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  • 11. Oktober 2021
    Wenn Bayern sich selbständig macht

    Tief ins Klischee. RitaE auf Pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ein Gedankenspiel über das Recht der Minderheiten

    Nehmen wir einmal an, die Bundestagswahl an diesem Sonntag führte zu einem Ergebnis, das viele inzwischen für nicht unwahrscheinlich halten: Unter der Führung von Kanzler Olaf Scholz (SPD) kommt es zu einer rot-grün-roten Koalition. Zwar hat Scholz sich eine Weile lang rührend um die FDP bemüht. Doch die Gespräche scheitern am Ende an der Finanzpolitik. Während die Liberalen sich standhaft gegen die Einführung einer Vermögenssteuer, die Anhebung der Einkommensteuer und die Lockerung der Schuldenbremse wehren, läuft der SPD-Mann mit seinen Steuervorschlägen bei den Linken offene Türen ein.

    Nehmen wir zusätzlich an – was viele für ebenfalls nicht völlig unwahrscheinlich halten -, die Berliner Initiative zur Enteignung großer Wohnungskonzerne hätte auch Erfolg und ein neuer rot-rot-grüner Senat in der Hauptstadt unter Führung von Franziska Giffey käme gar nicht darum herum, das demokratische Votum der Mehrheit in ein Gesetz zu gießen und die Vergesellschaftung des Immobilienbestandes in Angriff zu nehmen. Anschließend fände das Enteignungsgesetz auch im Kabinett Scholz rasch viele Freunde.
    Nehmen wir also an, es käme so auf vollkommen demokratische Weise zu diesem Wahlausgang, dann wäre es nicht übertrieben zu sagen, wir befänden uns danach in einer anderen, nämlich linken Republik, in der das Privateigentum nicht mehr geachtet, die Erfolgreichen konfiskatorisch ausgenommen und – auf Drängen der Grünen – mit Blick auf den Klimawandel stärkere Eingriffe in die Bewegungsfreiheit der Bürger an der Tagesordnung wären.

    Ich will hier keine »Rote-Socken-Angst« schüren. Mir geht es um eine rechtsphilosophische Frage: Welche Möglichkeit haben Minderheiten, sich gegen den Willen der Mehrheit zur Wehr zu setzen. Die naheliegende Antwort lautet: Gar keine. So ist es eben in einer Demokratie. Die Unterlegenen haben sich der Mehrheit zu beugen. Sie können dafür werben, dass bei der nächsten Wahl wieder ihre Leute an die Macht kommen, die den Sozialismus zurückdrängen. Würden sie zwischenzeitlich sehr ungeduldig, bleibt es ihnen unbenommen, in ein liberaleres Land (zum Beispiel in die Schweiz) auszuwandern. Demokratie, so schrieb Alexis de Tocqueville vor bald zweihundert Jahren, ist eine Art Diktatur der Mehrheit. Da kann man nichts machen.

    Renaissance des Sezessionismus

    Kann man wirklich nicht? Der Einzelne hat aus guten Gründen wenig Möglichkeiten, ihm nicht behagende Wahlergebnisse zu korrigieren. Doch wie ist es mit größeren Gebietskörperschaften? Nehmen wir in unserem Gedankenexperiment jetzt noch an, anders als die rot-grün-rote Mehrheit im Bund würde es in Bayern unter Führung des charismatisch kraftstrotzenden Heroen Markus Söder zu einer satten Mehrheit der CSU kommen. Das würde den alten Gegensatz zwischen München und Berlin wieder aufleben lassen, nicht zuletzt, weil zu befürchten wäre, dass die rot-grün-roten Steuer- und Klimapläne vor allem die erfolgreichen Unternehmen und Wirtschaftsbürger Bayerns (und Baden-Württemberg, aber das wäre ein anderes Thema) träfen. Kein Wunder, dass in Folge davon alte sezessionistische Ideen im Freistaat eine Renaissance erleben. Einer vor vier Jahren veröffentlichten Umfrage des britischen Meinungsforschungsinstituts YouGov zufolge wünscht sich ein Drittel der Bayern die Unabhängigkeit von der Bundesrepublik Deutschland. Die Bayernpartei hält diesen Autonomiegedanken seit Jahren am Leben.

    Wie legitim sind separatistische Auf- und Ausbrüche in Demokratien? Bayern, spätestens seit der Reichsgründung 1871 ein Volk ohne Nation, könnte sich an Katalonien und Schottland ein Beispiel nehmen: Katalonien kämpft seit langem gegen die Dominanz der spanischen Zentrale. Und Schottland, latent separatistisch seit dem »Act of union« mit England im Jahr 1707, träumt neuerdings wieder von einer Abspaltung, nachdem das Vereinigte Königreich sich seinerseits mit dem Brexit aus der Europäischen Union verabschiedet hat. Allemal geht es um die schwierige Balance zwischen Zentrale und Peripherie und ihre ethnisch (darf man das bei Bayern sagen?) oder sozialpsychologisch unterschiedlich tickenden Bevölkerungen. Sagen wir so: In Berlin ist man es gewohnt, vom Rest der Republik alimentiert zu werden. In München (gewiss auch in Stuttgart) hat man gelernt, dass das Geld erst verdient werden muss, bevor man es ausgeben kann. Kein Wunder also, dass der Freistaat aufmuckt und ein freier Staat werden will.
    Abspaltungen von Staatsteilen werden hierzulande verunglimpft als nationalistisch-engstirnige Kleinstaaterei. Dass diese Verunglimpfung latent von einem imperialen (wenn nicht imperialistischen) Gedanken zehrt, wird zumeist übersehen. Als ob immer engere Integration – »ever closer union«, wie es in den EU-Verträgen heißt – ein Ziel an sich wäre! Stets gilt es abzuwägen, wie hoch die Integrationskosten im Vergleich zum Nutzen des Großstaates sind. Staatenbünde und Bundesstaaten sind kein Selbstzweck. Ihre Legitimation steht dann infrage, wenn Minderheiten zu viel abverlangt wird.

    Ein Blick auf Georg Jellinek

    Der Gedanke des Minderheitenschutzes in einer Demokratie wurde ausgerechnet in jenem 19. Jahrhundert entwickelt, das als Jahrhundert des kolonialen Imperialismus gilt. Er speist sich aus zwei philosophischen Quellen: Dem Liberalismus, dem das Selbstbestimmungsrecht der Menschen wichtig ist. Und einem Romantizismus, der den organischen Zusammenhalt in einer Gesellschaft betont (ich empfehle einen Ausflug in dass großartige neue Romantik-Museum in Frankfurt am Main). Man gewinnt nichts, hier immer gleich niederen Nationalismus zu wittern. Georg Jellinek, ein Anfang um 1900 in Heidelberg lehrender österreichischer Staatsrechtler, ist der Ansicht, die Demokratie sei eine Gefahr für Minderheiten. Das nimmt der Idee der Solidarität ihre moralische Unschuld. Jellinek schreibt 1898: »Je weiter die Demokratisierung der Gesellschaft vorwärtsschreitet, desto mehr dehnt sich auch die Herrschaft des Majoritätsprinzips aus. Je mehr das Individuum durch den Gedanken der Solidarität zurückgedrängt wird, desto weniger Schranken erkennt der herrschende Wille gegenüber dem Einzelnen an.« Die Anerkennung von Rechten der Minderheiten wirkt als heilsames Korrekturprinzip gegenüber der Übergriffigkeit demokratischer Mehrheiten.

    Lassen wir die Kirche im Dorf. Wir halten es nicht für sehr wahrscheinlich (aber eben auch nicht für völlig ausgeschlossen), dass es in Berlin zu rot-grün-rot kommt. Wir halten es noch weniger für wahrscheinlich, dass Bayern in den kommenden vier Jahren die Bundesrepublik verlässt. Doch es kann nicht schaden, an einem Wahlsonntag das liberale Erbe in Erinnerung zu rufen, demzufolge der Bürger stets zwei Möglichkeiten hat, sich in einer Demokratie zu artikulieren: Mit seiner (Wahl)stimme (»voice«) und mit der Handlung, allein oder mit anderen auszuwandern (»exit«). Ohne Minderheitenschutz ist keine gute Demokratie zu machen.

    Rainer Hank