellung von Waffen. Der Handel mit Zinn befand sich weltweit in der Hand von wenigen »Oligarchen« (Carol Bell nennt sie wirklich so) in der Stadt Ugarit im Nordwesten des heutigen Syriens. Die Verfügbarkeit von Zinn müsse für die Herrscher in Mykene oder die Pharaonen in Ägypten ähnlich essenziell gewesen sein wie Benzin für heutige Autofahrer oder Diesel für Containerschiffe, meint Bell. Zinn kam aus den Minen Afghanistans bis nach Mesopotamien im heutigen Irak und wurde von Ugarit aus weiter nach Norden, Süden und Westen, also auch bis auf die Peloponnes transportiert. Ein Überfall von »Seevölkern« in Ugarit verbunden mit der Entmachtung der Eliten (der »Zinn-Oligarchen«) hätte somit die gesamte Waffenproduktion in der Levante getroffen und die Verteidigung der Palastkultur geschwächt.
Es ist diese Idee des »Systemkollapses«, die einen heute frösteln lässt. Hat nicht schon Corona die Lieferketten der industriellen Fertigung unterbrochen, Autarkiefantasien aufkommen lassen und die Globalisierung zur »Slowbalisierung« dezimiert? Zwingt uns nicht der Klimawandel zum Verzicht auf fossil generiertes Wachstum – während die Kompensation durch regenerativ erzeugtes Wachstum noch in weiter Ferne ist? Jetzt kommt auch noch der verbrecherische Krieg Russlands dazu, der die Welt in Blöcke spaltet – und angesichts ausbleibender Getreidelieferungen Hungersnöte in Afrika verursacht. So muss man sich Domino-Effekte vorstellen.
Ich verbiete mir weitere Ableitungen – denn eigentlich habe ich mich auf das Motto des liberalen Philosophen Karl Popper verpflichtet: »Optimismus ist Pflicht.«
Rainer Hank
28. Mai 2022
Wenn Männer schwanger werdenWie aus guten Einfällen große Ideen werden
Wenn man 1000 Männer auf eine Schwangerschaft testet mit einem Test, der 99 Prozent Spezifizität hat (vergleichbar einem Corona-Antigentest), dann werden zehn Testergebnisse am Ende positiv sein. Wenn man eine Million Männer testet, sind es schon 10 000. Glaubt man den Testergebnissen, müssten wir eine unerwartete Schwangerschaftsepidemie unter Männern diagnostizieren – womöglich ein erster Schritt auf dem Weg zur wahren Gleichberechtigung unter den Geschlechtern.
In Wirklichkeit – so viel Statistik haben wir seit Corona gelernt – handelt es sich hier um ein Phänomen, das wir »falsch positiv« nennen und das dadurch entsteht, dass es keinen Test vollkommener Güte (»Spezifizität«) gibt. Kurzum: wir werden uns an einen gewissen Prozentsatz schwangerer Männer gewöhnen müssen.Wie können wir uns dagegen wappnen, »falsch positiven« Effekten auf den Leim zu gehen? Auch das hat uns Corona gelehrt: durch Wiederholung (»Replikation«) des Tests. Am besten mit Tests anderer Hersteller. Unterbleiben solche von unabhängigen Instanzen replizierte Kontrollen, kann es ziemlich schnell teuer und schlimmstenfalls auch kriminell werden.
Als Beispiel können wir Elisabeth Holmes nehmen. Holmes, geboren 1984, war Geschäftsführerin des Laborunternehmens »Theranos«. Nach der Unternehmensgründung brach sie 2003 ihr Studium an der Stanford Universität ab und hielt später einen Anteil von 50 Prozent an dem Unternehmen. Das Time-Magazin zählte Holmes 2015 zu den hundert einflussreichsten Personen der Welt. Klug und charismatisch, wie sie war, galt sie als eine Art weiblicher Steve Jobs. Im selben Jahr kam heraus, dass ihr Kernprodukt – ein Blutschnelltest, der angeblich 240 Krankheiten nachweisen konnte – weitgehend unwirksam ist. Holmes wusste dies, verschwieg es aber. Ihr Vermögen wurde 2015 auf 4,5 Milliarden Dollar geschätzt – und im Jahr darauf mit Null bewertet. Die amerikanische Börsenaufsicht sprach von Betrug in großem Stil; Theranos wurde dicht gemacht. Am 3. Januar 2022 wurde Holmes in vier von elf Anklagepunkten schuldig gesprochen. Das Strafmaß soll am 12. September verkündet werden; theoretisch sind vier Mal 20 Jahre möglich.
Das Beispiel Theranos
Was hat Elisabeth Holmes mit der Falsch-Positiv-Falle zu tun? Mehr als man auf den ersten Blick denkt. Tatsächlich scheint bei dem Blutschnelltest eine unabhängige wiederholende Kontrolle seiner Wirksamkeit unterblieben zu sein. Blindes Vertrauen in die charismatische Großaktionärin verbunden mit Geldgier hatten alle Skepsis außer Kraft gesetzt. Die Tests wurden in großen Stückzahlen auf den Markt gebracht. Elisabeth Holmes, die von Kursgewinnen und Aktien-Optionen profitierte, hatte keine Anreize den Betrug einzugestehen, die Investoren im Bündnis mit ihr ebenso wenig.
Für John List, einen an der Universität Chicago lehrender Ökonomen, ist der Theranos-Krimi ein prominentes Beispiel dafür, wie gute Geschäftsideen scheitern können. Elisabeth Holmes wurde nicht als Kriminelle geboren. Sie verstrickte sich aber in lügnerischen Betrug, als sie zu spät erkennen musste, dann aber verbergen wollte, dass ihre Tests nicht taugen.
Es gibt tausend Gründe, warum gute Ideen scheitern können und ihnen der Erfolg verwehrt ist, sagt der Ökonom John A. List. Es hat sich dafür der Begriff »Anna-Karenina-Prinzip« eingebürgert nach dem berühmten Anfang von Tolstois Roman: »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.« Das erklärt zugleich, warum wir uns für die unglücklichen Geschichten – der Anna Karenina oder der Elisabeth Holmes – mehr interessieren als für die glücklichen, aber einander gleichenden Geschichten. Aus den Einzelfällen wird am Ende Literatur; Elisabeth Holmes hat es inzwischen zu einer Miniserie auf einem Streamingdienst gebracht.
Wann wird eine gute Idee erfolgreich? Lists Kriterium heißt »Skalierbarkeit«. Das hört sich kompliziert an, ist es aber nicht: »Skalieren« bedeutet, eine Erfindung hat auf eine große Gruppe von Menschen Einfluss – bringt ihnen Nutzen für ihr Leben und Profit für das Unternehmen, von dem sie stammt. Bei Theranos war der Nutzen frei erfunden. Erfolgreiche Skaleneffekte haben sowohl McDonalds oder Biontech wie auch die Bewegung »Friday for Future«. Der Klassiker ist Johannes Gutenbergs Erfindung des modernen Buchdrucks: Ein mit der Hand arbeitender Mönch benötigte für das Abschreiben einer Bibel ein ganzes Jahr; mit Gutenbergs Presse ließen sich in einem Jahr annähernd hundert Bibeln drucken. Ohne Gutenberg hätte Luthers Wiederentdeckung der biblischen Botschaft (»sola scriptura«) kaum Durchsetzungschancen gehabt.John Lill übrigens ist nicht nur Professor für Ökonomie an der Universität Chicago, sondern auch Chefökonom der Taxi-Plattform Lyft. Zuvor hatte er den gleichen Posten beim Konkurrenten Uber inne. In seinem neuen Buch »The Voltage Effekt« (»Der Spannungs-Effekt«) bringt er eine Fülle von Beispielen, warum eine Idee noch so phantastisch sein kann und sich trotzdem nicht durchsetzt – eben weil beim Versuch der Skalierung die Spannung abfällt vergleichbar der von Widerständen behinderten Elektrizität in einer Stromleitung. Lists Ideen gewinnen ihre Überzeugungskraft aus der Verbindung von Statistik, Big-Data-Analysen und Erkenntnissen der neuen Verhaltensökonomie. Es versteht sich, dass für den Lyft-Chefökonom Uber, Lyft & Co. Beispiele erfolgreicher Skalierbarkeit sind, die das Taxigewerbe weltweit revolutioniert haben.
Warum der Arch-Burger floppt
Am besten studiert man immer als erstes die Logik des Misslingens, um rechtzeitig zu erkennen, ob eine Idee das Potential der Skalierbarkeit in sich trägt. Mitte der neunziger Jahre ließ McDonalds von sorgfältig ausgewählten Testpersonen einen neuen Burger mit Namen »Arch Deluxe« entwickeln. Er enthielt raffinierte Zutaten und sollte etwas teurer werden als das normale Sortiment. Die Fokus-Gruppen im Test fanden Arch Deluxe großartig. Doch in den McDonalds-Filialen floppte der raffinierte Klops.
Was war schiefgelaufen? Jene Versuchspersonen, die sich zu den Tests bereit erklärt haben – so stellte es sich im Nachhinein heraus – mochten McDonalds immer schon sehr – allzu sehr. Sie kannten das ganze Sortiment und wollten mal was Neues probieren. Dass der durchschnittliche Kunde seinen Hamburger oder Cheeseburger wie gewohnt haben will und keinen Sinn für neumodische Experimente hat, kam dem Unternehmen nicht in den Sinn. Merke: Die schönsten Innovationen taugen nichts, wenn sie den Kunden kalt lassen.
Müssen alle guten Ideen skalierbar sein, um erfolgreich zu sein? Nein. Es gibt auch Ideen, die erfolgreich sind, weil sie nicht skalierbar sind. Wahre Stars sind einzigartig. Cecilia Bartoli, die Diva, kann man nicht skalieren. Bei einem Sterne-Koch ist es ähnlich. Da mag man nicht in einer Filiale sitzen, die seinen großen Namen trägt, aber vom Hilfskoch betrieben wird.
Rainer Hank