Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 05. September 2023
    Inflation der Demokratie

    Lauter aufrechte Demokraten: die Band Madsen Foto Madsen/Dennis Dirksen

    Dieser Artikel in der FAZ

    Im Kampf gegen den Populismus gerät einiges durcheinander

    Kennen Sie Madsen? Kannte ich bislang auch nicht. Das sind drei etwas in die Jahre gekommene Brüder, die seit zwanzig Jahren eine offenbar sehr erfolgreiche Indi-Rock-Band betreiben und sich jetzt verschuldet haben, um endlich ihre eigene Plattenfirma zu gründen. Aus Anlass eines neuen Albums haben sie darüber kürzlich im ARD-Fernsehen berichtet. »Seid ihr eigentlich demokratisch organisiert oder gibt es einen, der entscheidet?«, wollte der Moderator wissen. Sie seien schon sehr demokratisch verfasst, bekannte Sebastian, einer der Madsen-Brüder.

    Die Antwort klingt merkwürdig. Ich dachte immer, Demokratie heißt, dass eine oder einer entscheidet, weil die Mehrheit ihr (oder ihm) dazu die Macht für eine Zeitlang verliehen hat. Also wäre die Frage des Moderators sinnlos und die Antwort von Sebastian würde auf einem Missverständnis beruhen. Offenbar haben die Madsen-Brüder sich gerade nicht demokratisch auf einen Sprecher aus ihrer Mitte geeinigt. Womöglich diskutieren sie alles stundenlang aus, womöglich fallen Entscheidungen zufällig. Man könnte das dann Anarchie nennen, vielleicht auch herrschaftsfreie Kommunikation oder Diktatur des Sitzfleisches. Nur eines ist sicher: Mit Demokratie hat es ziemlich wenig zu tun.

    Der Demokratiebegriff muss heutzutage für vieles herhalten. Es geht um das Gute, Wahre und Schöne. Und gegen die Feinde der Demokratie, das sind natürlich die anderen, vulgo die Populisten. Gegen die müssen sich alle aufrechten Demokraten zusammenschließen, um eben diese Demokratie zu retten. Und wenn die guten Bürger das nicht von alleine hinkriegen, dann müssen sie moralisch aufgerüstet werden durch »Staatsbürgerkunde, Erinnerungsorte der Demokratie und Steinmeier-Reden, also durch eine zivilreligiöse Fundierung per präsidialer Selbstergriffenheit.« Derart hübsch hat es der Politikwissenschaftler Philip Manow jüngst in einem Aufsatz der Zeitschrift »Merkur« formuliert. Kein Wunder, dass allerorten, üppig finanziert von Staat und Stiftungen, Initiativen zur Stärkung der Demokratie erblühen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt zusammenkitten.

    Der Gegensatz zu Demokratie ist Anarchie oder Aristokratie

    Mir sind Populisten auch nicht besonders sympathisch. Man kann ihnen sicher vieles vorwerfen. Aber eines gewiss nicht: dass sie nicht demokratisch seien. Viktor Orban in Ungarn oder Benjamin Netanjahu in Israel sind auf demokratische Weise an die Macht gekommen. Auch der AfD-Bürgermeister in Moxa (Thüringen) oder der AfD-Landrat in Sonneberg wurden, nach allem, was bekannt ist, mit den Stimmen der Mehrheit der Bürger gewählt. Sie sind weder Putschisten noch Anarchisten. Sondern Demokraten. Als CDU-Chef Friedrich Merz diese Selbstverständlichkeit in einem Interview ausgesprochen hat und hinzufügte, solche demokratischen Wahlentscheidungen seien von Demokraten zu respektieren, wollte der Zeitgeist ihn in flagranti des Rechtsextremismus überführen.

    Noch einmal: Demokratie nennen wir das Verfahren der zeitlich begrenzten Legitimation politischer Macht durch Mehrheitsentscheidung der Bürger. Der Gegensatz zur Demokratie ist die Anarchie oder die Aristokratie oder die Monarchie. Aber eben gerade nicht der Populismus. Konsequenterweise kann man dann auch nicht den Populismus mit präsidialen Initiativen zur Stärkung der Demokratie bekämpfen. Denn auch die Populisten nehmen ja gerade für sich in Anspruch, sie wollten sich »die Demokratie zurückholen« (Hubert Aiwanger). Allenfalls könnte man sich aus der Affäre ziehen und zwischen »guten« Demokraten (links, grün, liberal) und »bösen« Demokraten (rechts, rechtsextrem) unterscheiden und letzteren unterstellen, sie wollten, einmal an der Macht, die Demokratie abschaffen.

    Die klügere Antwort auf die Bedrohung der Politik durch den Populismus heißt denn auch: Nicht Stärkung, sondern (Selbst)begrenzung der Demokratie schützt vor Extremismus. Allein die Tatsache, dass sie durch Wahlen an die Macht gekommen sind, berechtigt Politiker nicht dazu, nach Belieben zu schalten und zu walten. Eine geschriebene Verfassung, unabhängige Gerichte, unabhängige Zentralbanken, eine Freie Presse, autonome Behörden zur Durchsetzung von wirtschaftlichem Wettbewerb – all solche Institutionen begrenzen die Macht der Demokraten. Die Berufung der Populisten auf die Legitimation der Macht durch Mehrheit läuft dann ins Leere. Es geht darum, das Recht der Minderheit gegen demokratische Mehrheit zu schützen. Und es geht darum, dem Einzelnen gegen Mehrheitsentscheidungen zu seinem Recht zu verhelfen. So gesehen wäre es der Rechtsstaat, der sich als Gegengewicht gegen die Mehrheitsdemokratie (und sie anführende Populisten) in Stellung zu bringen hätte: als liberales und humanes Korrektiv. Demokratieskepsis, nicht Demokratiepathos, wäre die Aufgabe der politischen Bildung.

    Da hilft nur der politische Wettbewerb

    Indessen, und auch diesen Hinweis verdanke ich Philip Manow, berufen sich stets gerade jene Bürger auf rechtsstaatliche Institutionen, denen die ganze Richtung der aktuellen Politik nicht passt. Als die AfD in ihrer Frühzeit den Euro bekämpfte, kam der Partei das deutsche Verfassungsgericht als Bundesgenosse gegen Parlament und Regierung gerade recht. Die israelische Arbeiterpartei (Mapei) und ihre überwiegend säkulare, dem Establishment zugehörige Wählerschaft lehnte jahrzehntelange richterliche Kompetenz zur Normenkontrolle der Regierung ab. Sie setzt sich erst von da an für mehr richterliche Unabhängigkeit ein, seit sich die politischen Mehrheitsverhätnisse zu ihren Ungunsten entwickeln. Wenn es dann auch noch gelingt, den politischen Machtkampf rhetorisch als Schlacht der Demokraten gegen die Feinde der Demokratie auszugeben – umso besser.

    Es ist vertrackt. Nicht nur die Demokratie, sondern auch der Rechtsstaat und seine vor der demokratischen Mehrheit geschützten Institutionen sind nicht davor gewappnet, von politischen Interessen gekapert zu werden. Auch der Liberalismus schützt nicht per se vor Populismus, wiewohl viele Populisten heutzutage den Liberalismus als ihren Lieblingsfeind erachten.

    Was hilft dann? Es hilft die strikte zeitliche Begrenzung der Macht, mithin das Grundgesetz des politischen Wettbewerbs in der Demokratie mit seinem Imperativ: Beim nächsten Mal könnten die anderen an die Macht kommen. Wenn Netanjahus rechtsreligiöse Regierung wirklich so schlimm ist, wie ihre Gegner behaupten, dann muss diese Regierung von der Mehrheit abgewählt werden. Wenn die AfD wirklich so gefährlich ist, wie viele behaupten, dann sollen die anderen halt dafür kämpfen, dass bei der nächsten Wahl ihre Stimmen mehr so viele sind wie bei den derzeitigen Umfragen. Das ist Demokratie. Und nicht das ganze Wertegesäusel des Guten, Wahren und Schönen.

    Rainer Hank

  • 30. August 2023
    Fiskalmagie der Lisa Paus

    Lisa Paus Foto: BMFSFJ/Laurence Chaperon

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wer ein Gutachten bestellt, kriegt, was er bestellt hat

    Was macht ein Staat, der von seinen auf ihr Geld achtenden Bürgern noch mehr Geld haben will? Vor diese Aufgabe sieht sich Familienministerin Lisa Paus (Grüne) gestellt, seit sie ihr Kindergrundsicherungsprojekt mit zusätzlichen zwölf Milliarden Euro im Jahr durchbringen will. Akzeptanz im Kabinett und im Parlament ist dafür nötig, aber nicht hinreichend: Auch die Geld verdienenden Bürger müssen überzeugt werden, andernfalls könnte das bei der nächsten Wahl den Grünen Stimmen kosten und der AfD Stimmen bescheren.

    Ich sehe zwei politische Kommunikationsstrategien. Die erste nenne ich sozialkaritativ, die zweite soll fiskalmagisch heißen. Die sozialkaritative Strategie setzt auf den aus der Psychologie vertrauten »Kindleineffekt«. Wer wollte armen Kindern Hilfe verwehren? Ihnen zu helfen, gebietet nicht nur die christliche Barmherzigkeit, sondern auch die Moral des Sozialstaates. Wenn jedes fünfte Kind von Armut gefährdet ist, wie es heißt, dann hat der Sozialstaat versagt, wie Frau Paus sagt. Das Argument appelliert an Altruismus und Empathie und nimmt Egoismus billigend in Kauf. Welcher Reiche, der gerade von einer Mittelmeerkreuzfahrt heimkehrt, will schon gerne als hartherzig gelten, weil er armen Kindern die Unterstützung verweigert? Kognitiven Dissonanzen im Selbstbild sind schwer auszuhalten. Ob tatsächlich zwölf Milliarden Euro jährlich die Kinderarmut lindern oder gar zum Verschwinden bringen, diese Frage touchiert Frau Paus aus guten Gründen lieber nicht. Und der zum barmherzigen Samariter mutierte Besserverdiener stellt sie allenfalls im Halbbewussten.

    Nehmen wir nun an, es bliebe am Ende eine nennenswerte Gruppe der besonders Hartherzigen übrig, zu denen nicht nur FDP-Wähler, sondern sogar Paus Parteifreunde aus dem Habeck-Lager zählen. Die vertreten die Ansicht, der Staat müsse derzeit andere Prioritäten des Geldausgebens setzen (Rüstung, Wirtschaftswachstum), zumal Geld nur ausgegeben werden kann, wenn es vorher verdient wurde und Kindergeld auf Pump von der Schuldenbremse verboten werde. Für diese Gruppe hat sich Frau Paus ein besonders raffiniertes Argument ausgedacht, das ich fiskalmagisch nenne. Die Fiskalmagie verkauft die zusätzlichen Milliarden für die armen Kinder mithilfe von allerlei Beschwörungsformeln als ein gutes Geschäft für die Wirtschaftsbürger. Wobei Lisa Paus sich den Trick genau genommen nicht selbst ausgedacht hat, sondern ihn hat ausdenken lassen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), bei dem eine Bitte um derartige Freundschaftsdienste noch selten enttäuscht wurde. Freilich gab Frau Paus die Hilfeleistung nicht direkt bei DIW-Chef Marcel Fratzscher in Auftrag, das wäre allzu leicht durchschaubar, sondern ließ das Gutachten von der »Diakonie«, dem Wohlfahrtsunternehmen der evangelischen Kirche, bestellen, über dessen Ergebnisse die Ministerin sich dann dankbar erfreut zeigen konnte.

    »Folgekosten« heißt das Zauberwort

    Wie funktioniert die Fiskalmagie? Das Leitmotiv, wie gesagt, heißt: Wer heute bei den Kindern spart, zahlt später drauf. Das Zauberwort lautet: Folgekosten. Armut sei nämlich nicht nur schlimm für die Armen, sondern auch teuer für die Gesellschaft (also die steuerzahlenden Wirtschaftsbürger). Dabei gibt es Folgekosten im Bereich der Gesundheit, der Bildung und der sozialen Teilhabe. Ich paraphrasiere das Gutachten: Weil arme Kinder später weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, entgehen dem Staat Steuereinnahmen und Sozialbeiträge. Weil arme Kinder sich häufig schlecht ernähren und kaum Sport machen werden sie dick und krank. Die Kosten dafür tragen nicht nur die Krankenkassen, sondern auch die Rentenkasse, die die krankheitsbedingten Frühverrentungen mitfinanzieren müssen.

    Es wird dann noch kleinteiliger im Gutachten: Dem Staat entstehen Kosten für Ersatzfreiheitsstrafen, weil arme Kinder im ÖPNV schwarzfahren und, wenn erwischt, eingesperrt werden. Da sie häufig nicht nur kriminell, sondern auch noch drogensüchtig seien, kommen Therapie- und Sanatoriumskosten obendrauf. Nebenbei bemerkt, kann man sich fragen, ob diese pauschale Verunglimpfung armer Kinder als volkswirtschaftliche Kostenverursacher nicht doch ein bisschen diskriminierend klingt. Unterschlagen dagegen, weil ein Tabu, wird die Tatsache, dass die Hälfte der heute armen Kinder, die Bürgergeld erhalten, keinen deutschen Pass haben.

    Die volkswirtschaftlichen Kosten der Kinderarmut lassen sich laut DIW und mit Bezug auf die OECD beziffern: auf 3,4 Prozent des deutschen Bruttosozialprodukts (2019) oder in absoluten Zahlen auf 110 bis 120 Milliarden Euro im Jahr. Daraus leitet die Diakonie ab, dass der Staat sich ruhig 20 Milliarden Euro jährlich für die Kindergrundsicherung leisten könne. Subtraktionsübung für Grund- und Hauptschüler: Folgekosten von 120 Milliarden Euro minus 20 Milliarden Kindergrundsicherung erbringen einen Überschuss von 100 Milliarden für Staat und Steuerzahler, die künftig anderweitig zur Verfügung stehen. Wer es noch nicht kapiert hat, dem hilft ein bisschen Semantik: Aus der Kindergrundsicherung, einer Subvention wie alle Transferleistungen, wird simsalabim eine Investition: »Hervorragend investiertes Geld« (Marcel Fratzscher) mit einer volkswirtschaftlichen Rendite, wie sie selbst ausgebuffte Börsenspekulanten kaum erzielen dürften. Und fertig ist der fiskalmagische Zaubertrick.

    Arbeit für die Eltern, hilft den Kindern

    Das illusorische Versprechen der Zauberei ist leicht zu durchschauen. Wer sagt, dass Milliarden für arme Kinder aus adipösen Halbwüchsigen schlanke Athleten machen? Wer sagt, dass arme Migrantenkinder durch Geldleistungen plötzlich besser deutsch sprechen? Dass einfach nur ein Scheck die Ungleichheit der Kinder nicht einebnet und den Schulerfolg nicht verbessert, ist traurige Einsicht der Bildungspolitik seit Jahren. Warum soll das unter der Überschrift Kinder- und Familienpolitik jetzt plötzlich funktionieren? Und woher wissen wir, dass die Eltern armer Kinder das zusätzliche Geld für Schulbrote, Sport und Nachhilfe ausgeben? Am Ende reduzieren sich die Folgekosten nicht oder minimal und die Kindersicherung muss man addieren, nicht subtrahieren.

    Kinderarmut ist ein Problem. Ob mehr Geld die Armut lindert, darf bezweifelt werden. Arbeit (und Einkommen) für Eltern ist allemal nachhaltiger als Geld für Kinder. Das Projekt Kindergrundsicherung macht den Sozialstaat nicht besser, sondern teurer. Doch am Ende werden FDP und Habeck-Grüne einknicken (irgendwo bei 3,5 Milliarden). Und nicht nur Frau Paus, sondern auch die Bürger werden zufrieden sein. Denn die Bürger hassen Regierungsstreit, sie lieben Frieden und Eierkuchen. Und sehen nicht, dass die Rechnung dafür auf dem Fuße folgt – ohne viel Nutzen für die Bedürftigen.

    Rainer Hank

  • 24. August 2023
    Will Hollywood demnächst ganz Italien kapern?

    Die Piazza del Unita inkl Harrys Bar als Filmset. Foto: wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Darf Amazon ganz Triest sperrren lassen?

    Schießereien, Verfolgungsjagden, Rennwagen und gesperrte Straßen. Der Concierge an der Rezeption unseres kleinen Hotels inmitten der Altstadt Triests hatte uns gewarnt: Die Stadt ist im Ausnahmezustand. Erst sei Netflix dagewesen, jetzt Amazon. An ein normales Leben sei in diesem Sommer nicht zu denken, so der Rezeptionist.

    Tatsächlich hatten jedenfalls wir so etwas noch nicht erlebt: Der Lungomare, die von Palästen gesäumte Prachtstraße, die Triest vom Golf und der nach Süden offenen Adria trennt, wird zum Schauplatz einer bewaffneten Verfolgungsjagd. Porto Vecchio, der alte Hafen, dient als Basislager für die Amazon-Leute. Allüberall in der Stadt stehen beeindruckend beschädigte Karossen herum, gut bewacht von den ernsten Mienen gut gekleideter Polizisten.

    Und dann der Höhepunkt: Die Piazza de l’Unità d›Italia, einer der schönsten Plätze des Landes, wenn nicht gar der Welt, wird fast einen ganzen Tag lang zu mehr als der Hälfte für die Öffentlichkeit gesperrt, weil als Set benötigt. Der Hollywoodregisseur, Ilya Naishuller, ein gebürtiger Russe, hat den vom Wiener Stararchitekt Heinrich von Ferstel 1883 erbauten Palazzo Lloyd Triestino zum Nato-Hauptquartier des Films erkoren. Vor dem historistischen Palast, der im bürgerlichen Leben heute Sitz der Regionalregierung von Friaul-Julisch Venetien ist, weht das amerikanische Sternenbanner, flankiert von den Flaggen anderer Nato-Staaten. Ein Video eines Passanten zeigt die mit Einschusslöchern übersäte Limousine des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Damit die Dreharbeiten ungestört vonstattengehen können, ist nicht nur die benachbarte Harry’s Bar, sondern auch das gegenüberliegende Café degli Specchi geschlossen, in dem üblicherweise die Gäste Schlange stehen, um einen Terrassenplatz samt Aperol Spritz zu ergattern.

    Heads of State

    Das Internet befriedigt unsere Neugier. »Heads of State« (»Staatschefs«) ist ein Monumentalprojekt der kalifornischen Amazon Studios. Die Produktion dieser Action Comedy wird seit drei Jahren vorbereitet, die Dreharbeiten waren zunächst von Corona, dann vom Streik der Schauspieler in Hollywood verzögert, jetzt sind sie in vollem Gang. Der Film, angekündigt als eine nostalgische Zusammenführung von »Airforce One« mit »Midnight Run« (Actionfilmen der Neunziger) kommt frühestens im zweiten Halbjahr 2024 in die Kinos. Für Starbesetzung ist gesorgt, nicht zuletzt durch Bollywood-Schauspielerin Priyanka Chopra, die schon einmal den Schönheitstitel »Miss World« tragen durfte. Aber auch die Muskeln der Kerle, die da mitspielen, können sich lassen. Einen Trailer gibt es noch nicht, beim Plot hüllt die Produktionsfirma sich derweil in Schweigen. Die internationalen Filmmagazine begnügen sich derweil mit Details des Castings für Insider.

    Bei all meiner Liebe zum Kapitalismus, war ich ein wenig schockiert. Da kauft sich ein milliardenschweres Hollywood-Filmunternehmen einfach eine Stadt, weil deren Kulisse für eine Actionkomödie besonders pittoresk scheint. Dürfen die das? Dürfen die sogar ein Gebäude mit hoheitlicher Funktion wie den Sitz einer Regionalverwaltung, vor der sonst nur die Flagge Friaul-Julisch Venetien und die der Stadt Triest wehen, zum Nato-Quartier umwidmen? Irgendetwas sträubt sich bei mir.

    Und überhaupt: Ich dachte immer, die Digitalisierung sei inzwischen so weit fortgeschritten, dass man sich Filmkulissen nicht mehr mit Brettern zusammenbauen oder an Originalschauplätze reisen muss, sondern alles am Computer simulieren kann, also auch eine Triestkulisse, wenn es denn unbedingt sein muss.

    Echtes Meer statt Computer-Kulisse

    Mein Kollege Claudius Seidl, ein Liebhaber des Films und wahrlich kein Turbokapitalist, verteidigt Amazon und kehrt den Spieß um: Woraus speist sich das Recht eines deutschen Touristen, jederzeit und ungestört die Piazza Unità d’Italia betreten zu dürfen? Ist das quasi im Zimmerpreis inbegriffen? Nun, tatsächlich mussten wir wie alle Besucher eine City Tax bezahlen. Ob darin wirklich das Recht impliziert ist, die Piazza in ihrer historistischen Einzigartigkeit originalgetreu und ohne Hollywoodstörung zu genießen – wer will das schon wissen? Seidl legt nach: Aus Publikumsperspektive könne man nur Danke sagen, findet er. Die echte Stadt, das echte Meer, das echte Licht – das ergebe einfach viel bessere, stimmigere Filmszenen, als wenn das alles erst am Computer zusammengebaut würde.

    Okay, so streiten also die Perspektiven künftiger Amazon-Prime Kunden mit denen der heutigen Triest-Besucher und der Bewohner der Stadt. Letztere kann man in diesen Augusttagen vernachlässigen; denn sie sind wie alle Italiener bis zum Wochenende nach Ferragosto (15. August) am Strand und sonnen sich in den Liegestühlen der Stabilimenti Balneari. Spinnt man Claudius Seidls Lob des echten Schauplatzes weiter, hat auch der Triest-Besucher etwas von der Filmkulisse: Zusätzlich zum habsburgisch-slowenisch-italienischen Narrativ gibt es jetzt noch einen amerikanischen Thriller an den schönsten Orten der Stadt zu erleben. Eine Art augmented reality, wenn man so will. Andere Leute geben Geld aus, um die Rosamunde-Pilcher-Schauplätze im englischen Devon zu erleben. In Triest gibt es die Kunststücke der Stuntmen umsonst.

    Übertroffen würde das ganze Spektakel nur noch durch einen Faustkampf zwischen Elon Musk und Mark Zuckerberg auf einer Seebühne im Golf von Triest neben der seit einem Jahr konfiszierten Luxusyacht eines russischen Oligarchen (geschätzt 530 Millionen Euro wert). Aber die beiden wollen lieber nach Verona oder Pompei, sollte der Fight überhaupt zustande kommen.

    Alles eine Frage des Preises, würde man als nüchterner Kämmerer einer auf Zusatzeinnahmen schielenden und womöglich verschuldeten Kommune sagen. Dafür müsste Triest freilich besser verhandeln als Rom: In der italienischen Hauptstadt sind filmbedingte Stadtteilsperrungen seit Anita Ekbergs Bad in der Fontana di Trevi wortwörtlich an der Tagesordnung. Für die Nutzung des römischen Bodens zuzüglich Extrakosten für die Sperrung touristisch beliebter Locations (Colosseum, Fontana die Trevi und so) kamen 2021 bei über 1800 Drehlizenzen eine gute Million Euro zusammen. »Eine Plage für die Bewohner, ein schlechtes Geschäft für die Stadt«, titelte damals eine Zeitung. Und in der Tat: Selbst, wenn sich die Vermietung Triests an Hollywood für die Stadt lohnt, die direkt betroffenen Anwohner haben davon nichts – außer dem Lärm, dem Scheinwerferlicht, ihrem Ärger und womöglich einem Schuss Voyeurismus. Und er einzige städtische Kiosk Triests, in dem es außer am Bahnhof noch deutsche und internationale Zeitungen zu kaufen gibt, kann sein Geschäft in der Hochsaison vergessen, weil er direkt am Set liegt. Mein zwiespältiges Gefühl löst sich nicht auf.

    Rainer Hank

  • 18. August 2023
    Le Kulturkampf

    Wo geht's hier zum Kulturkampf? Foto Michael Gaida/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über die Politisierung von allem und jedem

    Nun also hat es auch das Hamburger Ohnsorg-Theater erwischt. Dort tobt ein Kulturkampf, wie ich der Süddeutschen Zeitung entnehme. Das Ohnsorg-Theater kennen Leute meiner Generation aus den sechziger Jahren, auch wenn sie in Süddeutschland lebten. Denn man konnte die Mundartstücke (Plattdeutsch) regelmäßig im Fernsehen sehen. Eine Wahl hatte man nicht, es gab nur ein Programm. Die Heldin des Theaters hieß Heidi Kabel. In unserer schwäbischen Familie mochte man sie. Die Stücke hießen »Tratsch im Treppenhaus«, »Opa wird verkauft« oder »Die Königin von Honolulu«. Dialektkomödien waren damals sehr beliebt. Aus Köln kam Willy Millowitsch, aus Stuttgart Willy Reichert und aus München die Lach- & Schießgesellschaft und später die Lindenstraße.

    Jetzt soll Schluss sein mit der Heidi-Kabel-Zeit in Hamburg, so lese ich es. Nicht nur, weil die Leute immer weniger Dialekt verstehen, sondern erst recht, weil das Mundarttheater als »Volks«-Theater gilt. Und das passt nicht mehr in unsere multikulturell-diversen Regenbogenzeiten. Gegen diese sogenannten Modernisten opponiert allerdings jetzt eine Traditionalistenfraktion, die für den Erhalt den »Plattdeutschen Theaters in plattdeutscher Art« ficht.

    Und genau diesen Konflikt zwischen Modernisten und Traditionalisten nennt man heute »Kulturkampf«. Der Begriff hat seit den letzten Jahren eine Inflationierung hinter sich, ähnlich steil wie die Teuerung der Verbraucherpreise. Das immer hilfsbereite FAZ-Archiv zählte 2010 47 Nennungen in der FAZ, 2020 gab es 50 Treffer, 2022 dann schon 65 Treffer und in den ersten sechs Monaten 2023 verzeichnen die Archivare 58 Treffer. Es wird ein Rekordjahr. Noch mehr Fleiß in der Kulturkampfberichterstattung zeigt die Süddeutsche Zeitung: die liegen heute schon bei 77 Treffern, nach 44 im vergangenen Jahr. Vorbild sind natürlich wieder einmal die Vereinigten Staaten. Dort ist gemäß Googles Zählmaschine »Ngramviewer« der Begriff »war of culture« derzeit auf seinem Allzeithoch seit dem Jahr 1800.

    SUV-Fahrer gegen Radfahrer

    Merke: Kulturkampf ist überall. Hier kommen ein paar Beispiele aus den vergangenen Wochen. Die Straße sei längst schon zur »Kulturkampfarena« verkommen, heißt es zum Beispiel im »Spiegel«. Wer kämpft kulturell gegen wen: Der SUV-Fahrer aus dem Vorort, natürlich ein Boomer, gegen die Lastenrad fahrende Jungmutter und Teilzeitkreative aus dem Szeneviertel. Auch hier sind also wieder Progressive gegen Traditionalisten unterwegs, wobei es das Schwarz-Weiß-Bild stören würde, daran zu erinneren, dass es nicht wenige Lastenrad-Fahrerinnen gibt, die nebenbei auch einen SUV ihr Eigen nennen.

    Kulturkampf ist nicht nur in Deutschland. In Spanien gibt es einen »Kulturkampf um den Stierkampf«. Dort gehe es nicht fair zu, sagen die Progressiven: Statistisch gesehen gebe es viel mehr tote Stiere als tote Toreros. Die Mehrheit der Spanier hat sich von diesem Argument nicht überzeugen lassen und bei der Parlamentswahl am 23. Juli für die Traditionalisten votiert.

    Schließlich zu den Hauptkampfplätzen: Da tummeln sich die Fleischesser, angeführt von Markus Söder (CSU) und Friedrich Merz (CDU). Mit dem Slogan »Wir sind gegen Verbote von Fleisch und Wurst« ziehen sie gegen Vegetarier und Veganer in die heiße Schlacht am Grillplatz. Heiß ging es zuvor schon zu im »Kulturkampf ums Heizen« (auch »fossiler Kulturkampf« genannt), wo schon einmal der »Heiz-Hammer« herausgeholt wurde, um Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) zu zeigen, wo derselbe hängt. Und wenn Friedrich Merz feststellt, AfD-Bürgermeister oder -Landräte seien demokratisch gewählt, halten die Kulturkämpfer der eigenen Partei ihm vor, er reiße Brandmauern ein.
    Die Mutter (oder sagen wir korrekt: die »gebärende Person«) aller Kulturkämpfe ist die Identitätspolitik, wo es darum geht, ob es zwei Geschlechter oder ganz viele davon gibt und wem es zusteht zu sagen, welches er/sie/mensch haben will. An dieser Stelle trifft sich der Kulturkampf mit dem Sprachkampf (Stichwort: cancel culture), wo umstritten ist, ob man das N-Wort noch komplett aussprechen oder zumindest zitieren darf (den Traditionalisten in diesem Mundart-Stück gibt der Grüne Boris Palmer) oder nicht. Kulturkampf ist immer binär und meist im Zeitstrom aggressiv eskalierend.

    Erfunden hat das alles Otto von Bismarck

    Was ist denn nun aber ein Kulturkampf? Anders als der Begriff es suggeriert, geht es im Kern nicht um Kultur, sondern um Politik. Kulturkampf meint die moralisch aufgeheizte Politisierung von herkömmlich nicht politischen Haltungen oder Handlungen. Radfahren war früher einfach eine Weise, sich fortzubewegen. Inzwischen ist Radeln ein politisches Bekenntnis, ein Kampf, bei dem es buchstäblich darum geht, städtischen Boden gutzumachen. Ähnlich ist es mit dem Fleischessen. Da ging es früher lediglich um die Alternative medium, medium-rare oder well-done. Heute gilt ein Fleischesser als kleine Klimasau, die das 1,5–Grad-Ziel gefährdet.

    Inzwischen ist der deutsche Kulturkampf ein Exportgut geworden. Die französische Zeitung »Le monde« schreibt ohne Bedenken von »Le Kulturkampf« und beruft sich dabei auf den amerikanischen Soziologen James Davison Hunter und dessen Buch »Culture Wars« aus dem Jahr 1991. Das liegt natürlich daran, dass als Vater aller Kulturkämpfe der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck (1815 bis 1898) gilt. Damals ging es um das kulturelle Selbstverständnis der Nation, das Aufeinanderprallen zwischen der konservativen Idee eines eher ständischen Verständnisses der Gesellschaft und der liberalen Modernisierung einer komplexen Gesellschaft. Für das Progressive standen Bismarck und das protestantische Preußen, als konservativ galten die Zentrumspartei und die ultramontanen Katholiken, die sich lieber an Rom und dem Papst als an Berlin orientieren wollte. Wobei sich die Kategorien merkwürdig verschieben: Denn die Katholiken agierten seit alters her weltumfassend, während die Preußen für den deutschen Nationalstaat kämpften, mithin nationalistisch waren. Wer ist da progressiv, wer Traditionalist?

    Zimperlich war man auch im Bismarckschen Kulturkampf nicht. In der zeitgenössischen Literatur wurden Katholiken als Dickbäuche und Lotterbuben geschmäht. Die Katholiken keilten zurück und beschimpften die Liberalen als Missgeburt freimaurerischer Teufelsverehrung. Viele nichtreligiöse Aktivitäten (Sport, Bankgeschäfte oder der Konsum) wurden konfessionalisiert. Das führt noch einmal zurück in meine schwäbische Kindheit (in der man Ohnsorg-Theater guckte). In vielen Städten, in denen Evangelische und Katholische (häufig Flüchtlinge) lebten, wusste man ganz genau, welcher Metzger oder Bäcker katholisch oder evangelisch war. Entsprechend wusste man, wo man einzukaufen hatte und wo nicht. Kulturkampf Marke fünfziger Jahre.

    Rainer Hank

  • 18. August 2023
    Homeoffice ist keine Dauerlösung

    Man kann es sich ruhig etwas kuscheliger machen Foto Samantha Gades/unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Das gute alte Büro lebt

    Gute Kommunikation ist das Salz in der Firmensuppe. Martin Lukes ist die Pfeffermühle. Er ist fast schon Mitte vierzig und ein ziemlich hohes Arbeitstier mit ziemlich niederen Instinkten. Gefühlte Fitness: Anfang dreißig, Selbstüberschätzung: am obersten Limit. Soft skills: unterirdisch. Er arbeitet als Marketing-Direktor bei A&B in London. Weil er karrieregeil ist, belügt Martin seine Vorgesetzten, schikaniert seine Untergebenen, wo immer er kann, und betrügt seine Frau (immer, wenn er kann) mit seiner persönlichen Assistentin auf der Feuertreppe. Aber all das reicht ihm noch lange nicht: Er will seine maximale Performance um 22,5 Prozent toppen und bucht ein hammermäßiges Online-Trainingsprogramm. Aus Martin soll in nur zwölf Monaten ein ganz neues Alphatier werden.

    So ungefähr läuft der Plot des Büroromans »Depptop« von Lucy Kellaway, erschienen 2007, keine Welt-, sondern eher Trivialliteratur. Kellaway ist Journalistin. In der »Financial Times« hatte sie über lange Zeit eine montägliche Büro-Kolumne, die bei den Lesern sehr beliebt war. Mit 60 hat sie umgesattelt: Seither arbeitet sie als Mathelehrerin in einer Londoner Schule. »Depptop« habe ich vor ein paar Jahren gelesen, fand das Buch zum Schreien komisch und konnte mir gar nicht vorstellen, dass die Trivialsatire die Geschichte einer untergehenden Welt ist.

    Inzwischen hatten wir Corona. Corona, so heißt es seither, hatte viel Übles mit sich gebracht, aber auch ein Gutes: Die flächendeckende Einführung des Homeoffice. Darüber, so sieht es aus, sind alle nur glücklich. Arbeitgeber sparen teure Büromieten. Der ehemalige Office-Mensch spart nervige Staus (im Schnitt beachtliche 72 Minuten am Tag) und kann es sich auf dem Balkon oder im schattigen Garten beim Zoom-Meeting in Freizeitkleidung gemütlich machen. Typische Angestellte werteten in einer Umfrage die Arbeit von zuhause wie eine Gehaltserhöhung um real acht Prozent. Daraus könnte man im Umkehrschluss folgern, sie wären zu Lohneinbußen bereit, um ihr Hausarbeitsprivileg dauerhaft zu behalten.

    Die Firmen holen ihre Leute zurück

    Wenn es nach den Wünschen der Arbeitnehmer ginge, würde sich eine Drei-zu-Zwei-Welt als Idealbild herausschälen: Di, Mi, Do im Büro – Montag und Freitag zuhause. »Morgen bin ich im HO«, sagt man heute, eine Abkürzung, die die Älteren unter uns für die volkseigenen Lebensmittelgeschäfte der DDR halten, »Handels-Organisation« (HO) im Bürokratendeutsch. Doch der alte HO ist mit der DDR untergegangen, die Abkürzung deshalb frei geworden für das Homeoffice des Nachcorona-Zeitalters.
    Das Homeoffice hat Corona überlebt. In einer Umfrage des Münchner-Ifo-Instituts zusammen mit der Zeitarbeitsfirma Randstad kam heraus: Fast alle befragten Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten bieten die Möglichkeit von zu Hause zu arbeiten. Sie bewilligen heute sogar mehr Tage im Monat als vor einem Jahr: im Schnitt 7,1 Tage, nach 5,3 Tagen im Vorjahr. 90 Prozent der Betriebe, die zwischen 250 und 499 Angestellte beschäftigen, erlauben ebenfalls HO, nur weniger: Sie genehmigen durchschnittlich 6,2 Tage pro Monat, nach 6 Tagen ein Jahr zuvor. Die Faustregel heißt: Je größer das Unternehmen, desto großzügiger die Homeoffice-Regeln.

    Mit durchschnittlich einem Tag pro Woche Homeoffice darf sich Deutschland Vize-Weltmeister nennen. Das zeigt abermals eine Befragung des Ifo-Instituts unter 42.000 Beschäftigten in 34 Ländern. Demnach kommt Deutschland auf den zweiten Platz unter 17 europäischen Ländern. Vor Deutschland liegt nur das Vereinigte Königreich mit 1,5 Tagen. Weltweit rangiert Deutschland auf Platz fünf. Besonders wenig Homeoffice-Tage gibt es dagegen in Südkorea, Japan und Griechenland.

    Das klingt nach einer Win-Win-Situation, ist es aber nicht, wie sich immer mehr herausstellt. Zwar sind alle glücklich, doch am Ende leidet die Produktivität; die FAS hatte darüber Anfang Juli berichtet. Während des Corona-Lockdowns hatte man noch von Produktivitätssteigerungen geschwärmt, weil die Leute jetzt die sinnlose Pendelzeit im Auto auf die Arbeit draufschlagen (und zusätzlich Kapazitäten für Kinder, Freunde und Familie haben). Doch inzwischen hat sich die Datenlage verbessert und das Bild hat sich gedreht. IT-Leute in Indien arbeiten zuhause um 18 Prozent weniger produktiv als im Office, Untersuchungen aus Südasien verzeichnen sogar noch höhere Produktivitätsverluste. Das wird in Europa nicht viel anders sein. Man kann diese abstrakten Prozentzahlen konkret machen: Kunden hängen länger in der Warteschleife, wenn sie von zuhause bedient werden. Es gibt mehr Rückrufe, was darauf schließen lässt, dass der Service nachlässt. Am meisten hat mich die Geschichte der professionellen Schachspieler beeindruckt. Die spielten plötzlich weniger gut und weniger konzentriert, wenn sie sich online zusammen taten im Vergleich zu einem Duell in körperlicher (und geistiger) Präsenz.

    Das Büro hat eben nicht nur Nachteile, wie die Apologeten des Homeoffice meinen. Am schlimmsten: Zuhause fehlen die echten Kollegen, die man mit einem kurzen Hilferuf um Unterstützung bitten kann. Bis man den Kollegen von Homeoffice zu Homeoffice kontaktiert hat, vergeht viel Zeit, abgesehen davon, dass der Büronachbar einfach kurz vorbeikommen und einem über die Schulter schauen kann.

    Nachrufe auf das Büro waren übereilt

    Kurzum: Die Nachrufe auf das Büro waren verfrüht (ich habe auch einen geschrieben). Die Erfindung der Arbeitsteilung zwischen Haus und Arbeit behält ihr Gutes: Das Office verkürzt den Koordinationsaufwand der Arbeit und birgt zudem die Chance, im launigen Gespräch mit den Kollegen auf Ideen zu kommen, die einem am häuslichen Schreibtisch zwischen dem fünften Call und Befüllen der Waschmaschine nicht gekommen wären. Das nennt man Serendipity.

    Es ist nicht einfach nur autoritäres Machtgehabe, dass immer mehr große Konzerne ihre Leute wieder in die Büros zurückrufen. Nichtbefolgung werten wir als »freiwillige Kündigung, heißt es bei Amazon. Schon klar, auch im Büro ist nicht alles super. Es gibt Intrigen, Affären, böses Mobbing und Meetings, die kein Ende nehmen. So wie man es kennt seit der Erfindung des Offices im späten 18. Jahrhundert. Am Arbeitsplatz sind die Kollegen, zuhause gibt es die Familie; die jeweiligen sozialen Beziehungen sind sehr unterschiedlich. Der Wechsel des Orts bietet wechselseitig Entlastung.
    Die Meinung, das HO sei die Arbeitsform der Zukunft, sei ohnehin eine Eliten-Debatte, die sich dessen nicht bewusst sei, hat Allensbach-Forscherin Renate Köcher kürzlich in der FAZ geschrieben. Für 56 Prozent der Beschäftigten (Fabrikarbeiter, Krankenschwestern, Müllmänner) kommt Homeoffice aufgrund der Natur ihrer Tätigkeit gar nicht in Frage. Es sieht so aus, als bliebe auch allen anderen der Arbeitsplatz außer Haus noch eine Weile erhalten. Gut so.

    Rainer Hank