Oktober 2020
Verzichten ist langweilig
Am 22. April 1970 begingen die Vereinigten Staaten ihren ersten »Tag der Erde« (»Earth Day«). Im ganzen Land fanden Tausende von Demonstrationen statt, viele davon an den Hochschulen. Der Tag gilt als »Geburtsstunde der modernen Umweltbewegung«. Die Rede von den »Grenzen des Wachstums« wurde zum populären Schlachtruf aller Öko-Apokalyptiker – bis heute.
Auch für Andrew McAfee markiert der 22. April 1970 eine Zäsur, freilich keine apokalyptische, sondern eine optimistische. McAfee, Direktor der Initiative on the digital Economy in Cambridge/Mass, wurde vor fünf Jahren berühmt mit einem Buch über das »Zweite Maschinenzeitalter«, in welchem er die säkularen Veränderungen unserer Welt durch Künstliche Intelligenz und Roboterisierung beschreibt. In seinem jetzt auf Deutsch vorliegenden neuen Buch »Mehr aus Weniger« (»More from less«) setzt der Wissenschaftler zu einem fulminanten Lob des Kapitalismus an und zu einer Verteidigung der Marktwirtschaft gegen ihre sich ständig vermehrenden Kritiker. Grob zusammengefasst lautet die These: Anders als es die gängige grün-linke Meinung behauptet, schaufelt der Kapitalismus sich nicht sein Grab durch ausbeuterischen Ressourcenverbrauch. Ganz im Gegenteil besitzt er die Fähigkeit, mit immer besserer Technologie und immer weniger Ressourcen immer mehr Wachstum und Wohlstand zu schaffen. Die freudige Botschaft lautet also: Wir und unser Planet werden überleben, ohne dass wir dafür Verzicht üben müssen. Es ist eine Botschaft, die dem Zeitgeist öko-protestantischer Umwelt-Askese fundamental widerspricht.
Wachstum ist nötig
McAfee räumt ein, dass der Malthusianismus für die vielen notorischen Pessimisten seine Attraktivität bis heute nicht verloren hat. Das mag daran liegen, dass der britische Ökonom und Theologe Reverend Thomas Robert Malthus (1756 bis 1834) bis in das frühe 19. Jahrhundert mit seiner Theorie tatsächlich Recht behielt: Während die Bevölkerung sich exponentiell vermehrte, nahm die Menge der Nahrungsmittel lediglich linear zu, was regelmäßig zu schlimmen Hungersnöten führte. Erst die industrielle Revolution bescherte der Menschheit einen Produktivitätsschub, der Wachstum verbunden mit steigenden Löhnen für die arbeitende Klasse zur Folge hatte und eine ständig größer werdende Weltbevölkerung zu ernähren vermochte.
Der Preis dieses kapitalistischen Erfolgs war freilich ein riesiger Ressourcenbedarf, der den Malthusianismus in neuem Gewande bis heute wiederauferstehen lässt: Eines Tages, so lautet die Drohung, würden alle Rohstoffe aufgebraucht sein; dann werde sichtbar, dass die Menschheit mit ihrer Wachstumsideologie am Ende sei. Doch – oh Wunder – so ist es nicht gekommen: Längst hat der Rohstoffverbrauch seinen Zenit überschritten, während der Wohlstand weiterwächst. Wachstum korreliert nicht mit steigender Zerstörung unseres Planeten. Die Halbleiterindustrie des digitalen Zeitalters beruht schlich auf der kreativen Verarbeitung von Sand, von dem es sprichwörtlich genügend gibt am Meer: Silizium, nach dem Sauerstoff das zweithäufigste Element der Natur, wird zur Grundlage der Speicherchips. Die Behauptung, der Rückgang des Ressourcenverbrauchs gründe auf Konsumverzicht, mehr Recycling oder rigider Familienplanung, verweist McAfee die in das Reich der Märchen. Das Effizienzprinzip des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs selbst war es, welches die Unternehmen zwang, nach besseren Herstellungsmethoden für ihre Produkte zu suchen. Dadurch wurde ein Prozess der »Dematerialisierung« losgetreten, der es möglich macht, dass wir immer mehr konsumieren können, während wir dafür zugleich immer weniger Ressourcen brauchen.
Bei aller Begeisterung für den Kapitalismus ist McAfee kein naiver Marktradikaler. Metaphorisch nicht ganz glücklich spricht er von den »vier Reitern des Optimismus« (im Gegensatz zu den vier apokalyptischen Reitern in der Bibel): technologischer Fortschritt, Kapitalismus, öffentliche Aufmerksamkeit und reaktionsfähiges Regieren. Die letzten beiden Optimismen machen deutlich, dass Zivilgesellschaft und Politik nicht nur Zuschauer des marktwirtschaftlichen Prozesses sind. Insbesondere bei externen Effekten (eine Form von Marktversagen) der Umweltverschmutzung oder der Erderwärmung plädiert McAfee wie die meisten liberalen Ökonomen für eine Öko-Steuer oder die staatliche Anordnung eines klugen Emissionshandels. Dem müsste auch die Klimabewegung von Greta Thunberg zustimmen können, anders freilich McAfees engagiertem Plädoyer für grüne Gentechnologie oder mehr Atomstrom, den er die »wichtigste Waffe im Kampf gegen die Erderwärmung« nennt.
Wenn der Eindruck nicht trügt, dann sind Optimisten wie McAfee (zusammen etwa mit Steven Pinker, Hans Rosling oder Max Roser) im öffentlichen Diskurs derzeit deutlich in der Defensive. Die vielen Daten, Fakten, naturwissenschaftlichen und ökonomischen Studien, die McAfee leicht lesbar und in unaufgeregtem Ton präsentiert, sind allesamt nicht neu, beruhen auch nicht auf eigener Forschung. Das freilich ist kein Tadel, im Gegenteil: genau solch eine Zusammenschau hat uns bislang gefehlt.
Der Artilel erschien als Buchbesprechung in der Schweizer Weltwoche No. 42, am 14.10.2020
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Rainer Hank