Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 27. Februar 2023
    Ein Lob der Schweiz

    Sind es die Berge, die die Menschen gesund halten? Foto Claudia Beyli/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum die Eidgenossen gesünder und langlebiger sind als wir

    Neulich hatte ich Besuch von einem Freund, den es vor ein paar Jahren beruflich mit seiner Familie in die Schweiz verschlagen hat. Wir sind, um es vorsichtig zu sagen, politisch nicht wirklich auf einer Linie: er ist Antikapitalist, bekennendes Mitglied der Partei »Die Linke« und findet, unser Wirtschaftssystem – schreiend ungleich und ungerecht – sei von innen nicht wirklich reformierbar.

    Mein Freund ist indes alles andere als ein Ideologe, sondern ein hellwacher, witziger Geist, bereit, sich von der Empirie korrigieren zu lassen. Sowas gibt es. Wie zu erwarten, war er vor dem Umzug in die Schweiz der Ansicht, das Gesundheitssystem dort, dem Musterland des Gesundheits-Kapitalismus, könne nichts taugen, müsse die Hölle der Zweiklassenmedizin sein. Umso mehr erstaunte ihn die Wirklichkeit: Als er innerhalb von zwei Tagen einen Termin bei einem Arzt in der Nachbarschaft erhielt, wähnte er noch, der müsse wohl stadtbekannt ein schlechter Arzt sein, wenn es so schnell gehe. Doch er wurde gut behandelt und die Familienangehörigen machten bei anderen Ärzten ähnlich zuvorkommende, positive Erfahrungen. Und, versteht sich, mein Freund ist kein Privatpatient (gibt es in diesem Sinn in der Schweiz gar nicht), er wohnt in einer sozial durchmischten Gegend mit überdurchschnittlichem Migrantenanteil – aber eben hoher Arztdichte.

    Ich will wissen, ob sich die positiven Erfahrungen meines Freundes generalisieren lassen – nicht zuletzt auf dem Hintergrund der schlechteren Erfahrungen hierzulande (von Großbritannien ganz abgesehen) mit langen Wartezeiten. Ein Anruf bei dem Basler Gesundheitsökonomen Stefan Felder liefert ein differenziertes Bild: Nicht alles dort ist Gold, was glänzt – aber vieles eben doch.

    Einheitliche Gesundheitsprämie

    Anders als bei uns wird das Schweizer Gesundheitssystem durch eine einheitliche Gesundheitsprämie finanziert, eine Pauschale, die unabhängig von Einkommen und Vermögen jedermann die gleichen Gesundheitsleistungen garantiert. Es gibt keine staatlichen Krankenkassen, sondern 57 private Versicherungen, zwischen denen die Bürger wählen können. Die Zahl ist in den vergangenen Jahren gesunken. Die Versicherungen dürfen die Menschen nicht abweisen, um nur »gute Risiken« aufznehmen (Kontrahierungszwang). Im Wettbewerb können die Versicherten sich für sogenannte »Managed-Care«-Programme entscheiden, welches die freie Arztwahl einschränkt und dafür die Prämien senkt.

    Dieses System einer obligatorischen Privatversicherung hat die Schweiz in den späten neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eingeführt. Es gilt als »solidarisch«, weil jeder zu gleichen Preisen die gleichen Leistungen erhält. Für ärmere Menschen gibt es einen Zuschuss vom Staat, der verhindern soll, dass der Beitrag auf über zehn Prozent des Einkommens steigt. Ein Selbstbehalt appelliert an eine gewisse Eigenverantwortung. Dieses System – die Älteren erinnern sich – wurde auch bei uns vor rund zwanzig Jahren unter dem polemischen Begriff »Kopfpauschale« (klang wie Kopfprämie) diskutiert – und verworfen. Einer der am Ende siegreichen Opponenten damals war der heutige SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD).

    Wie schlägt sich nun das Schweizer Modell insgesamt? Kriegt man dort nicht nur rasch einen Arzttermin, sondern sind die Menschen womöglich auch insgesamt gesünder und langlebiger? Dazu habe ich mir die neueste Gesundheitsstudie der OECD (»Health Care at a Glance«) aus dem Jahr 2021 angeschaut. Eines haben Deutschland und die Schweiz gemein: Beide Länder leisten sich die teuersten Gesundheitssysteme weltweit, übertroffen bloß von den USA. Jeden Bürger in der Schweiz kostet das Gesundheitssystem 6700 Dollar im Jahr, in Deutschland sind es 6518 Dollar. Im OECD-Durchschnitt sind es lediglich 4000 Dollar.

    Und was kriegen die Bürger für ihr Geld? Da, so muss man es leider sagen, schneiden wir deutlich schlechter ab als die Eigenossen. Nehmen wir nur die Lebenserwartung des Geburtsjahrgangs 2019. Da liegt Japan mit 84,4 Jahren siegreich (und erwartbar) auf Platz Eins. Aber schon auf Platz zwei rangiert die Schweiz (84 Jahre), gefolgt von Spanien und Italien (was uns ebenfalls weniger überrascht: Sonne, Siesta und Olivenöl. Weit abgeschlagen landet Deutschland mit einer Lebenserwartung von 81,4 Jahren auf Platz 25, das ist nur knapp über dem OECD-Durchschnitt von 81 Jahren und nur kurz vor Costa Rica (nichts gegen Costa Rica, da war ich vor Kurzem).

    Nehmen wir als weiteres Beispiel das Risiko, an Krebs zu sterben. Da kommen in Deutschland auf 100 000 Menschen 192 Krebstote. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 191. In der Schweiz ist das Risiko deutlich geringer: An Krebs sterben 167 Menschen bezogen auf 100 0000 Bürger.

    Vermeidbare Sterblichkeit

    Schließlich ein letzter, wie Gesundheitsökonomen sagen, besonders wichtiger Bereich: Was bringt die Prävention schwerer und häufig tödlich endender Krankheiten (Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes, Krebs)? Im Fachjargon ist von durch rechtzeitige Behandlung »vermeidbare Sterblichkeit« die Rede (»preventable and treatable causes of mortality«), was nichts an der Tatsache ändert, dass wir alle sterben müssen. Hier hält die Schweiz seit langem den ersten Platz (auch wenn ein paar statistische Effekte womöglich das Bild schönen). Die klügere Gesundheitsprävention führt dazu, dass »nur« 39 behandelbare Krankheitsfälle trotz Vorsorge tödlich enden (wieder bezogen auf 100 000 Bürger), während es hierzulande 62 sind. Es sind solche einprägsamen Zahlen, die dazu führen, dass auch andere vergleichende Gesundheitsstudien der Schweiz ein gutes Zeugnis ausstellen. So kann man in den eher »linken« »Mirror-Mirror-Studien« der amerikanischen Commonwealth-Foundation nachlesen, dass die Schweiz (zusammen mit Norwegen und Australien) die »vermeidbare Sterblichkeit« durch gute Gesundheitspolitik in den vergangenen zehn Jahren um 25 Prozent zu reduzieren vermochte.

    Fassen wir zusammen: Dass es sich in der Schweiz deutlich gesünder lebt als hierzulande, liegt nicht am Geld. Die Ausgaben sind (fast) gleich hoch, die Leistungen erheblich besser. Die guten Ergebnisse sind sicher nur teilweise auf die klügere Finanzierung mittels Kopfpauschalen zurückzuführen. Der Hauptgrund ist eine höhere Effizienz des Systems: weniger Verschwendung, weniger Fehlanreize für Ärzte und Kliniken und die Konzentration auf Vermeidung schwerer und häufiger Krankheiten. Nicht mehr Geld ausgeben, sondern klüger Geld auszugeben, heißt die erste Lehre des Vergleichs. Und die zweite Lehre heißt: Medizin und Ökonomie gegeneinander auszuspielen, wie es derzeit bei Karl Lauterbach & Co. groß in Mode ist, macht die Medizin schlechter und das System teurer.

    Rainer Hank

  • 27. Februar 2023
    Sind Frauen faul?

    Liegt es an den Arbeitsanreizen oder an den Präferenzen? Foto Adina Voicu/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über Paarbeziehungen, Geschlechter-Stereotypen und das leidige Splitting

    Überall fehlt es an Menschen, die arbeiten wollen. Woran liegt das? Sah es nach Corona eine Zeitlang so aus, als ob vor allem das Personal in Restaurants keine Lust mehr hätte, spät abends zu kochen und bedienen, so zeigt sich inzwischen: die Sorge geht quer durch die Branchen, quer durch die Hierarchien und ist längst nicht nur auf einfache Beschäftigung mit niedriger Bezahlung beschränkt. In den Schulen fehlen die Lehrer, in den Kanzleien die Anwälte und in den Kliniken die Oberärzte.

    Das »Institut für Arbeitsmarktforschung« (IAB) in Nürnberg veröffentlicht regelmäßig einen »Arbeitskräfteknappheitsindex« (schönes Wort!). Der misst, inwiefern die Besetzung offener Stellen durch nicht oder begrenzt verfügbare Arbeitskräfte erschwert wird. Im Januar 2023 zeigte dieser Index im Fünfjahresvergleich einen Höchststand, höher als im Jahr 2018 als die Wirtschaft boomte und weder von Corona noch von Krieg und geopolitischen Verwerfungen die Rede war.

    So kann sich die Welt drehen. Ich bin journalistisch in den neunziger Jahren groß geworden. Damals waren die meisten Menschen davon überzeugt, dass uns über kurz oder lang die Arbeit – und nicht die Arbeiter – ausgehen würden. Man wollte die Wochenarbeitszeit auf 30 Stunden verkürzen und die Lebensarbeitszeit auf 60 Jahre begrenzen. Eine ganze Reihe der damals eingeführten Tarifverträge und Gesetze tragen mit bei zur heutigen Knappheit. Heute gibt es Roboter, Künstliche Intelligenz und eine zunehmende Automatisierung in der industriellen Fertigung. Aber niemand käme auf die Idee, dass uns deshalb die Arbeit ausgehen wird.

    Was also tun? Im Angebot befindet sich viele Ideen. Sie reichen von einer Ausweitung der Wochen- und Lebensarbeitszeit, über eine aktive Einwanderungspolitik bis zur stärkeren Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben und einem Verbot, in Teilzeit zu gehen (letzteres klingt nicht sehr freiheitlich). All diese Vorschläge zu diskutieren, sprengt den Rahmen einer Kolumne. Ich beschränke mich auf die Frage, ob die Arbeitskräfteknappheit an den Präferenzen der Menschen liegt.

    Vier-Tage-Woche beim vollem Lohnausgleich

    Ein Experiment an der Universität Cambridge, das gerade für Furore sorgt, legt nahe: Vier Tage Arbeit, selbstredend bei vollem Lohnausgleich, das ist auch heute noch die Wohlfühlutopie vieler Leute. Tatsächlich steigt die Teilzeitquote seit langem. Dies wiederum ist auf die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen zurückzuführen, die bekanntlich einen sehr hohen Teilzeitanteil haben. Andererseits stieg die Zahl der Beschäftigten insgesamt im Dezember mit über 45 Millionen auf einen neuen Höchststand; die Erwerbstätigenquote liegt bei sensationellen 75,6 Prozent.

    Doch allen Rekordmeldungen zum Trotz, beißt am Ende die Maus keinen Faden ab: Es fehlen die Leute an allen Ecken und Ende. Weil jetzt die Boomer in Rente gehen, wird alles nur noch brisanter. Es müssten also noch mehr Menschen bereit sein zu arbeiten oder mehr zu arbeiten – und das könnten zum Beispiel die Frauen sein, deren Erwerbsbeteiligung weiterhin unter ihrem Anteil an der Bevölkerung liegt – erst recht, wenn es um die Führungsetagen geht.

    Woran liegt das? Zwei Erklärungen: Frauen wollen gar nicht noch mehr arbeiten und das deutsche Steuersystem macht es ihnen auch nicht besonders attraktiv. Dass im europäischen Vergleich die Frauen hierzulande weniger Stunden arbeiten (nur in Italien arbeiten die Frauen noch weniger), hat viel mit dem Steuerrecht zu tun. Unser Ehegattensplitting minimiert war zwar – was positiv ist – die Steuerlast eines Ehepaars insgesamt, senkt aber die Anreize, zusätzlich mehr zu arbeiten. Denn für jeden zusätzlichen Euro, den sie verdienen, werden die Partner gleich besteuert, nämlich nach ihrem Grenzsteuersatz. Im Gegensatz zu einem System der getrennten Besteuerung sieht sich die Zweitverdienerin im System mit Ehegattensplitting bei einer Ausweitung ihrer Arbeitsstunden mit dem höheren Grenzsteuersatz des Ehepaars konfrontiert. Es bleibt für sie wenig Netto vom Brutto.

    Die Folge beschreibt die Frankfurter Ökonomin Nicola Fuchs-Schündeln seit langem: »Das Ehegattensplitting setzt Anreize innerhalb der Familie sich zu spezialisieren – er arbeitet, sie macht Haushalt und Familie.« Die Ökonomin ist pessimistisch, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird. Vor Wahlen werde regelmäßig darüber debattiert, hinterher verschwindet das Thema. Dabei hätte eine Reform des Ehegattensplittings eine Signalwirkung gegen die herkömmliche Arbeitsteilung und würde – unter der Voraussetzung, dass die Partner ihre Arbeit nicht oder nicht im selben Umfang reduzieren – die Knappheiten am Arbeitsmarkt lindern.

    Das Gender-Equality-Paradox

    Aber wollen die Frauen das auch? Nein, sagt die Schweizer Ökonomin Margit Osterloh und bietet als weitere Erklärung das »Gender Equality Paradox« an. Entgegen landläufigen Vorstellungen ist die Einstellung zu Beruf und Familie umso konservativer, je reicher ein Land ist. Insbesondere Männer und Frauen aus wohlhabenden Haushalten leben eher nach traditionellen Rollenvorstellungen: Die gut (oder besser) ausgebildeten Frauen arbeiten Teilzeit oder bleiben zuhause und kümnmern sich um Haushalt und Kinder, während ihre Männer in hoch bezahlten, arbeitsintensiven Jobs Vollzeit arbeiten.

    Diese Geschlechts-Stereotypen werden an die Kinder bewusst oder unbewusst »vererbt«, behauptet Margit Osterloh. Und diese erlernte Rollenverteilung bestimmt wiederum auch, welchen Ausbildungsweg Frauen und Männer einschlagen: Frauen wählen zu einem hohen Anteil typische »Frauenfächer« (Psychologie, Soziologie, Medizin) und streben seltener eine Karriere an. Wenn diese Frauen dann auf dem Heiratsmarkt auch noch auf Männer in typischen »Männerfächern« treffen, was häufig vorkommt (»komplementäre Paarbildung«), ist alles zu spät.

    Was soll man machen? Solange die geschlechtstypischen Wünsche von Frauen und Männern in einer Wohlstandsgesellschaft ihrer freien Wahl und Entscheidung entsprechen – wer wollte ihnen dies verwehren! Und solange keine Regierungskoalition, welcher Couleur auch immer, eine parlamentarische Mehrheit zur Abschaffung des Ehegattensplittings sammelt, werden sich auch die Arbeitsanreize nicht ändern. Es bleibt bei der hergebrachten familiären Arbeitsteilung. Das Arbeitsangebot ändert sich nicht – und den Firmen fehlt das Personal.

    Rainer Hank

  • 15. Februar 2023
    Die Radikalisierungs-Spirale

    Apocalypse now Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum Menschen ins Extrem verfallen

    Vor ein paar Jahren wurde eine Reihe von Bürgern aus zwei verschiedenen amerikanischen Städten für ein Experiment in kleine Gruppen zusammengefasst. Die Gruppen sollten sich mit drei der umstrittensten Fragen der Zeit auseinandersetzen: Klimawandel, positive Diskriminierung und gleichgeschlechtliche Partnerschaft. Bei den Städten handelte es sich um Boulder – bekannt für seine eher linkslastigen Wähler – und Colorado Springs, wo mehrheitlich konservativ gewählt wird. Die Bürger wurden zunächst aufgefordert, ihre Ansichten jeder für sich anonym aufzuschreiben. Anschließend mussten sie darüber in der Gruppe beratschlagen. Zum Schluss sollte dann jeder Teilnehmer für sich anonym festhalten, was er nach der Beratung über die Themen dachte.

    Das Ergebnis: Durch das Gruppengespräch haben sich die Bürger von Boulder nach links bewegt. Die Leute aus Colorado Springs hingen äußerten sich deutlich konservativer. Beide Male rückte man mehr ins Extrem. Vorher gab es zwischen den Befragten der beiden Städte noch eine ganze Menge Übereinstimmungen, nachher war man sich fremder geworden.

    Der Mensch ist offenbar nicht gerne anderer Meinung. Er passt sich der Gruppe an, selbst wenn es keine neuen Fakten gab, die eine Änderung seiner Meinung nachvollziehbar gemacht hätten. Die Gruppe harmonisiert nach innen, polarisiert nach außen und radikalisiert ihre Mitglieder – in welche politische Richtung auch immer. Woran das liegt? Menschen hungern nach Bestätigung. Wenn zwei einander Recht geben, fühlen sich beide sicherer. Schließt sich ein Dritter an, wird es noch besser. Man nennt das eine Bestätigungskaskade. »Herdentrieb, Gruppendruck, rigide Loyalitätserwartungen sind in allen Ländern und Gesellschaften gleich«, schreibt der amerikanische Verhaltensökonom Cass C. Sunstein, von dem die Experimente in Boulder und Colorado Springs stammen. Gruppen radikalisieren sich nach außen, harmonisieren nach innen.

    Am Ende kann es passieren, dass einige die Gruppe verlassen, weil ihnen die Radikalisierung der Gruppe zu weit geht. Die Gruppe wird dadurch zwar kleiner, aber noch radikaler und geschlossener, weil nur die Allerloyalsten bis zum Schluss bleiben, die sich untereinander bis ins Extrem anfeuern.

    Was AfD und Last Generation eint

    An Cass Sunstein musst ich denken, als vergangene Woche viel über den zehnten Jahrestag der Gründung der AfD zu lesen war. Hier lassen sich in der »realen« Geschichte die Experimente aus dem Experiment überprüfen. Zugleich bekommt die scheinbar historisch zufällige Geschichte einer neu gegründeten Partei eine innere Logik.

    Vor zehn Jahren war Konrad Adam, ein Ex-Kollege aus dem FAZ-Feuilleton, bei uns in der Wirtschaftsredaktion erschienen, um zu berichten, man werde jetzt mit seiner tatkräftigen Mitwirkung eine neue konservativ-liberale Partei gründen, die sich gegen eine weitere Vergemeinschaftung der Währung in der Euro-Zone positionieren wolle. Angesehene, wenngleich nicht unumstrittene Ökonomieprofessoren – Bernd Lucke aus Hamburg, Joachim Starbatty aus Tübingen – machen mit. Das Thema lag in der Luft; man war mitten in der sogenannten Eurokrise.

    Das war der Gründungsakt der AfD. Migrations- oder ausländerfeindliche Töne gab es zwar damals schon, doch wurden sie als Minderheitsmeinung marginalisiert. Spätestens in der Flüchtlingskrise 2015 setzte dann ein Radikalisierungsprozesse ins rechte Extrem ein, in deren Verlauf die Gründer schließlich aus der Partei gedrängt wurden. Im Blick auf die jeweiligen neuen Führungsfiguren erscheinen die Vertriebenen stets als die Gemäßigten, die, als sie selbst die Macht errangen, die Radikalen waren: Von Lucke zu Petry, von Petry zu Meuthen, von Meuthen zu Weidel und Chrupalla.

    Spiegelbildlich zeigt sich eine vergleichbarer Radikalisierungsspirale auch auf Seiten der Klimaprotestbewegung. Es ging los mit den Schulstreiks der »Fridays for Future«-Schülern, ging weiter mit Extinction Rebellion (Motto: »Hier ist immer was los.«), die sich auf die Tradition des Zivilen Widerstands beruft: Im Moment laufen die Vorbereitungen auf das Frühjahrscamp in Berlin. Dem folgte, abermals radikalisiert, die »Letzte Generation«, deren »Aktivisten« sich auf Autobahnen festkleben oder Kunstwerke mit Kartoffelbrei bewerfen, um auf den angeblich bevorstehenden Weltuntergang hinzuweisen. Die Aktionen der gemäßigten Gruppen nützen sich ab. Freitagsstreiks finden zwar immer noch statt, doch die Öffentlichkeit interessiert das nicht mehr sonderlich. Die Aufmerksamkeitsökonomie verlangt härtere Bandagen.

    Rhetorik der Unausweichlichkeit

    Rechtsextreme wie klimaradikale Bewegungen neigen zu einem religiösen Dualismus: Wir sind die Auserwählten. Es gibt die Guten, die wissen, dass Überfremdung das Ende der »Bio-Deutschen« bedeutet oder dass unsere Welt in nächster Zeit aufgrund der Erderwärmung untergehen wird. Stets sind die anderen die Verblendeten. Gemäßigte Stimmen im eigenen Lager werden als Apostaten – als Abtrünnige – stigmatisiert und als Verräter mundtot gemacht. Anders als die dumpfdeutschen AfD-Anhänger liebt die Klimabewegung das Spiel mit einer Ästhetik der Plötzlichkeit. Doch auch dieses kann rasch in Gewalt umschlagen, wie sich in Lützerath zeigte.

    Muss man es angesichts der Radikalisierungsspirale mit der Angst zu tun bekommen? Ein bisschen schon. Trost spendet ausgerechnet Daniel Cohn-Bendit in einem ZEIT-Interview. Cohn-Bendit (77), der sich als »roter Großvater« ironisiert, argumentiert gegen die »Rhetorik des Unausweichlichen« radikaler Aktionisten, die sich auf Dauer abnützt, aber eben auch den Keim noch weiterer Radikalisierung in sich birgt. Auf die Vernunft von Gruppen würde ich deshalb keinen Pfifferling wetten. Aber auf einzelne starke Naturen, die sich dem Gruppendruck widersetzen und gehört werden. Cohn-Bendits Biografie ist selbst ein Beispiel für eine Emanzipation von der eigenen 68er Radikalität.

    Von »Liberalisierung als Lernprozess« hat der Literaturwissenschaftler Kai Sina, eine Formulierung Ulrich Herberts aufgreifend, in einem großen Nachruf auf Hans Magnus Enzensberger in der Februar-Nummer des »Merkur« gesprochen. In liberale Richtung habe sich die Bundesrepublik glücklicherweise nach 1945 entwickelt. Auch die allmähliche positive Aneignung der liberalen Demokratie Weimars durch einzelne Intellektuelle (Thomas Mann, Ernst Troeltsch) gehört in dieses kleine Lesebuch liberaler Vorbilder, die die Kraft hatten, sich der Radikalisierungsspirale zu entziehen. Immerhin.

    Rainer Hank

  • 15. Februar 2023
    Ein Lob der Großmütter

    Aktiv, dynamisch, alt Foto Ravi Patel/unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Sie halten den Laden am Laufen

    Der spätere Nachtmittag ist die Zeit der Großmütter. Das sagt der Blick aus meinem Fenster. So gegen 16 Uhr kommen die Kinder zurück aus der Kita – an der Hand der Oma. Die Eltern – in unserer Wohngegend sind das Zentralbankerinnen, Anwälte, Industriemanager – sind um diese Zeit noch bei der Arbeit.

    Die fast flächendeckende Versorgung mit Kinderbetreuungsplätzen macht die Großeltern keinesfalls überflüssig. Die decken die Randzeiten ab, sind zur Stelle, wenn eines der Enkelkinder krank ist oder beide Eltern auf Dienstreise außer Landes. Ohne Oma und Opa läuft hierzulande gar nichts.

    Seit Jahren hören wir, meist mit zivilisationsskeptischem Unterton, die Großfamilie sei tot. Der Allerweltsatz zitiert die Idylle irgendeiner Vorzeit, wo drei oder mehr Generationen unter einem gemeinsamem Dach gelebt haben. Ob es je so war, sei dahingestellt. Meine Großeltern sind in den späten fünfziger Jahren in ein kleineres Häuschen auf der gegenüberliegenden Straßenseite gezogen, nachdem einer der Söhne mit seiner Familie den Handwerksbetrieb des Opas samt Elternhaus übernommen hatte.

    So ähnlich ist das überraschenderweise heute immer noch. Die Großeltern wohnen in erreichbarer Nähe, können also die Enkeldienste ohne größeren Aufwand übernehmen. Eine meiner vitalen Großmutterfreundinnen, wohnhaft im Rheinland, hat sich jetzt in Berlin in der Nähe ihrer Enkelbuben eine kleine Zweitwohnung genommen. Sie behält ihre Unabhängigkeit, geht der jungen Familie (beide sind Architekten und seit kurzem selbständig) nicht auf die Nerven, ist aber zur Stelle, wenn sie gebraucht wird. Und wenn nicht, geht sie ins Museum.

    Vor längerer Zeit habe ich in dieser Kolumne ein Lob der Hausfrau geschrieben. Dafür bin ich von allem emanzipierten Zeitgenossinnen (m/w/d) als stockkonservativer Knochen abgeschrieben worden. Seither habe ich die Finger von Familienthemen gelassen. Doch nun ist es Zeit für ein Lob der Großeltern. Die empirische Datenbasis verdanke ich dem britischen »Economist«, der vor ein paar Wochen das »Zeitalter der Großmutter« (»Granny nannying«) ausgerufen hat und erstaunt feststellte, dass das bislang noch niemandem aufgefallen ist.

    Wachsendes Granny-Angebot

    Aber erst einmal zu den sozioökonomischen Daten. Die Alterung der Gesellschaft führt quasi auf natürliche Weise dazu, dass das Großelternangebot seit Jahren wächst. Die Lebenserwartung weltweit hat sich seit 1960 von 51 auf 62 Jahre verlängert. Viele Rentner sind topfit. Weltweit gibt es inzwischen 1,5 Milliarden Großeltern, 1960 waren es noch 500 Millionen. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ist von 17 auf 20 Prozent angewachsen. Schätzungen erwarten, dass die Großelternschaft im Jahr auf 2,1 Milliarden (22 Prozent) anwachsen wird.

    Dem Angebot an Großeltern korrespondiert zahlenmäßig ein Rückgang der Nachfrage, es weniger Babys gibt. Im genannten Zeitraum seit 1960 fiel die durchschnittliche Zahl der Kinder, die eine Mutter zur Welt bringt, von fünf auf 2,4 (ebenfalls weltweit). Daraus lässt sich eine Großeltern/Baby-Quote errechnen. Das ist die Zahl der Omas und Opas, die auf ein Enkelkind kommt, woraus man zugleich auf eine zunehmende Betreuungs- oder Aufmerksamkeitsintensität für die Enkel schließen kann. Diese Quote – präzise: Großeltern bezogen auf Kinder unter 15 Jahren – stieg seit 1960 von 0,46 auf heute 0,8.

    Im internationalen Vergleich sind die Kinder betreuenden Großeltern unterschiedlich verteilt. Während in Belgien über 60 Prozent der Großmütter sagen, sie betreuten regelmäßig ihre Enkel, sind es in Bulgarien knapp 30 Prozent. In Frankreich oder Israel, Ländern mit angeblich flächendeckender staatlicher Kinderbetreuung, muss jede zweite Oma regelmäßig ran. Wer hätte das gedacht!

    Angela Merkel hat während der Corona-Pandemie jene Mitbürger gefeiert, »die den Laden am Laufen halten«. Sie nannte die Kassiererinnen an den Supermarktkassen als Beispiel. Generell und ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass es die Großmütter sind, die unsere Gesellschaft und Wirtschaft am Laufen halten. Ohne sie liefe deutlich weniger. Vor allem wären ohne sie deutlich weniger junge Mütter erwerbstätig. Der »Economist« zitiert eine Untersuchung der Washington University, wonach die Berufstätigkeit für verheiratete Frauen mit kleinen Kindern um bis zu zehn Prozentpunkte zunimmt, wenn eine Großmutter im Umkreis von 25 Kilometern lebt. 25 Kilometer sind in den USA bekanntlich noch Nachbarschaft. Vergleichbare Untersuchungen gibt es für Deutschland (noch) nicht. Gesichert scheint aber zu sein, dass die Teilzeit-Großelternbetreuung den Kindern lebenslang guttut. Unklar ist allenfalls, ob die sprichwörtlich weniger strengen Omas und Opas auch dazu beitragen, dass Kinder heute dicker sind als früher.

    Und was ist mit den Großvätern?

    Und was ist nun mit den Großvätern? Sie lassen sich weniger in die Betreuungspflicht nehmen als die Großmütter. Ob sie sich fein raushalten oder ob die Großmütter ihnen die Enkel vorsorglich lieber nicht anvertrauen, harrt noch der Aufklärung. Gleichmäßig scheint der Enkelbetreuungsjob jedenfalls nicht verteilt zu sein, obwohl mir gesprächsweise auch einige Vorzeige-Opas im Dauereinsatz angepriesen wurden. Ein Fall von Verteilungsungerechtigkeit? Die Omaemanzipation hat noch viel zu tun.
    Aber immerhin: Indirekt sind auch die Opas nützlich. Eine Untersuchung des »Max-Planck-Instituts für demographische Forschung« in Rostock hat herausgefunden: Ein Jahr nachdem Großväter in Deutschland in Frührente gehen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Kinder, also die Elterngeneration, ein zweites Kind bekommen um 17 Prozentpunkte. So sind also auch die Opas daran beteiligt, dass die Fertilitätsrate hierzulande nicht noch weiter absackt. Der Renteneintritt der Großväter habe sogar größeren Einfluss auf die Familienplanung der Elterngeneration als der Renteneintritt der Großmütter, sagen die Max-Planck-Forscher – freilich bloß deshalb, weil die Großmütter häufig Teilzeit arbeiten und schon vor der fälschlich Ruhestand genannten Lebensphase viel Zeit für die Betreuung der Enkel aufbringen.

    Wie kommt es, dass über die gesellschaftliche Leistung der Großmütter für den sozialen Zusammenhang im Land öffentlich kaum geredet und geforscht wird? Diese Leistungen gibt es sozusagen frei Haus. Die Großeltern verlangen kein Enkelbetreuungsgeld vom Staat, was die Schuldenquote des Finanzministers schont. Sie beschweren sich generell nicht (oder nur selten). Als ob Familienpolitik, Vereinbarkeitskonzepte oder Arbeitsmarktpartizipation immer nur vom Staat initiiert und bezahlt werden müssten! Die Politik ist hier gerade einmal nicht gefordert. Sie müsste lediglich gelegentlich die Leistung dieser Großeltern loben und preisen.

    Rainer Hank

  • 01. Februar 2023
    Bernie Madoff und die Gier

    Bernie Madoff (1938 bis 2021) Foto wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Anmerkungen zu einer neuen Netflix-Serie

    Auf Netflix gibt es seit kurzem eine vierstündige Dokumentation – so etwas heißt heute »Miniserie« – über den Fall Bernie Madoff. Sie erinnern sich: Das ist jener Betrüger, der über fünfzehn Jahre gutgläubige Anleger um insgesamt 65 Milliarden Dollar geprellt hat und dafür zu 150 Jahren Haft verurteilt wurde. Davon hat Madoff elf Jahre verbüßt. Dann starb er im Jahr 2021 im Alter von 82. Madoff gilt als der größte Finanzbetrüger in der Geschichte. Rund 300 Anwaltskanzleien mit 45 000 Anwälten waren mit dem Fall befasst.

    Das Netflix-Format nennt sich »True Crime Doku«. »True Crime Dokus«, so lerne ich als Novize, sind zu unterscheiden von »Doku Fiction«, wo die Filmemacher die Leerstellen mit ihrer Fantasie ausmalen. Im True Crime über Madoff kommen Zeitzeugen, Opfer, Whistleblower, Angestellte und mögliche Komplizen zu Wort. Was die Zeugen erzählen, wird in Filmszenen mit Schauspielern nachgestellt, »Reenactment« genannt. Als Zuschauer soll man den Eindruck gewinnen, dem Verbrecher ganz nah zu sein – was in der Wirklichkeit bekanntlich eher selten vorkommt.

    Etwas reißerisch ist der Titel »Das Monster der Wall Street«. Das soll wohl an Martin Scorseses Erfolgsfilm »The Wolf of Wall Street« anknüpfen. Dabei ist »Monster« ziemlich daneben. Alle, die Madoff kannten, erinnern ihn als ganz normalen netten Mann aus der Nachbarschaft. Ihn als »finanziellen Serienkiller« zu bezeichnen, ist weniger schief: Er hat die Existenz vieler Sparer vernichtet, ohne jegliche Empathie für deren Schicksal.

    Wie wird einer zum Betrüger? Niemand kommt als Verbrecher zur Welt. Ist Madoff allein der Schurke, alle anderen sind Opfer? Oder braucht der Schurke Mitwisser, gar Mittäter, um Erfolg zu haben? Die Netflix-Doku legt diesen Verdacht nahe.

    Ein Besuch im Gefängnis

    Das großartige FAZ-Archiv schickt mir eine Reportage zweier Journalisten der Financial Times (FT), die im Jahr 2011, drei Jahre nachdem Madoffs Schwindel aufgeflogen war, die Chance erhielten, den Betrüger im Gefängnis FCI Butner, »mittlere Sicherheitsstufe«, zwei Stunden lang zu interviewen. Alle Fragen an Häftling 617272–054 waren zugelassen. Der diensthabende Wachmann wäre nur eingeschritten, wenn es zu Handgreiflichkeiten gekommen wäre.

    Das Glaubwürdigkeitsproblem aller Betrüger steckt im alten Kinderreim: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Die beiden Reporter gehen von der Möglichkeit aus, Madoff könne zumindest »seine« Wahrheit sagen jetzt, wo er nichts mehr zu verlieren hat.

    Seine Geschichte geht so: Geboren 1938 als Sohn eines jüdischen Mittelschichtpaares in Queens. Der Vater hatte ein Sportgeschäft, das Pleite ging als Madoff ein junger Mann war. Seine spätere Frau Ruth lernt er in der Schule kennen; sie war 17 Jahre alt. Madoff träumte von einer Karriere an Wall Street, fürchtete indes, einer wie er, ohne Bildung und Vermögen, habe keine Chance.

    Es kam anders. Aus einem kleinen Broker-Office in den Räumen seines Schwiegervaters wurde ein erfolgreicher Börsenhandel, der früh Computer einsetzte, was die Branche damals ablehnte. Schon in den sechziger Jahren gewann Madoff vier prominente jüdische Kunden, die sein Schicksal werden sollten: Jeffrey Picower und Stanley Chais, zwei reiche New Yorker Investoren. Norman Levy, ein Immobilienmanager, und Carl Shapiro, ein erfolgreicher Kleiderfabrikant aus Boston. Madoff versprach ihnen legale Wege einer langfristigen Geldanlage mit dem Ziel, die konfiskatorisch hohen Steuern in den 70er und 80er Jahren zu unterlaufen.

    Das ging gut bis zum – heute nahezu vergessenen – großen Börsencrash im Oktober 1987. Die vier Großkunden wurden nervös, wollten ihr Geld zurück, zumal die Steuersätze inzwischen weniger drückten. Da Madoff ihr Geld langfristig angelegt und mit Gegenwetten europäischer Anleger gehedget hatte, war er nicht flüssig. Ob Madoff selbst oder einer seiner vier mächtigen Freunde (»too big to fire«) oder alle zusammen auf die Idee kamen, das Geld neuer Kunden zu nehmen, um damit die Ansprüche der Vierergruppe zu bedienen, bleibt offen. Doch das Ponzi-Scheme (»Schneeballsystem«) war in der Welt, ursprünglich nicht als kriminelle Strategie geplant, sondern zur Überbrückung, bis das langfristige Kapital frei würde.

    Bei Ebbe sieht man, wer nackt ist

    Von jetzt an nahm die kriminelle Energie ihren Lauf. Weil Madoff die hohen Renditeerwartungen seiner neuen Klienten nicht dauerhaft mit seiner legalen Anlagestrategie erfüllen konnte, legte er das Geld gar nicht mehr am Kapitalmarkt an, sondern gaukelte ihnen dies lediglich vor. Solange er mehr Einnahmen hatte als Auszahlungen funktionierte das simple System. Frisches Geld kam lange rein, weil Madoff eine höhere Verzinsung als der Kapitalmarkt bot, zwar nicht exorbitant (10 Prozent), aber stetig und ohne Verlustrisiko.

    So etwas weckt die Gier, auch wenn rein logisch risikofreie Gewinne in einer Marktwirtschaft nicht möglich sind. Die besten Adressen (Deutsche Bank, Credit Suisse, Liliane Bettencourt von L›Oréal) klopften bei Madoff an. Er machte sich rar, willigte am Ende scheinbar widerwillig ein, das Geld zu nehmen. Wenn gerade mal kein Geld zur Auszahlung da war, half Großkunde Picower aus, nicht uneigennützig. Die amerikanische Börsenaufsicht SEC stellte Madoff einen Persilschein aus – angesichts seiner Reputation könne er kein Betrüger sein, hieß es. Reputation kann täuschen!

    Das ging gut bis zur großen Finanzkrise 2008, als alle auf einmal ihr Geld zurückhaben wollten. »Erst wenn die Ebbe kommt, sieht man, wer nackt ist«, sagte damals Warren Buffet. Madoff ging in die Knie, wurde verhaftet. Einer der beiden Söhne nahm sich das Leben. Ehefrau Ruth grämte sich entsetzlich.

    Die FT-Journalisten verlassen das Gefängnis mit dem Gefühl, nicht zu wissen, wo die Wahrheit endet und die Lügen beginnen. Gewiss scheint mir: Der Übergang vom braven Mann zum Verbrecher geht schleichend. Irgendwann gibt es einen Point of no return. Das Hollywood-Narrativ des wahren Lebens braucht einen einzigen Schurken, dabei spricht vieles dafür, dass es Mittäter gab. Denen fiel es mit Hilfe bester Anwälte leicht, sich als Unschuldslämmer auszugeben. Bis auf Madoffs »Finanzminister« Frank diPascali kam soweit ich sehe niemand hinter Gitter.

    Um Kunden zu gewinnen, die ihm ihr Geld anvertrauten, brauchte Madoff keine Tricks. Das erledigt die Gier von allein – wider alle Logik. Wäre so etwas heute wieder möglich? Na klar. Ich erinnere an Sam Bankman-Fried, den Gründer der inzwischen insolventen Kryptowährungshandelsfirma Alameda Research. Mitte Dezember 2022 wurde er wegen Verdachts auf Betrug und Geldwäsche auf den Bahamas festgenommen. Jetzt wartet er auf seinen Prozess.

    Rainer Hank