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  • 21. Dezember 2022
    Der liberale Kosmopolit

    Friedrich A. von Hayek (1899 – 1992) Foto: Chicago Univ. Press

    Dieser Artikel in der FAZ

    F.A. von Hayek: Ein exemplarisches Intellektuellenleben

    Wie erzählt man ein Leben? Man kann mit der Geburt beginnen. Oder besser noch mit der Zeugung. So macht es Laurence Sterne in seiner Erzählung von Leben und Ansichten des Tristram Shandy: »Ich wünschte, entweder mein Vater oder meine Mutter, oder fürwahr alle beide, hätten bedacht, was sie taten, als sie mich zeugten.« Und so nimmt das Leben Tristram Shandys leider »unbedacht« seinen Lauf, besser gesagt, der Roman kommt nie wirklich über den Zeugungsakt und seine Vorgeschichte hinaus.

    Ein Beginn mit der Zeugung, das geht nur in der Literatur. Bei Berühmtheiten aus dem wirklichen Leben müssen die Biografen sich etwas anderes einfallen lassen. Sie können zum Beispiel mit dem Ende beginnen. So macht es Friedrich Wilhelm Graf in seiner kürzlich erschienen Biografie des großen Gelehrten Ernst Troeltsch: Wir Leser versammeln uns am 3. Februar 1923 mittags um 12 Uhr in der Haupthalle des Krematoriums von Berlin-Wilmersdorf, lassen den Trauerzug der Gebildeten der Weimarer Republik und die Nachrufe an uns vorbeiziehen und wissen sogleich: Hier wird ein bedeutender Mann zu Grabe getragen, auf dessen Leben wir neugierig gemacht werden sollen.

    Im Vergleich mit Zeugung oder Begräbnis startet die neue Biografie des großen Ökonomen Friedrich August von Hayek, um den es in dieser Kolumne gehen soll, vergleichsweise konventionell: Die beiden Autoren Bruce Caldwell und Hansjoerg Klausinger setzen ein mit der Hochzeit von Hayeks Eltern August und Felicitas am 24. Mai 1898 in Wien. Knapp ein Jahr später, wie es sich im Bürgertum ziemt, kommt der Erstgeborne, Friedrich August von Hayek, zur Welt. Seine Mutter schreibt »Fritzerls Tagebuch« aus der Perspektive des Babys, Aufzeichnungen, die zur ersten Quelle der Biografen werden. Das Kind wächst im Fin-de-siècle-Wien auf, der letzten Phase eines Goldenen Zeitalters der Stabilität. Es folgt das »kurze 20. Jahrhundert« (Eric Hobsbawm): Unruhige Jahrzehnte mit Kriegen und Katastrophen – humanitär, politisch, ökonomisch. Und anmaßende Großversuche kollektiven Größenwahns (Nationalsozialismus und Kommunismus), die allesamt gescheitert sind.

    Vater der liberalen Revolution

    Hayek, er starb 1999 in Freiburg im Breisgau, hat dieses Jahrhundert in intellektueller Wachheit durchmessen: ein ökonomischer Denker, dessen Werk weit über das rein Ökonomische hinausragt. Krise und Depression der 20er und 30er Jahre, grauenhafter Krieg und Aufbau der Wohlfahrtsstaaten in den 50er und 60er Jahren und die abermalige Krise der Stagflation (so ähnlich wie heute) nach dem ersten Ölpreisschock in den siebziger Jahren lösten sich ab. Am Ende hat Hayek den Fall der Mauer und den Zerfall der Sowjetunion mit Genugtuung erlebt.

    Wenn es stimmt, dass wirtschaftliche und politische Zäsuren ihre intellektuellen Vordenker brauchen, dann kann die Wirkung Hayeks gar nicht überschätzt werden: Als geistiger Vater jener liberalen Revolution, die in den siebziger und achtziger Jahren in England (Margret Thatcher) und den USA (Ronald Reagan) den Staat von den Kommandohügeln stürzte und dem freien Markt seinen segensreichen Lauf ließ. Der Erfolg Hayeks hat seinen Preis: Bis heute gilt er als Gottseibeiuns des »Neoliberalismus«, der für fast alles verantwortlich gemacht wird, was dem Zeitgeist nicht passt. Die Jahre dieser politischen Wirkung, in der zugleich sein wichtiges Spätwerk (»Die Verfassung der Freiheit«, 1960) erschien und die gekrönt wurden vom Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, kommen in dem jetzt erschienenen ersten, 900 Seiten (!) starken Teil der Biografie noch gar nicht vor. Sie endet mit Hayeks populären Hauptwerk, dem »Weg zur Knechtschaft« von 1944 und seinem Wechsel von England in die Vereinigten Staaten 1950.

    Hayek, belegen seine Biografen, war stets zur rechten Zeit am rechten Ort. Die sogenannte österreichische Schule der Nationalökonomie, in der er akademisch groß wurde, bewahrte ihn davor, die sozialistischen Utopien seiner Jugend weiterzuverfolgen und bekehrte ihn zum Liberalismus. In den dreißiger Jahren im intellektuell quirligen Milieu an der »London School of Economics« entwickelte er eine Konjunkturtheorie, die den instabilen Zyklus von Auf- und Abschwung der Wirtschaft als Folge inflationärer Kreditausweitung durch die Zentralbanken erklärte. Billiges Geld führe zur Fehlallokation von Kapital und notwendig in die Rezession. Damit hatte Hayek sich frontal mit John Maynard Keynes angelegt, der Wirtschaftskrisen als Folge mangelnder Nachfrage erklärte. Die wirtschaftspolitischen Folgerungen, die Hayek und Keynes ziehen, unterscheidet sich dementsprechend diametral: Soll man die Nachfrage oder die Bedingungen des Angebots stärken? Beides wurde im Lauf des 20. Jahrhundert am lebenden staatlichen Organismus durchexerziert. Der Streit ist bis heute nicht entschieden: am unterhaltsamsten kann man ihn sich vergegenwärtigen in einem in der Finanzkrise 2008 berühmt gewordenen Rap-Song »Fear the Boom and Bust.« Hayek, der Melancholiker, und Keynes, der Sinnenfreund, kamen menschlich gar nicht schlecht miteinander aus. Intellektuell schenkten sie sich nichts: Als »grauenhaftes Käu« schmähte Keynes eines der Bücher Hayeks.

    Das Drama des Lebens

    Und das Private? Da ist bei Hayek nicht viel zu holen, wenngleich seine Biografen bestreiten, er sei ein zurückgezogener Eigenbrötler gewesen. In Gesellschaft, sofern sie geistiges Niveau hatte, habe er sich durchaus wohl gefühlt. Gleichwohl, enge Freunde hatte der Mann nur sehr wenige. Und ein Ehedrama überschattet alles: Nachdem Hayeks Jugendliebe, Helene Bitterlich, einen anderen Mann geheiratet hatte, entschied Hayek sich für eine andere Helene – Helene (»Helena«) von Fritsch –, die äußerlich der ersten Helene (»Lenerl«) ähnlich war. Innerlich blieb Hayeks Lenerl treu, deretwegen er sich 1949, seinem »annus horribilis«, scheiden ließ. Noch nie habe er einen Mann in solcher Verzweiflung gesehen, kommentierte Hayeks engster Freund Lionel Robbins, der ihm die Scheidung nie verzieh und sich abwandte.

    Wäre ich Verleger, ich würde jetzt eine zusammenhängend Monografie über die drei mutmaßlich wichtigsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts in Auftrag geben: Zu Hayek und Keynes träte Joseph A. Schumpeter, der aus demselben Wiener Milieu wie Hayek stammt, ebenfalls in den angelsächsischen Westen zog, sich aber akademisch ganz anders entwickelte. Die drei Herren, deren Bücher man ohne Kenntnis der höheren Mathematik lesen kann, vermessen das Feld der Ökonomie, das bis heute die Landkarte bestimmt. Sie lebten in einer Welt, in der Ökonomen sich zum Vorteil ihrer Leser nicht auf die Ökonomie bescheiden wollten.

    Rainer Hank