Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 26. Oktober 2022
    Prinzipienreiterei

    Auf der Suche nach den seinen Prinzipien: Christian Lindner Foto Bundesfinanzministerium

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ein Versuch, Christian Lindner zu verstehen

    Wenn eine Megakrise drohe, könne »Prinzipienreiterei« nicht die Lösung für ein Land sein, ließ Markus Söder unlängst verlauten. Ausgerechnet Söder. Das einzige Prinzip, dass der bayerische Ministerpräsident kennt, ist ein gefühlssicherer Populismus, der sich aus einem wetterwendigen Pragmatismus speist. In Bayern regiert das Prinzip der Prinzipienlosigkeit.

    Konkret ging es Söder um die Schuldenbremse und um die FDP, deren Vorsitzenden Christian Lindner er als einen starrsinnigen Prinzipienreiter denunziert. Was der Franke unterschlägt: Das Verbot, den Staat mit neuen Schulden zu finanzieren, ist nicht einfach der Starrsinn eines Dogmatikers. Sondern steht im Artikel 109 des deutschen Grundgesetzes, hat also Verfassungsrang. Offenbar gilt den Pragmatikern die Verfassung nur für langweilige Zeiten, immer dann, wenn gerade nichts los ist. Wenn aber Krise ist, heißt es: Not kennt kein Gebot. Jetzt machen wir Politik nach Tageslosung, will sagen: nach der Lautstärke, mit der unterschiedliche Wählergruppen ihr finanziellen Entlastungsforderungen vorbringen.

    Was sind Prinzipien wert, wenn sie ausgerechnet in der Krise nicht mehr gelten? Statt Prinzipienreiter zu diskreditieren, müsste man sie hofieren: Gerade jetzt soll man für seine Prinzipien kämpfen. Dass die Schuldenbremse es in die Verfassung geschafft hat, soll ja gerade verhindern, dass man sie bei jedem politischen Unwetter kassieren kann. Prinzipien, so der Duden, sind Regeln, die als Richtschnur des Handelns dienen. Das nimmt dem Handeln seine Beliebigkeit, und macht Kritik allererst möglich. Selbstverständlich kann man Prinzipien hinterfragen, ablehnen oder durch bessere Prinzipien ersetzen. Allemal haben wir sie nötig; ohne Prinzipien verdämmern alle Maßstäbe.

    Deshalb singe ich hier das Loblied der Prinzipienreiterei, durchgeführt und orchestriert am Beispiel der FDP in Zeiten der Krise.

    Was sind die Grundsätze des Liberalismus? Die FDP hat den Vorteil, dass sie sich auf die Tradition der europäischen Aufklärung als ihr normatives Fundament berufen kann. Deren Dreh- und Angelpunkt ist die Freiheit des Individuums. Der Staat ist eine davon abgeleitete Institution, deren erstes, einziges und letztes Ziel es ist, die Freiheit seiner Bürger gegen Feinde von außen und innen zu schützen, dafür zu sorgen, dass Minderheiten nicht von Mehrheiten unterdrückt werden, dass Regeln des Wettbewerbs fair sind und den besten Argumenten, den kreativsten Künsten und den originellsten Geschäftsideen zum Erfolg verhelfen. Marktwirtschaft ist, anders als staatliche Plan- oder Kriegswirtschaft, ein Arrangement, das die Freiheit der Bürger im höchsten Maße zur Entfaltung bringt. Die großen menschheitsbeglückenden Utopien scheut der Liberalismus ebenso wie die großen apokalyptischen Dystopien. Scheitern ist erlaubt und berechtigt zum Wiederaufstehen. Der Liberalismus ist universal. Alles Ständische verdampft, alles Heilige wird entweiht, um mit Marx und Engels zu sprechen.

    Liberale Prinzipien

    Freiheit ist ein Recht, aber auch eine Pflicht: Jeder Bürger hat zunächst einmal selbst für sich Verantwortung zu tragen. Nur dann, wenn er sich selbst nicht helfen kann, hat er Anspruch auf Hilfe vom Staat. Man nennt dies Subsidiarität. Die Schuldenbremse lässt sich gut aus diesem Prinzip ableiten, insofern eine Gesellschaft (genauso wie der Einzelne) ihre finanziellen Wünsche auf eigene und nicht auf die Rechnung künftiger Generationen nehmen muss.

    Ungefähr so könnte man die Prinzipien grob zusammenfassen, auf denen die FDP reiten müsste, will sie ihrem Programm gerecht werden. Tut sie es auch? Es gehört zur Tragik der Liberalen, dass sie häufig der Privilegierung einzelner Gruppen den Vorrang gaben vor den liberalen Prinzipen, die universal sind und nicht ständisch. Hoteliers oder Autofahrer finanziell zu entlasten, nennen wir Klientelpolitik, mithin das Gegenteil liberaler Prinzipienreiterei.

    Und wie steht es nun mit der Schuldenbremse? Christian Lindner, der FDP-Finanzminister, verschuldet sich (und uns) derzeit unter anderem mit 200 Milliarden Euro zur Energiepreisabrüstung und100 Milliarden zur militärischen Aufrüstung. Dafür errichtet er wenig transparente zweckgebundene Schattenhaushalte, um, wie er sagt, die Begehrlichkeiten seiner Kabinettskollegen in Schranken zu weisen. Nicht Prinzipienreiterei müsste man Christian Lindner vorwerfen, sondern, ganz im Gegenteil, dass er es mit seinen Prinzipien nicht so genau nimmt. Er rechtfertigt den Regelbruch als notwendig dafür, künftig die Prinzipien einhalten zu können – eine rhetorische, aber keine prinzipientreue Meisterleistung.

    Die Schuldenbremse ist im Übrigen nicht nur ein abstraktes Prinzip und nicht nur zum Schutz künftiger Generationen geboten, sondern aus ökonomischen Gründen zur Bekämpfung der Inflation dringend erforderlich: Die Zinspolitik der Notenbanken verliert ihre Wirkung, wenn sie durch eine aggressive Fiskalpolitik (»Entlasteritis«) konterkariert wird. Inflationsbekämpfung war in der Geschichte immer nur dann erfolgreich, wenn Geld- und Fiskalpolitik als Tandem aktiv wurde. Ausgabenfreudiger Pragmatismus hingegen führt ins Verderben.

    Die Lindner-FDP ist halbherzig

    Ihre Prinzipien verteidigt die FDP auch in der Energiepolitik nur halbherzig. Staatliche Eingriffe in den Markt (Atommeiler abschalten, Verbrenner verbieten, Gaspreise deckeln) müssten ihr eigentlich ein Horror sein. Atomstrom ist klimafreundlich, muss nicht bei Schurken gekauft werden und unterliegt bei der Produktion höchsten Sicherheitsvorschriften. Was spricht dagegen? Den mit Kanzlermachtwort durchgesetzten »Streckbetrieb« eines dritten AKWs schon als liberalen Erfolg zu feiern, ist arg bescheiden. Wenigstens der wackere Wolfgang K. lässt sich damit nicht abspeisen.

    Kurzum: Eine Schärfung ihrer Prinzipien würde der FDP in ihrer derzeitigen prekären Lage guttun. Es waren gerade die jungen Wähler, die der liberalen Partei ihren Einsatz für die Freiheit in Zeiten der Lockdown-Pandemie mit ihrer Stimme entlohnt haben. Sich auf Prinzipienreiterei zu berufen, könnte die FDP auch davor schützen, ständig mit ihrer »staatspolitischen Verantwortung« herumwedeln zu müssen. Die Berufung auf »staatspolitische Verantwortung« ist anmaßend und nichtssagend zugleich. Programmatische Prinzipienreiterei ist ehrlicher.

    Rainer Hank

  • 20. Oktober 2022
    Schießbudenfiguren

    Schießbude Foto Christian Lendl/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum Demokratie ohne Liberalismus barbarisch wird

    Die Demokratie als höchsten politischen Wert zu loben, ist, wenn nicht töricht, so zumindest fahrlässig. Ist nicht auch Victor Orban ein Demokrat? War nicht Hitler mithilfe der Demokratie an die Macht gekommen? Hatte etwa Donald Trump nicht die Mehrheit der amerikanischen Wähler hinter sich? Irgendwie müsste man es schaffen, die Demokratie vor ihrer Vereinnahmung zu schützen, mithin der unbeschränkten demokratischen Macht des Volkes Grenzen zu setzen. Die populistischen Demokratien von links (Venezuela) bis rechts (Ungarn et al.) sind ein Fluch.

    Die Demokratie durch das Gebot der Rechtstaatlichkeit zu zähmen, vermag einzig der Liberalismus. »Wenn der Liberalismus die Demokratie fordert, so nur unter der Voraussetzung, dass sie mit Begrenzungen und Sicherungen ausgestattet wird, die dafür sorgen, dass der Liberalismus nicht von der Demokratie verschlungen wird.« Denn die Populisten bekämpfen die liberale Demokratie, »um die illiberale Demokratie an ihre Stelle zu setzen.«. Victor Orban kaschiert das noch nicht einmal, wenn er seinen Staat bewusst zur »illiberale Demokratie« adelt. Es ist ein Staat, der Richter nach Gutdünken ab- oder einsetzt, Pressefreiheit mit Füßen tritt, Universitäten Maulkörbe verhängt – und das Volk bei alledem hinter sich weiß.

    Die Warnung vor dem Umkippen der liberalen in eine »illiberale Demokratie« ist ein Zitat des Ökonomen Wilhelm Röpke. Der Ideenhistoriker Jens Hacke sagt, Röpke habe die Formel überhaupt erst erfunden. Sie findet sich in einem »Epochenwende« überschriebenen Vortrag, den Röpke am 8. Februar 1933, wenige Tage nach Hitlers Machtergreifung, in Frankfurt hielt. Dieser Shooting Star der deutschen Nationalökonomie, geboren 1899, war mit 24 Jahren bereits zum Professor ernannt worden. Nach der Machtergreifung erhielt er umgehend Berufsverbot. Röpke fiel nicht unter die Hasskategorien Sozialist, Kommunist oder Jude. Vielmehr galt er den neuen Machthabern als unversöhnlicher Staatsfeind, weil er »ohne jeglichen Kompromiss für Liberalismus, Marktwirtschaft und individuelle Freiheit focht«, wie der Historiker Götz Aly schreibt. Dieser liberal-republikanische Widerstand kommt in der Geschichtsschreibung häufig zu kurz, wird gar verfälscht zur perfiden Gleichsetzung von Kapitalisten und Faschisten.

    Schlag nach bei Wilhelm Röpke

    Röpke, der liberale Marktwirtschaftler, geht in die Emigration, zunächst nach Istanbul, dann nach Genf. 1942 wird er von den Nazis ausgebürgert, weil er »extrem humanistisch-weltbürgerlich eingestellt« sei. Aus der Schweiz entwickelte er eine rege Publikationstätigkeit, in der frühen Bundesrepublik war er ein »public intellectuell«. Neben Walter Eucken ist Röpke der wohl wichtigste Kopf der Freiburger Schule der sozialen Marktwirtschaft (»Ordoliberalismus«), deren wirtschaftspolitische Praxis die Grundlage war für den raschen Wohlstandsgewinn der Menschen in Westdeutschland nach dem Krieg.

    Die Lektüre von Röpkes Epochenwende-Vortrag (abgedruckt in »Wirrnis und Wahrheit«, 1962) bringt zuhauf Aha-Erlebnisse. Schon der Titel zitiert avant la lettre Olaf Scholz› »Zeitenwende«, nimmt dem Schlagwort aber sein radikales Neuheitspathos. Immer verlängerten die Zeitgenossen ihre Gegenwart auf ewig in die Zukunft: Jene, die in der Hochkonjunktur nicht an ein Ende der guten Geschäfte glauben wollten, seien dieselben, die in der Krise kein Ende des Jammers für möglich hielten. Die Hysterien gleichen sich.
    Götz Aly hat recht: Es ist ein großes Vergnügen, Röpke zu lesen. Der Mann schreibt und spricht knapp, kraftvoll, kühl und bildhaft. Der Liberalismus sei inzwischen zu einer »Schießbudenfigur« geworden, auf die man nach Herzenslust schießen könne, findet Röpke. Die Schießbudenfigur der Liberalen, wie sie die deutschen Illiberalen – die Nazis -angefertigt haben sieht für Röpke so aus: »ein trockener Pedant, bis zum Knöchel im Großstadtasphalt versunken, ohne einen Glauben irgendwelcher Art und ein höheres Ideal als das des Geldverdienens, von liederlicher Gesinnung und Lebensführung – eine Mumie des 19. Jahrhunderts.« Die Karriere dieser Schießbudenfigur zum heutigen »Neoliberalen« ließe sich unschwer nachzeichnen. Als Sündenbock für alles, was einem nicht passt, taugt er bis heute.

    Der »wahre« Liberalismus, seine zivilisatorische Mission, sieht anders aus als sein neoliberales Zerrbild. Ihm geht es um »Toleranz, Denk-, Meinungs- und Preßfreiheit (sic!), Fair Play und Diskussion«. Das sind Errungenschaften der Aufklärung, die nach 1933 mit Füßen getreten wurden, die auch heute nicht nur in den illiberalen Demokratien von rechts verachtet werden, sondern auch in vielen sich »links« verstehenden Kreisen der identitätspolitischen Zensur verfallen: Zuwiderhandlungen stehen unter Strafe des Diskursverweises.

    Das Problem der Masse

    Für Röpke ist die Demokratie gerechtfertigt als Kind des individuellen bürgerlichen Liberalismus. Das ist das Gegenteil des kollektivistisch-plebejischen Populismus. Die liberale Demokratie zeichne sich dadurch aus, dass sie jeder Opposition die Aussicht eröffne, die regierende Gruppe in die Minorität zu bringen. Es geht um ein Spiel von Meinung und Gegenmeinung. Es ist mithin das ökonomische Prinzip des Wettbewerbs, das als Entmachtungsinstrument die Demokratie erst lebendig werden lässt. Ein fairer Wettbewerb ist das Gegenteil der autoritären Entmachtung jeglicher Opposition durch politische Autokraten oder des identitätspolitischen Meinungsterrors. Die populistische Demokratie endet im »Servilismus«, einer der Unterwürfigkeit der Menschen unter staatliche oder meinungsmäßige Verhaltensvorschriften. Aus dem Servilismus, so Röpke, erwüchsen Totalitarismus und Nationalismus – »mit blindwütigem Hass alles Fremden«. Brutalismus schließlich schlägt am Ende um in Barbarei. Die »illiberale Demokratie« legt Wert auf Legitimation durch das Volk (»die Masse«). Zugleich bekämpft sie die aufklärerische Ideen der (Wirtschafts)freiheit, der Vernunft und der Humanität.

    Röpkes Plädoyer für die liberale Demokratie reiht sich ein in zwei andere Reden aus den frühen Dreißigerjahren, an die ich in den beiden vorhergegangenen Kolumnen erinnert habe: Thomas Manns flammendes Plädoyer für den »Zukünftigen Sieg der Demokratie« (1938) und seine Aufforderung die Demokratie »militant« zu verteidigen. Und Theodor Roosevelts große Rede zur Amtseinführung 1933 als Präsident der USA am 4. März 1933, die mit dem berühmten Satz beginnt, das Einzige, was die Menschen zu fürchten hätten, sei die Furcht selbst. Lasst euch nicht von der Angst niederzwingen! Alle drei Reden empfehle ich heute als Wegzehrung in Zeiten der Bedrohung durch die grassierende Illiberalität.

    Rainer Hank

  • 12. Oktober 2022
    Gesellschaft der Angst

    Franklin D. Roosevelt First Inaugural Speech 4. März 1933 Foto The History Place

    Dieser Artikel in der FAZ

    Was die Freiheit jetzt nötig hat

    Am 3. März 1933 eröffnete Franklin D. Roosevelt seine zwanzigminütige Rede zur Amtseinführung als neuer Präsident der USA mit folgenden Worten: »Lassen Sie mich zunächst meinen festen Glauben bekräftigen, dass das Einzige, wovor wir Angst haben müssen, die Angst selbst ist.«

    Das Diktum Roosevelts – »the only thing we have to fear is fear itself« – wurde weltberühmt. Es als Ausdruck einer realitätsleugnenden Verdrängung der Gefahren zu deuten, wäre ein Missverständnis. Roosevelt war sich der katastrophalen Lage der Welt bewusst. Es war zum Fürchten. Die Vereinigten Staaten steckten nach dem Börsencrash in einer schweren Wirtschaftskrise und einer schier endlosen Depression. Inflation, Arbeitslosigkeit, Wohlstandsverluste – und nirgends ein Ausweg. Die Weltlage jenseits Amerikas war nicht besser: In Deutschland war Hitler gerade an die Macht gekommen. Und in der Sowjetunion verkündete der Diktator Josef Stalin wirtschaftliche Erfolge der sozialistischen Planwirtschaft, die – was man sich heute nur noch schwer vorstellen konnte – auch viele westlichen Intellektuellen tief beeindruckte. Ob die liberale Demokratie und Marktwirtschaft noch in der Lage waren, mit der Krise fertig zu werden, war ungewiss. Womöglich gehörte die Zukunft der autokratischen Konkurrenz: den Faschisten und Kommunisten.

    In dieser Situation kommt Roosevelt zu Beginn seines Regierungsprogramms nicht auf seinen ökonomischen Kraftakt zur Rettung der Wirtschaft zu sprechen, den »New Deal«. Er doziert auch nicht über Demokratie, Gewaltenteilung und liberale Werte. Sondern er begibt sich auf das Gebiet der Psychologie, das starke Gefühl der Angst, welchem er freilich jegliches bloß subjektiv Stimmungshafte nimmt. Roosevelt selbst stand mit seiner Person für die Aufforderung, die Angst vor der Angst zu fliehen. Nach einer privilegierten Kindheit hatte er sich mit Polio infiziert, eine Erkrankung, die ihn seit 1921, im Alter von 39 Jahren, zum Invaliden machte und an den Rollstuhl fesselte. Seinem Lebensmut tat dies keinen Abbruch. Wenn man will, kann man an den deutschen Politiker Wolfgang Schäuble denken, um zu verstehen, wie paradoxerweise ein schweres Schicksal ein Weg zu Angstfreiheit werden kann.

    Angst leugnet das Wirkliche

    Freie Menschen sollen keine Angst vor der Angst haben, wie der Soziologe Heinz Bude in seinem Essay über die »Gesellschaft der Angst« in Anlehnung an Roosevelt schreibt: Menschen, die Angst haben, zahlen einen Preis: die Aufgabe ihrer Selbstbestimmung. »Wer von Angst getrieben ist, vermeidet das Unangenehme, verleugnet das Wirkliche und verpasst das Mögliche«, so Bude. Gewiss ist Angst stammesgeschichtlich ein Überlebensmechanismus, der uns auf reale Gefahren hinweist. Aber die Angst vor der Angst macht die Menschen abhängig von Verführern, Betreuern und Spielern. Deshalb, so muss man Roosevelt verstehen, ist es die erste Aufgabe staatlicher Politik, den Bürgern die Angst zu nehmen.

    Wichtig ist es, den Zusammenhang zwischen Angst und Freiheit zu sehen. Angstfreiheit, »Freedom from fear«, gehörte für Roosevelt zu jenen vier Grundfreiheiten, die er mitten im Krieg als unveräußerlich deklarierte: Die Menschen haben ein Recht auf Meinungs- und Glaubensfreiheit. Und sie sollen frei von Armut und Angst sein. In den damaligen Kriegszeiten klang das utopisch. 1948 gingen diese vier Freiheiten in die Präambel der UN-Menschenrechtskonvention ein. Für Thomas Mann war Roosevelt Held und Symbol für den »Endsieg« der Demokratie in Zeiten ihrer größten Gefährdung.

    Wir Deutschen gelten als besonders ängstlich. Da könnte etwas dran sein. »German Angst« ist bekanntlich eine Wendung, die ins Englische als Lehnwort eingegangen ist. Grund für diese deutsche Angst ist keine genetische oder psychologische Sonderheit, sondern die historische Erfahrung. Der Schrecken der Hyperinflation vor hundert Jahren sitzt uns in den Knochen, wird bewusst oder unbewusst von Generation zu Generation übertragen. Dass wir bis Anfang dieses Jahres über fast zwei Generationen ohne nennenswerte Teuerung lebten, bewirkte allenfalls auf der Oberfläche den Eindruck, das alte Trauma sei verschwunden. Kaum steigen die Preise, sind die alten Ängste wieder da. Anders als die Finanz- und Eurokrise der Jahre nach 2008, anders auch als der Flüchtlingsschock 2015, wird die Inflation für jedermann ganz konkret: im Supermarkt, an der Tankstelle, auf der Gasrechnung.

    Berlin leuchtet

    Das ist nicht alles. Es gibt weitere in unserer Geschichte verwurzelte Ängste. Ganz vorne stehen dabei die Angst vor einem Atomkrieg und die Angst vor einer nuklearen Katastrophe der friedlich genutzten Kernenergie. Hinzu kommt die Angst davor, dass der menschengemachte Klimawandel uns selbst und die ganze menschliche Zivilisation abschaffen könnte. Der Historiker Frank Biess hat vor ein paar Jahren die Geschichte Nachkriegsdeutschlands als »Republik der Angst« beschrieben und mehrere Angstzyklen identifiziert. Es ist sozusagen der Schatten zur Erfolgserzählung von Wirtschaftswunder, stabiler liberaler Demokratie und scheinbar ungebremstem Fortschrittsoptimismus, der uns bis heute verfolgt. Die Westdeutschen konnten sich nach 1945 nie völlig sicher sein, dass sich der Staat in eine friedliche, wohlhabende und relativ pluralistische demokratische Gesellschaft entwickeln würde. Das mündet jetzt in die Furcht, das 21. Jahrhundert könnte zu einem »Zeitalter der Angst« werden, wie der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze meint.

    Das Fatale an der augenblicklichen Lage ist, dass alle unsere historisch überkommenen Ängste gleichzeitig mobilisiert werden: Inflation, Atomkrieg, Nuklearkatastrophe und Klimawandel. Das kann einem schon den Schneid nehmen – und am Ende zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Umso wichtiger wäre es, dass Politiker alles tun, die Lähmung durch die »Angst vor der Angst« zu kontern und sich mit realistischem Blick zu Angstfreiheit als wichtigem Freiheitsrecht bekennen. Roosevelts Optimismus passt besser als Churchills »Blut, Schweiß und Tränen«-Predigt in unsere Zeit. Wer Angst macht vor dem kommenden kalten und dunklen Winter (Robert Habeck) oder »Volksaufstände« (Annalena Baerbock) an die Wand malt, spielt jenen extremen Politiker von rechts und links in die Hände, die dafür plädieren, vor Putin zu kapitulieren.

    Ich erinnere mich, wie ich Mitte der achtziger Jahre nach einer dreiwöchigen Seminarreise ins sozialistische Polen und einer Fahrt durch die DDR am späten Abend mit dem Auto Westberlin erreichte. Vorher war es stockdunkel, Berlin aber leuchtete hell. Diese Lichter waren für mich das Symbol für den freien Westen (und seine Werte). Wir sollten jetzt nicht – im übertragenen wie im konkreten Sinn – aus Angst die Lichter im Land ausgehen lassen.

    Rainer Hank

  • 27. September 2022
    Militante Demokratie

    Die Manns in Amerika Foto VATMH

    Dieser Artikel in der FAZ

    Thomas Mann und der Kampf gegen die Feinde der Freiheit

    Als Katja und Thomas Mann im Februar 1938 zu einer Vortragsreise in die USA in Le Havre an Bord der Queen Mary gingen, schwante ihnen, dass diese Reise womöglich der Beginn eines langen Exils werden könnte. Seit 1933 hatten das Paar Zuflucht in Küssnacht am Zürichsee gefunden. Der sich abzeichnende »Anschluss« Österreichs ließ ihnen selbst die Schweiz nicht mehr als hinreichend sicher erscheinen.

    Der Vortrag, den der Schriftsteller auf diese Reise in vielen Städten Amerikas halten sollte, trug – in einer Zeit der größten Gefährdung der offenen Gesellschaft – den kontrafaktischen Titel »Vom kommenden Sieg der Demokratie«. Gerade weil Demokratie »heute kein gesichertes Gut« sei, sondern angefeindet, von innen und von außen bedroht, tue eine »Selbstbestimmung der Demokratie« not. Die Freiheit müsse »ihre Männlichkeit« entdecken, so Thomas Mann, sie müsse lernen, »in Harnisch zu gehen und sich gegen ihre Todfeinde zu wehren«. Die Rede mündet schließlich in den berühmten Satz, die (freie) Welt müsse endlich begreifen, »dass sie mit einem Pazifismus, der eingesteht, den Krieg um keinen Preis zu wollen, den Krieg herbeiführt, statt ihn zu bannen.«

    Das Diktum gegen die pazifistischen Illusionisten darf man hellsichtig nennen, nimmt es doch ein halbes Jahr vor dem Münchner Abkommen die fatale Konsequenz der Appeasement-Politik westlicher Demokratien vorweg, die über die Köpfe der Tschechoslowakei hinweg Hitler die Abtretung des Sudetenlandes zubilligten, mit dem Resultat, den Krieg nicht zu bannen, sondern erst recht herbeizuführen. Hinterher ist man immer schlauer. Vorher aber meinte man, mit Verhandlungen und Zugeständnissen den Aggressor besänftigen zu können. Entgegenkommen gegen Deutschland wäre an der Zeit gewesen, als die Nazis noch nicht an der Macht waren, sagt Thomas Mann. Entgegenkommen werde auch wieder angeraten sein nach Hitlers Fall: »Gegenwärtig aber bedeutet jede Erfüllung deutscher Ansprüche einen grausamen und entmutigenden Schlag gegen die auf Freiheit und Frieden gerichteten Kräfte im deutschen Volk.«

    Das Klima der Unfreiheit wird rauher

    Es gilt als ahistorisch, eine direkte Verbindungslinie aus dem Jahr 1938 in das Jahr 2022 zu ziehen. Geschenkt. Die Frage wird dennoch erlaubt sein, ob angesichts der heutigen Bedrohung der liberalen Demokratie die Verteidigung der Freiheit nicht zu defensiv und kleinmütig daherkommt.

    Tatsächlich war die Freiheit weltweit lange nicht mehr derart bedroht wie heute. »Freedom House«, ein Thinktank in Washington, subsumiert nur noch gut 20 Prozent der Staaten der Welt als »frei«, doppelt so viel gelten als »nicht frei«, weitere knapp 40 Prozent sind allenfalls »teilweise frei«. Das bezieht sich auf das Jahr 2020. Inzwischen dominieren die Gegner der Freiheit nicht nur in Russland, China, Indien und einer Reihe von Ländern Osteuropas. Die Einschläge rücken näher: Schweden, das »Folksheim«, das über lange Jahrzehnte für viele das Ideal einer egalitären und friedlichen Gesellschaft darstellte, wird demnächst von einer rechtsnationalen Partei regiert, welche die Duldung von rassistischen Populisten in Kauf nimmt. Und in Italien könnte an diesem Wochenende eine Bewerberin dem Amt der Ministerpräsidentin näherkommen, die die Symbolik der Mussolini-Faschisten hoffähig machen will.

    Dem Klima der Unfreiheit von rechtsaußen korrespondiert eine sich radikalisierende Stimmung von links, die, ausgehend von den Universitäten, im Namen von Antirassismus und Gerechtigkeit nichts als Intoleranz und Hass erzeugt. »In liberalen Medien kann ein falsches Wort Karrieren beenden, an den Universitäten herrscht ein Klima der Angst, Unternehmen feuern Mitarbeiter, die sich dem neuen Zeitgeist widersetzen«, schreibt der Autor René Pfister (»Ein falsches Wort«); er zeigt, wie eine linke Identitätspolitik unsere Meinungs-Freiheit bedroht.

    Politische Polyphonie

    Allemal geht es nicht einfach um die Verteidigung der Demokratie. Denn Rechts- oder Linkspopulisten kommen ja gerade über demokratische Wahlverfahren an die Macht. Es geht um die Verteidigung der liberalen Demokratie: das ist jenes Verfahren der Machtbeschaffung, das sich selbst (gegen die Forderungen des Pöbels) an die Regeln der Rechtsstaatlichkeit bindet. Dazu zählen die Achtung einer unabhängigen Justiz, die Anerkennung einer freien Presse, die Ächtung politischer Korruption, die Garantie freier Märkte. Und der Auftrag, die Minderheit nicht der Diktatur der (demokratischen) Mehrheit zu unterwerfen.

    Das führt zurück zu Thomas Mann, der in Amerika seine vormalige Verachtung für die Demokratie abstreift, indes mit dem Liberalismus zeitlebens fremdelt. Die transatlantische Erfahrung überzeugte den weltberühmten Dichter vom Wert einer Haltung der Skepsis, die in der Lage ist, Ambivalenzen auszuhalten und elitären Absolutheitsansprüchen abzuschwören. Es sind die »konservativen« Werte einer bürgerlichen Zivilisation, die auf »Geld, Städte, Geist und Handel« baut, wie Thomas Mann mit Bezug auf den liberalen Schriftsteller Benjamin Constant schreibt.

    In Zeiten der illiberalen Polarisierung (damals wie heute) reicht es nicht, die Werte der Toleranz und Freiheit zu beschwören. Darüber hinaus ist es nötig, deutlich zu machen, dass liberale Toleranz an der Bedrohung durch die Intoleranz ihre Grenze findet. »Nur denn, damit die Demokratie triumphiere, muss sie kämpfen, möge sie auch lange des Kampfes entwöhnt gewesen sein«, so lesen wir in Manns Vortrag über »Das Problem der Freiheit« von 1939: »Eine militante Demokratie tut heute not, die sich des Zweifels an sich selbst entschlägt.«

    Thomas Mann unterschlägt Karl Loewenstein, der den Begriff der »wehrhaften Demokratie« (»militant democracy«) 1937 geprägt hat. Stattdessen zieht er die Analogie zur »ecclesia militans«, der kämpferischen Kirche: Sie kämpft für das Evangelium der Toleranz und bekämpft doch zugleich die Feinde der Toleranz.

    Womöglich ist dies das Problem des heutigen Liberalismus, dass er sich – eingeschüchtert von aller Schelte als Neoliberalismus – gar nicht mehr traut, »militant« für die Freiheit zu einzustehen, weil sogar er selbst daran glaubt, der entfesselte Kapitalismus, die Globalisierung und eine angeblich hypertrophe Freiheitsidee seien schuld am »Gegenschlag«, dem Triumph des Antiliberalismus.

    Die Waffen, die den Liberalen zur Verfügung stehen, haben ihr eigenes Arsenal: Liberale verteidigen das Recht der politischen Polyphonie, relativieren Absolutheitsansprüche mit ironischer Distanz, verlieren ihre Menschenfreundlichkeit nur da, wo sie es mit den Todfeinden der Humanität zu tun haben. Gegen diese Feinde mit Waffen zu mobil zu machen, erzwingt die Pflicht zur Verteidigung der liberalen Gesellschaft.

    Rainer Hank

  • 21. September 2022
    Staatsgeld auf Pump

    »Mehr, mehr«, ruft der kleine Häwelmann Foto Random House

    Dieser Artikel in der FAZ

    Die Schulden-Ökonomie des kleinen Häwelmann

    Damit musste man rechnen. Nach dem dritten wird jetzt über ein viertes Entlastungspaket gegen die Folgen von Energiekrise und Inflation diskutiert. Die Begründung ist jedes Mal gleich und gleich dürftig: »Es reicht nicht.« Getreu dem Motto des kleinen Häwelmann, der auf die Frage, ob er noch nicht genug habe, »Mehr, mehr!« schrie.
    Das zuletzt beschlossene dritte Paket beläuft sich auf 65 Milliarden Euro. Bedient werden Rentner, Studenten, Familien mit Kindern, Ärmere wie Reichere. Der Wettlauf der Benachteiligten, die nach Entlastungsintervertentionen rufen (oder deren Fürsprecher diese fordern), kennt keine Pause: »Um das Schlimmste gerade für Menschen mit wenig Einkommen abzufedern, müssen wir bei einem Fortschreiten der Krisen bereit sein, noch einmal nachzulegen.« So sprach sich zuletzt Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) für ein viertes Paket aus.

    »Die Erfahrung der Staatshilfen in der Corona-Pandemie hat das Anspruchsdenken gefördert, wonach der Staat bei Verschlechterungen der Gegebenheiten grundsätzlich in der Pflicht steht, für Ausgleich zu sorgen«, schreibt Martin Hellwig, Ex-Direktor der Bonner Max-Planck-Instituts für Gemeinschaftsgüter in einem Aufsatz über »Gasknappheit und Wirtschaftspolitik«. Während die Staatshilfen in der Corona-Pandemie zur Milderung von Staatsmaßnahmen (Lockdown) gedient hätten, werde heute die Wirkung von Entwicklungen in Osteuropa kompensiert, für welche die Bundesregierung keine unmittelbare Verantwortung trage. Die notorisch gewordene Anspruchshaltung des Juste Milieus sagt: Ich habe ein Recht auf den Erhalt des Status quo. Sollte sich dieser verschlechtern – einerlei, von wem auch immer verursacht -, habe ich ein Recht auf finanzielle Entschädigung durch meine Regierung.

    Wie die verängstigten Bürger rufen auch die Unternehmen um Hilfe (besonders vernehmlich die BASF), die sich zuvor in Abhängigkeit vom russischen Gas begeben haben, ohne den damit verbundenen Risiken Rechnung zu tragen. Auch sie verlangen, der Staat müsse sie rauspauken.

    Erst abschöpfen, dann entlasten

    Umsonst ist das alles nicht. Irgendwo müssen die Entlastungsmilliarden herkommen. Das deutsche Wort dafür heißt Schulden. Zwar versichert der Finanzminister ein ums andere Mal, im nächsten Jahr werde die Schuldenbremse der Verfassung eingehalten, die gebietet, dass die Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen grundsätzlich ohne Kredite auskommen müssen, also sich durch Steuern und Gebühren finanzieren müssen. Geduldet sind allenfalls Schulden von 0,35 Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts. Das entspricht im kommenden Jahr 17,2 Milliarden »erlaubter« Neuverschuldung und reicht noch nicht einmal für das dritte Entlastungspaket von 65 Milliarden. Der Finanzminister sagt, da sei noch »Spiel« und außerdem werde man sich einen Teil des Geldes von den klotzig verdienenden Stromerzeugern holen. Erst »abschöpfen« (mein neues Lieblingswort), dann »entlasten«.

    Ist das schlimm? Nö, sagen viele Zeitgenossen, worunter sich auch viele Ökonomen befinden. Schließlich seien die Schulden für einen guten Zweck, festigten den sozialen Zusammenhalt in angespannten Zeiten und kämen den nachfolgenden Generationen zugute, die im Zweifel eine Schuldenkrise der Klimakatastrophe vorziehen würden. Beschwichtigend hörten die Freunde der Verschuldung in den vergangenen Jahren von Ökonomen, solange die Kreditzinsen niedriger seien als das Wirtschaftswachstum müsse man sich ohnehin keine Sorgen machen, weil die Schulden sich von allein verkrümelten.

    Vor Staatsschulden zu warnen, ist altmodisch geworden. Ludger Schuknecht ficht das nicht an. Der Ökonom hat unter Finanzminister Wolfgang Schäuble als dessen Chefökonom gearbeitet, war danach Vize-Generalsekretär der OECD und ist heute Vize-Präsident der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) in Peking. In seinem neuen, gerade bei Cambridge University Press erschienen Buch zur Schuldentragfähigkeit (»Debt Sustainability«) malt Schuknecht ein düsteres Bild. Die Verschuldung der Staaten der Welt ist inzwischen auf einem Rekordniveau, vergleichbar der Situation im Jahr 1947. Damals war ein Weltkrieg die Ursache, heute genügt uns eine Kette von Krisen (Finanz-, Euro-, Corona-, Energiekrise) zur Legitimation exorbitanter Staatsausgaben auf Pump. Die Verschuldung der G7–Staaten lag 2021 bei knapp 140 Prozent des Bruttosozialprodukts; im Jahr 2007 belief sie sich noch auf gut 84 Prozent.

    Wie kommen wir da wieder raus?

    Dass dies auf Dauer nicht gut gehen kann, zeigt die Geschichte der Staatspleiten seit der Antike. Wo genau der »Tipping Point« liegt, bei dem die Gläubiger nervös werden, lässt sich im Vorhinein nicht exakt berechnen, was abermals die Sorglosigkeit befördert. Die Verführung durch das geliehene Geld war für die Mächtigen immer schon groß: Das kann man resignierend zur Kenntnis nehmen – so ist sie halt, die Fiskalpolitik -, man kann aber auch versuchen, daraus zu lernen.

    Ludger Schuknecht macht vier Szenarien auf, wie die Staaten der Schuldknechtschaft entraten können. Szenario 1 wäre der Weg der Tugend, der über Reformen und Konsolidierung führt. Besser als Steuern zu erhöhen, um die Schuldenlast zu drücken, ist es, die Staatsausgaben (Sozialleistungen, Subventionen) zu drosseln. Man sage nicht, das sei unmöglich: Eine Reihe von Ländern (Belgien, Irland, Kanada) haben ihre Haushalte in den 90er Jahren auf diese Weise saniert. Ein zweites Szenario ist das Eingeständnis des Staatsbankrotts (vornehm: »debt workout«), verbunden mit einem Schuldenschnitt für die Gläubiger und der Auflage der Austerität (Sparsamkeit) für die Schuldner. Dieser Weg ist seit der Eurokrise in Verruf geraten, hat aber funktioniert – siehe Griechenland – wenn auch schmerzhaft. Als drittes Szenario nennt Schuknecht die »finanzielle Repression«. In den vergangenen Jahren sah es so aus, als könnten negative Zinsen bei moderatem Wachstum die Schulden minimieren. In Deutschland hat das relativ gut funktioniert – die Nachteile für die Sparer nahm man in Kauf. Doch inzwischen droht die Gefahr, dass das Szenario 3, ähnlich wie in den 70er Jahren, in Szenario 4 umschlägt: Externe Schocks (Inflation, Krieg) untergraben das Vertrauen in die Finanzpolitik. Die Folge: Entweder zwingt der Zinsanstieg die Staaten finanziell in die Knie. Oder aber die Schulden werden weginflationiert – und mit ihnen die Vermögen der Bürger.

    So dramatisch endet die Analyse von Ludger Schuknecht nicht. Das könnte nicht nur daran liegen, dass er ein sanfter Mensch ist, sondern auch, dass das Manuskript seines Buches bei Kriegsausbruch im Februar in Druck ging. Inzwischen sehen wir noch genauer: Vom Allversicherungsstaat führt ein Weg in den Schuldenstaat.

    Rainer Hank