Hanks Tagebuch
‹ alle Artikel anzeigen11. September 2019
Kann das Paradies sich abnutzen?Herbst am Gardasee
Villa Sostaga heißt der Ort ein paar Spitzkehren oberhalb von Gargnano am Westufer des Gardasees. Ein zum Hotel umgewandeltes ehemaliges Jagdhaus. Die Lage ist spektakulär, der Blick auch: Über Olivenhaine, die von Pinien und Zypressen gesäumt werden, schweift er über den See, dessen anderes Ufer langsam von Süd nach Nord zum felsigen Monte Baldo aufsteigt. An diesen Septembertagen ist es noch warm, aber nicht mehr heiß wie im Sommer. Abends hört man die Zikaden. Sonst hört man fast nichts.
Gardasee hatte lange keinen wirklich guten Klang für mich. Er hörte sich nach vielen schwäbischen Touristen an. Viel besser klangen Lago Maggiore oder Comer See. Jetzt, im September 2019 in der Villa Sostaga, kommt mir das wie ein großes Missverständnis vor: Der Ort gehorcht idealen Bedingungen der deutschen Italiensehnsucht, sogar die Zitronen sollen hier besonders üppig gedeihen, heißt es. Und trotzdem keine Spur von Klischee.
Adam und Eva kommen auf dumme Gedanken
Kann man das lange aushalten? Weiß man auch am fünften Tage, gar in der fünften Woche, wie schön es hier ist? Wie schnell schlägt im Paradies das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen zu? Wir testen es und fragen eine Einheimische. Doch, ja, sagt sie, es sei das Paradies. Sie habe das erst so richtig empfunden, als sie einmal für längere Zeit in London gelebt habe, sagt sie. Das heißt doch wohl, dass man das Paradies verlassen muss, um seiner Schönheit gewahr zu werden. Könnte es sein, dass Adam und Eva einfach auf dumme Gedanken gekommen sind, weil sie gar nicht mehr sehen konnten, wie schön sie es haben? Dieser Gedanke ist nicht neu: Das Naive wird erst aus dem sentimentalischen Blick zur begehrten Utopie, meinten Friedrich Schiller und seine Freunde der Klassik.
Was kann man dagegen tun? Die Alten hatten gegen die drohende Abnutzung des Paradieses ihre Tricks. Stell Dir vor, heute sei der letzte Tag Deines Lebens! Das soll dazu gut sein, dem Augenblick jenen unverwechselbaren Ernst zu geben, den der abnehmende Grenznutzen ihm zu nehmen droht. Aber Adam und Eva hätte selbst dieser epikureische Trick nichts genützt: Sie waren ja unsterblich, kannten somit die Angst vor dem Tod gar nicht. Erst als Sterbliche wussten sie, was das Paradies wert ist.
Rainer Hank