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  • 15. November 2024
    Zwangsarbeit

    Robert Nozick (1938 bis 2002) Foto pinterest

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie der Staat uns permanent enteignet.

    Steuern sind eine Art von Zwangsarbeit. Zwangsarbeit finden wir moralisch verwerflich, Steuern in der Regel nicht. Im Gegenteil: Die SPD will die Reichen (von einer Million Euro an) mit einer Vermögenssteuer zusätzlich belasten. Zudem soll es höheren Erbschafts- und Einkommensteuern für die Superreichen geben. Eine Begründung liefern die Sozialdemokraten nicht. Es sei denn, man ließe die Erklärung durchgehen, damit könne man die »arbeitende Mitte« entlasten. Irgendwo muss das Geld ja herkommen. Argumentativ dürftiger geht es kaum, nicht nur weil unterstellt wird, die Reichen würden nicht arbeiten.

    Das ist natürlich noch nicht die Erläuterung, warum Steuern eine Form der Zwangsarbeit sind. Hilfreich ist ein Blick in den »Belastungscheck 2024« auf der Internetseite des Bundes der Steuerzahler. Dort wird aufgerechnet, was dem Durchschnittsdeutschen von einem erarbeiteten Euro am Ende bleibt. Raten Sie doch mal, bevor sie weiterlesen!

    Hier die Antwort. Von einem Euro werden 20,9 Prozent Steuern und 31,7 Prozent Sozialabgaben abgezogen. Am Ende bleiben somit 47,4 Prozent zum Leben übrig. In den Steuern stecken Lohn-, Mehrwert- und Energiesteuern (inklusive der CO2–Steuer). Aber auch Abgaben, an die man zunächst nicht denkt, wie etwa die vom Vermieter an mich überwälzte Grundsteuer oder die Zwangsgebühren für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (eine verkappte Steuer). Sozialabgaben sind Beiträge zur Arbeitslosen-, Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung.

    Der Steuerzahlerbund hat deshalb den Steuerzahlergedenktag eingeführt. Bis zu diesem Tage wird dem durchschnittlichen Steuerbürger sein gesamtes Einkommen abgenommen. Das war in diesem Jahr der 11. Juli. Deshalb Zwangsarbeit. Erst danach können die Menschen über ihr Einkommen frei verfügen. Dass wir in aller Regel durch Umverteilung von unseren Steuern und Abgaben etwas zurückbekommen (Bildung, Polizei, Gesundheitsleistungen, »Heute Show«) ändert am Charakter der Zwangsarbeit nichts. Auch eingesperrte Zwangsarbeiter bekommen in der Regel Verpflegung und Unterkunft gestellt. Unter dem Strich bleibt es dabei, dass Arbeitnehmerhaushalte mehr als die Hälfte ihres Erwerbseinkommens nicht zur freien Verfügung haben, sondern zunächst an die öffentlichen Kassen abtreten.

    Es sei höchst bedenklich, wenn mehr als 50 Prozent des individuellen Einkommens über staatliche Kanäle umverteilt werden, sagt der Steuerzahlerbund. Dies schwäche die Arbeitsanreize. Gleichzeitig dürfte eine durchschnittliche Einkommensumverteilung von mehr als 50 Prozent das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen stören und als konfiskatorisch empfunden werden.

    Doch warum regt sich das Gerechtigkeitsempfinden erst bei 50 Prozent und nicht schon beim ersten Euro, den der Staat seinen Bürgern abnimmt? Diese radikale Ansicht vertritt mit guten Argumenten der Philosoph Robert Nozick. Sein Klassiker »Anarchie, Staat, Utopie« erschien vor 50 Jahren im Jahr 1972. Nozick (1938 bis 2002) wuchs in Brooklyn in einer jüdischen Familie auf; sein Vater war aus einem russischen Stetl in die USA eingewandert. Nozick studierte Philosophie an der Columbia-Universität in New York und engagierte sich in der sozialistischen Studentenbewegung. Eine Elvis-Tolle auf den Fotos vom ihm zeigt, welcher Generation er angehört. Die Lektüre der Schriften Friedrich August von Hayeks ließ ihn zum Liberalen werden.

    Nur das Argument zählt

    Für Nozick zählten weder Praktikabilität, Empathie oder Umverteilungssolidarität – sondern nur das vernünftige Argument. Berühmt ist sein Wilt-Chamberlain-Beispiel gegen jegliche Form staatlicher Umverteilung. Wilt Chamberalain war ein erfolgreicher und sehr reicher amerikanischer Basketballspieler (10 Millionen Dollar Nettovermögen), vergleichbar mit Michael Jordan oder Dirk Nowitzki.

    Nozicks Argument geht so: Stellen Sie sich vor, Chamberlain unterzeichnet einen Vertrag mit seinem Basketballteam. Jede verkaufte Eintrittskarte für Spiele, an denen er teilnimmt, bringt ihm 25 Cent. Während der Saison kommen eine Million Menschen, um Chamberlain zu sehen. Am Ende der Saison ist er 250.000 Dollar reicher als zuvor. Entstanden ist eine Welt größerer Ungleichheit.

    Gibt es daran irgendetwas auszusetzen? Nein, sagt Nozick. Die Leute zahlen freiwillig. Mit welchem Recht darf der Staat Chamberlain von seinem Eigentum etwas wegnehmen? Er hat sein Geld legal auf der Grundlage von freien Verträgen erworben. Alles andere würde seine Freiheit einschränken. Das steht dem Staat nicht zu: »Die Besteuerung von Arbeitsverdiensten ist mit Zwangsarbeit gleichzusetzen.« Entzieht man jemanden den Verdienst von 100 Arbeitsstunden, so ist das, als zwänge man ihn, 100 Stunden für andere zu arbeiten. Manche Menschen fänden den Vergleich absurd, schreibt Nozick: »Doch auch diese, sofern sie etwas gegen Zwangsarbeit haben, wären dagegen, dass man beschäftigungslose Hippies zur Arbeit zugunsten Bedürftiger zwingt.« Als Hippies, für jüngere Leser, bezeichnete man damals junge Leute, für die Naturverbundenheit, Konsumkritik, sowie der Bruch mit spießigen Lebens- und Moralvorstellungen zentral war.

    Nozick ist kein Anarchist. Er ist für einen Staat, der die Freiheit seiner Bürger schützt gegen Übergriffe ihrer Mitbürger oder fremde Angreifer. Nozicks Staat hat ein Gewaltmonopol, garantiert »Life, Liberty, Property« und wacht darüber, dass Verträge eingehalten werden (»Rule of Law«). Das ist ein starker, aber schlanker Staat. Man sollte nicht von einem »Minimalstaat« reden: Wenn der Staat sein Monopol verliert, machen sich Warlords, Milizen und Terrororganisationen (Hisbollah, Hamas) breit. Für seine Leistungen, die allen zugutekommen, darf der Staat von den Bürgern Gebühren verlangen; staatliche Leistung und Gegenleistung erhalten Preisschilder.

    Folgt daraus, dass in Nozicks Modell Arme auf der Straße verhungern, ohne dass der Reiche seine Finger krümmt? Abermals Nein. Unter dem Dach des schlanken S
    taates wäre Platz für alle Arten der Philanthropie und Barmherzigkeit – für säkulare oder religiöse Vereine und Stiftungen. Das kann man naiv finden, wenn man der freiwilligen wechselseitigen Zuwendung von Menschen misstraut. Es könnte aber auch sein, dass solch freiwillige Barmherzigkeit von bürokratischen Zwangsstaaten seit langem einfach erstickt wurde.

    Robert Nozicks Staat der Freiheit ist eine Utopie, keine Frage. Wir werden ihn nicht erleben. Die Utopie des freiheitlichen Staates taugt indessen als Korrektiv und regulative Idee gegen den interventionistischen, paternalistischen und distributiven Staat, in dem wir leben. Wir sollten Nozicks Freiheitsidee im Hinterkopf behalten, wenn uns in den langen Monaten des kommenden Bundestagswahlkampfes die Umverteiler unsere Freiheit nehmen wollen.

    Rainer Hank