März 2020
Bedroht Corona die freie Gesellschaft?
Lange lässt sich ein Leben in der A-Sozialität nicht aushalten
Wenn die Öffentlichkeit verschwindet, bleiben der Staat und das Ich übrig. Dazwischen ist Stille und Leere. In diesen Tagen des weltweiten Corona-Ausnahmezustands wird deutlich, dass Freiheit kein abstraktes Prinzip ist, sondern konkret wird in der bürgerlichen Öffentlichkeit. Gesellschaft lebt seit den griechischen Stadtstaaten auf der Agora, dem Markt- und Versammlungsplatz, dort, wo freie Bürger über die sie betreffenden Angelegenheiten palavern und entscheiden. Die Entwicklungsgeschichte der europäischen Öffentlichkeitsidee ist mit dem gesellschaftlichen Aufstieg des Bürgertums verbunden. Der Bürger lebt seine Freiheit im öffentlichen Raum. Demokratie und Märkte brauchen den freien Himmel über sich. Als soziales Wesen sind Menschen öffentliche Wesen: Sie gehen in Cafés, ins Theater, zu Pop-Konzerten und in die Fußballstadien.
In der Logik des maximalen Infektionsschutzes ist auf dem europäischen Kontinent derzeit die allgemeine Öffentlichkeit nur noch virtuell und digital existent. Zuwiderhandlungen werden moralisch und strafrechtlich geahndet. Seine Legitimation erhält der Ausnahmezustand durch die Expertise der Virologen und Epidemiologen, die derzeit der Politik das Drehbuch ihres Handelns schreiben. Alternativlos bei einer Pandemie ist die Pflicht staatlicher Institutionen, ihre Bürger zu schützen. Die Öffentlichkeit abzuschalten ist indessen nicht alternativlos. Dafür genügt ein Blick nach Korea, Hongkong oder Taiwan, wo man ganz anders als auf die Krise reagiert. Verpflichtende Tests in großem Stil sorgen dafür, Risikogruppen und mögliche Kontaktpersonen streng zu isolieren. Der Lohn für dieses von Europa abweichende Design ist erheblich: Das öffentliche Leben kann – gewiss mit Einschränkungen – weitergehen. Ausgangssperren, Verbot der Versammlungsfreiheit und staatlich angeordnete soziale Vereinzelung werden vermieden. Das demokratische Asien vermeidet Geisterstädte und die Schließung der bürgerlichen Öffentlichkeit. Doch auch die asiatische Alternative hat einen hohen Preis: Strengste digitale Überwachung ist nötig, um jene, die sich infiziert haben, auf der Stelle zu isolieren und ihre sozialen Kontakte als mögliche Übertragungswege in Erfahrung zu bringen. Es gleicht der Wahl zwischen Pest und Cholera: Soziale Totalisolation bei Vermeidung individueller Überwachung (Europa, USA) oder individuelle Totalüberwachung unter Aufrechterhaltung einer gesellschaftlich und wirtschaftlich aktiven Öffentlichkeit (Asien). Beide Male hat die Freiheit am Ende das Nachsehen.
»Under-the-skin«-Überwachung
Es ist beunruhigend, wie ruhig und in der Haltung sanfter Depressivität das Programm gesellschaftlicher Vereinzelung hingenommen wird. Das könnte man leichter als Haltung einer solidarischen Maßnahmen-Akzeptanz im Ausnahmezustand tolerieren, müsste man nicht befürchten, dahinter verberge sich auch die unausgesprochene Überzeugung, der Zweck heilige die Mittel, zumindest dann, wenn der Staat diese anordnet. Alles hängt jetzt daran, dass der gegenwärtige Zustand der A-Sozialität so bald wie möglich gelockert und dann beendet wird. Das ist nicht nur aus philosophisch-liberaler Sicht, sondern auch aus epidemiologischer und ökonomischer Sicht nötig: Solange es an Impfstoffen fehlt, wird die Krise nur durch den »geregelten« Aufbau einer »Herdenimmunität« überwunden werden können, also die Ansteckung und Immunisierung all jener jüngeren und stabileren Teile einer Gesellschaft. Man kann die Welt nicht dauerhaft abschalten.
Die schwerwiegendsten Bedrohungen der Corona-Pandemie für die Freiheit sind indes ihre langfristigen Folgen. Zu fürchten ist ein Gewöhnungseffekt, der von den Einschränkungen der öffentlichen Freiheit ausgeht. Das Versprechen stabilerer Volksgesundheit im Tausch gegen die Aufgabe bestimmter Freiheitsrechte der Selbstbestimmung könnte für viele Menschen verführerisch sein. Schon vor der Corona-Erfahrung nannten 51 Prozent einer Befragungsgruppe die »Gesundheit« als wichtigstes Gut für ihr persönliches Glück. Die »Freiheit« rangierte mit 15 Prozent weit abgeschlagen. Die Chancen präventiver digitaler Überwachung in Zeiten von Big-Data üben auf viele großen Charme aus. Der israelische Historiker Yuval Harari sieht einen Übergang der Daten-Überwachung von »over the skin« zu »under the skin«. Wer heute mit dem Finger sein Smartphone berührt, hinterlässt Spuren darüber, wo er sich befindet, welche Internet-Seiten er besucht und mit wem er kommuniziert (»over the skin«). Ein Leichtes ist es, zugleich über die Berührung des Smartphones seine Körpertemperatur und weitere biometrische Daten seiner physiologischen Konstitution zu erfassen und auszuwerten. Epidemien würden erkannt, lokalisiert und isoliert noch bevor die Betroffenen sich ihrer bewusst sind. Autoritäre Regimes wie China machen sich diese Überwachungsformen heute schon zunutze. Es wäre dramatisch, wenn Corona auch in liberalen Demokratien die Schwelle der Zustimmung senken würde. Es wäre eine weitere Niederlage für die Freiheit.
Der Essay ist am 26. März erschienen in der Weltwoche No. 13/2020
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Rainer Hank