Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 28. Dezember 2021
    Wollen wir wirklich ewig leben?

    Gesund, schön. Und steinalt. Foto: pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wissenschaftlich gibt es keine Altersgrenze

    Auf die Frage, wie wir leben wollen, gab Michel de Montaigne die Antwort: »Habe keine Angst vor dem Tod.« Montaigne (1533 bis 1592), der mit Mitte dreißig das Richteramt quittiert und sich auf sein Schloss im Périgord zurückgezogen hatte, wusste, wovon er redet. Zuerst war sein bester Freund Étienne de La Boétie in jungen Jahren der Pest erlegen. Dann starb der Vater, wahrscheinlich an den Komplikationen einer Nierenkolik. Im folgenden Jahr verlor er seinen jüngeren Bruder bei einem Sportunfall. Und dann starben ihm auch vier seiner eigenen Kinder; lediglich eine Tochter erreichte das Erwachsenenalter.

    Dass wir »mitten im Leben vom Tod umfangen« sind, wie es in einem von Luther ins Deutsche übertragenen Kirchenlied heißt, war über Jahrhunderte den Menschen Schicksal und Alltagserfahrung zugleich. Montaignes »Memento mori« lautete: »Bedenken wir nichts so oft wie den Tod.« Er mahnte uns, beim Stolpern eines Pferdes, bei einem herabstürzenden Ziegel, beim geringsten Nadelstich sogleich zu fragen: »Wie -, könnte das nicht der Tod persönlich sein?«

    Wir müssen uns diese Weisheit der Lebensführung vor Augen führen, um zu erkennen, wie fern uns dies alles inzwischen geworden ist. Das tägliche Bedenken des Todes hat sich gewandelt in tägliche Anstrengungen, möglichst lange zu leben. »Ich fühle mich hochagil«, bekannte die Fernsehansagerin Nina Ruge jüngst anlässlich ihres fünfundsechzigsten Geburtstags: »Das Leben mag ein wenig an meinen Augenlidern zupfen, aber ich bin weder klapprig, noch habe ich irgendein Problem mit dem Alter.« Ihr Ziel, sehr lange zu leben, lässt sich Frau Ruge einiges kosten. Der Nahrungsmittelergänzungs- und Coachingmarkt ist nicht billig. Früh schlafen, gehen, gelegentlich Sex (»macht den Parasympathikus happy«) und – ein Geheimtipp – Olivenpresswasser geben ihrer Hoffnung auf das ewige Leben Nahrung.

    »Homo Deus«: Der Mensch wird Gott

    Wie anders ist unsere Welt geworden? Für das »ewige Leben« mussten fromme Menschen auch früher viel investieren: Wallfahrten machen, täglich beten, gute Werke tun. Doch da ging es eben um das himmlische und nicht um das irdische Leben, das zwangsläufig mit dem Tod endet. Im Alten Testament wird den »Gerechten« in Aussicht gestellt, dass Gott sie ewig leben lässt. Dass der ewige Gott Mensch wurde, was die Christen an Weihnachten feiern, hat gerade nicht zur Konsequenz, dass der Mensch Gott werden soll. »Zu werden wie Gott«, so lautete die verführerische Verheißung der Schlange im Paradies, der nachzugeben Adam und Eva mit der ewigen Strafe der Sterblichkeit bezahlen mussten.
    Aus der Verbannung auf die Erde haben die Menschen das Beste gemacht. »Unser Wunsch nach Gesundheit, Glück und Macht« kenne keine Grenzen, schreibt der israelische Historiker Yuval Harari in seinem Bestseller von 2015, der den Titel »Homo Deus« (»der Mensch als Gott«) trägt. Wissenschaft und Kapitalismus sind Verbündete des Fortschritts, dessen Erfolge mehr und mehr die Ehrfurcht vor dem Numinosen und Transzendenten obsolet werden ließen. Die Hoffnung auf ein ewiges Leben im Jenseits verlor in dem Maße seine Attraktivität, in welchem das ewige Leben auf Erden realisierbar wurde. Frei nach Heinrich Heines Wintermärchen wollen wir hier auf Erden schon das Himmelreich errichten.

    Inzwischen ist die Wissenschaft weit gekommen. Dass Menschen sterben müssen, gilt vielen Forschern heute nicht mehr als unumstößliche Tatsache. Das alt werden verschiebt sich immer weiter nach hinten: In Japan nennt man die 64– bis 75–jährigen »vor-alt«. Als bislang ältester Mensch gilt die Französin Jeanne Calment, die 1997 nach 122 Jahren Lebenszeit gestorben ist. Das muss nicht das Ende sein, sagt die Wissenschaft heute: Warum nicht zweihundert Jahre? Oder noch mehr? Wir wollen nicht nur lange, sondern lange gesund leben. Zwischenzeitlich ist es gelungen, alternde Zellen zurück zu programmieren. Der japanische Arzt und Stammzellenforscher Shinya Yamanaka von der Kyoto Universität hat schon 2012 für seine Forschungen an »pluripotenten Zellen« den Medizin-Nobelpreis gewonnen. Eine pluripotente Zelle ist eine Zelle, die noch nicht entschieden hat, ob sie einmal zu einer Nieren-, Herz- oder Blutzelle werden will. Yamanaka und seinen Nachfolgern behaupten, wenn ich das nicht ganz falsch verstanden habe, dass theoretisch jede gealterte Zelle aus jedem beliebigen Teil eines menschlichen Körpers zu einer pluripotenten Zelle verjüngt werden könne. Wenn sich dieser ewige Jungbrunnen medizinisch etabliert, können wir uns das Olivenpresswasser und die Multivitaminwundertüten sparen. Auf dem Weg zur Ewigkeit ist die Stammzellenindustrie deutlich weniger aufwendig als das Sortiment konventioneller kosmetischer Verjüngungskuren.

    Müssen wir alles wollen, was wir können?

    Dass die Hoffnung auf das ewige Leben inzwischen wirtschaftlich ein Biotech-Milliardenmarkt geworden ist, verwundert nicht. Jeder kann mit wenig Geld einen ETF auf das ewige Leben kaufen. Doch vor allem die Milliardäre des Silicon Valley haben ihre Finger und ihr Geld im Spiel. Google gründete 2013 Calico, die »California Life Company«, die eng mit Harvard und dem MIT zusammenarbeitet. Auch Jeff Bezos, der Amazon-Gründer, setzt zusammen mit dem russischen Milliardär Juri Milner auf das ewige Leben: »Altos Labs« beruhen auf Erfindungen des deutschen Zwillingspaares Stephan und Markus Horvath. Sie setzen darauf, mit Medikamenten die Alterung des Immunsystems zurückzudrehen. Ihre »epigenetische Uhr« erlaubt es, das biologische Alter umzukehren, um quasi noch einmal neu – und hoffentlich besser – durchzustarten.

    Wollen wir das wirklich? Auch wenn wir es bald technisch können? Wenn die Menschen ewig leben, aber die Lust daran verlieren, gäbe es als Ausweg neben Montaignes Dachziegel lediglich den Selbstmord. Was wäre das für ein Leben, dem nicht mehr der natürliche Tod, sondern nur noch der Suizid ein Ende setzt? Ganz abgesehen davon, dass es bald ziemlich voll werden dürfte auf unserem Planeten. Okay, durch die verbesserte Lebenserwartung hat sich etwa die britische Bevölkerung zwischen 1760 und 1830 schon einmal verdoppelt, ohne dass die Welt untergegangen wäre. Wenn allerdings die Silicon-Valley-Milliardäre Erfolg haben, könnte sich die Weltbevölkerung sehr rasch vervierfachen, habe ich kürzlich in der Financial Times gelesen. Dann tut sich auf, was Ökonomen die Malthusianische Falle nennen: Jeglicher Produktivitätsfortschritt würde binnen kurzem im wahrsten Wortsinn von den vielen Methusalems aufgefressen. Ein Horror, oder?

    Wir müssen nicht alles wollen, was wir können. Vielleicht dürfen wir auch nicht alles? Die Geschichte des menschlichen Fortschritts zeigt freilich auch: Es wurde meist alles, was geht, auch gemacht. Das Gute und das Böse. BionTech-Impfstoffe und die Atombombe.

    Rainer Hank

  • 22. Dezember 2021
    Lindners Liberalismus

    Christian Lindner FDP-Vorsitzender und Bundesfinanzminister Foto: fdp

    Dieser Artikel in der FAZ

    Die FDP steht in Gefahr, die Freiheit zu verraten

    Als am 10. Dezember der Bundestag eine Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes diskutierte, womit unter anderem eine Impfpflicht für Beschäftigte im Gesundheitswesen vorgeschrieben wird, fand die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP Christine Aschenberg-Dugnus dafür eine Begründung, die aufhorchen lässt. Sie sagte, »die Gesamt-Freiheitsbilanz« des Gesetzes bringe positive Effekte.

    Was meint sie mit der »Gesamt-Freiheitsbilanz«? Offenkundig werden Freiheiten einer Gruppe (der Alten oder Kranken und ihrer Angehörigen im Heim oder in der Klinik) addiert und davon wird dann der Impfzwang für Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger abgezogen. Wenn dann im Saldo mehr Freiheiten geschützt als Zwangsmaßnahmen verordnet werden, ist offenbar die »Gesamt-Freiheitsbilanz« positiv. Der Trick besteht darin, den Impf-Zwang sprachlich zu unterschlagen und die gesetzliche Maßnahme insgesamt als Ausdruck einer Freiheitsentscheidung zu vermarkten. Wenn die Freiheit von zehn Menschen mit der Unfreiheit von fünf Menschen erkauft wird, dann mag das nötig oder gar verhältnismäßig sein, darüber will ich hier gar nicht urteilen. Aber es bleibt eine Zwangshandlung, welche die Freiheit der Minderheit in dem Beispiel einschränkt.
    Dass die Partei, die sich die Freiheit in ihren Namen und ihr Programm geschrieben hat, die Leute für dumm verkauft und meint, sie merkten das nicht, erfüllt mich mit Sorge. Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich habe größte Mühe zu verstehen, warum Menschen sich nicht impfen lassen. Ich finde, Impfen schützt mich und die anderen vor Corona. Doch so ist das mit der Freiheit der anderen: Sie bleibt Freiheit gerade dann, wenn ich die Handlung und die ihr zugrundeliegende Haltung nicht teile oder billige. Wann, wenn nicht hier, hat das überstrapazierte Diktum Rosa Luxemburgs sein Recht: »Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.« Freiheit lässt sich gerade nicht in einer Gesamt-Bilanz saldieren. Wer jemanden zu etwas zwingt, mit welchen »guten« Gründen auch immer, nimmt ihm seine Freiheit.

    Wie konnte den Freien Demokraten so etwas passieren? Das ist leicht erklärt. Die FDP hat sich bekanntlich in den Ampel-Verhandlungen besonders stark gemacht für einen »Freedom Day«, mit dem die »pandemische Lage von nationaler Tragweite« auslaufen sollte. Das passierte blöderweise zu jenem Zeitpunkt als die Inzidenzahlen wieder exponentiell nach oben schossen und die Intensivstationen »voll liefen«, wie es immer heißt, ein ziemlich unschöner Begriff. Dadurch sah sich die Ampel zum Zurückrudern gezwungen, womit sich wiederum vor allem die FDP den hämischen Vorwurf einhandelte, da sähe man, was deren Freiheitsideologie anrichte – sie gefährde Menschenleben. Als Abwehrreaktion setzten die Freidemokraten nun alles daran, ihre Kehrtwende verstärkter Zwangsmaßnahmen als Ausdruck von Freiheit zu interpretieren.

    Wenn die FDP den Freiheitsbegriff derart verwässert, dass er sogar sein Gegenteil unter sich subsumiert, verrät sie den Wert der Freiheit an sich. Dafür muss man sich nur die Interviews anschauen, die der Parteivorsitzende und Finanzminister Christian Lindner in letzter Zeit gegeben hat. In der FAZ sprach Lindner Anfang Dezember zur Rechtfertigung der Maßnahmen von der »staatlichen Verantwortungsgemeinschaft«, die jetzt flexibel reagieren müsse. Da zeigt sich ein autoritäres Staats- und Gemeinschaftsverständnis, das einem Liberalen nicht unterkommen dürfte. In einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung ein paar Tage zuvor nannte er als obersten Wert seiner Partei die Idee einer »in Verantwortung gebundenen Freiheit«. Die Wendung muss man nicht zweimal lesen, um zu sehen, dass eine »in Verantwortung gebundene Freiheit« nichts anderes als das Dementi der Freiheit ist. Wer erlaubt sich, die Freiheit zu »binden«? Wer definiert, was Verantwortung ist. Die Regierung? Das Parlament? Der General an der Spitze des neuen Expertenrats?

    Dahrendorf: Freiheit ist Freiheit

    In Lindners Büro hingen einmal Porträts von Friedrich A. von Hayek und Ralf Dahrendorf, seinen liberalen Vorbildern. Ob diese Heroen mit ins Finanzministerium umziehen durften, weiß ich nicht. Dahrendorfs Definition der Freiheit (mit Bezug auf den britischen Philosophen John Stuart Mill) geht so: »Freiheit ist Freiheit, nicht Gleichheit oder Fairness oder Gerechtigkeit oder Kultur oder menschliches Glück oder ein ruhiges Gewissen«. Das heißt nicht, dass Gleichheit oder Gerechtigkeit mindere Werte seien. Und es gebietet womöglich sogar der Blick auf die Verhältnismäßigkeit, zwischen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit abzuwägen. Doch Dahrendorfs Definition verbietet den Etikettenschwindel einer »in Verantwortung gebundenen Freiheit«, die in Wirklichkeit keine Freiheit mehr ist. Eine solche »positive« Freiheit, wie Isaiah Berlin das nennt, wurde in der Geschichte allemal dazu missbraucht, paternalistische, etatistische, nationalistische oder totalitäre Glaubensbekenntnisse zu rechtfertigen.

    Aus Angst vor dem Vorwurf der Desavouierung eines »neoliberalen« Freiheitsbegriffs als »egoistisch« und nicht mit dem Schicksal der schwerkranken Corona-Patienten fühlend, ist die FDP dabei, den Freiheitsbegriff aufzugeben. Das äußert sich schon jetzt in den Debatten über die allgemeine Impflicht, über die der Bundestag Anfang des nächsten Jahres auf Basis einer Gewissensentscheidung abstimmen wird. Es ist atemberaubend zu sehen, wie gerade Lindner, der sich mit Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht der Menschen noch im Juli gegen eine Impfpflicht aussprach, jetzt sagt, er »tendiere zu einer Impfpflicht«. Als ob die Hartnäckigkeit der Impfgegner im Sommer noch nicht zu sehen gewesen wäre! Wenn die Bewertung der Verhältnismäßigkeit der Mittel sich in vier Monaten ändert und eine Konversion nötig macht, würde man dafür doch gerne Argumente hören und nicht nur das diffuse Gefühl, es gehe jetzt eben darum, die Leute zum Impfen zu zwingen.

    Das »Erzwingen von Solidarität als Grundlage einer allgemeinen Freiheitsausübung« sei kein Kriterium zur Rechtfertigung einer Impfpflicht, schrieb der Verfassungsjurist Oliver Lepsius kürzlich in der FAZ mit Bezug auf das Bundesnotbremsenurteil des Verfassungsgerichts. Die FDP ist gerade dabei, sich am pandemischen Umbau des Rechtsstaates zu beteiligen, in welchem »Freiheit durch die Gesundheit bewirtschaftet wird« (Lepsius). Wenn nun auch vom Verfassungsgericht keine Hilfe bei rechtlicher Abwägung zur Wahrung der Freiheit zu erwarten ist, müsste gerade die FDP in die Bresche des Rechts springen. Doch nach allem, was man derzeit hört und liest, lassen sich auch die Freien Demokraten einspannen für tektonische Verschiebungen des Landes: Weg von individuellen Freiheitsrechten, hin zum Recht der Gemeinschaft, so die Rechtsprofessorin Anna Katharina Mangold in der SZ. Lindners Wort von der »staatlichen Verantwortungsgemeinschaft« zeigt die gefährliche Richtung dieser Verschiebung, die die Freiheit verrät.

    Rainer Hank

  • 15. Dezember 2021
    Wenn der Würfel entscheidet….

    Die Würfel sind gefallen Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    …dann wird am Ende sogar eine Frauenquote obsolet

    Vergangene Woche bekam meine Nachbarin einen Anruf von ihrer Hausärztin. Leider müsse sie den Booster-Termin absagen, weil ihre Praxis viel weniger Impfstoff zugeteilt bekommen habe als versprochen. Solche Anrufe kriegen derzeit viele Impfwilligen, blöd für die Ärzte und ihre Patienten. Warum sagt die Ärztin ausgerechnet meiner Nachbarin ab? Sie streiche die Termine nach dem Eingangsdatum der Buchung, so die Antwort, frei nach dem Motto »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.« Dieses Zuteilungsverfahren ist nicht unüblich – freilich nur dann, wenn es im Vorhinein bekannt ist. Man könnte auch andere Kriterien wählen: Das Alter der Impfwilligen? Oder die Schwere der Vorerkrankung? Oder die langjährige Treue zur Arztpraxis? Letztlich hat alles eine gewisse Plausibilität. Wirklich gerecht geht es aber nicht zu.

    Nehmen wir ein anderes Beispiel. Regelmäßig waren begehrte Gymnasien in Frankfurt beim Wechsel der Viertklässler aus der Grundschule überbucht. Es gab einen Wust von Kriterien zur Priorisierung. Etwa die Nähe zur Wohnung. Oder eine Fremdsprache. Oder ein vorhandenes Schulprofil: So durfte sich ein Musik- oder Sportgymnasium musisch oder sportlich begabte Schüler aussuchen. Das nahe liegende Kriterium der Leistung schied offiziell indes aus. Ich vermute, das liegt daran, dass das hessische Schulsystem seit den siebziger Jahren habituell etwas gegen Leistung hat.

    Gleichwohl lief es am Ende meistens darauf hinaus, dass viele Kinder aus bildungsbürgerlichen Familien es aufs Wunschgymnasium schafften (aber leider eben nicht alle), während Schüler aus bildungsferneren Familien und/oder mit Migrationshintergrund eher auf der Gesamtschule landeten. Bei jenen Akademiker-Eltern, deren Kind nicht aufs Gymnasium durfte, gab es Geschrei und Widerspruch gegen die Fehlentscheidung.

    Seit vergangenem Jahr hat sich das staatliche Schulamt etwas Neues einfallen lassen: Die knappen Plätze werden verlost. Das würden viele auf den ersten Blick als den Gipfel der Ungerechtigkeit ansehen. Da kann man gleich Dart-Pfeile werfen. Fällt der Würfel, ist der Zufall und nichts als der Zufall das Auswahlprinzip. Und dass soll gerecht sein? Der Würfel ist blind für die wirklichen Bedürftigen. Doch wer ist wirklich bedürftig? In aller Regel führt das zu einem Betroffenheitswettbewerb, bei dem sich jeder meistberechtigt fühlt und jede andere Entscheidung als gravierende Ungerechtigkeit empfindet.

    Das erklärt womöglich, warum der Protest der Frankfurter Eltern gegen die Einführung des Losverfahrens beim Übergang aufs Gymnasium ausblieb. Im Gegenteil: Offiziell registrierte Widersprüche der Eltern nahmen ab. Die Akzeptanz einer Zuweisung bei einem Losverfahren sei deutlich höher als vorher, teilen die Behörden erleichtert mit. Der Würfel in seiner ganzen Willkür wird offenkundig als fairer empfunden als die Entscheidung eines Schuldirektors. Und niemand mehr kann jetzt behaupten, Kinder mit Migrationshintergrund hätten schlechtere Chancen, auf das Gymnasium zu kommen. Das Los ist völlig neutral; Diversität stellt sich von alleine ein.

    Demokratie in Athen

    Das Losverfahren als Auswahlprinzip kommt uns heute merkwürdig fremd vor. Das war nicht immer so. Im alten Athen, bekanntlich die Wiege der Demokratie, wurden politische Positionen per Los aus den männlichen Bürgern Athens bestimmt. In zahlreichen Schweizer Gemeinden gibt es das bis heute. Auch in den italienischen Stadtstaaten Oberitaliens wurde in der frühen Neuzeit für die Verteilung politischer Macht vom Losverfahren Gebrauch gemacht. Besonders raffiniert ging es in Venedig zu: Den Dogen hat man in fünf Wahlgängen gewählt, von denen jeder an eine vorherige Losziehung gekoppelt war. Ziel war stets das Aufbrechen der alten Seilschaften, die Beseitigung von Korruption oder die Befriedung der untereinander zerstrittenen herrschenden Familien.

    Margit Osterloh und Bruno Frey, zwei Schweizer Ökonomen, werben seit geraumer Zeit für eine Renaissance des Losverfahrens. Sie haben gute Argumente auf ihrer Seite. Das Los verhindert nicht nur Korruption und Vettern-Wirtschaft, sondern auch den berüchtigten Matthäus-Effekt: Wer hat, dem wird gegeben. Es gibt Außenseitern eine Chance und, besonders wichtig, relativiert die Hybris der Führungselite, die regelmäßig der Meinung ist, sie verdanken ihre Position selbstverständlich nur der eigenen Leistung, verbunden mit einem strahlenden Charisma und der Fähigkeit zu größter Empathie. Das Los ist ein gutes Gegenmittel gegen die Verabsolutierung der Meritokratie. Wer seine mächtige Stellung dem Würfel verdankt, wird zwangsläufig bescheiden.

    Das Los ist zugleich ein Mittel gegen politisch-ideologische Manipulation. Man stelle sich für einen Moment vor, über die Wahl der obersten Richter – sagen wir in Polen oder den USA – entschieden nicht populistische Regierungen, sondern die Würfel. Ich finde das eine reizvolle Alternative zum Status quo. Alterdings ist eine entsprechende Initiative in der Schweiz gerade in einer Volksabstimmung krachend gescheitert – nun gut: fehlende Rechtsstaatlichkeit kann man den Eidgenossen eher nicht wirklich vorwerfen.
    In Laborexperimenten zeigen die beiden Ökonomen Osterloh und Frey, dass die Rekrutierung von Personal in Unternehmen durch den Würfel dazu führt, mehr Frauen nach oben zu bringen und die sogenannte »leaky pipeline«, den sinkenden Frauenanteil auf höheren Karrierestufen, zu stopfen. Dass Frauen seltener an der Macht sind, hänge mit ihrer geringeren Wettbewerbsbereitschaft zusammen, sagen die Ökonomen: Frauen treten im Durchschnitt nur halb so oft wie Männer in Turniere ein, in welchen am Ende nur eine Person siegt. Das ist vor allem dann so, wenn leistungsfähige Frauen gegen Männer in männerdominierten Bereichen konkurrieren – also in typischen Unternehmen. Fungiert dagegen das Los als Auswahlprinzip, werfen deutlich mehr geeignete Frauen ihren Hut in den Ring. In den Experimenten der Forscher werde die Einkommenslücke zwischen Männern und Frauen geschlossen. Und viel mehr fähige Frauen als sonst lassen sich auf solch ein Verfahren ein. Kurzum: Losverfahren sind der Quote haushoch überlegen.

    Gerade, weil das Los blind ist, ist es gerecht; Justitia lässt sich ja auch die Augen verbinden. Freilich muss dem Losverfahren eine konventionelle Vorauswahl vorausgehen, um nur solche Kandidaten zuzulassen, die die formalen Voraussetzungen erfüllen. Wer Professoren für einen Lehrstuhl oder Richter für ein oberstes Gericht sucht, sollte vorab fachliche Anforderungen zur Aufnahme ins Losverfahren definieren. Wer sich für eine dritte Impfung bewirbt, sollte bereits zwei Impfungen hinter sich haben. Die Fachleute sprechen von »fokalen aleatorischen Verfahren«: »Fokal« meint die Fokussierung auf eine Vorauswahl. »Aleatorisch« kommt von lateinisch »alea«, dem Würfel. Cäsar, sein Rubikon und Herr Lenz, mein alter Lateinlehrer, lassen grüßen.

    Rainer Hank

  • 07. Dezember 2021
    Das Polit-Kartell

    Symbol der Zentralisierung: Generalmajor Carsten Breuer Foto Bundeswehr/Anne Weinrich

    Dieser Artikel in der FAZ

    In der Corona-Politik gab und gibt es keine Opposition

    So viel Harmonie war selten. Die rot-grün-gelbe Ampel zelebriert Friede, Freude, Einigkeit. In den Talkshows lobt »der Christian Lindner« »die Annalena Baerbock« und versichert stets, dass sie ganz Richtiges sagt. Das sagt »der Christian« selbst dann, wenn die künftige Außenministerin eiert, also nichts sagt, schon gar nichts Richtiges. So etwas hätte der alte Christian Lindner, also der vor dem 26. September 2021, nach allen Regeln der polemischen Rhetorik zerlegt.

    Mit Olaf Scholz verstehen sich ohnehin alle bestens. Der Stimmung kommt es sehr gelegen, dass auch die Opposition nicht zum Streiten aufgelegt ist. Was heißt überhaupt Opposition? Die SPD, Mehrheitsaktionär der Noch-Nicht-Regierung (Ampel), ist zugleich Minderheitsaktionär der Nicht-Mehr-Regierung, die aber weiter die Geschäfte führt. Ein SPD-Minister der alten Regierung, sagen wir Hubertus Heil, wird also kaum den Arbeitsminister der neuen Ampel-Regierung kritisieren: denn der wäre, nach allem, was man hört, er selbst. Und die Union? Die tritt gerade ab mit »Großer Gott wir loben Dich« (Angela Merkel), hat schon demissioniert (Annegret Kramp-Karrenbauer, Armin Laschet) oder kämpft lieber um das Bild in den Geschichtsbüchern (Jens Spahn).

    »Linke« und AfD fallen als Opposition auch aus: Die Linke segelt im neuen Parlament unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle. Und die AfD, eigentlich Meister des Krawalls, ist merkwürdig still. Unter diesen Bedingungen ist es ein Leichtes, die Pandemiebekämpfung in den Bundestag ohne Opposition zu übertragen. Selbst das Verfassungsgericht kann sich unter dem Vorsitz des ehemaligen Bundestagsabgehordneten Stephan Harbarth dieser Harmonie nicht entziehen. Der begabteste Oppositionspolitiker des Landes, Markus Söder, hat sein ganzes Oppositionspulver im Wahlkampf gegen die eigenen Leute verschossen.

    »Ich kenne keine Parteien mehr«

    Im föderalen Staat sind nicht nur – horizontal – die im Bundestag vertretenen nicht an der Regierung beteiligten Parteien Opposition, sondern auch – vertikal – die Länder als Gegengewicht zur zentralistischen Macht des Bundes. Die Länder konkurrieren untereinander mit besseren Rahmenbedingungen um Menschen und Unternehmen und können sich mit besseren Konzepten zur Bewältigung von Krisen profilieren. Unter normalen Bedingungen führt dieser politische Wettbewerb nicht nur zu effektiven Lösungen, sondern erhöht auch den Informationsstand der Bevölkerung. Entsteht Dissens zwischen Bund und Ländern, dann kann die Bevölkerung schlussfolgern, dass eine bundeseinheitliche Maßnahme nicht das Wohl aller Länder erhöht.

    In großen nationalen Krisen dagegen fanden die Deutschen immer schon, sei Einmütigkeit nötig und schade die kleinliche Kleinstaaterei des Föderalismus. Eine Pandemie erlaubt kein Parteiengezänk, sagt man. »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche«, so lautet der berüchtigte Satz Kaiser Wilhelm II am 1. August 1914.
    Wenn alle sich unterhaken, nennt man das im ökonomischen Kontext ein Kartell. Vor allem auf Betreiben der westlichen Siegermächte sind Kartelle in der Marktordnung der Bundesrepublik verboten worden. Es gibt sogar ein »Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen« (kurz: Kartellgesetz) von 1957, welches eine Zusammenballung großer Marktmacht untersagt und dafür eine Behörde (Kartellamt) mit der Macht ausstattet, Unternehmen zu zerschlagen. Kartelle beschädigen den Wettbewerb, der verhindern müsste, dass die Platzhirsche es sich bequem machen und zu Lasten der Konsumenten schlechte und überteuerte Waren auf den Markt bringen. Der Wettbewerb, so die Grundüberzeugung der Freiburger Schule der Marktwirtschaft, ist das beste Entmachtungsinstrument einer Wirtschaftsordnung. Die deutsche Wirtschaft hegte seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert eine große Liebe zu Kartellen und einen Widerwillen gegenüber dem Wettbewerb. Nach 1945 war der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) mit aller lobbyistischen Kraft wild entschlossen, das Kartellgesetz zu verhindern – und erfuhr dafür erbitterten und letztlich zum Erfolg führenden Widerstand in den Kommentaren der FAZ (so viel zum Vorurteil, die FAZ sei ein Agent des deutschen Großkapitals).

    Jetzt kommt der General

    Derzeit fehlt es im Land an politischem Wettbewerb. Das ist ein Jammer. Es regiert eine Art Allparteienkartell, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass nicht oder – wenn, dann schlecht regiert wird. Das ist aber nur die eine Seite. Auf der anderen Seite ist das Kartell dabei, den föderalen Wettbewerb einzuschränken, der auch das Informationsniveau der Bevölkerung erhöht. Die verunglückte Neufassung des Infektionsgesetzes ist dafür ein Beispiel. Lindner und seine Ampel-Freunde tun alles, die Abschaffung der pandemischen Lage als Sieg für die Freiheit und Stärkung des Parlaments zu vermarkten. Doch zugleich wurde die Freiheit der Länder eingeschränkt, rasch und zielgenau auf sehr unterschiedliche Infektionslagen zu reagieren. Dass es bei den Inzidenzwerten ein dramatisches Ost-West- und Nord-Süd-Gefälle gibt, ist nicht zu übersehen. Doch können die Länder bestimmte generelle Maßnahmen jetzt nicht mehr ergreifen: flächendeckend Veranstaltungen untersagen, Hotels und Gaststätten schließen oder Ausgangssperren verhängen. Warum? Weil die Ampel meint, besser zu wissen, dass Ausgangssperren nichts bringen. Die Idee des föderalen Entdeckungsverfahrens würde gegenhalten und sagen: Es kommt darauf an – weil die Pandemie offenkundig nicht bundeseinheitlich verläuft. In Sachsen helfen vielleicht Ausgangssperren und Verbote von Großveranstaltungen. In Mecklenburg-Vorpommern braucht es diese Maßnahmen derzeit nicht. Das neue Infektionsschutzgesetz ist gerade nicht, was ihm derzeit von vielen zum Vorwurf gemacht wird: zu liberal. Was anti-föderal und anti-wettbewerblich ist, kann per definitionem nicht gleichzeitig liberal sein. In der Bildungspolitik bahnt sich demnächst eine ähnliche anti-föderale Ampel-Politik an.

    Die Einrichtung eines »Krisenstabs« im Kanzleramt mit einem Bundeswehrgeneral an der Spitze ist Symbol der Zentralisierung. In Abwandlung des politikwissenschaftlichen Begriffs der »Kanzlerdemokratie« müsste man wohl von »Zwei-Kanzlerdemokratie« sprechen, wenn Angela Merkel und Olaf Scholz jetzt Seit an Seit ex cathedra sprechen. Doppelt hält besser. Stimmt das? Doppelte Führung kann auch Führungslosigkeit ausdrücken und die Mehrheit hierzulande bestätigen, die meint, der Föderalismus und nicht die Kanzlerdemokratie habe in der Corona-Krise versagt. Ich folge der Mehrheit nicht. Eines ist aber – so oder so – offenkundig: Es bräuchte rasch einen Mechanismus, den politischen Wettbewerb und sein föderales Entdeckungsverfahren zu reanimieren. Eine ihre Wunden leckende, mit sich selbst beschäftigte, führungslose Union kommt für diese Rolle nicht infrage.

    Rainer Hank

  • 04. Dezember 2021
    Stoppschild für Zuzügler

    Oeder Weg: Autos müssen draußen bleiben Foto Frankfurt-journal

    Dieser Artikel in der FAZ

    Die Ampel zementiert die Macht der Insider in den Städten

    Wissen Sie, was eine Diagonalsperre ist? Nein. Dann empfehle ich einen Ausflug in den Oeder Weg nach Frankfurt. Wer mit seinem Auto aus der Innenstadt in Richtung Nordend fährt (der Anteil der Grünenwähler liegt hier bei knapp 40 Prozent), dem wird seit ein paar Monaten der Weg durch den Oeder Weg mit einer rot-weißen Schranke verwehrt. Man kennt das von Forstwirtschaftswegen im Wald. »Wohnviertel für Menschen, nicht für den Auto-Schleichverkehr«, so lautet die Devise. Fahrräder sind hochwillkommen. Frankfurt soll schließlich eine autofeindliche, dafür aber fahrradfreundliche Stadt werden.

    Die Gewerbetreibenden im Oeder Weg sind keine Freunde der Absperrung. Auch die Bewohner der anliegenden Straßen grämen sich: Denn nun suchen sich die Autofahrer eben andere Schleichwege. Inzwischen sind selbst die Anwohner des Oeder Wegs irritiert: Denn die für den Autoverkehr gesperrte Straße hat sich rasch in ein Eldorado für die sogenannte Außengastronomie verwandelt. Statt Autolärm lärmen nun fröhliche Zecher.

    Merke: Städtische Regulierung – hier: das Fahrverbot – führt zu unerwünschten Nebeneffekten. Und: Selbst die Begünstigten – hier: die Anwohner – werden schnell von Gewinnern zu Opfern.

    NIMBY: Not in my Backyard

    Wohnungsmangel in den großen Städten ist eines der größten Probleme in Deutschland. »Die Politik« müsse etwas tun, heißt es. Was sie tun soll, da gehen die Meinungen schon weit auseinander. Die meisten Ideen sind wenig zielführend: Linke und (viele) Grüne liebäugeln mit Mietendeckel, Mietpreisbremse bis hin zur Enteignung größere Wohnungskonzerne. Klima-Politiker warnen vor dem Bau neuer Wohnungen, weil dies zu höherem Flächenverbrauch führe und die CO2–Bilanz der Städte versaut. Und in den schönen Vierteln dominieren die NIMBYs. Das steht für »Not in my Backyard« (Nicht in meinem Hinterhof). Natürlich müssen neue Wohnungen gebaut werden, aber bitte nicht in meinem Kiez.

    Grünlungig, autofrei und lebensfroh soll unsere urbane Nachbarschaft bleiben. Man gönnt sich ein riesiges unbebautes Biotop wie das Tempelhofer Feld in Berlin (»auch geschützt für seltene tierische Bewohner*innen«, wie es auf der Internetseite heißt) und schützt sich selbst zugleich vor Mieterhöhungen mit verschärften Preisbremsen. Ein Paradies für die, die schon drin sind. Unerreichbar teuer für die, die rein wollen.

    Gleichwohl hält der Run auf die Städte an. Junge Familien finden die Urbanität der Großstadt aufregender als die Vorstadt oder das Landleben. Das hängt nicht zuletzt mit der rückläufigen Kriminalitätsrate zusammen. Nie war der Mensch in den Städten so sicher wie heute. Dass die Wohnungen der Städte zu teuer sind, ist nicht das Problem. Dass es zu wenig davon gibt, ist der Kern: Gäbe es mehr Wohnungen, würde das den Preis drücken und den Spekulanten das Handwerk legen. Neue Wohnungen soll es ja geben – aber bitte nicht vor unserer Nase.

    Halbherzig bleibt der Koalitionsvertrag der »Ampel«. Viel Verbot, wenig Aufbruch. Jährlich sollen 400 000 neue Wohnungen entstehen. Eine gute Idee. Sollen diese erschwinglich sein, dürften das nicht nur Luxusappartements sein. Standardisierung des Bauens heißt die Lösung. Doch schon tut sich ein Bündnis aus Architekten, Milieuschützern und Klima-Freunden zusammen und schreit »Betonklötze«, »Mietskaserne« und wenn das nicht reicht »Platte«. Ästhetik und Klimawandel sind die vorgeschobenen Waffen, mit denen sich der Besitzstand prima verteidigen lässt. Und Politiker machen sich zum Büttel jener Stadtbürger, die in ihrer Behaglichkeit nicht gestört werden wollen.

    Vom Überleben der Städte

    Ed Glaeser, ein Ökonom an der Harvard Universität und weltweit führender Urbanist, zeichnet in seinem neuen Buch vom »Überleben der Stadt« (»Survival of the city«) ein besorgtes Bild. Seine These: Die Insider, also die mit den schönen Häusern, haben unsere Städte gekapert. Sie verhindern, dass die Outsider sich Wohnungen in den Städten leisten können. Das ist nicht nur grob ungerecht, es ist auch ökonomisch ein Desaster: Denn Städte sind seit der Antike Orte der sozialen Mobilität. Mein Vater kam Anfang der dreißiger Jahre aus einem armen Dorf am Rande des Schwarzwalds nach Stuttgart. Dort suchte er Arbeit und ein besseres Leben. Die jüdischen Einwanderer aus Osteuropa landeten um die Jahrhundertwende nicht in Iowa, sondern in der Lower Eastside in Manhattan. Dort begann ihre Aufstiegs- und Assimilationsgeschichte.
    Wer sind die Insider? Grob gesagt sind es die Älteren und Reicheren. Hausbesitzer haben vor Jahren zu günstigen Preisen eine Immobilie in der Stadt erworben, deren Wert unglaublich gewachsen ist. Alteingesessene Mieter schützt das Mietrecht durch Mietspiegel und Kündigungsschutz. Bei Neuvermietungen langen die Eigentümer umso mehr zu. Spiegelverkehrt ergeht es den Outsidern. Das sind die Jungen und Ärmeren, denen der Zugang in die Städte erschwert wird. Glaeser hat eindrucksvolle Zahlenbeispiele (aus den USA): Im Jahr 1983 verfügte der durchschnittliche 35– bis 40–jährige über rund 56 000 Dollar Wohnvermögen. Dreißig Jahre später hatte die entsprechende Altersgruppe lediglich 6000 Dollar Immobilienvermögen. Im selben Zeitraum ist das Vermögen der oberen fünf Prozent unter den Älteren um 60 Prozent gestiegen. Es liegt jetzt zwischen 427 000 und 701 000 Dollar. »Das ist eine massive Umverteilung des Reichtums von den Jungen zu den Alten«; sagt Glaeser. Auch in Europa gebe es diese Entwicklung.

    Die Ungleichheit der Städte, folgt man Ed Glaeser, besteht also nicht zwischen armen Mietern und reichen Immobilienhaien, sondern zwischen machtbewussten Insidern (NYMBYs) und schwachen Outsidern. Die Unterscheidung stammt ursprünglich aus der Arbeitsmarkt-Ökonomie: Wer einen Arbeitsplatz hat, schützt diesen mithilfe der Gewerkschaft durch hohe Löhne und einen starken Kündigungsschutz. Das schadet den Arbeitslosen, denen vergleichbare Einkommen und Rechte verwehrt werden.
    Den Insider-Outsider-Konflikt löst man am besten durch Deregulierung: Diese schleift die Privilegien der Besitzenden und erleichtert den Marktzugang der Jungen und Ärmeren. Will die Ampel glaubwürdig werden, reicht das Bauprogramm der 400 000 Wohnungen nicht aus. Zugleich muss der Milieuschutz fallen, die Baugenehmigungszeit verkürzt, die Grunderwerbssteuer für Selbstnutzer gesenkt werden (dazu gibt es Ansätze im Koalitionsvertrag) und Gewerbegründungen in der Stadt erleichtert werden. So geht Deregulierung.

    Ed Glaeser bleibt dabei, dass die (Groß)stadt eine der genialsten Erfindungen der Menschheit ist, die uns »klüger, grüner, gesünder und glücklicher macht« (so der Titel seines vorletzten, 2011 erschienenen Buches). Damit das so bleibt, muss die Macht der Insider gebrochen werden.

    Rainer Hank